Jun 062017
 

Sadananda

Kraushaar

Nach einer Übersiedlung des ganzen Lagers nach Dehra Dun, wobei alles um und umgeschichtet wurde, zogen Sadananda und ich in die gleiche Baracke. Wir wohnten gemeinsam in einer kleinen Kammer. Zwischen unseren Betten war noch ein wenig freier Raum, man hätte gerade noch ein drittes Bett dort aufstellen können.

Der Raum, wo Sadananda und ich für eine kleine Weile hausten, war die ehemalige Spülküche einer Unteroffiziersmesse, niemals als Wohnraum gedacht. Der Verschlag war nachträglich auf der Veranda hinzugebaut worden. Es war darinnen heiß wie in einem Backofen. Die Tropensonne glühte auf das niedrige schräge Dach und auf die dünnen Ziegelmauern. Und überdies grenzte der Sportplatz des Lagers an die Kammer. Es war nicht möglich, die mit Kalk verschmierten winzigen Fensterluken zu öffnen, weil die abirrenden Bälle der Wettspieler sonst sogleich die hochgeklappten Fenster zertrümmert hätten. Auf der Veranda links und rechts von unserer Kammer kauerten den ganzen Tag in dichten Reihen die Zuschauer der Spiele. Bei jedem besonders gelungenen oder mißglückten Ballstoß schrie diese Menge, in zwei Parteien geteilt, entzückt oder empört auf. In höchster Erregung pfiffen manche schrill zwischen ihren in den Mund gesteckten Fingern.

Mein Gefährte saß indessen mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett, benutzte einen kleinen Blechkoffer, den er auf seine Knie gelegt hatte, als Tisch und schrieb eifrig, tief niedergebeugt, an seiner umfassenden, wissenschaftlichen Arbeit. Dicht neben ihm stand ein anderer größerer Blechkoffer, angefüllt mit Büchern, Schriften, Heften, in musterhafter Ordnung aneinandergereiht. Im Finstern konnte der Freund jedes Blatt Papier sofort finden. Innen eingefügt in den Deckel des aufgeklappten Koffers befand sich ein Bild von Sadanandas Guru.

Heulen und Pfeifen stieg von neuem draußen auf. Wieder prallte der Fußball an unsere Luke. Glas klirrte splitternd nieder. Vergebens suchte ich meinen Ärger, ja fast Menschenhaß, niederzudrängen. „Ist es nicht wichtiger, daß man Liebe zu den Menschen lernt, bevor man wagt, Liebe zu Gott erlernen zu wollen?“ fragte ich.

„Sie können gar nicht wahre Liebe zu Menschen haben, ohne Gottesliebe“, war die rasche Antwort. „Der Mensch, jedes Wesen in der Welt, ist wie eine der Blüten an einem blühenden Baum. Die Wurzel des Baumes ist Gott. Wenn Sie die Wurzel bewässern, dann werden auch alle Blätter und Blüten des Baumes erfrischt. Die Liebe strömt über. Aber Sie dürfen nicht die Kleider, ich meine die Leiber und die Geilheit und die Begierden der Menschen mit dem wahren Selbst, dem Atma, verwechseln, der zeitweilig eine dieser seltsamen Hüllen trägt. Der Atma ist nicht Nazi, nicht Kommunist, nicht Engländer, nicht Jude, nicht Brahmane, nicht Preisringer … auch nicht Mann oder Frau. Das ewige Wesensgesetz jedes Atma ist es, ein ewiger Diener Krishnas zu sein, auch wenn er es vergessen hat. Sie müssen versuchen, auf diesen Atma zu sehen.“

„Können Sie es?“

„Ich bemühe mich.“

Ein Internierter in dem neuen Lager war damals obdachlos. Er stammte aus Ostpreußen und trug ähnliche Mönchskleider wie Sadananda, nur von gelber und nicht von orangener Farbe. Er war einer der wenigen europäischen Buddhisten in dem Lager, von denen einzelne hervorragende Gelehrte waren und einen ganz ausgezeichneten Charakter besaßen. Doch hatte ich das Unglück, an einen Einzelgänger zu geraten. Er war fett und hatte einen von Natur aus vollkommen kahlen, spiegelnden Schädel und führte dazu unglücklicherweise den Namen Kraushaar.

In Kraushaars Schädel sah es ein wenig wunderlich aus. In seiner Jugend hatte er als Lehrling in einem Laden in einer kleinen Stadt in Ostpreußen gearbeitet und dort Heringe und Käse verkauft. Dann war er ein wandernder Photograph geworden, der mit seinem Apparat hin- und herziehend, am Strande ostpreußischer Seebäder die mehr oder weniger bekleideten männlichen und weiblichen Badegäste abknipste. Während der Ausübung dieses Berufs hatte ihn eine Sehnsucht nach Seelenfrieden und Weisheit überkommen und er war dort ein buddhistischer Mönch geworden. Aber die Halbbildung, die sich in wirren Trümmern in seinem Kopfe aufgespeichert hatte und sein streitsüchtiges Gemüt war der harten, tiefen Gedankenarbeit, welche die Lehre des Buddha erfordert, nur unzureichend gewachsen.

Äußerlich hielt er die Ordensregeln überaus streng ein. Beim morgendlichen und abendlichen Namensaufruf stand er weit abseits von den geordneten Reihen der Mitgefangenen. Er weigerte sich, an den Diensten für die Lagergemeinschaft teilzunehmen, so, wie die anderen, an bestimmten Tagen Kartoffeln zu schälen, Holz zu sägen oder andere Handreichungen zu tun. Er behauptete, seine Ordensregel verbiete ihm, für Laien eine Arbeit zu verrichten. Er setzte seinen Standpunkt durch.

