Jun 062017
 

Das Lager in Indien

Shiva tanzt

… Eines Morgens, es war ganz früh und draußen war es noch dunkel, schreckte ich aus dem Schlaf auf. Mich dünkte, es donnerte. Mit Fäusten, oder waren es Gewehrkolben, wurde unten ungeduldig an die Türe des freundlichen Bungalows in der Stadt Nasik gepocht, wo ich mit Shri wohnte. Aber Shri war nicht da, er war auf einige Tage verreist, war zu seinem Schüler Rana gefahren. Nun wurde das Tor des Hauses geöffnet. Schwere Schritte, wie von eisenbeschlagenen Schuhen, stampften die hölzerne Treppe empor. Ein indischer Polizeiinspektor in Uniform, gefolgt von einer Reihe indischer Soldaten, trat in mein Zimmer.

„Sie sind verhaftet. Machen Sie sich rasch fertig. Nehmen Sie Ihre notwendigsten Sachen mit. Und kommen Sie mit uns. Wir haben Krieg“, sagte der Inspektor. Während ich mich eilig anzog, wurden der Schrank und meine Koffer durchwühlt und untersucht. Man schob mich in ein wartendes Auto. Die Fahrt ging durch wohlbekannte Landschaft, durch die ich viele Male an der Seite Shris in dessen Wagen gefahren war. Links und rechts von mir und vorn neben dem Wagenlenker saß diesmal je ein indischer Soldat, der sein geladenes Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett fest umklammerte. Der Wagen hielt vor einem Tor in einer hohen Stacheldrahtwand. Voll Verwunderung entsann ich mich, dass ich vor mehr als zwei Jahrzehnten als junger Soldat im ersten Weltkrieg mit geladenem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett vor dem ganz ähnlichen Stacheldrahttor eines Gefangenenlagers für russische Kriegsgefangene in Österreich Wache gestanden hatte. Diesmal allerdings blieb ich nicht außerhalb des Stacheldrahtes stehen. Durch die Tore der äußeren und der inneren Umzäunung wurde ich in das Lager Ahmednagar hineingeführt und wurde in eine Baracke gewiesen, wo schon einige übernächtigte Menschen warteten.

Im Laufe des Tages wurden es viele Hunderte, die mit Wagen und Eisenbahnzügen in dem Gefangenenlager anlangten. Der zweite Krieg war eben ausgebrochen. Da ich mit einem österreichischen Pass nach Indien gekommen war, war ich über Nacht ein sogenannter „feindlicher Ausländer“ geworden. Hunderttausenden, ja vielleicht Millionen von Menschen in der weiten Welt geschah in diesen Tagen das gleiche wie mir, sie wurden in Lagern hinter Stacheldraht eingesperrt.

Während Shiva, der Zerstörer, tanzte und die Erde unter seinem Tanze zitterte und schwankte und die für Jahrtausende gegründeten Reiche und Ordnungen einstürzten wie Maulwurfsbauten, bemühten sich die Menschen überall auf Erden, mit Massen von Beton und Eisen Schutzwälle für ihre jeweiligen Ordnungen und Gesetze zu errichten, denen nur eines gemeinsam war, das Gesetz der Vergeltung und Wiedervergeltung. Dazu gehörte auch, dass sich die Gefangenenlager füllten. Und da schon vor Ausbruch des Krieges die Gefängnisse nicht ausreichten, wurden nun in allen Weltteilen, in Afrika und Asien, in Amerika und in Australien und in Europa, und natürlich auch in Indien überall eiligst neue Lager errichtet. Tag und Nacht wurde im Akkord gearbeitet, in glühender Sonne und bei Scheinwerferlicht. Mit ungeheuren Kosten wurden in jedem Land zahllose hässliche Baracken aufgestellt, mit Ziegeln oder mit Stroh oder mit Wellblech gedeckt. Wenn man mit der Eisenbahn fuhr, sah man manchmal lange Zeit links und rechts vom Zug nichts als Baracken, eine neben der anderen. Riesige Wälder wurden abgeholzt, nur um genug Holz für die notwendigen Gefangenenbaracken zu erhalten. Stacheldraht, der Tausende von Lastwagen und Hunderte von Schiffsladungen füllte, wurde von großen Trommeln abgerollt und hastig aufgespannt und aufgepflockt und zu unentwirrbarem, zackigem Eisendorngeflecht verknäuelt. Getreidefelder planierte man mit schweren Straßenwalzen, obwohl die Welt hungerte, bloß um genug Raum für Gefangenenlager zu haben. Fruchtbäume schlug man nieder, um genug Grund für Gefangenenlager zu haben. Geviert an Geviert erstreckten sie sich, endlos, wie die Hürden der Schlachthäuser in Chicago.

Die indischen Lager, in denen ich etwa sechs Lebensjahre verbrachte, waren zumeist gute Lager. Es gab keine Gaskammern dort, keine Prügel- und Folterkammern oder Verbrennungsöfen für Menschen. Diese Lager waren in keiner Weise mit Konzentrationslagern in Deutschland und dessen Nachbarländern zu vergleichen. Die derbe Kost war im allgemeinen gut und ausreichend, natürlich fast ausschließlich Fleischnahrung, in den späteren Jahren hauptsächlich Konserven. Daß vielen Internierten infolge der einseitigen Ernährung aus Vitaminmangel im Lager alle Zähne ausfielen, war gewiss nicht Schuld der Behörden. In manchen Teilen Indiens herrschte Hungersnot. Dass ich persönlich Entbehrungen litt und zeitweilig hungerte, war meine eigene Schuld, denn ich mühte mich eigensinnig, auch hinter Stacheldraht die streng vegetarische Lebensweise beizubehalten, die ich im Hause meines Guru lieben gelernt hatte und die für jeden Yogapfad eine große Hilfe bedeutet. Aber trotz der guten Behandlung gab es niemanden im Lager, und ich machte keine Ausnahme dabei, der nicht eines Tages von Verzweiflung überwältigt wurde und nahe dem Selbstmord war. Denn es gab kein Leid, keine Sorge, kein Problem einer gemarterten Welt, das in den engen, von Stacheldraht umgebenen Gevierten des Lagers nicht beklemmend anwesend war.

