Nov 082017
 


Beitrag zum Thema „Ideale und Träume“ der ÖJD-Senioren-Tagung Oktober 2017 in Neudietendorf

Von Christoph Schnyder

Träumt einer allein, so ist es nur ein Traum;
Träumen viele zusammen, so ist es der Anfang von etwas Neuem.

Haben wir Ältere noch Träume? Und wirken unsere Träume noch Kraft und Hoffnung?

Dass Träume Wirkung haben können, haben wir Ältere bei Martin Luther King ganz konkret erlebt: „I have dream!“ Ich habe einen Traum! Und sein Traum – besser: der Traum der Bürgerrechtsbewegung – hat viel für eine Besserstellung der schwarzen Bevölkerung in den USA bewirkt.

Der Traum der Bürgerrechtsbewegung hat seinen Ursprung im Traum vom Reich Gottes, wie er von Jesus Christus verkündigt worden ist.

Ich werde daher in einem ersten Abschnitt über den Traum vom Reich Gottes sprechen;

In einem zweiten Abschnitt über den Traum von Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung in den USA;

In einem dritten Abschnitt über Albträume, die von gewissen Populisten in die Gesellschaft geworfen werden, mit denen sie die sozialpolitische Wirkung des Reich Gottes Traumes zu ersticken versuchen.

In einem letzten Abschnitt gebe ich einige Hinweise, was der Bus-Streik von Montgomery für uns bedeuten könnte.

Der Traum vom Reiche Gottes

Jesus sagt:

Selig seid ihr Armen, dann euch gehört das Reich Gottes
Selig sind, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen gesättigt werden
Selig sind die Friedensstifter, denn in ihnen lebt das Reich Gottes
Wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den andern dar
Liebet eure Feinde und bittet für die, welche euch verfolgen.

Wer die Zeitungen liest, wer die Menschen kennt, wer sich selbst kennt, der weiss:

Diese Sätze sind weltfremd, unrealistisch, eine reine Verrücktheit. Sie sind nicht von dieser Welt.

Aber wir werden bei Martin Luther King sehen, dass sie von höchster sozialpolitischer Wichtigkeit sein können. Und King weist immer wieder daraufhin, dass er bei Mahatma Gandhi in die Schule gegangen ist, der seinerseits betonte, er gehöre zwar nicht zur christlichen Kirche aber bei Jesus und seinem Traum vom Reiche Gottes habe er Entscheidendes für seinen Weg gelernt. Die Gemeinde Jesu ist nicht nur dort, wo die Kirchtürme ragen, sondern dort, wo der Traum vom Reiche Gottes weitererzählt und gelebt wird.

So will ich denn mit euch zum sozialpolitischen Geschehen in der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den Südstaaten der USA und zu Martin Luther King vorstossen, welche in der Botschaft vom Traum vom Reiche Gottes gründet.

Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung im Süden der USA

Ich hatte das Privileg, mein Sabbatical im Frühjahr 1983 im Martin Luther King Zentrum in Atlanta/USA zu verbringen. Aus der Fülle meiner Eindrücke will ich nur über den Bus-Streik in der Stadt Montgomery im Staate Alabama berichten. Ich verwende dabei Kings eigene Berichterstattung in seinem Buch „Freiheit“ in deutscher Übersetzung, Oncken Verlag, 1964.

Das Erste: Zwischen Weissen und Schwarzen herrschte in den 1950er Jahren in den Süd-Staaten der USA eine strikte Rassentrennung; so auch in der Stadt Montgomery im Staate Alabama. Ich erwähne nur das Gesetz, wegen dem der Bus-Streik ausbrach. In den öffentlichen Busse hatten Weisse und Schwarze Zutritt, aber alle Sitze vorn waren für Weisse reserviert, und wenn dort alle Plätze besetzt waren und Weisse zustiegen, mussten die Schwarzen in ihrem Abteil sofort ihren Platz freigeben.

Rosa Parks, eine unter den Schwarzen in Montgomery hoch geachtete Frau, setzte sich am 1. Dezember 1955 auf dem Heimweg von der Arbeit in die erste Sitzreihe hinter dem weissen Abteil. Als ein Weisser zustieg und von ihrer verlangte, sie müsse ihm Platz machen, blieb sie sitzen. Das war gegen das gültige Gesetz. Sie wurde verhaftet. Am Abend des gleichen Tages erfuhren die Frauen des schwarzen politischen Frauenrates von der Verhaftung. Empörung! „Jetzt ist es genug!“ Sie beschlossen, dass die Schwarzen von Montgomery einen Bus-Streik durchführen mussten: „Wir Schwarzen werden die Busse nicht mehr benützen, bis wir darin die gleichen Rechte haben wie die Weissen.“ Aber wie organisiert man einen solchen Streik? In Montgomery lebten damals rund 50’000 Schwarze. Auch wenn nur 10’000 von ihnen die Busse benützten, wie erreicht und motiviert man sie? Wenn die Frauen sich nicht lächerlich machen wollten, so mussten möglichst alle, alle mitmachen. Sie riefen Führungspersonen der schwarzen Gesellschaft an,  darunter die Pfarrer und unter ihnen auch Martin Luther King. Es ist eine unvorstellbare Leistung, dass die Bürgerrechtsbewegung es schaffte, schon auf den 5. Dezember – also nach nur 4 Tagen! – den Bus-Streik zu starten. Er wurde zu fast 100 % befolgt. Nach dem Streiktag, am Abend des 5. Dezember, versammelten sich Tausende in der Holt Street Church und um sie herum. King wurde gebeten, die entscheidende Rede zu halten. Daraus will ich einige Sätze vorlesen. King redet in der Ich-Form. Das Ich, das nun folgt, ist also King selbst:

 „Ich berichtete zunächst noch einmal, was Mrs. Parks zugestossen war. Dann gab ich einen Überblick über die lange Geschichte der Beschimpfungen und Beleidigungen, die den Negern in den Stadtbussen zugefügt worden waren. Dann sagte ich ‚Aber es kommt ein Augenblick, wo man es satt hat. Wir sind heute Abend hier, um denen, die uns so lange misshandelt haben, zu sagen, dass wir es satt haben. Wir sind es müde segrediert und gedemütigt zu werden…Viele Jahre lang haben wir eine erstaunliche Geduld gezeigt. Wir haben bei unseren weissen Brüdern das Gefühl geweckt, als gefiele uns die Art, wie sie uns behandelten. Aber heute Abend sind wir hierher gekommen, um uns frei zu machen von der Geduld, die uns mit etwas Geringerem als Freiheit und Gerechtigkeit zufrieden sein lässt… Einer der Glanzpunkte der Demokratie ist das Recht, für das Recht kämpfen zu dürfen.’ Ich verglich unsere Methoden mit denen der Weissen Bürgerräte und des Ku-Klux-Klan. ‚Ihre Methoden führen zu Gewalttätigkeit und Gesetzlosigkeit. Aber bei unserem Protest wird es keine brennenden Kreuze geben… Wir wollen überzeugen und nicht Zwang ausüben… Über die Jahrhunderte hinweg sollen die Worte Jesu heute in unseren Herzen ein Echo finden: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen… Lasst euch von niemandem so tief hinabziehen, dass ihr ihn hasst.’ Die Zuhörer antworteten mit stürmischem Beifall.“

Die Versammlung beschloss einstimmig, dass der Bus-Streik weitergeführt werden sollte, bis die Schwarzen in den Bussen gleiche Rechte wie die Weissen hätten.

Sie mussten mehr als 12 Monate durchhalten, bis durch eine Entscheidung des Bundesgerichtes der USA verfügt wurde, dass die Rassentrennung in den Bussen auf Grund der Verfassung der USA illegal war. Die weissen Rassisten mussten nachgeben. –

Bemerkungen:

  1. Ich berichte nicht über all die Gemeinheiten, die Listen und die brutale Gewalt, mit denen die Weissen den Streik zu brechen versuchten. Verschiedene schwarze Führer wurden durch Bombenattentate schwer geschädigt.
  2. Dass trotz der Brutalität der Weissen die Schwarzen an der Gewaltlosigkeit festhielten, ist ein Wunder. In den Quartieren wurden wöchentlich – teils häufiger – Versammlungen abgehalten, in denen die Schwarzen Dampf ablassen und in ihrer christlichen Haltung gestärkt werden konnten.


Albträume

Ende gut, alles gut? So einfach geht es nicht. Ich verlasse die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA und wende mich meiner Heimat, der Schweiz, zu. Ich will auf politische Entwicklungen der letzten Jahre in der Schweiz eingehen. Es gibt in der Politik Albträume: Gewisse Populisten schaffen bewusst Albträume, mit denen sie eine Stimmung des Benachteiligt-Seins schaffen. Aus dieser bedrohlichen Stimmung wird gerettet, wer ihren Ratschlägen folgt, und diese sind weit, weit entfernt vom Traum vom Reich Gottes.

Ich will mit einem Plakat beginnen, das vor etlichen Jahren an ungezählten Wänden und Säulen hing. Es zeigte einen Schweizer, in dessen Rücken ein Messer steckte. An den Text erinnere ich mich nicht. Aber die Botschaft war eindeutig. Es ging um die Aufnahme von Menschen aus dem Balkan in der Schweiz. Das Plakat erinnerte an die Fernsehbilder von Srebrenica und fragte: Wollt ihr solche Menschen in unserem Land, von denen ihr nicht wissen könnt, ob sie nicht eines Tages ihre Messer gegen euch wenden? Es gab zum Glück Proteste gegen das Plakat. Aber es war nur ein Teil einer umfassenden Aktion, die das Eine in ungezählten Varianten einhämmerte: WIR WOLLE N UNSERE SICHERHEIT NICHT AUFS SPIEL SETZEN!