Mit würdevollen langsamen Schritten, stets vorschriftsmäßig zu Boden blickend, wandelte seine in gelbes Tuch gehüllte, feiste Gestalt längs des Stacheldrahtes gemessen auf und ab. Zuweilen fand er den einen oder anderen Jünger, der einige Tage neben ihm wandelte, seinen Verkündigungen lauschte und ihn nachher im Stiche ließ und verhöhnte. Er galt als unverträglich und als Verbreiter verhetzender Gerüchte.

Nach dem Umzug des ganzen Lagers an einen neuen Ort weigerten sich alle Baracken, Kraushaar bei sich aufzunehmen. Trotzig stellte er sein Bettgestell im Freien auf, am Rand des Fußballplatzes, wo seine aufgespannten gelben Tücher vielen zum Ärgernis wurden.

„Er ist ein alter Mann“, sagte Sadananda. „Der Winter ist rauh hier, in unserem Winkel wäre gerade noch Platz. Wollen wir Kraushaar einladen, bei uns zu wohnen?“

„Er ist zänkisch“, sagte ich bedenklich. „Es wird Verdruß geben. Ich weiß, er hat hartnäckig überall ausgesprengt, daß ich schwarze Magie betreibe.“

„Ach, Kraushaar hat doch keine blaße Ahnung, was schwarze Magie ist. Und noch weniger diejenigen, die ihm zuhören“, lachte Sadananda. „Es ist doch ein Unrecht, daß man sein Mönchsgewand verhöhnt.“

Ich weiß nicht, welche Nebenabsichten mein Freund noch verfolgte, ob er mir vielleicht einen Spiegel vorhalten wollte, wie man’s machen soll und wie man’s nicht machen soll. Auf jeden Fall zog der neue Hausgenosse feierlich bei uns ein und schlug zwischen unseren Betten sein Lager auf. Er lieh mir zu meiner Belehrung ein Buch, aus welchem ich mir einen Spruch des Buddha fürs Leben merken will:

„‚Er schmähte mich, er schlug auf mich,
er überwand mich mit Gewalt‘.
Wer solcherlei Gedanken hegt, der wird
von Feindschaft niemals frei.

‚Er schmähte mich, er schlug auf mich,
er überwand mich mit Gewalt‘.
Wer dem Gedanken nicht Raum gibt,
der wird gewiß von Feindschaft frei.

Denn Feindschaft kommt durch Feindschaft
auf Erden nie zur Ruhe.
Durch Nichtfeindschaft kommt sie zur Ruhe.
Das ist ein ewiges Gesetz.“

Hinter seinem aufgespannten Moskitonetz und darübergelegten gelben Tüchern verborgen, saß Kraushaar jeden Tag viele Stunden mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett zwischen Sadananda und mir und meditierte. Er führte einen Totenschädel immer und überall mit sich und meditierte vor diesem Totenschädel über die Vergänglichkeit alles Irdischen. „Ich strahle Mitleid und Liebe zu allen Wesen aus“, erklärte er mir. Aber trotz seines tiefen Versunkenseins in die Kontemplation wußte er merkwürdigerweise doch immer ganz genau, was rings um ihn geschah. Er, der doch allem Besitz entsagt hatte, war höchst achtsam auf seine Besitzrechte, auf seinen Anteil am Boden der Baracke usw. Nur am Ausfegen dieses Bodens wollte er sich nicht gerne beteiligen, weil das seine Ordensregel verbot. „Ich sehe, Sie wollen sich an mir reiben“, sagte er mir wiederholt. Wir beide gingen auf den Zehen, um ihn nicht zu stören.

Kraushaar hatte die Eigenschaft, nachts im Schlafe oftmals durchdringend zu wimmern und zu heulen ‚Huhuhu…‘, als ob er ständig von schrecklichen furchterregenden Träumen bedrängt würde. „Schreien Sie nicht so“, sagte Sadananda barsch, als es einmal zu arg wurde und drehte das Licht an. Wir pflegten, vor der vorgeschriebenen Zeit das Licht in unserem Winkel auszulöschen, damit unser Stubengenosse nicht in seinem Schlafe gestört würde. Blinzelnd richtete sich Kraushaar auf. Er brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden. „Es ist kein Wunder, daß ich im Schlafe schreie“, sagte er dann gemessen. „Es sind eben zwei Ohren zu viel in diesem Raum.“ Er warf mir einen scharfen Blick zu, denn mit seiner Bemerkung meinte er mich, und die dunklen Künste, die ich seiner Meinung nach trieb, um ihn zu ängstigen.

Nun verlor Sadananda all seine Höflichkeit und wurde ausfällig. In seiner Ansprache nannte er seinen Bettnachbarn nicht mehr „Ehrwürdiger“ und mit seinem buddhistischen Mönchsnamen, wie er es in seiner Achtung vor dessen Kleid sonst immer tat. Er nannte ihn mit seinem alten Namen aus dem Käseladen. „Kraushaar, machen Sie sich nichts vor“, wies er ihn zurecht. „Sie schreien nicht, weil etwas Böses und Finsteres außerhalb von Ihnen ist, sondern weil Sie selber voller finsterer heimtückischer Gedanken sind. Deshalb werden Sie von Angstträumen geplagt. Deshalb leben Sie in andauernder Furcht und glauben, daß andere Sie bedrohen. Sie behaupten, Sie strahlen Mitleid und Liebe aus und statt dessen brüten Sie Haß. Sie sagen, Sie üben Versenkung und statt dessen sitzen Sie wie eine Spinne in Ihrem Netz und lauern ununterbrochen darauf, ob etwas Sie stören könnte, damit Sie sich nachher darüber beschweren können. Ich habe noch nie im Leben einen Menschen gesehen, der so verkrampft in seinem Egoismus ist wie sie, der glaubt, daß er der Mittelpunkt der Welt ist und daß sich alles nur um ihn dreht. Sie entehren das ehrwürdige Mönchsgewand des Buddha, das Sie tragen – Sie alter Heuchler!“