Wie Gott wollten die Machthaber aller Länder damals überallhin schauen und dazu gehörte, dass sie kunstvolle Systeme geheimer Staatspolizei ausbildeten, die mit hunderttausend spähenden Augen schauten, die mit hunderttausend listigen Ohren lauschten. Die Sinne und Gliedmaßen dieser gespenstischen Ungeheuer, die man Geheimdienste nannte, erstreckten sich über die ganze Erde, auch in die Gefangenenlager hinein.

Als ich in dem indischen Lager anlangte, wurde ich alsbald flüsternd unterrichtet: „Nehmen Sie sich in acht. Seien Sie vorsichtig. Der ist bloß so freundlich zu Ihnen, um Sie auszuhorchen. Er ist ein Spion, ein Agent der Nazis. – Jener? Der schreibt Rapporte für die Engländer. Als er ein wenig betrunken war, hat er selbst einmal erwähnt, dass er Berichte schreibt. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er einmal am frühen Morgen einen Bericht dem Sergeanten zugesteckt hat. – Dieser da? Gott behüte. Wissen sie denn nicht, das ist ein Kommunist. Er gehört zur GPU. Glauben Sie, die Russen haben nicht ihre Vertrauensleute und Zellen hier im Lager, sowohl bei den Nazis, als bei den Antinazis. Nun, Sie werden schon sehen, was alles passiert, wenn der Krieg einmal zu Ende ist.“

Zerrissenheit und Furcht zuckte und bebte in dem Knäuel von einigen tausend Menschen, die nach ihrer Gefangennahme in Drahtpferchen weiterlebten, ohne daß sie etwas ahnten von Shivas Tanz, unter dessen Schritten die Feuerflammen des Unterganges brausten.

Außerhalb des Lagers lebten die großen Herden grauer und brauner Affen, die von einem gewaltigen alten Affenmännchen, einem allgemein anerkannten, sehr herrischen Diktator, einem wahren Tyrannen, geleitet wurden. Oft stand eine ganze Affenschar dicht vor dem äußeren Stacheldrahtgitter des Lagers und alle die bejahrten und jungen, die Männchen und die Weibchen, welche stets ihre kleinen Kinder mit sich trugen, die ihre Brust umklammerten, starrten mit traurigen ernsten Tieraugen in die vergitterte seltsame Welt der Menschen hinein.

Manchmal lachten wir: „Uns geht’s ja gut. Einen Zoologischen Garten haben wir auch“. Dann erinnerten wir uns, wie die Sache in Wirklichkeit beschaffen war. Die Affen draußen waren in Freiheit und schauten neugierig durch das Gitter zu uns, den in Käfigen eingesperrten Menschen, herein.

Was sahen die Affen?

Die Affen sahen, daß die Menschen innerhalb des Stacheldrahtes in dem übervölkerten Lager immerzu wimmelten wie die Ameisen. Sie gruben in der Erde, sie pflanzten Bananen und andere Fruchtsträucher und Bäume. Sie legten kleine Gärten vor ihren Baracken an. Sie begossen ihre Beete. Sie säten Blumen und Gemüse, sie setzten Salat. Sie zimmerten, sie legten Rohre, sie nieteten, sie schmiedeten und schweißten. Sie mischten Beton, sie bauten mit Ziegeln und Steinen. Sie führten einen nicht endenden Kampf gegen das Ungeziefer in ihren Betten und gegen die Löcher in ihren Socken und Hemden. Sie spielten Karten und ließen viele Stunden lang die ausgeleierten Grammophone laufen. Sie schwätzten, sie stritten, sie prügelten sich. Manche lagen tagelang stumpf auf ihren verwanzten Gurtbetten in den Baracken, und träumten ihren schweren Traum.

Die acht Gehege des großen indischen Interniertenlagers genossen Selbstverwaltung hinter Stacheldraht. Es gab da hinter sorgsam bewachten Gittern einen regelrechten nationalsozialistischen Staat, der wieder in drei Zonen geteilt war, die gesondert eingehegt waren. Da gab es Führer, Unterführer und einen inneren Kreis. Man fand da eine Organisation für „Kraft durch Freude“, für Sport und Sportwettkämpfe, für Musik und Theateraufführungen und für Erziehung. Wer darnach strebte, konnte sich fortbilden, von den Anfangsgründen der Rechtschreibung bis zur Werkmeisterschule und dem Abiturientenexamen. Es gab aber auch schwarze Listen, geheime Akten, Boykott unliebsamer Elemente, Gleichschaltung widerstrebender Gruppen, zuweilen Prügelstrafe, Ansätze zur Briefzensur und Gestapo.

Daneben in dem Lagerflügel der Antinationalsozialisten und Antifaschisten herrschte eine streng demokratische Regierungsform mit regelmäßigen Wahlen und siedendheißer Wahlagitation. Hier wurde öffentlich in vielen Sprachen für den Sieg der Alliierten und den Niederbruch der gehaßten Gegner gebetet. In diesem Flügel lebten die Bewohner stets wie in der Stimmung eines Bahnhofswartesaales; nur noch einige Tage, nur noch einige Wochen, „bis das Gesuch erledigt ist“. Alle warteten auf ihre baldige Entlassung. Viele warteten mehr als sieben Jahre. Sie feierten hinter Stacheldraht das große Siegesfest des Kriegsendes und warteten voll Gram und Verbitterung noch lange weiter.

Ein anderes Drahtgehege, bloß für italienische katholische Missionare einschließlich zweier Bischöfe, war ein richtiger Kirchenstaat, zweihundertfünfzig Meter breit und dreihundert Meter lang.

Es gab auch einen Lagerflügel für etwa hundert italienische Generäle, die man in Ostafrika gefangen hatte. Die Schar dieser hohen Militärpersonen war unter sich gespalten in eine faschistische und eine antifaschistische Gruppe, die sich beide leidenschaftlich befehdeten.

