Feb 082018
 

Von der Freiheit zur Umkehr

Von Daniela Dahn

Englische Webseite

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Immanuel Kant

Diese Denkschrift stellt die morsch gewordenen Grundstützen des bürgerlichen Staates in Frage. Sie tut es aus Achtung vor den bürgerlichen Werten. Es geht nicht um eine Schwächung des Staates, sondern um seine stärkere demokratische Legitimierung. Das ideelle Erbe der Amerikanischen und der Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts – Freiheit und Gleichheit anstrebende, imveräußerliche Menschenrechte – ist in Gefahr. Der heutige Staat, dieses Kaninchen vor der Schlange, ist nicht mehr in der Lage, die westlichen Werte zu bewahren: Gerechtigkeit durch Herrschaft des Rechts, Gewaltenteilung, Volkssouveränität, Demokratie. Die bereits fortgeschrittene feindliche Übernahme durch die im Verborgenen herrschenden Clans ist nicht zu stoppen, wenn nicht deren Machtinstrumente entschärft werden: die der Monarchie verhaftete und mit Volkssouveränität unvereinbare Theorie und Praxis vom Staat als juristischer Person, das falsche Gewichte nutzende Römische Recht, die Gewaltenteilung unterlaufende Monopolisierung von Privateigentum, die dem Schlangengift des Geldes erlegene repräsentative Demokratie.

Nicht nur hinten fern in der Welt, sondern vor unserer Haustür ist mit radikalen Umbrüchen zu rechnen, in denen sich nach historischem Vorbild spontan Volksorgane bilden werden. Die Räterepublik als Alternative wird die Parteien auf den zweit- oder drittrangigen Platz verweisen, der ihnen gebührt. Eben deshalb stellen die Vertreter der Parteien die parlamentarische Demokratie gern als das Erbe der Amerikanischen und der Französischen Revolutionen dar. Was man bestenfalls dann unwidersprochen hinnehmen kann, wenn man berücksichtigt, dass in Revolutionen am Ende nie das herausgekommen ist, was sich deren Schöpfer am Anfang erhofften.

Unserer reformierten Volkshochschule stünde auch eine Lektion über Räte gut zu Gesicht. Beginnend bei den Frühformen – den mittelalterlichen Stadtkommunen oder dem «Ewigen Rat», der sich unter Thomas Müntzer 1525 in Mühlhausen bildete, um für die kurze Zeit, die ihm vergönnt war, ein auf Gemeinnutz und Gleichheit beruhendes Verteilungssystem zu organisieren. Fortfahrend mit dem Schweizer Kantonsystem, den Agitators aus den englischen Revolutionen oder dem General Council, dem Allgemeinen Rat der Armee Cromwells, der sich 1647 zur Interessenvertretung «der freien Männer des Volkes von England» erklärte. Schließlich der aus der Erfahrung der Amerikanischen Revolution von Thomas Jefferson 1824 entwickelte Plan eines Rätesystems «kleiner Republiken». Altersweise sah er darin die einzige Möglichkeit, dem Volk, von dem nun laut Verfassung alle Macht ausgehen sollte, eine Handhabe zu geben, sich als Bürger einer Republik zu erweisen. Die erwähnten Räte, von der Pariser Kommune bis zur Novemberrevolution, wären zu behandeln, um schließlich Hannah Arendts Fazit zu verstehen:

An die Stelle der Regierenden, «zu welchen das Volk kein Vertrauen mehr» hat, da sich das Repräsentativsystem in eine Art Oligarchie verwandelt hat, treten Räte als «der große Endzweck der Republik selbst». Weil Räte, die auf jeder Stufe der Pyramide für demokratisch legitimierte Autorität sorgen, den Rahmen bieten, in dem «jedermann von seiner Freiheit Gebrauch machen kann». Da «niemand frei oder glücklich ist, der keinen Anteil an öffentlicher Macht» hat. In diesem Sinne sind Räte, nicht als sofortige, ultimative Lösung, aber als möglicher demokratischer Ausweg aus der Parteienkrise, wert, bedacht und diskutiert zu werden. Mit dem Aufbau erster Parallelstrukturen könnte begonnen werden. Die erwähnten Bürgerhaushalte sind ein solcher Schritt. Der Sprung in eine höhere Qualität würde sein, die Räte in die Gesetzgebung einzubeziehen, diese schließlich in ihre Hände zu legen.