Mit verkniffenem feistem Gesicht, wie einer, der gewöhnt ist, allezeit bitterstes Unrecht zu leiden, hörte sich Kraushaar diese Rede an. Mit verkniffenem Gesicht zog er am nächsten Tag mit seinem Totenschädel und seinen Schriften der Barmherzigkeit und Liebe in eine andere Behausung hinüber. Überall verbreitete er, daß er ausgezogen sei, weil ihm seine Religion verbiete, mit einem Juden unter dem gleichen Dache zu wohnen.

„Warum waren Sie so hart zu Kraushaar?“ fragte ich, nachdem uns unser Gefährte verlassen hatte.

„Um seinen Atma aufzuwecken. Auch wenn er jetzt gekränkt davonläuft, ein Eindruck bleibt fürs nächste Leben. Das ist eine viel größere Hilfe, als wenn ich seinen Egoismus, seine Eitelkeit gefüttert hätte. Mein Guru war ein Meister in solchem Verhalten. Er nannte es „aggressive grace“, Gnade im Angriff, kämpferische Gnade. – Aber das Abendland verwechselt so leicht die Kleider und die wahre Gestalt. – Sie wissen, daß ich die sozialen Bestrebungen der westlichen Hemisphäre sehr hoch schätze. Ja, Altersfürsorge, Krankenfürsorge, Recht auf Arbeit für jeden, Recht auf Erziehung für jeden, das ist gut. Schutz der Kinder, der Kranken, der Schwachen, Schutz der Verfolgten, das soll sein, das muß sein. Das ist ja schließlich heutzutage beinahe das einzige, was den Menschen noch vom Tier unterscheidet. Aber, wenn ich mir diese vielfältigen Bemühungen anschaue, die vergängliche Wandelwelt behaglich zu machen, da kommt es mir doch manchmal so vor, als sei ein Mensch ins Wasser gefallen und in größter Gefahr, zu ertrinken. Und ein anderer springt ihn nach und rettet sorgfältig – dessen Kleider. Und ihn selbst, die wahre Person – den Atma – läßt er untergehen.“

Allmählich erkannte ich, daß jedes Wort, das Sadananda sprach, Ausdruck der Bhakti war; und daß alles, was Sadananda den Menschen tat, ob er nun freundlich war oder höhnte – und er konnte entsetzlich hart und schneidend sein – immer dem Bestreben entsprang, die Atmas der Menschen ringsum aufzuwecken, sie sich an ihr wahres Wesen zu erinnern; ein Diener Krishnas zu sein. Die Internierten achteten ihn, trotz seiner den Spott herausfordernden Mönchstracht. Sie fürchteten ihn, denn er war ihnen an Schlagfertigkeit weit überlegen. Er erschreckte sie und sie mieden ihn.

Wenn Sadananda einem weh tat, dann kamen dem Betroffenen manchmal die Tränen, so tief war seine Eitelkeit verwundet. Der Betroffene glaubte oft, der innerste Grund seines Wesens werde entwurzelt. Aber dieser Schwerthieb, der so schmerzte, kam nicht von dem ungeduldigen Schwert eines Machthabers, sondern das war wie ein reinigender Blitz. Es war wie der Schwerthieb am Schlusse vieler unserer Märchen, die ja großenteils aus Indien stammen, wo der Verzauberte oft selber bittet: „Schlage mir den Kopf ab. Schlag mir den übergestülpten Tierkopf ab.“ Wenn der andere zauderte, dann blieb der Bittende verwunschen. Doch wenn der Retter zuschlug, dann ward der Verwunschene zu seiner wahren Gestalt erlöst.

Doch nur in den Märchen wagen die in Tiere oder Unholde verzauberten Prinzen voll Mut selber zu bitten: „Entzaubere mich zu meiner wahren Gestalt der Liebe. Erlösendes Schwert, schlag zu.“ Im Lager schmähten sie über Sadananda:

„Das ist ein Renegat, der sein Europäertum verraten hat, der sich verniggert hat.“ Und sie schrieben gehässige Berichte und Verleumdungen und schickten sie an eine Untersuchungskommission.

Schweigend litt Sadananda unter seiner Einsamkeit.