In dem einen Lagerflügel standen eines Nachts Scharen von Internierten dicht am Stacheldraht und sangen, feindselig der Nachbarabteilung des Lagers zugewendet, taktmässig und abgehackt im Sprechchor: „Du-ce! Du-ce! Du-ce! … Hit-ler! Hit-ler! Hit-ler!“ Im Nachbarkäfig, wo die Antifaschisten hausten, wurde zur gleichen Zeit in Vorahnung kommender Ereignisse ein Holzstoß angezündet und bei der flackernden Beleuchtung unter lautem Johlen eine lebensgroße Strohpuppe, Mussolini darstellend, an einem Galgen aufgehängt. Als der baumelnde Diktator eben vom Galgen abgenommen werden sollte, um ins Feuer geworfen zu werden – es war lange nach Mitternacht -, kam der englische Sergeant-Major mit einigen wachthabenden Soldaten hereinmarschiert. Er war kurz und stramm und wurde Nußknacker genannt. Mit seinem dräuenden künstlichen Gebiß klappernd, fragte er freundlich und wohlwollend: „Wer ist der Künstler? Wer hat das so schön arrangiert?“

Die Hauptartisten meldeten sich geschmeichelt – und wurden unter dem großen Empörungsgeschrei und dröhnendem Beifall der Andersgesinnten von jenseits des Stacheldrahtes unter Bewachung ins Lagergefängnis abgeführt, weil sie die Nachtruhe gestört hatten.

In jeder Weise wurde für uns gesorgt. Sogar eine große Kinobaracke wurde für die Internierten errichtet, hinter Stacheldraht natürlich, aber mit surrenden elektrischen Fächern wegen der Hitze. Das Kino war auch für die europäischen Wachmannschaften und Offiziere bestimmt. Als die Kinobaracke abbrannte, wurde sie in Tag- und Nachtarbeit in wenigen Wochen neu aufgestellt, denn der indische Pächter wollte seinen Verdienst nicht einbüßen. In Dreierreihen geordnet, marschierten wir unter Bewachung durch die doppelten Stacheldrahttore unseres Lagerflügels in das Drahtgehege, welches das Kino umgab. Die Nazis marschierten stramm im Gleichschritt, die Antinazis aus Protest ohne Gleichschritt. Entrüstet über die Störung sprangen die Affen von der Straße in das Laubgeäst der Bäume empor und fletschten die Zähne. Dann saßen wir, eng gedrängt, umwölkt vom scharfen Rauch billiger indischer Zigaretten auf den Bänken und sahen die abgespielten amerikanischen Sensationsfilme an uns vorbeiziehen. Wir sahen auch die Wochenschau. Wir sahen im Kino, wie eine lächelnde junge Königin Blumen und Süßigkeiten an verwundete junge Krieger verteilte. – Aus dröhnenden Bombengeschwadern sanken riesige Bomben herab, gruben himmelhoch aufqualmend gigantische Krater in den Boden und vernichteten vor unseren Augen in wenigen Minuten unbekannte große Städte in allen Weltteilen, gelegentlich auch die Stadt, in der wir selbst geboren waren.

Alles war bei uns wie in der Welt draußen. Alle Probleme und alle Qual und Zerrissenheit und aller Haß der Welt drang durch die zweifachen Stacheldrahtwände ungehindert zu uns in das streng abgesperrte Lager hinein, zu Gläubigen und Ungläubigen, zu Katholiken und Protestanten und Angehörigen aller anderen denkbaren christlichen Konfessionen, zu den Juden und vereinzelten Mohammedanern und Buddhisten, zu den Männern aus etwa zwanzig europäischen Nationen, zu Deutschen, Österreichern und Italienern, Ungaren, Finnen, Bulgaren und Rumänen, zu Estländern, Litauern und Letten, aber auch zu solchen, die in unserem indischen Lager eingesperrt waren, obwohl sie alliierten Nationen angehörten, zu Tschechen, Polen, Griechen, Jugoslawen, Dänen, Norwegern, Holländern und Russen … Sie alle waren Menschen, die der Krieg irgendwo in den weiten tropischen Ländern und Inseln zwischen Neuguinea und Irak und zwischen Hongkong und Äthiopien überrascht hatte.

Sie alle versuchten weiterzuleben wie bisher. Sie redeten sich wie bisher an: Herr Direktor oder Herr Studienrat. Es gab unter ihnen unwahrscheinlich viele Direktoren und Manager riesiger Plantagen mit einstigen phantastisch hohen Einkommen und angeblich bedeutungsvollsten Wirkungskreisen. Die Koffer wurden regelmäßig ausgepackt, soweit sie nicht auf der Fahrt von einem holländischen Gefangenenlager auf der Insel Sumatra nach Indien versunken waren, von einem japanischen Unterseeboot versenkt. Die Habseligkeiten wurden an der frischen Luft aufgestapelt, die Abendanzüge in die Sonne gehängt, damit sie nicht verdürben. Da hingen nun die Frackanzüge und Smokings wichtigtuerisch an Wäscheleinen und wehten im Wind. Manchmal ging auch der eine oder andere Internierte am Sonntagnachmittag in einem Smoking und steifem Hemd zwischen Baracke und Latrine spazieren, um für ein paar Stunden wieder ein eleganter Herr zu sein, bevor er die Kleider wieder einmottete und seine kurzen Khakihosen anzog.

Die Koffer wurden ausgepackt und wieder zugesperrt. Die Erinnerungen wurden ausgepackt und nie zugesperrt. Da die Gegenwart mit den Jahren immer schaler wurde und die Phrasengebäude zusammensanken, lebten viele Tausende von diesen gefangenen Menschen immer leidenschaftlicher in ihren Erinnerungen. Sie wühlten in ihren Erinnerungen. Stundenlang und tagelang wandelten sie längs des Stacheldrahtes auf und ab und erzählten einander, was sie einst in diesem oder jenem Restaurant gegessen hatten, mit genauesten Einzelheiten der Speisefolge und der dazu sorgfältig abgestimmten Weine und nachgenießender Ausmalung der Geschmacksempfindungen, die sie damals gehabt hatten. Und in ebensolcher Weise erzählten sie von ihren Abenteuern mit Frauen und von den guten Geschäften, die sie gemacht hatten, und von den schlechten Geschäften, die sie gemacht hatten, und wie es ihnen gelungen war, jemanden übers Ohr zu hauen. Gierig suchten sie neue Gefährten, die ihre Geschichten und Witze noch nicht kannten. Jeder, der aus einem anderen Lager neu ankam, wurde aufgesucht und umworben, um ihm zu erzählen. Viele Menschen mieden einander angeekelt, weil sie nach jahrelangem Zusammenwohnen im gleichen Barackenteil den Nachbarn und die Art seines Lachens und seine Geschichten nicht mehr ertragen konnten.

