Jun 012018
 

III.  Die Gefangenschaft in Indien (09.01.1942 – 11.11.1946)

Die ersten Eindrücke von Indien

Der riesig lange Militärzug setzte sich mit seinen vielen Personen­wagen sehr, sehr langsam an den vielen westlich anmutenden Stein- und Hochhäusern vorbei in Bewegung. Uber die elektrischen Bahnen, die in schnellem Tempo an uns vorbei sausten, konnten wir uns nur wundern, denn es war uns ja ein langentbehrter Anblick. Neben den schönen Steinhäusern der Millionenstadt Bombay fand sich am Rande der Stadt eine zweite Stadt, an der wir lange vorbei fuhren.

Es war die Stadt der Armen und Ärmsten, die in einer unübersehbaren Lawine von Blechhütten hausten. Das Blech war uns bekannt. Es war das Blech von Millionen schadhaft gewordener Blechkanister, in denen einmal Petroleum oder auch Benzin gewesen war. In Indonesien hatten wir auch reichlich genug solche Blechkanister benutzt. Wenn der Griff sich beim Tragen gelöst hatte, war schon nicht mehr viel mit dem Kanister anzufangen. Das auseinandergefaltete Blech hatte man auf einige Pfähle und Latten geschlagen und schon war die ärmliche Be­hausung fertig. Aber der Anblick von Armutswohnungen in einem so riesigen Ausmaß war uns doch völlig neu.

Für indische Verhältnisse jedoch – sowohl am Rande der Großstädte wie an den Hauptpunkten der Eisenbahnverbindungen, wo wir regelmäßig Hunderte von Menschen auf dem bloßen Boden der Bahnsteige Tag und Nacht liegen sahen – war das nichts Ungewöhnliches. Weit mehr als die Hälfte der 600 Millionen Inder leben ja in ärmlichen Verhältnissen am Rande des Existenzminimums. Und die Hälfte von diesen 300 Millio­nen leben hungernd, krank und bettelnd sogar unter dem Existenzmini­mum.

Auch damit ist diesen Ärmsten der Armen nicht geholfen, dass man neuer­dings, um weiteren Raum für die Großstädte zu gewinnen, ihre Elends­hütten einfach mit großen Bulldozern vor sich her schiebt und im Nu alles dem Erdboden gleichmacht. So zwingt man einfach Zehntausende, sich an anderen oft für sie noch ungünstigeren Stellen anzusiedeln. Weil man nicht Menschen zu wenig, sondern im Gegenteil Millionen und Abermillionen zu viel hat, denen man weder Brot noch Arbeit geben kann, so fragt man nicht danach, ob bei solchen Gewaltaktionen viele, viele Tausende von Menschen sterben. An den Haltestationen des Zuges sahen wir, wie große Waggons von Scharen von Männern und auch Frauen, nur mit einem kleinen runden Korb versehen, den die Frauen dazu noch auf ihrem Kopfe trugen, entladen wurden.

Damals trugen die Engländer noch die Verantwortung, die größeren Nöten noch leichter mit großen Aktionen begegnen konnten. Obwohl die den Zug begleitenden englischen Offiziere völlig ohne Be­waffnung waren, klappte alles vorzüglich. Mit ihrem kleinen Stöckchen in der Hand dirigierten sie ihre Leute ohne viel Aufregung.

Es konnte aber auch Vorkommen, wie ich einmal an einem Haltepunkt sehen konnte, dass sie einem aufdringlichen Zuschauer, der sich auf ihren Zuruf nicht entfernen wollte, mit einigen Stockschlägen lange Beine machten. Nicht nur Hunde – einem war wohl schon ein Bein ab­gefahren – sondern auch Aasgeier suchten zwischen den Gleisen nach Abfällen. Wollten die Aasgeier auffliegen, dann hoppelten sie erst einige Meter über die Gleise, ehe sie schwerschlagend ihren Höhen­flug antreten konnten.

Die einzelnen Abteile der Wagen waren für je sechs Personen gedacht. Mit in unserem Abteil saßen zwei Gurkha-Soldaten zur Bewachung, die sie offensichtlich nicht allzu ernst nahmen. Sie trugen einen Eimer mit lehmigem Wasser in unser Abteil. Da kein Wasser auf dem WC war, wie man das von Indonesien her gewohnt war, nahm ich mir einmal mit der hohlen Hand einige Tropfen aus dem Eimer. Sofort erhoben sie in ihrer Sprache, von der ich natürlich kein Wort verstand, ein auf­regendes Geschrei, was im Geratter des Wagens schließlich unterging. Wahrscheinlich hatte ich etwas Ungeschicktes getan.

Sie hatten sicher das Wasser für einen ganz anderen Zweck als Hände­waschen oder dergleichen bestimmt. Ich sollte es noch kennenlernen, dass man mit Wasser in Indien sparsamer umging als in Indonesien.

Weil es unbedingt für die Gesundheit notwendig war, hatten die Eng­länder auf den Stationen für Trinkwasser gesorgt. An den Halte­stellen war natürlich stets ein sehr großes Gedränge um die wenigen Trinkwasserhähne. Unsere beiden Gurkhas hatten sich wohl im voraus einen kleinen Vorrat an Wasser gesichert, um beim nächsten Halten schneller ihren Tee kochen zu können, oder um evtl. schneller ihr Mehl für ihren runden flachen Djapatikuchen anrühren zu können. Uber riesigen Feuern und in riesigen Pfannen machten die Soldaten bei längerem Aufenthalt sich so ihre traditionellen Mahlzeiten zurecht. Am kochenden Wasser der Lokomotive wurde auch für uns der Tee in Eimern abgezapft.

Wir selbst wurden auf der tagelangen Reise, wo es immer weiter und weiter östlich durch die indische Landschaft ging, die nicht allzu viel Abwechslung bot, mit einer Art trockenem Schiffszwieback versorgt, den wir in unserem Tee erst aufweichen mussten. Wie gut war es, dass ich meinen großen Blechmok zur Hand hatte. In dem sehr langen Zug lagen in jedem Abteil recht fürsorglich sechs Decken, so dass jeder von uns eine bekam. Zu unserer großen Verwunderung merkten wir bald, dass die Nächte im Januar recht kühl sein konnten. Neben all den Dingen, die die Wachmannschaften brauchten, waren auch unsere Koffer in besonderen Güterwagen dem Zug angehängt wor­den. So waren wir für die Decken sehr dankbar, die uns später noch sehr lange als Unterlagen auf den seilbespannten Betten einen guten Dienst getan haben.

1. Das Lager in Ramgarh (13.01.1942 – 21.07.1942)

Nachdem wir auf diese Weise rund 1.5oo Kilometer quer durch ganz Indien über Nagpur und Reipur auf eingleisigen Strecken – schon eingleisige Strecken sind in diesem Riesenland eine staunenswerte Leistung – gefahren waren, kamen wir am 13.1. in Randi Road an. Die Bahnhöfe bilden zugleich die Kreuzungspunkte für die Gegenzüge. Die Ankunft eines Zuges wurde weithin auf einem aufgehängten Teilstück einer Eisenbahnschiene, an die man mit einem Eisen schlug, kundge­tan.

Wir mussten nun aussteigen und in einer Riesenkolonne bis zum nahe­gelegenen für uns frei gemachten Militärlager etwa eine Stunde mar­schieren. Es war ein einfaches aber sauberes Lager in dem wir uns schnell zurechtfanden. Das Gepäck kam auch bald nach. Ich sehe noch den hohen Kofferberg vor mir, aus dem man mit gespannter Erwartung, ob es auch mitgekommen war, sein eigenes Gepäck heraussuchen musste. Das Glück war uns hold. Die Gepäckstücke waren alle da. So konnte man nach der langen Reise und nach gehörigem Duschen auch wieder einmal frische Wäsche anziehen. Bis kurz vor dem Anbruch der Haupt­monsunzeit im Juli sollten wir in diesem Lager, das sogar ein Kino hatte, bleiben.

Unsere Schiffsköche übernahmen nun wieder die Küche, um aus den angelieferten Nahrungsmitteln ein schmackhaftes Eintopfessen zu bereiten. Gespannt warteten wir auf die Kameraden des zweiten Transportes, der uns im Abstand von etwa 10 Tagen folgen sollte. Wie freuten wir uns, als auch sie einige Tage später heil und ge­sund im Lager Ramgarh ankamen. Die erste große Enttäuschung für sie war aber, dass nur ein Teil des Gepäckes mitgekommen war. Die meisten Koffer sollten mit dem dritten Transport ankommen. Bis dahin half man sich so gut es ging untereinander aus.

Wie in der Alasvallei fingen einige an, in der Nähe der Küche, wo Wasser war, ein kleines Gärtlein anzulegen. Ich sehe noch die erstaunten Gesichter der Inder, die vom Stacheldraht aus verständ­nislos diesem eifrigen Tun zuschauten. Sie wussten ja, dass außer ein oder zwei kurzen Gewittern es nun monatelang nicht regnen würde. Es half den lieben Gartenanlegern auch nicht, dass sie das Abflusswasser der Küche in Gräben auf ihr Ländlein leiteten. Die Bäume der Umgebung wurden wohl grün, aber das Gartenland wurde immer trockener. Zuletzt blieb nur noch feiner Sand übrig. Kein Hälmchen war gewachsen. Das ging gegen alle bisher bekannten Regeln und das Wundern und Ver­wundern fing an.