Selbstermächtigung zum Gesetzgeber heißt, die Staatsgeschicke als Souverän in die Hand zu nehmen. Die Kunst wird darin bestehen, die Fachleute mit der Entwicklung eines Rechtes zu beauftragen, das einerseits die Einschränkung des Eigentums durch humanitäre, ökologische und kulturelle Aufgaben, zu denen es verpflichtet, genau bestimmt. Und das andererseits jenseits dieser Abstriche dem produzierenden oder handeltreibenden Eigentümer verlässliche Sicherheiten geben muss, «seine Sache zu gebrauchen». Eigentum ist kein natürliches Recht. Die Eigentumsgarantie muss da ihre Grenze finden, wo sie auf Kosten anderer zu abnormem Reichtum führt. Unterhalb dieser gesetzlich zu bestimmenden Grenze soll der gewerbetreibende Mittelstand geschützt sein, wie natürlich auch das persönlich genutzte Eigentum aller Rechtschaffenen. Wohlstand für alle wäre längst möglich.

Das Bedürfnis, durch ein kunstvolles Recht den Traum vom besseren Zusammenleben zu verwirklichen, ist eine Ursehnsucht aller sozialen Utopien. Neben Platons «Politeia» und Jambulos «Sonneninsel» ist der antike Aristophanes nach wie vor kühne Zukunftsmusik: «Aus Mangel wird nie mehr ein Mensch vergehen, denn alles ist Eigentum aller.» Mit seiner «Utopia» einst Stimme der Renaissance, klingt Thomas Morus heute wie ein hellsichtiger Blogger: «Wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben… Wenn ich alle unsere Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, betrachte, so stoße ich auf nichts anderes als auf eine Verschwörung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staates missbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen.»

Genau das ist es: Wir haben einen Staat, der für den Missbrauch durch die Reichen geschaffen ist. Als Eigentümer gerät dieser Staat ständig in Rollenkonflikte. Es gilt als antiquiert, in die operative, privatwirtschaftlich betriebene Geschäftsführung einzugreifen. Mit der Folge, dass es für die Beschäftigten ohne Belang ist, ob sie in einem staatlichen Betrieb arbeiten oder nicht. Früher galt der Staat als Anteilseigner, mit seiner Sperrminorität im Aufsichtsrat, noch als gewisser Schutz vor feindlichen Übernahmen. Das öffentlich gewidmete Privateieigentum des Staates sah sich stärker einem am Gemeinwohl orientierten Legitimationsdruck ausgesetzt. Doch unter dem Privatisierungswahn der Europäischen Union ist auch darauf immer weniger Verlass. Ja der Staat verwandelt sich immer mehr in eine Apparatur zum Schutz systemrelevanten Privateigentums auf Kosten der Allgemeinheit.

Dabei verhindert das eherne Prinzip der Gewinnmaximierung Vernunft. Wenn etwa Gewerkschafter in Aufsichtsräten aus ökologischen und gesundheitlichen Gründen darauf drängen, schädliche industrielle Verfahren zu verändern, drücken sie mit dieser Investitionsforderung auf die Rendite. Das entgeht den Bankhäusern nicht. Sie verschlechtern das Ranking, und damit werden Kredite für dieses Unternehmen teurer. Das heißt, vernünftige Vorschläge setzen einen Mechanismus in Gang, der abstraft, der Arbeitsplätze und womöglich das ganze Unternehmen gefährdet. Weshalb die Lohnabhängigen in den Aufsichtsräten schweigen, statt ihre Kontrollaufgabe wahrzunehmen.