Viele der Internierten hielten sich Tiere. Sie, die selber hinter Drahtgittern saßen, hatten innerhalb ihres Käfigs kleine Käfige mit Tieren aufgestellt und schenkten diesen all ihre Liebe. Ein Mann, der sich rühmte, daß er eifrig mitgeholfen habe, in Deutschland eine Anzahl Synagogen anzuzünden, pflegte zärtlich seine gefangenen Papageien, Meisen, Nachtigallen und andere Vögel. Ein herzensguter deutscher Musiker in meiner Baracke, ein überzeugter Antifaschist, züchtete Mäuse. Einmal setzte er eine fremde Feldmaus, die sich verlaufen hatte, in einen Käfig, wo schon eine Mausfamilie hauste. Scheu und angstvoll schmiegte sich die schmächtige fremde Maus, ein Weibchen, in einen Winkel des Käfigs. Sie suchte sich so unbemerkbar wie möglich zu machen. Aber der Mausvater und die Mausmutter und die Mauskinder rochen sie. Sie fühlten sich gestört von ihr. Sie fühlten sich gereizt, bedroht. Nach einer halben Stunde lag die fremde Maus, die möglicherweise einer anderen Mausrasse angehört hatte, in einer Blutlache. Von scharfen Zähnen war sie totgebissen worden. Wahrscheinlich hatten die Mäuse geglaubt, daß der vor Furcht zitternde fremde Gast ein heimtückischer Eindringling war, der sich voller böser Absichten in ihr eigenes Land eingeschlichen hatte.

Der weitaus beste Platz in dem Lager war das ebenfalls mit Stacheldraht eingehegte Spital. Es war gemeinsam für alle Parteien in dem Lager. Und doch fand man zuweilen in einer der Baracken dieses Spitals wahren Frieden. Wenn die Kranken arge Schmerzen litten, wurden oftmals die fanatischen Gesichter wieder zart und menschlich, wie Gesichter von Kindern. O, wie viele seltsame Schicksale haben sich vor mir geöffnet, wenn mir alte und junge Männer, die Jahrzehnte in den Tropen verbracht hatten, in dem Lagerspital in Indien ihre Lebensgeschichte erzählten, in den schlaflosen Nächten vor oder nach einer schweren Operation, oder wenn sie auf den herannahenden Tod warteten. Da waren sie dankbar für den kleinsten Liebesdienst, dann vergaßen sie, daß ein Mensch, der nicht ihrer Partei zugehörte und der gar einer anderen Rasse entstammte als sie, in dem Bett neben ihnen lag. Aber sobald sie sich wieder erholten, oder sobald für einen langsam und qualvoll Sterbenden nur ein Strahl falscher Hoffnung aufleuchtete, wurden ihre Gesichter wieder hart und höhnisch und abweisend, und sie begannen wieder, an Geheimberichten und Boykottmaßnahmen gegen ihre Leidensgenossen zu denken.

Der Lagerfriedhof, von dem aus man den Gebirgskamm am besten sah, befand sich am Westrand des Gefangenenlagers; er war nicht von Stacheldraht umgeben. Die Gräber wurden von Internierten, die unter Bewachung hingeführt wurden, sorgfältig gepflegt und mit Blumen geschmückt. Aber der aufgepeitschte politische Haß und die gegenseitige Abscheu unter den Gefangenen machte nicht einmal vor dem Tode halt. Die mächtigste Partei im Lager empörte sich dagegen, daß die Toten der gegnerischen Menschengruppe ihre eigenen Toten durch Nachbarschaft in der Friedhofserde beflecken könnten. Um immer erneute Unruhe im Lager zu vermeiden, sah sich der Lagerkommandant genötigt, die verstorbenen Antinazis und Antifaschisten auf einem weitentfernten Friedhof in der nächsten Stadt begraben zu lassen.

Oben auf den Dächern der Küchenbaracken aller acht Lagerflügel saßen immerzu in dichtgedrängten Reihen die häßlichen, geierartigen Raubvögel. Sie waren die eigentlichen Herren des Lagers. Kein Stacheldraht hinderte sie, kein Wachtposten schoß nach ihnen, wenn sie über dem Stacheldraht schwebten und in die verschiedenen Hürden der Menschen hinabspähten. Was sahen die Raubvögel? Sie sahen Fraß. Sie kümmerten sich nicht darum, ob es Antifaschisten oder Faschisten oder Patres waren, die mit ihren gefüllten Blechtellern aus der Küchenbaracke heraustraten. Wild stürzten sie sich in Schwärmen nieder und rissen die Fleischstücke an sich. In ihrer Gier hieben sie auch manchmal daneben und rissen die Menschenhand, die den Teller hielt, blutig. Das war nicht ganz ungefährlich wegen des Leichengiftes; denn die gierigen Raubvögel frassen auch Aas.