Ein großes Entgegenkommen der Engländer war es, dass sie uns zunächst einmal Halbtagsspaziergänge erlaubten. So lernten wir die Umgebung etwas kennen. Nicht weit vom Lager lag eine kleine Garnisonskirche. Es war die einzige, die ich von der langen Reise her und auch von der späteren Zeit noch in Erinnerung habe. Dagegen gab es Tempel genug. Das Land war – abgesehen von kleinen Erhebungen – weithin flach. Eine Eigenart dieser flachen Landschaft war, dass man über­all auf kleinere oder größere Teiche stieß, die von der Regenzeit her noch Wasser hatten. Sie hatten aber nur winzig kleine Fische, wie bald schon die geduldigen Angler unter uns zu ihrem Leidwesen feststellen mussten. Für die Bevölkerung und besonders für ihr Vieh waren sie aber einfach lebensnotwendig. Ihre Tiefe haben wir nie erforscht. Da viele Kühe ihren Durst dort stillten und auch sonst manches verrichteten, waren sie in der regenlosen Zeit für’s Baden sicher nicht geeignet.

An den meisten dieser Teiche – und ihrer gibt es unzählige – standen, der Größe des Teiches entsprechend, kleinere oder größere Tempel.

Schaute man in die vergitterte offene Vorderseite hinein, dann entdeckte man irgendeine scheußlich wirkende Götzen- oder mythische Heiligenfigur, die wohl jedem Unhold, der dem lebenspendenden Teich Schaden zufügen wollte, einen gehörigen Schrecken einjagen sollte. Man sah auch oft die tempelhütenden Brahmanen, die sich ihre Kastenzeichen neu aufgelegt hatten und sich den letzten Rest des „heiligen Badewassers“ mit einem Handtuch vom braunen Körper wischten.

Der Tempel waren also genug im Land, und man zählt wohl mit Recht viele Millionen solcher makaberen Tempelgestalten, die nur Furcht einjagen. Von der furchtbefreienden Botschaft des Evangeliums weiß man kaum etwas, denn man sagt, dass in rund 600.000 Dörfern des Riesenreiches noch kein einziger Christ lebt. Es gibt aber noch viel mehr Dörfer und auch mehr Christen besonders in Südindien, wo z.B. in Tamil Nadu die Christen 6% der Bevölkerung ausmachen. Immerhin noch ein gewaltiger Unterschied zum Batakland, wo fast nur Christen wohnen, und man auf Schritt und Tritt Kirchen und Schulen findet. Ich bin bei meinen wöchentlichen Spaziergängen durch ebenso viele indische wie vorher indonesische Dörfer gekommen. Dabei bin ich aber nur ein einziges Mal in der Umgebung unserer verschiedenen Läger auf eine kleine Dorfschule gestoßen.

Es mag sich vieles gebessert haben, aber auch heute noch ist die Zahl derer, die in Indien weder lesen noch schreiben können, sehr groß. Lust und Eifer dazu ist sicher vorhanden, denn die indischen Arbeiter, die im Lager zu tun hatten, saßen mittags im Schatten der Baracken mit einer kleinen Lesefibel, die sie laut buchstabierten. Industrie gab es auch damals nur in Anfängen. Die großen Werke mit Hilfe von Deutschland und Russland entstanden erst später. In der Nähe von Ramgarh war eine kleine Ziegelei, wo Frauen und Männer mit ihren kleinen Tragkörben an der Arbeit waren. Die Häuser im nahegelegenen Ort waren ärmliche, niedrige, dicht aneinanderstehende Hütten, deren Dächer mit kleinen gebrannten Hohlschindeln gedeckt waren. Auf den Dachfirsten sah man oft wunderschöne große Pfauen, die als Haustiere gehalten wurden. Hinter dem Hof konnte man leicht Pfauenfedern finden, deren ich noch einige habe. Weit hinter den Häusern waren eine Art Gärten angelegt, in denen man oft erschreckend plötzlich auf offene tiefe Brunnen stieß. In der Nacht hätte ich da nicht gehen wollen. Ging man auf den Brunnenrand zu, flogen, o Wunder, plötzlich Tauben aus diesen oft schon mit Unkraut über­wucherten Löchern. Blickte man vorsichtig hinein, so sah man an der runden Brunnenwand – im Abstand von einem Meter – vorspringen­de gut 3o cm breite Steinplatten, auf denen man bis zum Wasser ge­langen konnte. Auf diesen Platten lagen Taubeneier oder sogar junge Tauben. Nun erst konnte man sich das plötzliche Auffliegen der Tau­ben erklären. Leider sah man auch oft junge Tauben im Brunnenwasser verendet liegen. Sie hatten ihren gefährlichen Nistplatz zu früh verlassen und waren in das für sie todbringende Wasser gefallen. Neben diesen Gartenbrunnen, aus denen man durch Hinabsteigen auf den Steinplatten Wasser holen kann, gab es überall für die Dorf­gemeinschaft tiefe Ziehbrunnen. Über dem mit einem fast brusthohen gemauerten Rand versehenen Brunnen war ein Gestell mit einer Holz­rolle angebracht. Über diese Rolle läuft ein 2o bis 4o Meter langer Strick, an dem ein Eimer hängt. Es war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen der Frauen, die ihre zwei oder gar drei runden Ton- oder Messinggefäße mit Wasser füllten. Sie halfen sich gegenseitig oder hoben selbst mit großem Geschick zwei ineinandergestel1te Gefäße ohne Wasserverlust auf den Kopf. Das dritte nahmen sie noch dazu an die Hand und schritten graziös und hoheitsvoll dem Dorfe zu. Ging man nahe an ihnen vorbei, dann bekam man oft einen schweren Schweiß- und Dunstgeruch der Kleider mit, der sie schon von selbst vor weiterer Annäherung oder evtl. Hilfeleistungsversuchen schützte. Sicher strömen alle Volksarten auch ihren ganz besonderen Geruch aus. So essen z.B. die Batak deshalb keinen Käse, weil er ihnen einen ähnlichen Geruch vermittelt wie die Europäer an sich haben.

Über einen Flusslauf in der Nähe des Dorfes konnte man sich wieder nur wundern. Er war wohl einige hundert Meter breit und hatte doch kaum Wasser. Ein Fahrweg führte durch das breite Flusstal. Die zwei­rädrigen Ochsenkarren, die wohl heute noch für den Transport von Gütern und Haussachen und Holz und Getreide in den abgelegenen Dörfern dieses flachen Hochlandes ein unentbehrliches Beförderungsmittel sind,  ließen – je heißer es wurde – eine immer größer werdende Staub­wolke hinter sich zurück. Die sogenannten „heiligen Kühe“ Indiens wurden aber nach meiner Meinung oft sehr unheilig behandelt. Mit be­sonderem Interesse habe ich mir immer ihre Schwänze angesehen. Der Fuhrmann saß ja stets ganz dicht dahinter. Und wenn der Stock bei diesen oft so mageren Rössern nicht mehr half, dann zeigten die vielen Knoten der Schwänze unmissverständlich an, dass man auf unheilige Weise Gas aufgedreht hatte, um sie auf diese so schmerzliche Tour zu noch größeren Leistungen zu zwingen. Ich machte mir fast schon ein Vergnügen daraus, die Tiere daraufhin anzusehen. Leider muss ich sagen, dass ich weder „heilige Kühe“ noch heile Kuhschwänze gesehen habe.

Die Nachricht vom Untergang der „van  Imhoff“

Ganz ungeduldig warteten neben uns besonders die Leute vom zweiten Transport auf die Ankunft der Kameraden vom dritten Transport. Ihr persönliches Gepäck mit allem, was sie in der Alasvailei an geistigem Gut in Kursen und Vorträgen sich erarbeitet hatten, war ja noch nicht in ihrer Hand.

In einer englischen Zeitung, die ins Lager kam, war nach dem 19. Januar etwas ausgeschnitten, was nun das Interesse aller Lager­insassen ganz besonders weckte. Einer von uns, der auf der Komman­dantur zu tun hatte, fand dort dieselbe Zeitung. Er las, dass am 19. Januar das Schiff „van Imhoff“ in der Nähe von Sumatra von einem japanischen Flugzeug angegriffen und untergegangen sei. Diese Nach­richt lief nun wie ein Feuerbrand durch das ganze Lager. Einzelheiten sollten wir erst viel, viel später erfahren. Wir hielten daraufhin im Lager einen Trauergottesdienst. Aber was war in Wirklichkeit mit diesem Unglücksschiff und mit Hunderten von unseren Kameraden, die auf diesem Schiff waren, geschehen?

Über den tragischen Untergang von 411 unserer Mitinternierten am 19. Januar 1942 unweit im Meer der Inseln Sumatra und Nias gibt es einen Augenzeugenbericht von Missionar Gottlob Weiler, der einer der wenigen Geretteten war, die das Unglück der „van Imhoff“ durch Gottes Gnade überlebt haben. Auf einem Bericht darüber, der auf Tonband auf­genommen ist, habe ich ihn auch persönlich davon erzählen hören. Sein Augenzeugenbericht ist unter dem Titel: „Der Untergang der „van Im­hoff“ im Evangelischen Missionsverlag, Stuttgart, erschienen. Er hat mir selbst ein Exemplar davon mit einem persönlichen Gruß zugesandt.