Kirche hinter Stacheldraht

In dem indischen Lager hausten scharenweise die eingesperrten christlichen Missionare. In fast allen Lagerflügeln hausten sie. Alles Leben und auch alle Not der Kirche spielte sich hinter Stacheldraht ab. Bei dem engen Zusammenleben in den Baracken trat es unvermeidlich zutage, daß auch Männer, die ein priesterliches Kleid trugen, arme Menschen mit menschlichen Schwächen waren. Aber während der sechs Jahre meiner Internierung in Indien war es mir manchmal ein großer Trost, daß es in dem von Streit und Haß erfüllten Lager Menschengruppen gab, die sich bestrebten, ihren Blick aufs Ewige zu lenken, daß zum Beispiel jeder katholische Priester im Lager allmorgendlich seine stille Messe hielt, daß in die Speisesaalbaracke, wo sich sonst nur hungrig und gierig die Gefangenen zum Essen versammelten, jeden Sonntag ein Altar hineingestellt und Gottesdienst gehalten wurde. Ich freute mich, daß dieser Raum am Ostersonntag schütterte vom Auferstehungsjubel und daß in dem Kirchenchor Katholiken und Protestanten ihre Stimmen einten. Ich mühte mich ehrlich, in den Pfarrern der verschiedenen christlichen Bekenntniße die Nachfahren jener Glaubensboten zu sehen, denen Christus einst gesagt hatte: „Nehmet hin den Heiligen Geist!“ – „Gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Die Botschaft des Heiligen Geistes durch die Welt zu tragen, bedeutet doch auch, den Heiligen Geist zu erkennen, wo immer er auch waltet. Nun, in der Gottesliebe, die Sadananda verkündete, fühlte ich eine Offenbarung, die loderte vom Heiligen Geist. Wie staunte ich, daß manche der christlichen Glaubensboten im Lager herabsetzende und verächtliche Worte über Sadananda aussprachen. Ich verwunderte mich, daß die meisten keine Ahnung davon hatten, daß es in der Mannigfaltigkeit indischen religiösen Lebens seit undenklicher Zeit auch einen starken Strom von reinem Theismus gibt. Herablassend sprachen die Priester und geistlichen Brüder von den „armen Heiden“, zu denen sie auch Sadananda zählten.

Nur ein einziger von den vielen christlichen Missionaren, die ich in den Internierungslagern in Indien kennenlernte, hatte sich vor seiner Verhaftung ernstlich mit der uralten Kultur, Religion und hohen Weisheit des Volkes beschäftigt, das zu bekehren sie als Heidenmissionare ausgezogen waren. Aber eine Reihe von ihnen suchte das Versäumte im Lager nachzuholen.

Es war eine seltsame kleine Versammlung, die sich einige Male in der Woche lange Zeit hindurch regelmäßig in unserer „Spülküche“ einfand, während unmittelbar daneben die Zuschauer der Wettspiele lärmten und die großen Lederbälle dumpf auf die Wand unserer Kammer trommelten.

An einige der Teilnehmer an Sadanandas Kursen erinnere ich mich deutlich. Da saß auf einem Hocker, den er sich mitgebracht hatte, der alte Pater Lader, die harten Arbeiterhände im Schoß gefaltet. Sein grobgeschnittenes, faltiges Gesicht war von einem ungepflegten, fahlen Bart umgeben. Seine geistlichen Amtsgenossen belächelten und verspöttelten ihn ein wenig: „Nun ja, der gute Pater Lader!“; denn er achtete nicht allzuviel auf seine Kleidung, seine weiße Kutte war zuweilen befleckt und unrichtig zugeknöpft. In seiner Jugend war er ein Schmiedegeselle in Württemberg gewesen. Dann war er ein dienender Bruder in einem geistlichen Orden geworden und aus Sehnsucht nach Indien in dieses Land gefahren. Dort hatte ihn der erste große Krieg überrascht und er war sechs Jahre hinter Stacheldraht in einem indischen Barackenlager gewesen. Nun, im zweiten großen Krieg saß Lader wieder sechs Jahre in einem indischen Interniertenlager hinter Stacheldraht. In der Zeitspanne zwischen den beiden Kriegen hatte er Latein gelernt, sich mühsam durch ein Seminar hindurchgearbeitet und die Priesterweihe empfangen. Und dann hatte er viele entbehrungsreiche Jahre in der Einsamkeit und Armut und den Anfechtungen eines indischen Dorfes mitten im Dschungel gehaust.

„Sie kennen das indische Dorf nicht“, sagte er mir. „Sie kennen den Aberglauben und den Fanatismus des Dorfes nicht. Sie kennen nur die indische Hochkultur und die Upanishaden“. Und doch liebte er dieses indische Dorf, obwohl es ihm, wie er gestand, während seines langen Wirkens recht selten gelungen war, jemanden zu bekehren. Er liebte auch die Upanishaden. Gleich nach meiner Verhaftung war er zu mir gekommen, um sich einige Sanskrittexte auszuleihen. Der alte Lader war jener einzige von den vielen christlichen Missionaren, die ich im Lager kennenlernte, der schon vor seiner Internierung Sanskrit studiert hatte.

Neben Lader saß der evangelische Pastor Dr. Fuchs. Er trug gutgeschnittene, wohlgebügelte Anzüge, lächelte meist verbindlich und hatte eine leichte Neigung zu Intrigen. Aber er war sehr begabt und sehnsüchtig in seiner Seele. Oft, auch außerhalb der Kurse, kam er zu uns in die „Spülküche“. Sadananda war hart zu ihm, wie zu allen Menschen, die er schätzte und von denen er etwas erwartete. „Er hat viele Möglichkeiten“, sagte Sadananda über ihn. „Er hat zu viele äußere Erfolge. Er brauchte einen ganz harten Schicksalsschlag, der ihn vollkommen niederwirft. Dann könnte seine Seele wirklich erwachen.“

Neben Pastor Fuchs saß ein Laie, ein stiller weißhaariger Geologe; vor seiner Internierung hatte er in Bergwerken von Südamerika und in Indien gearbeitet und sich bisher nur mit exakter Naturwissenschaft beschäftigt und hatte wohl geglaubt, daß er ein Atheist sei. Ernst sagte er mir nach einer der Vortragsstunden Sadanandas: „Daß es so etwas gibt, das hätte ich früher nicht für möglich gehalten. Die Welt, in der ich bisher gelebt habe, ist ja gar nicht die ganze Welt. Es ist, wie wenn ein Vorhang weggezogen würde. Ein Wind aus einer anderen, einer wahreren Welt, weht einen an, wenn Ihr Freund von Krishna spricht.“ Er sah mich erschreckt an. „Haben wir die wahre Welt ganz vergessen?“

Seine Frau saß tausend Meilen entfernt in dem Frauenlager (Lager Yercaud) in Südindien, wohin ich auch einmal versetzt worden war. Als alle die getrennten Gatten und Gattinnen nach mehrjährigem Bitten und Harren endlich in einem neu errichteten Familienlager hinter Stacheldraht vereinigt wurden, und Dr. Schultheiß uns verließ, schrieb er mehrmals an Sadananda, sandte ihm auch zu Weihnachten einen mit Liebe aus Holz geschnitzten Teller als Zeichen seiner Dankbarkeit.