So breitete sich das Gefangenenlager mit einigen tausend Europäern wie ein armes Stückchen zuckenden Lebens zu den Füssen Shivas, des Zerstörers, aus. Ringsum aber dehnte sich unermeßlich das indische Land, dessen vielverschlungene, staubige Straßen auch hier wie überall, vom Himalaja bis zum Kap Komorin, in den grauen Morgenstunden des Tages von den endlosen Reihen der langsam rollenden Ochsenkarren der indischen Bauern bedeckt waren. Eintönig schwoll der Gesang der Bauern auf und ab. Es war wie der Gesang Indiens, so als ob das ganze Land, als ob die ganze Erde sehnsüchtig flehte, daß es endlich wieder Tag würde und über der nachtumhüllten Erde die geistige Sonne, der Paramatma, allen sichtbar, aufsteigen möge:

„Die ewige, vor ew’ger Zeit geborne,
Die große Gottheit uralt, allumfassend,
Sie strahlt herab aus jeder Morgenröte
Und schaut aus allem, was da blickt mit Augen …
Der weise alterslose, junge Atma.“

Gefangen – Frei – Gefangen

Auch ich versuchte in den Baracken des Interniertenlagers weiter zu leben und zu meditieren wie bisher im Hause meines Gurus und zog mich selbstsüchtig auf mich selbst zurück. Es gab einige Einzelkammern in dem Lager. Eine solche Kammer zu bekommen, um dort ungestört arbeiten und meditieren zu können, war für einige Zeit das Ziel meines Strebens; oder wenigstens einen Eckplatz in einer Baracke. Denn das bedeutete, nur auf der einen Seite einen Bettnachbarn zu haben und auf der anderen Seite die Geborgenheit einer schützenden Wand. In der Bhagavadgita hatte ich mit Shri gelesen: „Ohne Meditation, wie will er Frieden erlangen?“ Ich mühte mich, auch in dem Lärm und Getümmel zu meditieren, setzte mich aufrecht, mit untergeschlagenen Beinen, auf mein Bett und wurde nur ein Zielpunkt für Gelächter. In dem halboffenen Waschraum, wo wir in Nischen manchmal zwanzig Mann nackt nebeneinander standen und uns abduschten, – und sehr oft das Wasser in den Brausen gerade dann aussetzte, wenn wir ganz eingeseift dastanden – sang ich manchmal leise, selbstvergessen, die heilige Silbe AUM vor mich hin, das Urwort, dessen drei Laute u.a. Weltschöpfung, Welterhaltung, Weltzerstörung bedeuten und auch die drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das Verborgene, das über den Zeiten ist. Meine Kameraden fühlten sich durch mich gereizt. Oder ich hatte in einem Winkel des Lagers, wo das Gras überall sonst von vielen Füßen niedergetreten war, hinter einem der kleinen Ställe für Kaninchen oder Hühner oder Enten, welche emsige Kleintierzüchter gebaut hatten, doch einen halbwegs verborgenen Fleck entdeckt und dort in der Meditation Ruhe gefunden. Wenn ich mich nachher, noch ein wenig von Glück und Licht erfüllt, mit meinem Blechteller in dem langen Zug der auf die Essenausgabe Wartenden einordnete, wo oft ein Lärm herrschte, als wartete ein Rudel hungriger Raubtiere auf die Fütterung, da fuhr mich einer böse an: „Warum lächeln Sie immer wie die Mona Lisa? Ich verstehe nicht, wie kann man in einer solchen Lage, in der wir uns befinden, auch noch lächeln!“

Ich hatte noch nicht die Erfahrung gemacht, daß die äußeren Behelfe der Meditation, die Matte aus Kushagras, die mir ohnehin schon am Tage meiner Einlieferung ins Lager gestohlen wurde, und der abgesonderte reine Raum und die Einsamkeit nur Gebote für Anfänger sind.

Die Schutzwände, die ich in dem Lager um mich zu bauen versuchte, stürzten bald wieder ein. Das weiße Moskitonetz, das jeder von uns zur Abwehr der Malariamücken nachts über seinem Bette aufspannte, gewährte ja eine gewisse Abgeschiedenheit. Aber es kam vor, daß ein Betrunkener, den ich unwissentlich erzürnt hatte, nach Mitternacht in die Baracke hereinkam, mein Netz niederriß und wild schimpfend eine Prügelei mit mir begann.

„Sei gelassen, sei ruhevoll, gib den Menschen rings um dich von deiner Ruhe, deinem Frieden, deiner Kraft!“ So hatte mir Shri ins Lager geschrieben, als es endlich von den Behörden erlaubt worden war, Briefe zu schreiben und zu empfangen.

Ich erschrak, als ich Shris Schreiben las. O wie sehr hatte ich versagt! Ich hatte dahingelebt wie ein Kokainisierter, wie einer, dem durch eine Einspritzung ein Teil seines Wesens gelähmt worden war; ich war geschoben worden und hatte mich schieben lassen wie auf einem rollenden Band. Schrilles Pfeifen weckte mich morgens auf. Schrilles Pfeifen rief zum Aufstellen in Reih und Glied auf dem Sportplatz zum täglichen Namensaufruf. Pfeifen von der Küche her rief zum Aufstellen für die Essenausgabe. Pfeifen rief zum Gemeinschaftsdienst, Karottenschälen usw. Ich wurde zu irgendeiner Arbeit befohlen, zum Fensterputzen, zum Barackenaufwaschen … Ich wurde angebrüllt und schrie auch manchmal andere an. Wo aber war indessen ich selbst?

Wenn ich mir die erste Zeit in der Gefangenschaft vorzustellen versuche, so sehe ich vor allem vor mir, wie ich innerhalb des Stacheldrahtes immer wieder übersiedle von einer Baracke in ein Zelt, von einem Zelt in eine andere Baracke; von einer Stacheldrahthürde in eine andere Hürde. Sobald ich in einem Winkel bei meinen Kameraden halbwegs heimisch geworden war, kam gewiß der Befehl, wieder zu übersiedeln. Zahllose Male sind meine Gefährten und ich auf höheren Befehl mit Sack und Pack von einem Teil in einen anderen Teil des Lagers umgezogen. Mehrmals übersiedelte sogar das ganze Lager. Ich erinnere mich noch, wie wir einmal in langen Autobuskolonnen durch das indische Land den unbekannten Baracken zufuhren. Mitten auf einer öden Steppe hielten plötzlich alle Wagen an. Uns wurde befohlen, auszusteigen. Wir wurden in ein weites Viereck hineingetrieben, dessen Seiten aus langen Reihen brauner Soldaten bestanden, deren Gewehre schußbereit auf uns gerichtet waren. Uns wurde befohlen, unsere Notdurft zu verrichten. Nachdem der Befehl vollzogen war, wurden wir zu den Autobussen zurückgeschickt und fuhren weiter in das nächste Lager, um auch dort nicht zur Ruhe zu kommen.