Mit 477 Internierten war die „van Imhoff“ am 18. Januar von Sibolga abgefahren. Fliegeralarm war schon zwei Tage vorher ge­wesen. Aus diesem Grunde war die Schiffsbesatzung wohl ziemlich nervös. Das Schiff war genauso wie der erste und zweite Trans­porter innen mit viel Stacheldraht ausgeschlagen. Als nun am 19. Januar das Schiff von einem japanischen Flugzeug mit drei Bombenwürfen angegriffen wurde, von denen der letzte nahe am Schiff niederging, wurde die Schiffswand an einer Stelle beschädigt. Die Folge war, dass nun Wasser in das Schiff drang. Die Besatzung verlor daraufhin die Nerven.

Anstatt die Pumpen zu gebrauchen, wurde durch „harte Hammerschläge die Pumpanlage des Schiffes entzweigeschlagen“. Mit den vorhandenen halbbesetzten Rettungsbooten – bis auf eins, dessen Seile verzurrt waren – verließ die holländische Besatzung das Schiff, gezogen von einer kleinen Motorpinasse. Die Internierten überließ man damit dem Schicksal eines harten, unnötigen und übereilten Untergangs. Ein Befehl soll Vorgelegen haben, „sich bei einem Schiffsunglück mit der Rettung Deutscher nicht abzugeben“.

An einer Strickleiter war es Missionar Weiler gelungen, in das einzige von Seeleuten inzwischen entzurrte Rettungsboot zu gelangen. „Aber wir hatten ja keine Ruder. Die hatten die Holländer vorher mitsamt dem Wasserfass und der Brottrommel weggenommen. Mit Händen, Füßen und Brettern ruderten wir, um aus dem Sogbereich des Schiffes wegzukommen“. Sie kamen nur langsam weiter und als die Sonne sich im Westen neigte, da rief jemand: „Sieh mal, das Schiff!“ „Die VAN IMHOFF stand senkrecht im Wasser, aber nur einen Augenblick, dann sank sie in die Tiefe und viele unserer Kameraden mit ihr. Wir alle hielten einen Augenblick still und gedachten der Toten“.

Am anderen Morgen kam die „Bulungan“, ein holländisches Schiff. Zu der Zeit hätten sie noch viele retten können. Auf Flößen und Brettern trieben zu der Stunde noch Schiffbrüchige im Wasser. Der Kapitän fragte durch’s Sprachrohr: „Sind Holländer unter Euch?“ „Wir verneinten, und er fuhr weiter. Unseren leeren Wassereimer, den wir ihm mit der Bitte um Wasser zeigten, übersah er!“

Das Verhalten der holländischen Seeleute gegenüber den Schiffbrüchigen ist wahrlich kein Ruhmesblatt in der holländischen Seegeschichte, denn sie hätten ja noch vielen das nackte Leben retten können. Erst am Morgen des vierten Tages landeten die Schiffbrüchigen auf der Insel Nias. „In der Nähe waren Kokospalmen, deren Früchte uns sehr zustatten kamen. Etwa 15o Meter weit im Busch fand ich ein Bächlein und das langentbehrte Trinkwasser“.

Als fünf Leute aus dem Wald kamen, fragte Missionar Weiler sie nach dem Namen der Insel. Sie hatten richtig vermutet. Es war Nias. Auf seine weitere Frage: „Was seid Ihr, Heiden oder Moslems?“, antworteten sie: „Wir sind Jesusmenschen von der Barmer Mission“.

Darauf faßte Weiler die Hand des Sprechers und sagte: „Wenn das so ist, dann sind wir ja Brüder!“ Am Abend brachten die Niasser einen Sack Süßkartoffeln und am anderen Tag schlachteten sie zu einem Festessen ein Schwein. „Vor 50 Jahren oder mehr“ schreibt Weiler weiter, „als diese Niasser noch Heiden waren, hätten sie nicht einem Schwein den Kopf abgeschlagen, sondern uns! Aber jetzt waren sie ja Jesusmenschen!“

Neun Wochen wurden die Deutschen dann noch in Gunungsitoli „im Gefängnis für inländische Zwangsarbeiter untergebracht“. Dann aber hieß es: „German keluar!“ „Deutsche heraus!“ Denn wenig später „rückten japanische Soldaten ein“, die ja seit Dezember 1941 begonnen hatten, Inseln in Indonesien zu besetzen. Die Holländer ereilte nun dasselbe Geschick, das sie vorher den Deutschen be­reitet hatten. Leider sind viele von ihnen bei den Japanern ums Leben gekommen.

Von den 477 Kameraden waren 411 untergegangen. Bei etwas gutem Willen der verantwortlichen Leute der „van Imhoff“ und der „Bulungan“ hätten viele gerettet werden können, und viel Leid wäre vielen Frauen erspart geblieben. Ein holländisches Buch über diesen Vorfall: Batavia sendet: „Berlin!“, das ich gelesen habe, schildert den Vor­fall ohne Beschönigung in derselben Weise (G. van Heekeren ‚Batavia seint: Berlijn‘, Verlag Bert Bakker/Daamen nv Den Haag 1967). In dem angegebenen Buch, aus dem ich einiges übersetzen will, bezeugt einer der letzten Holländer, der das sinkende Schiff verließ, über die mit Absicht vom Schiff geworfenen Rettungsflöße, damit nur nicht die Deutschen sich retten konnten: Toen ik… „Als ich nach draußen blickte, sah ich die Rettungsboote abfahren, und es trieben ungefähr fünf oder sechs Bambusflöße herum“ (Seite 195). Mit einem der Rettungs­boote ist er selbst noch soeben weggekommen.

Der Schreiber des Buches fasst zwei Seiten später zusammen: Uit de kombinatie… „Aus der Kombination der verschiedenen Gegeben­heiten entnehme ich, dass die Holländer vier Rettungsboote und ein Motorboot besetzt hatten. (Anm. d.V. Die Boote waren aber nur etwa je halb voll, siehe den Satz Seite 217). Wie tragisch und schrecklich der Gang der Dinge auch gewesen ist, und wie peinlich es auch für uns Holländer zu lesen ist, dass man Gefangene, die un­serer Sorge anvertraut waren, im Stich gelassen hat, so muss die Sache hier nüchtern gesehen werden, wie die Situation, soweit wir die beurteilen können, war… (Seite 197).

Den so wichtigen Satz finden wir auf Seite 217: Het enige punkt…

„Der einzige Punkt, wo ich das Gefühl habe, dass man den Deutschen gegenüber im Rückstand geblieben ist, liegt in der Tatsache, dass man alle Rettungsboote, die man losbekommen konnte, mitgenommen hat. Man hätte doch wahrscheinlich eins oder zwei zum nützlichen Gebrauch der Gefangenen zurücklassen können…“ Ja, hätte man das getan, dann hätten wenigstens etwa 1oo Menschen sich retten können!

Das Schiff „Bulungan“, dessen Kapitän den Schiffbrüchigen noch nicht einmal etwas Trinkwasser geben wollte, hatte folgenden Auftrag:

Eerst de bemanning… „Zuerst die Besatzung der „van Imhoff“ aufzu­nehmen…, dann die Soldaten, die zur Bewachung an Bord waren. Da­rauf auf Anweisung des Militärkommandanten betraubare Elemente unter den deutschen Internierten, die mit der „van Imhoff“ weggebracht werden sollten, an Bord zu nehmen“. „Overige duitsers beletten te landen“. „Die übrigen Deutschen am Landen zu hindern“. (Seite 238/39).

Der letzte Satz war der entscheidende Satz und hieß im Klartext nichts anderes als: Rettet und helft keinen Deutschen. Die Situation trug noch das ihrige dazu bei. Aus diesem Grunde hat man sich auch keine Mühe gemacht, um die, die sich noch mit letzter Kraft auf Flößen auf dem Wasser hielten, zu retten. Das ist der traurige Sach­verhalt, dem unsere mitinternierten 411 Kameraden zum Opfer fielen.

Die Auswirkung  auf die zurückgebliebenen  Frauen

Um dieselbe Zeit etwa, als die ersten Fliegeralarme in Sibolga ge­geben wurden, waren auch die Frauen und Kinder aus dem Lager Raja in Frachtautos durch Karo, Toba und Silindung nach Sibolga geschafft worden. Am Unglückstag, dem 19.1.19^2, waren sie mit den Autos in der Nähe von Sibolga und es gab plötzlich Fliegeralarm. Schutzlos mussten die Frauen mit den kleinen Kindern in den Autos ausharren.

Alle anderen dagegen, die sie bewachen sollten, suchten schnell Schutz im nahen Wald.

Die drängenden Ereignisse und die Fliegeralarme der letzten Tage ließen es wohl nicht zu – und dafür sei Gott ganz besonders gedankt – dass man die Frauen auch noch auf ein Todesschiff brachte. Als sie in Fort de Kock in dasselbe Lager gebracht wurden, in dem wir zuerst gewesen waren, war man dort auf ihre Ankunft völlig unvorbereitet.

Mit meiner Frau habe ich die ganze Situation dieser verhängnisvollen Tage noch einmal genau durchgesprochen:

Langsam sickerte es durch, dass das dritte Schiff untergegangen sei. Mit einem Schlage und mit der einen Nachricht kam ein ganz großes Fragen und eine ganz große Unruhe über die Frauen. Nun gewann das Datum der letzten Kartengrüße aus der Alasvallei eine ungeahnte Wichtigkeit. Anhand der letzten Karten, die Ende 19^1 noch in der Alasvallei geschrieben waren, wurden nun Vermutungen angestellt, wer eventuell auf dem ersten oder zweiten Schiff von den Männern gewesen sein könnte. Es waren aber immerhin sehr bange Wochen bis über den Schweizer Konsul die klare Liste der Namen derer kam, die in Indien angekommen waren.