Dieser irrationale Mechanismus ist durch Reparaturen am Rande nicht zu beheben. Frei ist, wer die als falsch erkannte Funktionslogik umzukehren vermag. Diese Umkehr führt zwangsläufig zur Trennung von Eigentum und Staat. Der einzige Schutz vor feindlicher Übernahme ist verfassungsrechtlich geschütztes Gemeineigentum. Nur wer nicht aufgekauft werden kann, ist dem ruinösen Zwang zur Profitmaximierung nicht ausgeliefert. Nicht geschützt sein darf der Gemeineigentümer allerdings vor den gesellschaftlichen Verfügungsrechten, die in einem permanenten learning by doing qualifiziert werden müssen. Frei von feindlicher Übernahme, nicht frei von freundlicher Teilhabe – in diesem Rahmen ist demokratische Gemeinwirtschaft vorstellbar.

Überfällig also die kämpferische Ansage: Gold den Hütten, Grau den Palästen. Gold mithin den Kindergärten, Volkshochschulen, Universitäten, Bibliotheken, den Häusern der Kultur, auch den Krankenhäusern, Volksküchen, Gästehäusern (Asylantenheimen). Grau den internationalen Konzernen der Großindustrie, der Rüstung, der Energie und der Finanzen, selbst denen des Staates.

Wir sind der Staat – das ist Anspruch und Bedingung für Akzeptanz. Dieses Wir ist ein arbeitsteiliges, ein Verantwortung zusprechendes, ein Aufgaben delegierendes. Was nicht delegiert werden kann, ist Wissen. Zu einem Bürger-Paradies wird ein Reich erst, wenn die Erkenntnis über Gut und Böse kein Herrschaftswissen, wenn das göttliche Denkverbot aufgehoben ist. Das ist keine Sünde, die Herrschaft misstraut, sondern eine Tugend, die die Geschicke zum Besseren wenden kann. Wir müssen alle ganz genau wissen, wer warum welche Macht hat und wer sie kontrolliert. Die Prämissen für Einsicht und Moral müssen vergesellschaftet sein, die Schlussfolgerungen bleiben individuell. Erst dann wird der Ruf: Wir sind das Volk, we are the people, seine emanzipatorische Kraft behaupten können. Souverän ist, wer über Gut und Böse entscheidet.

Mit Beginn der stoischen Utopie 300 v. Chr. erschien erstmals ein «Programm des Weltbürgertums», also der «Einheit des Menschengeschlechts». Auch die war nur mit Gemeineigentum vorstellbar. Der Stoiker Kleanthes sprach von dem «gemeinsamen Herd der Welt», über den «die Internationale aller vernünftigen Wesen» waltet. Von dem Gemeinwesen einer kosmischen Stadt, der jeder einzelne Staat als schmuckes Haus angehört. Die Erschaffung eines an Humanität orientierten, globalen Souveräns wird eines hoffentlich absehbaren Tages als revolutionäre Schöpfungsgeschichte der Globalisierung beschrieben werden. John Lennons «Power to the People» wäre dessen kongeniale Hymne. Der siebente Schöpfungstag steht noch aus. Mit ihm die frei interpretierbare Utopie des Augustinus: «Dies septimus nos ipsi erimus. Der siebente Tag werden wir selbst sein.»

Die Zeit drängt. Weil die Natur drängt und die unnatürlich Verarmten. Machen wir uns, als Generalprobe fürs Globale, den europäischen Stadtteil wohnlich: durch Runde Tische und schließlich das Mobiliar einer vom Souverän verabschiedeten Verfassung. Träumen wir von Häusern der Völkergemeinschaft, deren Tore weit geöffnet sind und uns die Zuversicht geben: Hier bin ich Mensch, hier will ich sein.


Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik m Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs» und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Sie ist Trägerin unter anderem des Fontane-Preises, des Kurt-Tucholsky-Preises und des Ludwig-Börne-Preises.

Quelle: Daniela Dahn: Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt.
Rowohlt, 3. Auflage 2017, Seite 169 – 175


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