Indessen amtierten in allen Lagern die Untersuchungskommissionen, die entscheiden sollten, welche Internierten entlassen werden durften und welche für die Dauer des Krieges eingesperrt bleiben sollten. Die Komissionen amtierten und prüften jeden einzelnen Fall in unserem großen Lager und in einem kleinen Lager bei Darjeeling, hoch im Himalaja, das viele Monate lang tief im Schnee lag; sie amtierten in Lagern in den Nilgiribergen im Süden und auch in einem Lager (Lager Yercaud) im Dekhan, dessen Belegschaft fast nur aus Frauen bestand und wohin ich für einige Wochen irrtümlich geschickt worden war. Oder war es irgendein Scherz gewesen?

Dort gab es keinen Stacheldraht. Die Baracken standen zwischen alten Baumgruppen auf schönem Rasen. Auf den Wiesen unter den Bäumen wandelten europäische Frauen auf und ab, viele von ihnen jung und hübsch, in hellen Sommerkleidern oder in langen Hosen oder in sehr kurzen Hosen. Manche lagen hingestreckt in Liegestühlen und winkten mir mit farbigen Sonnenschirmen zu, als ich im Autobus unter Bewachung von drei Soldaten dem Lager zufuhr. Ein schöner Fluß blinkte in der Nähe. Es sah aus wie die „Heiterbucht“ aus Strindbergs „Traumspiel“.

Aber auch dieses Lager, wo es in der Kantine Lippenstifte und andere kosmetische Artikel zu kaufen gab und wo an weiß gedeckten, mit Blumen geschmückten Tischen gespeist wurde, war von unsichtbaren Stacheldrahtwänden in enge Käfige abgeteilt. Die deutschen Frauen weigerten sich, mit den jüdischen Frauen und den an Juden verheirateten arischen Frauen zusammen zu essen. Die feindlichen Gruppen speisten zu verschiedenen Stunden und boykottierten sich gegenseitig. Die italienischen und die deutschen Frauen speisten zwar zur selben Zeit, aber sie sprachen nicht miteinander; auch sie boykottierten sich. Die sogenannten „anständigen“ Italienerinnen und die kleine Gruppe der italienischen Huren aus Bombay mieden sich mit gegenseitiger Verachtung. In vier Winkeln des gemeinsamen Gesellschaftsraumes saßen die internierten Frauen in geschlossenen Gruppen und wechselten böse Blicke. Liebenswerte, junge Geschöpfe verschwendeten ihre ganze Kraft, um Intrigen zu spinnen, einander zu hassen und beim Kommandanten und bei der Untersuchungskommission anzuschwärzen. Das war nicht die „Heiterbucht“, wie es auf den ersten Augenschein aussah; das war vielmehr „Schmachsund“ aus dem gleichen Drama Strindbergs. Manche Frauen weinten heimlich die Nächte hindurch wegen der Bosheiten, die über sie geflüstert wurden. Einige wurden wahnsinnig an diesem Ort …

Als ich nach kurzem Aufenthalt wieder im Autobus saß, um unter Bewachung in das frühere Lager zurückbefördert zu werden, stand ein Kreis von Frauen aus den verschiedensten Gruppen dicht gedrängt um den Wagen herum und alle jene, die mich verachtet hatten, und jene, die mir schön getan hatten, sprachen mit gutgeschminkten, zitternden Lippen zu mir empor. Sie beschworen mich, ich möge ihre Männer grüßen, jüdische Männer, deutsche Männer, italienische Männer, die in verschiedenen Stacheldrahthürden des großen Männerlagers eingesperrt waren, teilweise in Hürden, die mir ganz unzugänglich waren. Auch als die Räder des abgeschabten schweren Wagens schon über den Sand knirschten, riefen sie mir noch flehend nach, ihre Männer sollten nichts unversucht lassen, um zu ihnen zurückzukehren.

Viele Monate lang amtierten die Kommissionen. Und wenn eine Kommission abgereist war, kam alsbald eine neue. Jeder internierte Mann, jede internierte Frau hatte Formulare auszufüllen und wurde wiederholt vorgerufen und einzeln verhört. Zeugen wurden vernommen. Denunziationen wurden geschrieben, die Akten des Geheimdienstes über jeden Internierten wurden sorgsam durchforscht, über jeden einzelnen wurde Gericht gehalten.

Eines Tages wurde ich unvermutet entlassen. Verwundert schritt ich durch das Stacheldrahttor ins Freie hinaus. Am nächsten Morgen war ich bei Shri. Der alte Mann schloß mich in seine Arme…

Meine vermeintliche Fahrt in die Freiheit war nur ein kurzer Urlaub aus der Gefangenschaft gewesen.

Ich lag in der dumpfen Baracke Lager Deolali unter dem Vorhange des weißen Moskitonetzes, in den engen Reihen der Schläfer, die unter den Scherbenbergen ihrer zusammengebrochenen Vergangenheit stöhnten, und die voller Furcht vor der Zukunft waren. Ich fand keinen Schlaf. Der Andrang von Bildern unter den geschlossenen Lidern ließ sich nicht auslöschen. Auch ich war voller Unruhe wie die andern. Ich konnte die Sorge um die Meinen, um Mutter, Frau und Kind nicht unterdrücken, die in Österreich nun in täglich sich steigernder Gefahr waren, vielleicht bereits in einem viel schlimmeren Lager als ich selbst. Ich konnte die Trauer um mein eigenes Schicksal nicht niederringen, den Gram, daß mein geistiger Schulungsweg bei meinem geliebten Lehrer zum zweitenmal scheinbar sinnlos abgebrochen worden war. Ich setzte mich im Bett auf und versuchte zu meditieren, wie ich es bei Shri gelernt hatte. Es gelang. Aber wenn ich mich zuletzt müde wieder hinstreckte, schwirrten von neuem quälende Bilder rastlos vor meinen Augen und die Gedanken rollten zwangsläufig ab. Es war wie in einer Gespensterwelt.