Und damit kam zugleich die große Not über die Frauen, deren Männer nicht angegeben waren und das heißt, die mit dem Schiff untergegangen waren. Meine Frau sagt, dass sie noch immer die gebeugte Haltung der Schwester Elfriede vor sich sieht, die nun in die einzelnen Kammern ging, um den Frauen die betrübliche Mitteilung, die ihr der Konsul gegeben hatte, zu überbringen. Das war übrigens die letzte Nachricht, die von Indien nach Sumatra gelangte. Von März 1942 bis etwa März 1946 gab es hin und her keine Nachrichten. Wir haben wohl fleißig geschrieben, aber es hieß immer, dass unser japanischer „Verbündeter“ die Post nicht nach Sumatra beförderte.

Uber vier Jahre wusste niemand von uns etwas über Frau und Kind. Wir wussten wirklich nicht, ob sie noch lebten, wo sie lebten, wie sie lebten und wovon sie lebten. Erst als 1946 die Engländer die Japaner in Sumatra entwaffneten, kam durch sie schnell eine Ver­bindung nach Indien zustande. Es ist ein ewig unvergessliches Ge­fühl, wenn man nach so langen Jahren den ersten Brief mit der Handschrift der Frau erhält.

Der erste Gedanke ist: Die Frau lebt also noch. Zögernd besieht man sich den Brief von allen Seiten. Man wagt gar nicht zu öffnen, um zu erfahren, ob die Kinder auch noch leben. Unser zweites Kind Anneliese hatte ich ja noch nie gesehen. Sie war wohl öfters malariakrank gewesen. Deshalb hatte meine Frau die Reise von Mittelsumatra nach Nordsumatra in das höhergelegene Berastagi gemacht, wo sie während der Zeit des ersten angekommenen Briefes weilte. Gottlob, die Kinder lebten beide und es ging ihnen allen in Berastagi gut. Von dort kamen sie etwa März 1946 nach Medan. Nachdem die Japaner nach der deutschen Kapitulation den deutschen Frauen jegliche Unterhaltshilfe gestrichen hatten, hatten die Frauen sich selber durch Nähen und Verkauf von Sachen auf dem inländischen Markt am Leben erhalten. Sie hatten Betttücher zerschnitten und daraus Kleider für Indonesierkinder gemacht, die sie auf dem Markt für Nahrungsmittel, z.B. Kartoffeln, Reis, Früchte usw. einhandelten.

Im Lager Fort de Kock hatten sie es erlebt, dass es hieß: Die Deutschen heraus und die Holländer hinein. Was war das für die ein­heimische Bevölkerung doch für ein makaberes Schauspiel. Auf diesem Weg lernten sie es, die Weißen in aller Welt zu verachten und schnelle als sie es selbst je gedacht hätten, zur Selbständigkeit zu kommen.

In jedem Fall hätten die Holländer der beiden genannten Schiffe an den Schiffbrüchigen auch noch anders handeln können. Unter denen, die auf See – unweit rettender Inseln – ertranken, waren auch etwa 14 Geistliche und zwar fast genau zur Hälfte evange­lische und katholische. Unter ihnen war auch mein Klassenkamerad Hans Siegner. Er war ein junger lebensfroher Mitbruder, der erst kurze Zeit in Sumatra war und auf die Ausreise seiner Braut wartete. Ebenso jung war Wilhelm Kammann, der zusammen mit meiner Frau ausge­reist war. Die Missionare Lück, Möller, Wilhelm Müller und Eduard Müller hatten ihr ganzes Leben auf Nias oder in Sumatra gearbeitet. Und nun mussten sie es erleben, dass sie nach Gottes Willen geradezu vor ihrem jahrzehntelangen Arbeitsplatz in der See ertranken. Die Namen der anderen, die nicht zu der damaligen Rheinischen Mission gehörten, kann man in dem so lesenswerten Büchlein von Missionar Weiler aufgezeichnet finden.

2. Das Lager in Deoli
(24.07.1942 – 19.04.1943)

– Am Rande der Wüste Tharr –

Weil die Engländer wussten, dass die heiße Zeit in Ramgarh unerträg­lich war, oder ob das Lager wohl für die Verstärkung gegen die Japaner an der Birmafront gebraucht wurde, so schaffte man schon im April 1942 etwa 27o der älteren und kranken Leute nach dem höher gelegenen Dehra Dun unterhalb von Moussoori in die Vorberge des Himalajas. Alle anderen, etwa tausend an der Zahl, wurden im Juli quer durchs ganze weite Indien an den Rand der Wüste Tharr gebracht. Wir mussten uns immer mehr an das Wunderland Indien gewöhnen. War es in Ramgarh nach unseren Begriffen Frühling, wo die Bäume neue Blätter gewannen, so ging es bis Juli, wo es heißer und heißer wurde, auf den Sommer zu. Naht bei uns dann die Erntezeit, so war hier von Saat noch nichts zu merken. Immer schrecklicher wurde die Fliegenplage, die eine Plage im ganzen Land ist. Die Fliegen drängten sich bei Menschen und Vieh besonders in die Augenwinkel, um nur etwas Feuchtig­keit zu finden. Nicht nur einzelne, sondern ganze Ballen von 5-10 Fliegen – bei den Kühen waren es noch viel mehr – saßen den Kindern um die Augenränder. Sie waren das so gewöhnt, dass sie die Plage­geister gar nicht immer wegjagten. Machte man nur den Mund auf, so flogen sie einem nicht selten sofort hinein, zum wenigsten in die Ecken der Mundwinkel.

Für die Küche war die Plage so unerträglich, dass mit Fliegenklatschen ausgerüstete Fliegenkommandos gebildet wurden, die sich nach zwei Stunden ablösten und tagelang nur die Aufgabe hatten, Fliegen zu töten, die in Schwärmen sich an den Abflussstellen des Küchenwassers sammelten. Je heißer es wurde, desto schlimmer wurde die Plage. Darum waren wir froh, als es hieß: Auf nach Deoli! Wir ahnten aber nicht, dass wir nach dem Sprichwort „vom Regen in die Traufe“ kommen sollten.

Die Monsunzeit kündete sich durch feine, leichte, milchige Schleier an, die den sonst ewig blauen Himmel wie ausgestreckte tastende Finger der Monsunhand überzogen. Auf unserer tagelangen Fahrt nach Westen fuhr unser Eisenbahnzug geradezu dem Monsunregen eiligst davon. Er rächte sich dafür umsomehr. Die Fahrt ging über Kaunpur, Agra, Delhi und dann in Richtung Djaipur. Von dem berühmten Tadsch Mahal in Agra haben wir natürlich nichts gesehen. In Autos – aber wenigstens nicht mit Stacheldraht umwickelt – ging es über Bundi nach Deoli.

In Bundi, einer märchenhaften Stadt mit vielen weißen Häusern mit flachen Dächern und einem schönen See mit einem stattlichen Tempel, lockten die vielen Autos selbst die Frauen aus den Häusern. In ihren langen und malerisch bunten Gewändern kamen sie schnell an den Rand der Straße gelaufen. In der Eile kamen sie zuerst unverschleiert angerannt, so dass man ihre schönen ebenmäßigen Gesichtszüge bewundern konnte. Sobald sie aber sahen, dass nur Männer in den Autos waren, die gar ihre Fahrt sehr verlangsamten – unser Auto hielt sogar dicht vor ihnen an da zogen sie sofort den Vorhand zu. Das heißt, mit einem Teil ihres langen Kopftuches verhüllten sie im Nu ihre Ange­sichter, doch so geschickt, dass sie die Augen frei behielten und alles ganz genau beobachten konnten.

In Deoli war schnell ein neues Lager gebaut worden, das noch nicht ganz fertig war. Als wir kamen, war man noch feste an der Arbeit. Die einzelnen langgestreckten Baracken mit vielen Kammern waren etwas zu flüchtig aus Zement, Sand, Kuhmist und Lehm gebaut. Sie waren noch nicht ganz trocken. Am Rande der Wüste war es schrecklich heiß. In den Räumen konnten wir es nachts einfach nicht aushalten. Solange uns der Monsun noch nicht erreicht hatte, schleppten wir unsere leichten, mit Seil bespannten Holzbetten nach draußen. Wir spannten unser Moskitonetz auf und hatten unter dem freien Sternenhimmel eine viel bessere Nachtruhe als in den Räumen, die überhaupt nicht ab­kühlen wollten. Ich vermute, dass man in Bundi die Nächte dann auf den flachen Dächern verbringt. Auch selbst unter dem freien Himmel musste man noch ein großes Handtuch bei sich haben, um den Schweiß von Zeit zu Zeit abputzen zu können.

Zweimal am Tag wurde wieder Appell gehalten, denn niemand sollte verlorengehen oder unbemerkt verschwinden können. Eines Nachmittags waren wir wiederum angetreten, aber eine unheimlich drohende Wolke verdichtete sich sehr schnell auf uns zu. Wir sahen das Unheil kommen, denn ein Sandsturm aus der Wüste bahnte sich mit großer Geschwindigkeit seinen Weg in unserer Richtung. Ohne mit dem Ab­zählen fertig zu sein, nahmen wir alle schnell Rreissaus. Soeben gelangten wir noch in die Baracken, als sich schon alles um uns verfinsterte. Aber nicht nur das, sondern der heftige Sturm trieb auch den ganz feinen Staub durch die allerkleinsten Ritze in alle Räume. Im Suezkanal habe ich einmal etwas Ähnliches erlebt, wo selbst der feine Sand und Staub noch in den luftgekühlten Räumen sich bemerkbar machte. Nachher hatten wir Last, den feinen Staub wieder aus allen unseren Sachen herauszubekommen. In Deoli hatte der Sturm auch einen Teil der Schindeln von den Dächern gefegt. Zum Glück war der Schaden nicht allzu groß. Bei dem Monsun sollte es schlimmer werden.