Unermüdlich schrieben die drei Jesuiten in den Heften auf ihren Knien den Vortrag Sadanandas mit. Sie waren gewöhnt, sich auf Prüfungen vorzubereiten, sie waren das wissenschaftliche Arbeiten gewöhnt. Erst mit fünfundvierzig Jahren wurden sie vollgültige Ordensmitglieder. Ihre Novizen verloren im Lager keine Zeit; sie hörten ihre Vorlesungen wie bisher. Eine ganze theologische Fakultät hatten die Jesuiten mit in das Gefangenenlager genommen. Die drei von ihnen, die an Sadanandas Kurs teilnahmen, waren einander so ungleich wie möglich.

Der noch junge Pater Zehner fiel nicht auf. Niemand mäkelte über ihn im Lager, trotz seiner weißen Kutte und des Priesterbartes, der sein faltiges braunes Gesicht mit den großen Augen umgab. Unaufgefordert packte er fest zu, wenn ein schwerer Trog Kartoffeln zu schleppen war oder Freiwillige für eine beschwerliche Arbeit gesucht wurden. Es war angenehm, schweigend bei der Gemeinschaftsarbeit neben ihm zu sitzen. Wenn er sprach, setzte er behutsam Wort an Wort. „Das haben wir auch“, murmelte er verstehend, als Sadananda in seinem Kurs Geheimnisse des Göttlichen Innenlebens andeutete, die sich in dem Radha-Krishna-Kulte abspiegeln. Zehner meinte die Liebe, die zwischen den Göttlichen Personen der Dreieinigkeit webt. Er war sichtlich voll Scham über seine eigenen Worte.

Sonnenbichler, der aussah wie ein bärenstarker holzgeschnitzter Erzengel Michael, war damals noch Novize. Erst später empfing er im Lager die Priesterweihe. Einer der internierten italienischen Bischöfe durfte aus diesem Anlaß für ein paar Stunden aus seinem Drahtgehege in unser Stacheldrahtgehege herüberkommen. Wie ein umgestürzter Baumstamm lag der lange blonde Bursche während des Weihekultes hingestreckt vor dem Altar in der Speisesaalbaracke. Einige Tage ging er wie verklärt einher. Der Herzensneigung nach war er eigentlich Bildhauer und Musiker. „O wie sakrisch schwer ist dieses verflixte Sanskrit“, stöhnte er einmal aufrichtig, als wir an dem Brunnen nebeneinander unsere Blechteller reinspülten. „O wie leicht ist Latein dagegen. – Und diese ganz neuen, zarten Gedankengänge, diese Beweglichkeit des Denkens, in die man sich erst hineinleben muß; das Hirn will nicht, es bockt wie ein störrisches Roß.“ „Mir ging es anfangs genau so“, tröstete ich ihn.

Auch Pater Sprechmann, der dritte Jesuit, der an Sadanandas Kurs teilnahm, stammte aus einem bayrischen Dorf, so wie Sonnenbichler. Seine Betonung verriet es, wenn sich auch auf der theologischen Fakultät an der Universität zu Freiburg ein Netz von Scholastik über seine ländliche Derbheit gelegt hatte. Sein gejagtes, eiliges Sprechen eilte oftmals seinem Denken beträchtlich voraus. Es schien zuweilen, als wollte er die Göttlichen Geheimnisse wie mit einer Brechstange angehen. Dr. Sprechmann war vielseitig und sehr ehrgeizig. Er war nicht nur Theologe, sondern auch ein ausgezeichneter Turner und Dauerläufer, und er übte täglich am Barren und am Reck. Eines seiner Ziele war, im Lager das sogenannte „Goldene Sportabzeichen“ zu gewinnen.

Schmal stand Sadananda in seinem von ihm selbst gefärbten orangenen Tuch, die nackten Füße in den landesüblichen indischen Sandalen, vor der ausgeborgten Schultafel. „Der Krishna, von dem Sie wissen, von dem Sie in Büchern lesen können, der Krishna als Göttlicher Held und Lehrer in dem Epos Mahabharata und in der Bhagavadgita ist noch nicht der volle Krishna“, erklärte er. „Und auch die Gottheit, in welcher die Welt gründet, und Gott, der die Welt schafft und trägt und behütet und zu dem die Welt am Ende wieder zurückkehrt, das sind nur die äußeren Aspekte von Ihm. Der wahre Krishna ist ein tiefes Mysterium.“

Mit seiner zarten und geisterfüllten Schrift schrieb Sadananda auf die Tafel in Devanagari-Zeichen die Silbe „krish“…

Die Menschenziele

Grün und regenfeucht ragten Berge hinter den Palisaden auf, aber aller Glanz der indischen Landschaft schien wieder erloschen zu sein, als wir, unser Gepäck schleppend, durch die doppelten Stacheldrahttore des neuen Lagers geschritten waren. Die Menschen, die sich innerhalb des Stacheldrahtes zusammendrängten, waren die gleichen geblieben. Sie hatten alle ihre Begierden und ihre Trauer und all ihr Schicksal mit sich genommen. Von den vielen Füßen niedergetreten war bald der Grasboden in dem engen Geviert, glanzlos die Erde. Aber das innere Licht, das aus dem Gottesnamen kam, den Sadananda auf der Fahrt gesungen hatte, das war nicht erloschen.