Rings um das Lager heulten die Schakale. Nun war ein Rudel von ihnen ins Lager eingebrochen. Gierig wühlten sie in den Abfallkübeln, daß das Blech rasselte. Röchelnd wälzten sich meine Nachbarn unruhig hin und her, daß die Bettgestelle krachten. Manchmal erfüllte ein Stöhnen die Baracke, als ob ein Alp auf den Schläfern läge.

Ich konnte eine quälende Vorstellung nicht auslöschen: daß alle Menschen, und ich mit ihnen, in dieser großen Baracke, alle Menschen in den acht Pferchen dieses Barackenlagers, nein, alle Menschen auf der ganzen Erde gebunden am Boden einer dämmernden Höhle lägen. Wir waren gebunden durch die Fesseln unserer eigenen Begierden und durch unsere Vorurteile, durch unsere Unwissenheit, durch unseren Mangel an Demut. Ich mußte von einer solchen Höhle einmal irgendwo gelesen haben. War es nicht in einem Werk von Plato gewesen? Ich konnte mich nur unvollkommen erinnern.

Wir Gefangenen in der nächtlichen Höhle starrten mit angstvollen Augen alle in eine Richtung, auf ein flackerndes Schattenspiel auf einer Wand im Hintergrund der Höhle. Wir sahen nur den Tanz der verzerrten Schatten und konnten den Sinn dieser Bewegungen nicht deuten. Das Spiel der wahren lebenden Gestalten im Reiche der Urbilder, von dem bloß einzelne wirre Schatten in die Höhle hineinfielen, konnten wir nicht wahrnehmen; das war uns unzugänglich.

Mit der Hand strich ich über meine Augen, um die Bilder zu verscheuchen. Ich sehnte mich nach einem Tropfen Wasser und stand auf, um zu dem Brunnen zu gehen und dort zu trinken. Leise, um die Schläfer nicht zu wecken, schritt ich im Dunkeln zwischen den Bettreihen zum Tor der langgestreckten Baracke.

Noch schriller hörte man nun draußen das Heulen der Horden von Schakalen rings um das Lager. In Chören schrien sie stundenlang in dem finsteren Wald, der das Lager umgab. Manchmal verstummte der Chor und nur ein einziges Tier schüttete sich gleichsam aus in immer wilderem, grellerem Gelächter, als ob es irrsinnig lachte über die seltsame Schattenwelt, in der wir Menschen leben.

Das Fest der Unberührbaren

Ich saß mit gekreuzten Beinen auf dem leeren Fußballplatz am Rande der schwarz aufragenden nächtlichen Baracken. Tagsüber war dieser Platz voller Lärm, schütternd von den trappenden Füßen der beiden Mannschaften und den Zurufen der Zuschauermenge, deren Hauptunterhaltung im Lager jahraus und jahrein diese Wettspiele waren. Nun war es still. Die Gefangenen schliefen ihren schweren Schlaf.

Von draußen, von den langgestreckten häßlichen Kasernen der Latrinenfeger, die mit ihren kurzen Reisigbesen und auch mit Zuhilfenahme ihrer braunen Hände die Kübel in den vielen Latrinen des großen Lagers vom Kote säuberten, scholl leise Gesang herüber. Ein hohes Feuer brannte dort. Freudiges Gewimmel bewegte sich um das Feuer, die Kastenlosen tanzten und sangen. Von einem hohen Mast vor ihren Baracken wehte, von den Flammen angestrahlt, eine rote Fahne im Wind. Das war das Zeichen, daß der Valmiki-Guru zu ihnen gekommen war. Deshalb feierten sie ihr Fest.

Die Inder, welche die niedrigen Reinigungsdienste im Lager taten, wurden von den Gefangenen hinter Stacheldraht sehr verachtet. Allen Rassenhochmut des weißen Mannes gegen den dunkler Gefärbten, oftmals nur eine leise Schattierung dunkler Gefärbten, ließen sie an ihnen aus. Es war die einzige Sache, in der jüdische Intellektuelle und deutsche Monteure im Lager zuweilen einig waren. Selbst diejenigen, die in ihrer Heimat wegen ihrer Rasse verfolgt wurden, verachteten diese Inder, welche Dienste für sie taten. Man nannte sie im Lager kaum jemals anders als die Schwarzen, die Nigger. Man beschimpfte sie. Wie oft hörte ich Gespräche: „Diesen verdammten Sweeper muß man einmal mit einem Kasten auf die Hirnschale schlagen“. „Sehr richtig, Herr Kollege.“ Aber selbst diese Verachteten hatten ihre Gurus, ihre Geisteslehrer, die ihnen halfen, ihr Leben ihrem jeweiligen Stand und Charakter entsprechend sinnvoll zu gestalten und ihnen geistige Unterweisung zu geben. Der Pfad zum höchsten Ziel ist niemandem versperrt in Indien. Sogar die Kasten der Diebe, der Kurtisanen usw. hatten in Indien Jahrtausende hindurch ihre eigenen Gurus.

Wenn ein Latrinenfeger auch oftmals zu arm ist, um sich jemals richtig satt essen zu können oder sich gar ein Stück Seife zu kaufen, und wenn er auch im peitschenden Regenguß des Monsuns seine mageren nackten Schultern höchstens mit einem löcherigen alten Sack bedecken kann, so hat er doch oftmals eine grobe, aber klare Vorstellung davon, daß in ihm eine ewige Seele durch die Zeit wandert, daß er sein hartes Schicksal in diesem Leben durch seine eigenen Taten in früheren Leben selbst herbeigeführt hat und daß er durch sein Verhalten in diesem Leben sein Schicksal in kommenden Erdenleben vorbereitet. Was im Abendland nur einigen der tiefsten Mystiker bekannt war, daß sie in Wahrheit Hunderttausende und Millionen Jahre alt sind, und daß sie schon am Beginn der Schöpfung mit dabei waren, das ist in Indien manchem Latrinenfeger in Lumpen nicht fremd. So wie Krishna es in der Bhagavadgita ausspricht: „Es gab keine Zeit, da Ich nicht lebte, noch du, noch diese Könige. Und es wird auch in Zukunft keine Zeit geben, da wir aufhören werden, zu sein … So wie ein Mensch zerschlissene Kleider abwirft und andere neue Kleider dafür anzieht, so wirft die Seele die zerschlissenen Leiber ab und tritt in einen neuen Körper ein. Diesen Atma schneiden die Schwerter nicht. Diesen Atma brennt das Feuer nicht. Diesen Atma netzt das Wasser nicht. Der Wind trocknet ihn nicht aus … Wenn du das weißt, dann ziemt’s dir nicht, zu trauern.“