Es dauerte etwa vier Wochen bis uns der Monsun mit Sturm und schweren Regengüssen eingeholt hatte. Der Regen peitschte besonders gegen den oberen Teil der Baracken. In den zuletzt fertig gewordenen Räumen fielen die Oberlichter aus dem aufgeweichten Rahmen und machten viele Räume unbewohnbar. Die Lagerleitung musste für etwa 50 Zelte sorgen, die aber den Betroffenen auf dem nassen Schlammboden keine angenehme Bleibe boten.

Solange der Regen noch nicht Einzug gehalten hatte, konnten wir wieder Spaziergänge beantragen. Die fürchterliche Hitze ließ uns aber nicht allzu weit kommen. In der Umgebung waren mächtige burgähnliche Grenzbefestigungen aus sehr alter Zeit, die die Herrscher vergangener Reiche wohl gegen anstürmende Eroberer aus dem Industal errichtet haben mögen. Man hätte um diese steinernen Kolosse lange herumlaufen können, aber wegen der starken Hitze war das zu beschwerlich.

Ganz scharf grenzte sich in jener Gegend die Wüste vom letzten noch bearbeiteten Ackerland ab. Bei der Vorbereitung und Bewässerung eines Saatfeldes direkt an diesem Rand der Wüste sah ich einmal lange Zeit sehr interessiert zu. Diesmal wurde mit der Kraft zweier Ochsen ein großer Lederbeutel, der über 50 Liter fassen konnte, das Wasser an zwei langen Seilen aus einem tiefen Brunnen nach oben gezogen. Die beiden Seile liefen über zwei Holzrollen, die in einem Abstand von einem Meter übereinander angeordnet waren. Uber die kleinere untere Rolle lief ein dünneres Seil, das an einem ein Meter langen Schlauch am unteren Ende des Beutels befestigt war. Zogen die Ochsen an, dann zog das kleinere Seil in der Höhe des Beutels den Schlauch mit hoch. So ging kein Tropfen Wasser verloren. Sobald nun der Schlauch über die untere Rolle gezogen wurde, öffnete er sich langsam und immer stärker über einer Rinne, die das Wasser um das etwa 30 Meter breite schon grünende Saatland führte. In dem umgebenden Gelb des Wüstensandes war dieses grüne Fleckchen wirk­lich eine Augenweide.

Das stärkere Seil zog über die größere Rolle den Lederbeutel so hoch, dass er sich völlig durch den unteren Schlauch in die Rinne entleeren musste. Es war eine erstaunlich genaue und praktische Angelegenheit, über die ich mich sehr wunderte. Bei den Ochsen, die völlig auf ihre Arbeit eingestellt waren, wurde nun der Rück­wärtsgang eingeschaltet. Der untere offene Schlauch kam dabei zuerst ins Wasser und der Beutel konnte sich wieder füllen. So ging dieses befruchtende Wasserspiel in völliger Ruhe stundenlang vor sich. Als nun der Regen kam, konnte das ganze große umgebende Feld schnell mit der jungen grünenden Reissaat besetzt werden. Bis zur Ernte in etwa vier Monaten half das ein gutes Stück vorwärts. In jedem Fall trennten sich wirklich diese letzten Reste menschlichen Bemühens wie ein scharfer Strich von der unendlichen baumlosen und menschenleeren Wüste, die nur die Kamele noch durchquerten, radikal ab.

In der Nähe des Ortes Deoli erlebte ich einmal, wie zwei Männer – es mögen auch zwei Brüder gewesen sein – sich erbittert um so ein Ochsengespann stritten. Jeder schien ein Anrecht auf die Tiere zu haben. Jeder zerrte sie am Kopfband auf seine Seite. Vielleicht wollte jeder so ein junges Saatfeld bewässern. Am Ende ging der eine von den beiden ohne die Ochsen laut wehklagend von dannen. Ob wohl da der Klügere oder der Schwächere nachgegeben hat?

Die Baracken hatten wegen der heißen Sonnenbestrahlung eine kleine Vorüberdachung. Sie beschattete den Laufgang vor den Baracken, was sehr günstig war. Die Wasch- und Kloanlage, die beinahe 200 Meter entfernt war, war auf dem plattierten Gang so zur Hälfte leichter zu erreichen. Einmal erlebte ich mit, wie ein Inder, der über die Platten des Vordaches ging, plötzlich samt einer wohl nachlässig aufgesetzten großen Platte auf den zweieinhalb Meter tiefer liegen­den Laufgang stürzte und mit Verletzungen weggetragen werden musste.

Auch in der Umgebung von Deoli wurde das kostbare Wasser – wenigstens vor der Regenzeit – aus tiefen Brunnen geholt. Es gab auch Wasser­stellen, die durch einen aufgegrabenen schrägen Gang und einige Stein­treppen zu erreichen waren. War es für uns schon beschwerlich, sich das belebte Treiben aus der Nähe anzusehen, um wieviel beschwerlicher aber war es für die Frauen, das Wasser aus der Tiefe nach oben zu tragen. Wie blitzten in der Sonne die blanken Messingtöpfe, die sie in stolzem Gang auf dem Kopfe trugen. Nach der Regenzeit konnten sie auch ihre Wäsche an kleineren Rinnsalen oder an den Flüssen waschen. Wo Seife fehlte, wurde die Wäsche umso mehr auf Steine aufgeschlagen. Das lockere Aufschlagen hatte den Zweck, Luft durch das Gewebe zu treiben. Wir konnten uns nur darüber sehr wundern, denn für unsere Begriffe ging die Wäsche doch dabei viel schneller kaputt.

Neben Neubauten gab es auch ältere Gebäude im Lager Deoli. Ein an­sehnliches Gebäude war darunter, das einen großen Saal für Konzerte oder Theater hatte. Der Saal hatte eine schöne gewölbte Holzdecke. Daselbst spielte unsere Theatergruppe nicht nur schöne Stücke, son­dern wir konnten auch die Weihnachtsfeier 1942 dort abhalten. Die Kapelle hatte sich gut vorbereitet. Es gab auch einen Weihnachtsbaum. In Ermangelung einer Tanne hatte man einen künstlichen Baum von etwa drei Meter Länge hergestellt. Wie man in Mentawai grüne Zweige in einen Bananenstamm bohrte, so waren hier eineinhalb Zentimeter breite und ein Meter lange Stäbe in einen runden Stamm eingesetzt und Kerzen darauf befestigt. In Ermangelung von Schnee hatte man Watte locker über die Stäbe gelegt. Als nun die Kerzen feierlich brannten, dauerte es gar nicht lange und es kam, was kommen musste. Die Watte fing Feuer und eine kleine Stichflamme schoss hoch zur Decke. Beherzt sprang so­fort einer der Kameraden hinzu und riß den ganzen Baum um. Zum Glück gelang es, das Feuer auszutreten. Ich weiß heute noch, wie ich mächtig Angst um die schöne kostbare Holzdecke und um das ganze Gebäude hatte. Nach diesem Zwischenfall nahm die Weihnachtsfeier einen guten Verlauf. Die katastrophalen Verhältnisse im Lager, wo durch den Monsun eine kleine Zeltschlammstadt entstanden war, brachten für manche schwere Erkältungs- und Rheumaerscheinungen mit sich. Auch der Schaden an den Räumen konnte weder in Wochen noch Monaten behoben werden. Das zwang die Engländer, die für uns in Dehra Dun geplanten Wings und Baracken möglichst schnell fertigzustellen. So ging es im April 1943 wieder einmal auf die Reise. Diesmal ging es aber der Bergwelt im Norden zu. Wird es gewöhnlich für den Gefangenen von Lager zu Lager schlechter, so sollte es diesmal klimatisch viel besser werden. Am 19. April verließen wir das Lager in Deoli.

Auch über Delhi, etwa 300 Kilometer nach Norden zu, waren die Eisenbahnlinien eingleisig. Dass es aber solche Verbindungen auf diesen riesigen Strecken des Landes überhaupt gab, war schon staunenswert. Die größeren Bahnhöfe waren auch hier wieder mit Menschen, Hunden, Affen und Aasgeiern belebt. Vielen Armen bot nur der Bahnhof das fehlende Nachtquartier. Ein Tuch unter sich und eins über sich musste auf den Bahnsteigen Hunderten von Menschen zur Übernachtung und am Tage zum Betteln ausreichen. Wie oft wird es aber auch Vorkommen, dass diese Ärmsten der Armen noch nicht einmal eine Handvoll Reis am Tage zur Verfügung haben werden.

Die Lebensgewohnheiten dieser unzähligen Menschen, ihr Essen, Trinken, Arbeiten und Schlafen, ihre Religion und ihre Begräbnissitten waren uns so fremd, dass wir aus dem Staunen und Verwundern einfach nicht herauskamen. Die Probleme dieses Landes, das in jedem Jahr Millionen hungriger Esser dazu bekommt, sind mehr als überwältigend.