In dem neuen Lager verloren Sadananda und ich unsere Plätze nebeneinander. Sadananda war ein Platz in einer Baracke im Süden bei den buddhistischen Mönchen angewiesen worden. Ich aber hatte das Glück, für eine kurze Zeit allein in einem Werkzeugschuppen im Norden, nahe dem Stacheldraht hausen zu dürfen. Es war eine Freundlichkeit des Lagerkommandanten, daß ich diese abgesonderte Schlafstelle bekam, um die ich viel beneidet wurde.

Zwar hatten die großen Fensteröffnungen dicht unter dem Dach kein Glas. Die Türe war zerbrochen. Zwischen Dach und Mauer flogen die Vögel ungehindert aus und ein. Gleich neben dem Schuppen befand sich die Kantine des Lagerflügels, wo bis tief in die Nacht selbstgebrautes Bier und selbstgebrannte Schnäpse ausgeschenkt wurden, wobei es nicht ohne Lärm abging. Aber es war doch eine beseligende Zeit. Ich konnte arbeiten. Mit großem Eifer half mir der Freund, die neue Bude einzurichten. Irgendwo auf einem Unrathaufen fanden wir eine beschädigte Tischplatte und anderswo zwei eiserne Tischständer, die zu wackelig waren, um in der Speisesaalbaracke noch verwendet zu werden. Für uns waren sie noch brauchbar. Wir breiteten ein blaues Leinentuch darüber, eine Schlafdecke, wie sie die indischen Wachtposten verwendeten. Nun sah der Schreibtisch ganz stattlich aus. Sadananda, der sehr geschickte Hände hatte, stand oben auf einem hohen Schemel, der auf unseren Tisch gestellt worden war. Ich hielt das schwankende Gerüst, daß es nicht zusammenbräche, und er nagelte alte Bettücher, die ich gefaltet und zusammengenäht hatte, über die breiten Öffnungen in der Nordmauer, damit der Wind vom Gebirge im Winter nicht völlig freien Zutritt habe…

Am nächsten Tag kam Sadananda wieder zu mir. Ganz unvermutet war er plötzlich da. Er liebte es nicht, Verabredungen zu treffen. Auch in dem Lager war er innerlich frei wie ein Vogel. „Nun, Vamandas“, rief er, „mir scheint gar, Sie haben gearbeitet. Haben Sie über die Menschenziele nachgedacht?“

„O ja, das habe ich. Nicht dharma, artha, kama, nicht Recht, Wohlstand und Lust sind die wahren Menschenziele, sondern Befreiung vom ewigen Kreislauf der Geburten und Tode, Mukti ist das Menschenziel. – Durch seine Liebe zu Krishna erlangte König Parikshit Befreiung und ging in das Göttliche Sein ein.“

Traurig sah mich Sadananda an. „Haben Sie es noch immer nicht verstanden, sind Sie noch immer in dem System von Shankaracharya gefangen, das Ihnen Shri beigebracht hat? Spüren Sie denn nicht, wie erschreckend es einem Bhakta erscheint, daß jemand angehalten wird, Gott zu lieben, so wie es Shankaracharya rät, als ein Mittel zum Zweck, um Befreiung zu erlangen? Und dann, wenn er das Wissen erlangt hat, wenn er aus eigener Erkenntnis weiß, daß er eins ist mit dem Brahman, dann soll er seine Liebe zu Gott auskühlen lassen, und stille werden. Dann kann er das Bild des persönlichen Gottes, das er nun nicht mehr benötigt, in den Fluß werfen, als eine letzte Illusion. Er ist ja das große Brahman selber.“

„Nicht Mukti oder Befreiung ist das letzte Ziel. Der wahre Bhakta, wie Parikshit einer ist, lacht darüber. Hier im Buche Bhagavatam wird gesagt: ‚Leicht gibt Gott Mukti, aber sehr selten gibt er Bhakti.‘ Spontane, motivlose Liebe zu Ihm, Gottesliebe um der Liebe willen, das ist das höchste Menschenziel.“

Dicht trat Sadananda an mich heran und sah mich mit blitzenden Augen an. Er packte mich bei beiden Schultern und rüttelte mich und rief mir einige Worte aus den Upanishaden zu, daß diese mich wie ein Blitz durchfuhren. Er rief: „Steh auf! Wach auf! und laß nicht ab, bis das Ziel erreicht ist. Svasti!“ – Schon war er entschwunden.

Aber noch immer durchfuhr mich der schmetternde Blitz der Liebe: als schälte er für einen Augenblick meine innerste Wesensgestalt von allen irdischen Hüllen frei.

„Svasti! – das war der uralte indische Gruß und der bedeutete: sva-asti, das Selbst ist, der Atma ist, der Atma voller Kraft und Liebe ist.
Und dann saßen wir sehr zufrieden an dem Arbeitstisch inmitten des kahlen Raums einander gegenüber. Sadananda gab mir, niemals ermüdend, seine unausschöpfbare Unterweisung, obwohl er schon damals ständig von schweren Körperschmerzen gequält wurde. Wie eine auf beiden Seiten angezündete Fackel verbrannte er sich in seiner Arbeit und um mir ein wenig von den Schätzen der Göttlichen Liebe zu schenken, die er von seinem Guru empfangen hatte.