Durch den Stacheldraht blickte ich zu den Baracken der Kulis hinüber. Im hellen Schein des Feuers saßen sie nun alle im Kreis um den Valmiki-Guru und lauschten seinen Worten. Mir fiel die Geschichte Valmikis ein, von dem die geistigen Lehrer der indischen Kastenlosen ihren Namen empfangen haben und der selbst einmal ein von allen Verachteter war. Die Geschichte Valmikis ist ein großer Trost für jeden, der gestürzt ist und voll Scham ganz tief am Boden liegt und glaubt, sich niemals wieder erheben zu können…

Auch in dem Hindudorf dicht am Südrand des Lagers hatten die Bauern ein Feuer entzündet. Auch sie schlugen die Trommel Shivas. Auch sie tanzten jauchzend um das Feuer und sangen: „Krishna! Krishna! Krishna! …“

„Ist heute ein großes Fest Krishnas?“ sann ich. Ich hatte keinen Kalender, in dem die Feste der Hindus verzeichnet sind, mit mir in das Lager genommen. Ist heute nicht das Schwingefest Krishnas, zur Erinnerung an den Tag, da das Göttliche Kind, der Krishnaknabe, der in Brindaban bei den Hirten aufwuchs, von Seinen Gespielen, den Gopas, und den Hirtinnen, den Gopis, jubelnd in der Schaukel geschwungen wurde?

Sogar die indischen Wachtposten, die mit kurzen Khakihosen und Khakigamaschen in dem von grellem elektrischen Licht überschwemmten Stacheldrahtgang unermüdlich auf und ab schritten, deren Gewehrlauf und aufgepflanztes Bajonett kalt im weißen Lichte blinkte, auch sie marschierten in dieser Nacht fast wie im Tanzschritt und sie sangen: „Krishna! Krishna! Krishna!“

„Schluß mit dem Gewinsel!“ Aus der dunklen Türöffnung einer der Lagerbaracken brach unflätiges Geschrei heraus. „Ihr Schweine! Ihr verdammten Nigger, werdet ihr sofort euer dreckiges Maul halten!“ Zur Bekräftigung des fortgesetzten Fluchens einiger Internierten, die sich in ihrem schweren Schlaf gestört fühlten, klirrte eine zu Boden geworfene leere Konservenbüchse zornig auf dem Beton der Baracke. Es war, als ob sich ein dunkler Strom Jauche in die Nacht ergösse.

Erschreckt und eine Beschwerde der Sahibs befürchtend, hörten die indischen Soldaten auf, den Gottesnamen zu singen und schritten wieder stumm zwischen den beiden Stacheldrahtwänden auf und ab.

Mit beklommenem Herzen saß ich auf der von vielen Füssen kahl getretenen Erde des Sportfeldes im Lager. Es war mir, als ob sich Nebel auf mein Herz gesenkt hätte. Aber unter dem Nebel schwangen noch immer leise die innere Freude und das innere Vertrauen und ließ sich nicht ganz unterdrücken.

Ich dachte an meine alte Mutter, die in dem Judenviertel in Wien lebte, eingeschüchtert und gedemütigt von Menschen, die denen glichen, die jetzt eben in der Baracke gebrüllt hatten. Ich sah ihr Gesicht vor mir, das zarte Altfrauengesicht mit dem schneeweißen Haar und den blauen Vergißmeinnichtaugen, das mir nachgeblickt hatte aus dem offenen Fenster des Hauses am Donaukanal, als ich zum Bahnhof gefahren war, um nach Indien zu reisen. Ich hörte wieder ihre tapferen letzten Worte: „Wir zwei bleiben ja doch beisammen, auch wenn wir äußerlich getrennt sind.“

Ich dachte an mein Weib und mein Kind. War es ihnen möglich gewesen zu entfliehen? Oder waren sie in ein Judenlager in Polen verschickt worden? Lebten sie noch? Nachrichten kamen sehr selten, gesiebt durch die doppelten Filter der Zensur, und sie brauchten viele Monate.

Ich dachte an meinen Guru Shri Maharaj, dem man die Erlaubnis verweigert hatte, mich im Lager zu besuchen. Er war bereit gewesen, eine beschwerliche, weite Reise zu machen, um mich für wenige Minuten im Beisein eines Offiziers zu sehen. Er durfte es nicht, weil bloß in sehr seltenen Ausnahmefällen höchstens ein kurzer Besuch eines allernächsten Verwandten gestattet wurde. Und Shri war mir doch näher als mein Vater! Jeder, dessen Herz sich wirklich sehnte, durfte in der Nähe seines Gurus sein, auch die Verachteten, die Männer in Lumpen da draußen. Ich nicht.

Die Feuer flammten. Die Scharen der Kulis sangen und tanzten um das Feuer und um ihren Guru im hellen, brausenden Schein. Sie riefen: „Krishna! Krishna! …“ Die Bauern vor ihrem Dorf am Südrand des Lagers schlugen die Trommel und tanzten um ihr Feuer und jauchzten: „Krishna! …“ Auch die schreitenden Wachtposten hatten wieder zu singen begonnen: „Krishna! …“

„O Du verborgener Gott, den alle rufen“, so flehte mein Herz in der Nacht, „O Du unbekannter Gott, von dem ich nichts weiß. Laß mich nicht versinken. Laß mich die Probe bestehen. Lass mich nochmals von neuem beginnen. Sende mir einen Helfer, einen Guru. Damit ich lernen kann, was ich bisher im Leben versäumt habe zu lernen: Liebe.“ …