Auf der Reise nach Dehra Dun kamen wir in langsamer Fahrt an einem kleinen Bahnhofsgebäude vorbei. In den offenen Fenstern dieses Ge­bäudes waren nicht Menschen, sondern eine Fülle von Affen zu bestaunen, die von einem Fenster ins andere turnten. An einer Stelle sah ich im Vorbeifahren ein Gebilde wie zwei Baumstümpfe in einem Garten. Beim erneuten genauen Hinsehen war es aber ein mächtiger Elefant, der dort stand. Wurden in der Wüste Tharr Kamelreiter bei der Postverteilung benutzt, so gebrauchte man in den Berggebieten des Himalajas, denen wir nun entgegenfuhren, bisweilen sogar die Elefanten als Reittiere dazu. Von Delhi, der Hauptstadt, mit ihren aus braunem Sandstein erbauten Gebäuden, Palästen, Tempeln und mächtigen Mauern konnte man auf der Fahrt nur einen ganz flüchtigen Eindruck gewinnen. Am 21. April kamen wir erst in Dehra Dun an.

3. Das Lager in Dehra Dun
(21.04.1943 –  11.11.1946)

In den Vorbergen des Himalajas, die uns leider den Blick auf das Hauptgebirge völlig versperrten, lag dieses Lager in einer Höhen­lage von etwa 800 Meter. Das Central Internierungslager mit seinen vielen Wings und Hunderten von Baracken hatte kilometerlange Stachel­drahtumzäunungen und Laufwege für die indischen Bewachungsmann­schaften. Von dem auf einem der Vorberge gelegenen Erholungsort Moussoori sah man abends vom Lager aus die Lichter aufblitzen.

Was für einen herrlichen Ausblick muss man von dort auf den in der Nähe liegenden 7815 Meter hohen Nanda Devi gehabt haben! Da unser Lager am Fuße der Vorberge lag, war uns leider dieser Blick nicht vergönnt.

Das riesige Lager war großzügig angelegt. Jeder Wing hatte z. B. seinen eigenen Spielplatz, auf dem Fußball- und Handballspiele aus­getragen werden konnten. In unserem Wing waren etwa 450 Männer unter­gebracht. Rund um die Spielwiese waren neben den Schlafbaracken auch Essbaracken angebracht, die vor und nach den Mahlzeiten für Vorträge, Gottesdienste, Kurse und stilles Studium benutzt werden konnten.

Für die Kommandantur gab es ein besonderes Gebäude mit mancherlei Nebenräumen, die für Kantine, Bücherei usw. zur Verfügung standen. Küche und Bäckerei war nicht weit davon.

Für die alltäglichen Bedürfnisse wie Seife, Zahnpasta, Tabakwaren, Schuhe und sogar Kleidung erhielt jeder monatlich 2o Rupie (+- 10 Mark), die natürlich für all die kleinen Bedürfnisse des Lebens nicht aus­reichend waren. Nur am Sonntag leistete ich mir am Nachmittag eine Tasse Kaffee, denn sonst gab es ja nur Tee. Von den Insassen der sieben Baracken wurden täglich abwechselnd 30 Leute zum Küchendienst bestimmt. Weil Zwiebeln das Hauptgemüse war, so haben wir waggonweise Zwiebeln geschält. Die übrige freie Zeit suchte jeder durch Nebenbeschäftigung als Klempner, Sattler, Tischler, Haarschneider, Bäcker oder gar verbotenerweise als Schnapsbrenner, sich zu betätigen. Auch die Garten­anleger konnten wieder aufatmen. Besonders die Tomatenzüchter machten gute Geschäfte. Die Brotrationen waren reichlich und so konnte man sich mit Tomaten, Zwiebeln, Salz und etwas Essig leicht ein zweites Frühstück zurechtmachen.

Vor uns waren schon in 5 Wings eine Menge Zivilinternierte – aber auch Hunderte von italienischen Offizieren, die in Afrika gefangengenommen waren, untergebracht worden. Wir sollten nun noch mehr als vier Jahre – abgesehen von den Spaziergangstagen – dasselbe Schicksal hinter dem Stacheldraht mit ihnen teilen. Und je länger der Krieg dauerte, umso mehr sank die Hoffnung auf Befreiung.

In der Nacht hörte man die Schakale der Wildnis stundenlang jaulen und in den hohen Bäumen der Teeplantage, die sich direkt an unseren Wing anschloss, trieben die Affen ihr lustiges Spiel. Die einzelnen hohen, belaubten Bäume schützten die Teepflanzen vor der heißen Sonne. Die Rollen waren nun sehr vertauscht. Für gewöhnlich sind die Affen im Zoo hinter Draht und die Menschen frei. Hier aber waren die Menschen hinter Stacheldraht und die Affen liefen frei herum. Auf einem Pfahl am Wegrand sitzend, schaute eines Tages ein Affe lange sich unseren Stacheldraht an. Was er sah, machte ihn offensichtlich recht nachdenk­lich über diese so verwirrte und verirrte Welt. Einmal sogar geriet ein Affe in unseren stillen Studienraum. Man konnte ihn fast nicht ver­treiben und man tat gut daran, sich nicht mit ihm in ein Handgemenge einzulassen.

Auch in Dehra Dun machte sich die Hitze von Monat zu Monat mehr be­merkbar. Die Steine in den breiten Flussläufen -wir waren ja im Quell­gebiet des Ganges – strömten eine unheimliche Wärme aus. Nach der ersten schweren Regennacht sah ich am anderen Spaziergangstage wie sich das erste braune Wasser im Flussbett seit langen Monaten wieder seinen Weg bahnte. Das ist geradezu ein Ereignis! Der Fluss, der an der Seite sich seinen Weg suchte, riß das Flussbett immer breiter. Das war also die Lösung für die Unerklärbarkeit der so breiten Flussbetten, die bei uns Erstaunen und Verwunderung erregt hatten.

Auf einmal wurde auch die bisher unerträgliche Hitze erträglich. Fast täglich kam nun ein beinahe wolkenbruchartiger Regenguss. Das trockene strohartige Dach unserer Baracken war dem nicht gewachsen. Ständig tropfte es vom Dach her auf die Decken unserer aus Seil geflochtenen Bettgestelle. Daher sahen wir uns gezwungen, in fast zwei Meter Höhe darüber eine tapetenartige regendichte Ablaufbahn für die Regentropfen zu schaffen. Die Anstreicher unter uns konnten den Bitten um solche Regenablaufbahnen kaum nachkommen. Ging aber der Lagerkommandant mit seinem Stab zur wöchentlichen Inspektion durch die Baracken, dann mussten diese Bahnen über den Betten vorher schleunigst entfernt werden. Mit der Zeit nisteten sich in den auf wackligen Beinen stehenden Holz­bettgestellen auch Wanzen ein, die nur mit kochendem Wasser bekämpft werden konnten. Der eine hatte blutmäßig mehr Last damit als der andere, wie ja auch der eine seine Lagerkleidung viel öfter ge­waschen hat als der andere. Die Wanzen waren die reinsten Seilkünstier. Sie balancierten des Nachts über die Drähte, an denen unsere Moskito­netze befestigt waren, um so von einem Bett zum anderen zu kommen. Bei einen Kameraden, dessen Blut die Wanzen verschmähten und der sich rühmte, keine Last mit diesen Blutsaugern zu haben, fanden wir sie dennoch in Fülle. Weil einer von uns durch unerklärlichen Wanzen­besuch argwöhnisch geworden war, lüftete er – als sein Nebenmann auf Spazierfahrt war – die Teile, die auf der Seilbespannung des Bettes lagen, und er fand geradezu ein ganzes Wanzenmutterschiff. Wir schleppten alles an die Sonne, wo die Wanzen im Gestell mit heißem Wasser über­brüht wurden.

In Dehra Dun gab es zweimal in der Woche Ganztagsspaziergänge. Halbe Tage wären für einen Besuch der Vorberge oder der Siwaiikhügel nicht ausreichend gewesen. Man muss es dem Engländer wirklich danken, dass er dafür Verständnis hatte. Man kam so aus der Stacheldrahtpsychose und lernte in vier langen Jahren von morgens acht bis nachmittags ½ 6 Uhr Land und Leute wirklich gründlich kennen. Mit Tagesration im Brotbeutel, mit Wasserflasche am Riemen und aufgeschnallter leerer Konservendose zum Abkochen, ging es mit einem Wachsoldaten zur Brücke vor dem Ort, die auch Sammelplatz für den Nachmittag war, von wo aus wir uns in alle Winde zerstreuten. Wer zu spät alleine ins Lager zurückkam, bekam Spaziergangsverbot.

Besonders beliebt waren die Mangga (Mango), Zitronen und Apfelsinenhaine, wo man im Tausch gegen Seife oder Zigaretten, die wir dafür mitgenommen hatten, soviel bekam, dass der Brotbeutel bei der Rückkehr oft voller war als vorher. Die reife Mangga ist ja eine herrliche süße Frucht, die man am fließenden Wasser genießen muss. Der Saft der reifen Mangga fließt einem allzu leicht an den Fingern, Händen und Armen herunter, so dass zugleich fließendes Wasser zum Säubern nötig ist. Und hat man erst eine genossen, dann werden es auch leicht zehn oder zwanzig.