Gemeinsam mit Sadananda begann ich in dem Schuppen nochmals die zwölf Teile des großen Werks Bhagavatam zu lesen, das ich schon im Hause Shris ein wenig kennengelernt hatte. „Wenn man mich auf einer wüsten Insel aussetzen und man mir erlauben würde, ein einziges Buch mitnehmen zu dürfen, dann würde ich von allen Büchern in der Welt gewiß das Bhagavatam wählen“, sagte der Freund lebhaft…

Der Schweinekoben

… Eine fette Stimme, voller Dünkel und Überheblichkeit, machte sich von der nahen Lagerschenke her gröhlend bemerkbar. Voll Wut kam die Stimme näher. Ein schwerer Leib stieß zornig an die Tür unseres Schuppens an und jemand brüllte:

„Diese Scheißkerle! Diese verdammten Nigger mit ihrer Schweinereligion! Man soll sie prügeln und prügeln bis sie krepieren!“ Schimpfend und fluchend zog er weiter und erfüllte das Lager mit seinem Geschrei.

Am nächsten Tag hatte dieser Mann, der gute Beziehungen zu einigen Unteroffizieren der Wachtmannschaft besaß, es durchgesetzt, daß ihm von der Lagerbehörde der Auftrag erteilt wurde, als Partner in meinen Schuppen einzuziehen. Mit seinen Kisten und Bündeln rückte er schnaufend an. Seine alten Hosen hingen nun an den Wänden. Sein Gurtbett und darunter seine verstaubten genagelten Stiefel standen in dem Winkel, wo mein Freund früher meditiert, gesungen und mir seine Unterweisung gegeben hatte. Unser gemeinsamer Arbeitstisch, den wir uns mit so viel Mühe verschafft hatten, war nun hauptsächlich Tümpelbaums Tisch. Nicht mehr Sadananda, sondern Tümpelbaum saß mir an diesem Tisch gegenüber. Wenn ich von der Arbeit aufsah, blickte ich in seine spähenden entzündeten Augen. „Sperren Sie alle Ihre Sachen ab“, mahnte Sadananda. „Wenn Sie nicht zu Hause sind, wird Tümpelbaum wahrscheinlich Ihren Koffer durchsuchen.“ Als ich meinem neuen Hausgenossen das erstemal nicht in allem nachgab, stellte er sich breitbeinig dicht vor mich hin, daß ich jede Einzelheit in seinem fleischigen rohen Gesichte deutlich sehen konnte, den wulstigen Mund mit der hängenden Unterlippe, der durch eine Lähmung schräg gestellt immer wie zu einem höhnischen Grinsen verzerrt schien, und ich spürte seinen warmen nach Alkohol duftenden Atem. Er und ich waren uneins geworden, weil er meinem Freund das Haus verbieten wollte. „Merken Sie sich“, schrie er, „merken Sie sich ein für allemal, dieser Nigger wird meine Wohnung nicht mehr betreten! Sie werden bald wahrnehmen, wer in diesem Raum der Herr ist. Wissen Sie, wer Sie sind … Sie, Sie, Sie … Sie sind ein Heide! Ich aber – ich bin ein Christ!“

„Sie wissen ja gar nicht, was Religion, was Christentum ist.“

„Ich weiß nicht, was Religion, was Christentum ist?“ Tümpelbaum jappte nach Luft. Gurgelnd vor Zorn setzte er sich hin.
„Sie dürfen sich nicht unterkriegen lassen“, ermutigte mich Sadananda. „Sie müssen es schaffen. Es muß Ihnen gelingen, auch in Gegenwart dieses Menschen ungestört zu arbeiten.“

„Das ist kein Mensch“, rief ich verzweifelt. „Er ist wie ein überall schnüffelnder Hund. Sie haben niemals eine Nacht neben ihm zugebracht. Der ganze Raum ist nicht nur erfüllt von den Ausdünstungen und Geräuschen, die sein Leib von sich gibt, der Raum ist erfüllt von den Bildern seiner unreinen Sexualvorstellungen, in denen dieser Mann ständig lebt.“

„Tümpelbaum ist kein Hund, er ist ein Schwein“, bemerkte Sadananda trocken und sachlich. „Aber Sie müssen es schaffen. – Hängen Sie eine Decke vor Ihr Bett, daß seine Ausstrahlung Sie nicht so unmittelbar trifft.“

In dem Schuppen war es dunkel. Tümpelbaum lag auf dem Rücken und schlief mit offenem Mund, schwer röchelnd. Er muß einen Polypen in seiner fleischigen Nase haben, überlegte ich. Er soll sich doch im Lagerspital den Polypen aus seinem Rüssel herausschneiden lassen! In rauhen Stößen fuhr Tümpelbaums Atem wie Sturm übers Meer. Ich lag zwischen Traum und Wachen und war nicht mehr in Indien. Mich umgab wieder die winddurchwehte Meereswelt der Odyssee, der uralten Dichtung des griechischen Sehers.

Während Tümpelbaums Schnarchen wie das Grunzen eines Schweines klang, ging ich im Halbtraum durch den modrigen Wald von Homers Zauberinsel Aiaie. Mich umfing ein Wald des immerwährenden Grünens und wieder Welkens. Verwesendes Laub bedeckte in dicken Schichten den verborgenen Grund. Ich wußte, das war der Wald, den die Inder Samsara oder die Wandelwelt nennen. An verzauberten Tieren vorbei, die mich kummervoll anblickten, wanderte ich den verlorenen Gefährten nach, welche die Zauberin Kirke in grunzende Schweine verwandelt hatte.