Das ist die Taktik der Populisten: Sie schaffen Albträume:

  • Deine Sicherheit ist bedroht: wenn die aus dem Balkan kommen, ist es aus mit der Sicherheit, die du in der Schweiz geniessest.
  • Dein Wohlstand ist bedroht: Denk an die Tausende von Flüchtlingen, die übers Meer kommen. Denk an die Schieber, die mit ihnen ihr Geschäft machen. Sie warten alle – direkt oder indirekt – auf unsere Sozialhilfe. Und wer bezahlt die: wir mit unseren Steuern.
  • Dein Empfinden von dem, was bei uns recht und billig ist, ist bedroht: Denk an die mehr als 300’000 Muslime in der Schweiz: an ihre Minarette, Burkas, an den Islamischen Staat!

Wenn du nicht ein Opfer der gestörten Sicherheit, des gestörten Wohlstandes, des gestörten Rechtsempfindens werden willst, musst du unserer Politik folgen. –

Die Schwierigkeit ist, dass in jeder dieser Bedrohungsszenarien mit Grundanliegen, mit Grundwerten operiert wird, die tatsächlich wichtig sind:

  • Sicherheit: wer möchte nicht in einem Staat leben, der eine hohe Sicherheit im täglichen Leben garantiert?
  • Wohlstand: wer möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die möglichst allen einen gewissen Wohlstand verspricht?
  • Wer ist nicht dankbar, wenn er mit einem gewissen Grundeinverständnis rechnen kann, was recht und billig ist.

Auf dieser Harfe, auf diesem Klavier spielen Populisten mit Geschick: Schaffe Albträume, die zeigen, wie sehr diese Grundanliegen der Tausenden bedroht sind. Zeige, wie du die Bedrohung abwendest, und die Tausende werden dir folgen.

Die Stärke dieses Spiels ist auch seine Schwäche: Es fragt nur nach deiner eigenen Sicherheit. Ich frage mit dem Traum vom Reihe Gottes: wie steht es mit der Sicherheit derer, die vom Balkan kommen? Derer, die in Schlauchbooten übers Mittelmeer fahren?

Es fragt nur nach deinem eigenen Wohlstand. Ich frage mit dem Traum vom Reiche Gottes: Wie steht es mit dem Wohlstand derer, deren Sozialhilfe gekürzt wird? Ich spreche von konkreten Gegebenheiten in der Schweiz.

Du fragst nach einer Ordnung, in der dein Verständnis von Recht und Ordnung durchgesetzt wird. Ich frage mit dem Traum vom Reiche Gottes: Wo ist der Ort für diejenigen, die ein anderes Verständnis von Recht und Ordnung haben?

Summa: Du fragst nach deinem Vorteil: ich zuerst. Meine Gruppe zuerst. Die Schweiz zuerst. Deutschland zuerst. America first! Doch da ist kein Platz mehr für die andern. Und ohne den Platz für die andern, ohne den legitimen Platz für die andern, können wir keine Demokratie bauen. Es geht um den andern. Es geht um den Mitmenschen: um seine Anliegen, Bedürfnisse, Rechte genau so, wie um meine. Es geht um Menschenrechte für alle. Über den Kampf für diese Grundlage jeder echten Demokratie hat Walter Hiller gesprochen.

Ich will hier nur noch einige Hinweise zum Busstreik in Montgomery beifügen.

Einige Hinweise

  1. Die Bürgerrechtsbewegung hatte einen grossen Vorteil. Sie erlebte eindeutiges Unrecht am eigenen Leib. Die Frontstellung war völlig klar. – Ich zögere nicht zu sagen: Es geht bei uns heute um ebenso dringliche Herausforderungen: Klima, Gerechtigkeit, Friede, Menschenrechte … Aber die Frontstellung ist in mancher Hinsicht verworren.
  2. Gerechtigkeit: Die schwarze Bürgerrechtsbewegung hat ihren Kampf in Montgomery schlussendlich dank dem Entscheid des Bundesgerichtes der USA gewonnen. Unser politischer Einsatz für eine gerechte Verfassung, gerechte Gesetze, gerechte Gerichte, für Abgeordnete in unseren Parlamenten, die um die Verantwortung für die Mitmenschen wissen, ist Teil des Reich-Gottes-Traumes.
  3. Gewaltlosigkeit und Liebe: Die schwarze Bürgerrechtsbewegung hat in weiten Kreisen der USA durch ihre strikte Gewaltlosigkeit und ihr gelebtes Leben von Jesu Satz „Liebet eure Feinde“ grosse Achtung gewonnen.
  4. Einigkeit: Im Busstreik hat die Bürgerrechtsbewegung es geschafft, die in viele Gruppen zerfallene Bewegung zu einen. Ohne diese Einigkeit hätte der Busstreik nie das Ziel erreicht.
  5. Der Busstreik begann mit eine kleinen Gruppe entschlossener Frauen. Das ist eine Ermutigung, auch mit kleinen Gruppen für grosse Ziele zu kämpfen. Freilich gehört zum politischen Leben eindeutig auch die Bereitschaft zu Kompromissen mit denen, die für das gleiche Ziel kämpfen.
  6. Nachdem der Sieg errungen war, sagte King in einer Rede: „Wir wollten lieber müde Füsse haben, als müde Seelen, und so beschlossen wir, so lange auf den Strassen Montgomerys zu laufen, bis die Mauern der Ungerechtigkeit niedergerissen waren.“

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