In den heißen Monaten April bis Juli, wo man bis + 5o Grad im Schatten zählt, konnten wir nur kurze Wege von wenigen Kilometern machen. Ziel­strebig ging es einer schattigen Wasserstelle zu, wo wir stundenlang blieben. Meistens bin ich zusammen mit meinem Klassenkollegen Helmut Illing losgezogen. In dem Blech wurde Tee gekocht. Die mitgebrachte Corned-Beef-Dose wurde auf dem Feuer erhitzt und das auf diese Weise gebratene Fleisch schmeckte auf dem mitgebrachten Brot besonders gut. Obwohl die Hindus viel Vieh haben, um einerseits ihren Acker mit dem einschienigen uralten Holzpflug in stunden­langer mühseliger Gedulsarbeit aufzupflügen, oder andererseits die Tiere vor ihre alten zweirädrigen Karren zu spannen, so essen sie doch kein Fleisch. In jener Gegend, wo ein breiter Waldgürtel be­ginnt, fand man überall Hirten und Hirtenjungen, die Vieh weideten. Diesmal waren sie es, die sich über unsere Mahlzeit und besonders über das Fleischbraten wunderten. Etwas Brot nahmen sie noch soeben von uns an, aber die Einladung, etwas Fleisch zu essen, lehnten sie mit entrüsteter Miene ab.

Die Verständigung mit den Leuten war meistens nur eine Art Zeichen­sprache. Außer einigen Zahlen und den wenigen Worten, um Früchte einzuhandeln – wie „Nimbu hai“ usw. „Gibt’s Zitronen?“ – fehlten ein­fach die Worte. In dem mehr ebenen Gebiet bis zu den Siwalikhügeln fand sich viel fruchtbares Ackerland im Nuntal. Viele Frauen holten das Wasser direkt aus dem 5 – 6 Meter breiten Nunfluss. Wollten wir zu den Siwaliks, dann mussten wir hier stets unsere Schuhe und Strümpfe ausziehen, was bei Touren in den Vorbergen nicht nötig war. Beim Durchqueren merkten wir, dass das Wasser des Flusses, der hier ohne Gefälle war, ziemlich unsauber war. Ich beobachtete genau, wie etwas oberhalb Frauen ihre Gefäße am Fluss mit Wasser füllten. Es störte sie gar nicht, dass unweit von ihnen eine Kuhherde im Fluss war, die sicher nicht nur durstig waren, sondern auch mal was in den Fluss fallen ließen. Würden wir wie sie das Wasser des Flusses mit der bloßen Hand so trinken, dann wäre sicher eine Dysenterie fällig. Man kann sich also wiederum nur wundern, dass die Leute das offensichtlich ohne Krankheitsfolgen verkraften.

Als wir wieder einmal daselbst an einer uns gut bekannten Schatten­stelle rasteten, wo wir auch guten, wildwachsenden Pfefferminztee sammeln konnten, hatte ich folgendes Erlebnis: Ich sah, wie in einer Lichtung in einer Entfernung von 50 Metern, ein großer Vogel zwischen hohen Bäumen herunterstieß. Nach einer kleinen Weile flog er mühsam zwischen den Bäumen in die Höhe. Als er wieder über den Bäumen sicht­bar wurde, wand sich wie ein Wurm eine Schlange in seinen Fängen. Dieses einzigartige Ereignis einer „fliegenden Schlange“ habe ich allerdings auch nur einmal im „Wunderland“ beobachtet.

An einer Stelle fanden wir in einem Hain Beelfruchtbäume, die fortan öfter unser Ziel waren. Die Beelfrüchte, in der Größe mittlerer Äpfel, hatten eine sehr harte Schale und innen eine klebrige Masse, die man so überhaupt nicht essen konnte. In ver­dünntem Tee konnte man diese Masse aber gut ansetzen und einige Tage gären lassen. Das Ganze bekam dann einen erstaunlich guten Biergeschmack. Gab es an einem Spaziergangstag zum Abendessen ein Reisgericht, dann schmeckte ein Becher Beelsaft besonders gut dazu. Unter Umständen konnte man auch einmal eine Flasche verkaufen und so das geringe Lagergeld ein wenig aufbessern. Einige Reime, die ich damals über den Spaziergangstag gemacht habe, mögen das Gesagte noch ein wenig verstärken.

Unser Spaziergangstag

  1. Morgens um acht geht’s zum Tor hinaus,
    Um sechs kehrt man müd‘, verschwitzt nach Haus.
    In den uns verfügbaren Stunden
    Wird der Körper oft sehr geschunden.
  2. Im Rucksack Pfanne und Kochgerät
    Geht’s schnell los in’s A B C-Gebiet.
    (= 3 so bezeichnete Spaziergangsgebiete)
    Ob’s im Winter kühl, im Sommer schwül,
    Ein jeder entflieht schnell dem Gewühl.
  3. An den Ersten schon vorbei man rennt,
    Ha, ha, die wollen wohl zum Clouds End!
    (Höchster Gipfelpunkt)
    Die Himalajasicht ist ihr Ziel,
    Doch leider erreichen es nicht viel.
  4. Wer es sich drum etwas leichter macht,
    Der steigt auf einen Siwalik-Paß;
    Klettert hinauf zum Bul Rau behend,
    Sieht vom Himalaja auch ein End‘.
  5. Schaust‘ von den Höhen mit kühnem Blick,
    Manch wildes Tal dich von dort erquickt.
    Hebst auch den Kopf hoch auf den Bergen,
    Gleicht man im Nun Tal doch den Zwergen.
  6. Auf unseren Siwalik-Touren
    Fanden wir einst auch Tigerspuren.
    Ein Hirt‘ uns führte hin zu der Spur,
    Zum Glück für uns, eine Spur war’s nur.
  7. Im Sommer labt uns im Quellental
    Ein Brünnlein klein unter’m Himmelsall.
    Aus Blättern ward schnell ein Wasserrohr,
    Der Wind uns dort wehte kühl um’s Ohr.
  8. Ein Luftwurzel bäum gab Schatten g’nug,
    Doch leider er keine Früchte trug.
    Sorgt‘ ich für’s Wasser, dass es stets rann,
    Macht Helmut derweil ein Feuer an.
  9. Ein Vogel stieß herab vom Himmel
    Verschwand gar schnell im Blattgewimmel.
    Als hoch er wieder von dannen zog,
    Nun eine Schlange bei ihm sich bog.
  10. Wir kochten Tee, brieten Corned Beef,
    Das Wässerlein noch treu für uns lief.
    Zeitweis stellten auch Öchslein sich ein,
    Sie fanden die Quelle ganz allein.
  11. Der Beelhain war uns ein Paradies,
    Biersaft am Abend er uns verhieß.
    Wir holten Schakotra und Nimbu,
    In der Nähe gab’s Am und Aru.
  12. Streichholz, Zigaretten und Seife
    Vertauschten wir auf diese Weise.
    Wir redeten auf Hindustani,
    Abends gab’s dann Reis oder Bami.
  13. Und war der Tag auch heiß gewesen,
    Der Beelsaft war fein auserlesen.
    Reichlich wir wurden wieder erquickt,
    Von den Früchten, die wir abgepflückt.
  14. So trieben wir es lange Jahre
    An unserem Spaziergangstage.
    Und war der Weg kurz oder recht weit,
    Ein solcher Tag tat uns niemals leid.
  15. Gott ließ auf allen unsern Wegen
    Viel Schönes in der Welt uns sehen.
    An Berg und Tal an Land und an Leut
    Hat unser Herz sich immer erfreut.
  16. Doch alles gäben wir gerne preis,
    Das weiß auch Er, der ja alles weiß.
    Wir sehnen uns sehr nach Frau und Kind,
    Gab’s Flügel, flögen hin wir geschwind.

(Dehra Dun, 11.6.1946)

In den Vorbergen des Himalajas

Unser Lager in Dehra Dun lag dicht am Fuße der sich weit aus­dehnenden 2000 Meter hohen Vorberge des Himalajas. Dem Vorteil der Höhenlage von etwa 800 Meter stand der Nachteil gegenüber, dass uns dadurch die Sicht auf das Hauptgebirge mit seinen 7-8.000 Meter hohen Bergen völlig versperrt war. Die gesunde, kühle Höhen­luft der Vorberge hatte die Engländer auf den Gedanken gebracht, dort Erholungsorte wie Moussoori aufzubauen.

In der Winterzeit hüllten sich die Vorberge oft bis zur Hälfte in Schnee ein. Einmal hatten wir sogar dicken Schnee im Lager. Nach all den heißen Jahren war es ein langentbehrter Genuss, die Hände wieder an einem Schneeball abkühlen zu können. In den Bergen mit ihrem Buschwald, den Manggahainen, Tälern und Schluchten war auch im heißen Sommer stets gutes und frisches Wasser zu finden. Die Flussbette waren auch hier wie in der Ebene erst erstaunlich breit und leer, aber je höher man kam, desto enger wurden sie und hatten auch reichlich Wasser. Man konnte geradezu dem Wasser nachgehen, bis es plötzlich im Sand des Flussbettes versickerte. Welche Schleif­arbeit das Wasser der Monsunzeit im Oberlauf dieser Quellflüsse des Ganges verrichtet, soll später noch dargestellt werden.