Hochgewachsen und schlank, auf leichten Sohlen, fast im Tanzschritt, kam mir der Götterbote Hermes entgegen. Mitleidig nahm er mich bei der Hand:

„Gehst du Unseliger
wieder allein durch Schluchten und Berge,
der du den Pfad nicht weißt;
und drinnen im Hause der Kirke
liegen dir deine Gesellen versperrt im Koben,
als Schweine?
Denkst du vielleicht,
du kämst und könntest sie lösen? …“

… Die irdischen Farben glänzten auf. Mit gedunsenem Gesicht und schräg aufgerissenem Mund schnarchte Tümpelbaum im Morgenlicht. Hatte ich bloß geträumt, daß ich entzaubert war? Staken wir noch immer in dem Schweinekoben? Mußten Tümpelbaum und ich und alle meine Gefährten erst in wahre Menschen verwandelt werden? Durch das offene Fenster drang das Pfeifen der übernächtigten Soldaten, die in dem Stacheldrahtgang ununterbrochen das Lager umschritten und die sorgsam darüber wachen mußten, daß wir, die anderen Verzauberten, aus unseren verschiedenen Koben nicht entwichen.

An diesem Tage brach in einem benachbarten Lagerflügel, bei den italienischen Faschisten, ein Brand aus. Das Strohdach einer großen Baracke brannte mit hoher Flamme nieder. Hingerissen von dem Anblick, stand Tümpelbaum dicht am Stacheldraht und blickte in das Feuer hinein und in das Getümmel der Gefangenen, die ihre kärglichen Habseligkeiten retten wollten. „Nur ein netter frischer Ostwind ist noch nötig“, rief er heiter, „dann brennt hoffentlich das ganze Lager nieder, alles, alles!“ Er breitete die Arme aus, als ob er den Brand einer ganzen Welt um armen wollte.

Das Feuer schien Tümpelbaums Selbstbewußtsein sehr gestärkt zu haben. Aufgeräumt begann er mir in unserem Schuppen zu erklären, was er von der Welt hielte und wie er reinen Tisch machen würde. Nichts als Korruption gäbe es, bei den Alliierten, ebenso wie bei den Achsenmächten. Er wütete gegen die Nazis und gegen die Faschisten, in deren Lagerflügel es eben gebrannt hatte. Er wütete auch gegen die Kameraden, die Antinazis, die in der gleichen Stacheldrahthürde wie er selbst hausten und die gar keine richtigen Antinazis wären. Er goß seinen Hohn aus über die christlichen Priester, die internierten Missionare. Er spöttelte über die Juden und die wenigen deutschen und italienischen Buddhisten im Lager. Nur er selbst blieb übrig in einsamer Glorie. Dann malte er voll Genuß aus, sich die dicken Lippen leckend, wie nach beendetem siegreichem Krieg seine Gegner ihre Strafe finden würden. „Glühendes Blei in den Mund gießen! Schinden bei lebendigem Leib! Hängen! … Auch Sie, Sie Lump, werden hängen!“ prophezeite er mir befriedigt.

„Ach du, armer Kerl, bist eine verzauberte Seele, ein verzauberter Atma“, dachte ich. „Ich darf es nur nicht wieder vergessen. Ich muß den Atma in dir sehen.“

Verärgert über mein Schweigen, kramte Tümpelbaum in einer seiner Kisten. Er suchte polternd nach einem Werkzeug, er fand es nicht. Eine eingerahmte Photographie, das Bild eines kleinen Jungen, geriet ihm in die Hand. Lange betrachtete er das Bild und befestigte es dann sorgfältig mit einem Nagel an der Wand neben seinem Bett. „Mein Kind, mein kleiner Sohn, er ist mit drei Jahren gestorben“, sagte Tümpelbaum, als er meinen teilnehmenden Blick merkte. Unvermittelt begann er aus seinem Leben zu erzählen, von den zusammengebrochenen Hoffnungen seiner Jugend in Norddeutschland, von den vielen Berufen, die er in Siam und China und anderen Ländern des Ostens ausgeübt hatte, als Polizist, als Techniker, als Lehrer an einer chinesischen Schule. Er erzählte von der Frau, welche die Mutter des verstorbenen Jungen war. – Auch er hatte ein Kind gehabt, auch er hatte eine Frau geliebt. – Er wußte nichts von ihr. Sie war eine amerikanische Krankenschwester auf den Philippinen, die jetzt bei den Japanern gefangen war.

Von dieser Stunde an war das Benehmen meines Stubengenossen zu mir verändert. „Guten Morgen“, begrüßte er mich wohlwollend lärmend, jedesmal wenn er aufwachte. An einem Festtag legte er mir zu meinem Staunen einige Rasierklingen auf den Tisch und bat mich, das kleine Geschenk anzunehmen. Die Klingen waren eine Kostbarkeit im Lager.

Auch Sadananda gegenüber befleißigte er sich fortab einer großen Höflichkeit, wenn der Freund nun wieder zu mir kam und mir in gedämpftem Ton seine Unterweisung gab. Aber Tümpelbaum war befangen in Anwesenheit des indischen Mönches; meistens verließ er rasch den Schuppen und ließ uns allein. Seine betonte Höflichkeit stammte wohl auch nicht ganz aus seinem Herzen.

„Sie haben Besuch versäumt, der Herr Doktor war hier“, teilte er mir einmal mit. Sadananda war in meiner Abwesenheit gekommen, um ein Sanskritwerk zu holen, das er mir geborgt hatte und für ein paar Stunden selber benötigte. Triumphierend verfolgte Tümpelbaum wie ich unter den Schriften auf meinem Teil des Tisches danach suchte. „Aha, fehlt Ihnen etwas? Vielleicht ein Buch?“ kicherte er. „Haha, der Herr Doktor hat etwas mitgehen lassen. Sie müssen Ihren Freunden besser auf die Finger schauen.“