In den Vorbergen hatten die Leute es nicht nötig, tiefe Brunnen zu graben. Sie fanden einfach überall Wasser und hatten viele Möglich­keiten, sich selbst und ihre Wäsche zu säubern. So hatte sich z. B. ein kleines Rinnsal seinen Weg quer über einen Waldweg gebahnt. Da dort eine sanfte Hanglage war, hatten die Leute direkt neben dem Weg mit einem Stück Rohr eine Wasserstelle angelegt, an der sie leicht Wasser holen konnten. Daselbst trafen wir eine Frau, die ihren Eimer schon zu ¾ voll Wasser hatte. Als mein Kollege und ich vorsichtig einen größeren Schritt machten, um ja das über den Weg laufende Wasser nicht zu verschmutzen, schüttete die Frau sofort den ganzen Eimer aus. Wir hatten beide den Eindruck, dass sie wohl mehr den Schatten der Fremden fürchtete, der ja auf dem Weg ins Wasser gefallen war, denn eine evtl. Trübung des Wassers. Sie wollte offensichtlich ihr Wasser ohne diesen ihr so fremden Schatteneinfluss haben. Als wir einige Schritte weiter waren, stellte sie den Eimer wieder unter’s Wasser.

Überall auf den Wegen oder im Gelände fand man die gebleichten Knochen der Kühe oder Ochsen. Die Tiere wurden von den Indern solange ausgenutzt, bis sie vor Krankheit oder Altersschwäche einfach umfielen. Eines Morgens kamen wir etwa gegen 9 Uhr am ersten Bergdorf Paunda vorbei. Ganz in der Nähe schleppte man eine soeben verendete Kuh auf einen freien Platz hinter dem Dorf.

Weit in der Ferne sahen wir sehr hoch in der Luft einige winzig kleine Pünktlein. Es waren Aasgeier, die mit ihren scharfen Augen bereits die Beute erspäht hatten. Sie warteten nur darauf, dass die Leute die Haut abgezogen hatten, um sich dann sofort auf das ver­endete Tier stürzen zu können. Ich nahm an, dass die Aasgeier wohl einige Tage damit zu tun haben würden. Wie habe ich aber am Nach­mittag gestaunt! Als wir gegen 5 Uhr wieder an der Stelle vorbei kamen, war nur noch das blanke Gerippe übrig. Die Aasgeier sind wirklich die gründlichste Gesundheitspolizei, die man sich für Indien denken kann.

Einmal führte uns der Waldweg an einer fünf Meter tiefen Schlucht vorbei, aus der wir ein brummendes und für diese stille Gegend selt­sames Geräusch hörten. Als wir dem Geräusch nachgingen und in die Schlucht blickten, sahen wir in einem Loch – wie große Käfer – etwa 15 Aasgeier herumkrabbeln. Offensichtlich konnten sie nur mühsam an ein Aas kommen, das man in diese Tiefe gestürzt hatte. Wir wagten nur vorsichtig, uns das Schauspiel aus der Höhe anzusehen. Es bestand ja die Gefahr, dass der Erdboden unter uns nachgab, und wir hatten keine Lust, selber mitten unter diese hungrige Meute zu stürzen. Lange habe ich mir noch darüber Gedanken gemacht, wie wohl diese schweren Aas­geier aus dieser engen Schlucht wieder herausgekommen sind. So können auch einmal die Rollen vertauscht sein, dass wir solch große Vögel von oben an der „Arbeit“ sehen, die sonst uns Menschen nur von oben beobachten.

Es konnte auch Vorkommen, dass ein Weg plötzlich endete. An einer Stelle z.B. brach die Bergwand jäh in eine unauslotbare Tiefe ab. Wenige Meter vorher sah es so aus, als ob man wie durch ein Fenster in eine unübersehbare bis an den Horizont reichende weite Landschaft blickte. Mit vollem Recht hatte man diese Stelle „das Erdfenster“ genannt. Unser Lager war von dort nur schwer mit bloßem Auge zu sehen. Es lag weitab inmitten einer grünen Landschaft. Ganz rechts davon tauchte die Siwalikhügelkette auf. Wie ein flacher Teller dehnte sich, soweit das Auge geradeaus und nach links zu schauen vermochte, eine gewaltige flache Ebene aus. Man konnte sicher einige hundert Kilometer in die Tiefe des indischen Landes hineinblicken.

Spätestens an dieser Stelle wurde es einem deutlich, dass niemand in dieses flache Land hinein unerkannt entfliehen konnte. Die einzige – auch noch höchst fragliche Möglichkeit – bestand darin, in die Bergwelt des Himalajas und in die Eiswüste Tibets zu fliehen, was später tatsächlich der mitinternierte Bergsteiger Harrer und sein Freund durchgeführt haben. In einem Buch „Sieben Jahre in Tibet“ schildert er die wagemutigen Erlebnisse der Flucht und der Zeit in Tibet. Verkleidet als einheimische Kulis, die eine Lagerarbeit ver­richtet hatten, hatte sie der Posten ohne Beanstandung aus dem Lager­tor gehen lassen. In den Vorbergen hatten sie sich im Laufe der Zeit an einer guten Stelle ein erstes Ausgangsdepot errichtet. Mit den Ausrüstungsgegenständen, die sie dorthin gebracht hatten, wagten sie den abenteuerlichen Ausbruch aus dem Internierungslager in die Eis- ­und Gletscherwelt Tibets. Aber was es nicht alles gibt! Mindestens ebenso abenteuerlich war der gelungene Versuch zweier Kameraden, die sich als englische Offiziere verkleidet hatten, sich tausende von Kilometern mit Zug, Schiff und Kahn an die japanische Birmafront durchzuschlagen. In dem Buch „Die Chance war Null“ schildern sie ihre hochinteressanten Erlebnisse, aber auch ihre herbe Enttäuschung, dass sie von den Japanern lange Monate als Spione betrachtet und dem­entsprechend behandelt wurden.

Es war – je nach Kraft in den Beinen – möglich, auf den Spaziergängen einen kleineren oder gar mehrere dicht hintereinander liegende Hügel der Vorberge abzulaufen. Die Bergsteiger unter uns liefen in neun Stunden – von acht bis fünf Uhr – eine ganze Hügelkette ab, die man auch als Vorberge der Vorberge bezeichnen könnte. Auf ihnen standen nicht selten schöne, weiß leuchtende Hindutempel, die weit zu sehen waren. Ein Berg wurde von den Spaziergängern geradezu der Tempelberg genannt. Inmitten einer etwas abseitsstehenden Baumgruppe lag dieser gepflegte Tempel genau auf der Spitze eines Vorberges der Vorberge.

Es überraschte uns, dass schon über dem Tor seiner Einfassungsmauer eine Menge kleiner Glocken hingen. Bereitwillig öffnete uns der Tempelwächter auch die Tür des Tempels. Vor und hinter der Tür waren wieder dicht nebeneinander eine Fülle weiterer Glocken. Wir blickten in einen nicht besonders hellen Raum, der etwa 8-10 Meter groß war und ein hoch emporstrebendes rundes Dachgewölbe hatte. Im Tempel selbst waren einige erschreckende Gestalten der Hindumythologie zu sehen. In der Mitte des Raumes war ein quadratmetergroßes schwarzes Loch zu erkennen, in dem die den Gottheiten geopferten Blumen, Kränze oder gar Tiere – meistens wohl Ziegen – verbrannt werden konnten. Bänke oder Stühle waren nicht vorhanden, und wozu die große Zahl der Glocken dienen sollte, ist mir auch nicht deutlich geworden. Sie sollten möglicherweise Geister vertreiben oder bei Hindufesten die nötige Geräuschkulisse abgeben.

Von diesen Vorhügeln aus konnte man auch weiter zu malerisch gele­genen Bergdörfern kommen, die schon mehr ein tibetanisches Gepräge hatten. Auf einem der schmalen Pfade in diesem Gebiet stockte plötzlich mein Fuß. In etwa 5 Meter Entfernung lag ein ungewöhnliches gut arm­dickes, schwarzes, glänzendes Band quer über dem Bergpfad. Als ich eine Weile still stehen blieb, setzte sich das Band plötzlich in Be­wegung. Mit ziemlichem Geräusch – um nicht zu sagen Gepolter – ver­schwand die Riesenschlange, die ich wenigstens auf 6-7 Meter Länge schätzte, im niedrigen Buschwerk des Abhangs. Später habe ich in Mentawai das ja ein richtiges Schlangenland ist, noch viel mehr und größere Schlangen gesehen. Für freundliche Bewahrung vor solchen und ähnlichen unangenehmen Tieren der Wildnis, kann ich Gott nicht dankbar genug sein.

Auf dem Gipfel der Vorberge (Clouds End – 2.148 m)

Der Wunschtraum vieler Internierter in Dehra Dun war es, einmal auf den Vorbergen des Himalajas zu stehen, und von dort einen Blick auf das höchste und größte Gebirge der Welt tun zu dürfen. Ein Gebirge, das nicht nur Höhen über 7 und gar 8.800 Meter kennt, sondern auch viele Tausende von Kilometer breit ist und wie ein unübersteigbarer Wall von Eis und Schnee das gesamte Indien nach Norden hin abschließt. Den geübten Bergsteigern unter uns war die Erfüllung dieses Wunsches eine Kleinigkeit. Alle anderen aber mussten tüchtig trainieren, um das hohe Ziel zu erreichen. Gewisse Punkte, die mehr Trainingsnamen bekommen hatten, mussten genau nach Uhrzeit erreicht werden, denn wer nicht rechtzeitig zurück war, bekam Spaziergangsverbot.

Die erwähnten festen Punkte hatten mehr symbolische Namen bekommen – wie: Brücke 8.12; Paunda 9.00; drei Röhren 9.12; Tanigaon 10.4; drei Grashütten 11.25; drei Tannen 12.00 Uhr. Solche Übungstouren mussten im Januar und Februar – wo es noch kühl war – gemacht werden, denn von den „drei Tannen“ aus war es noch eine Stunde Anstieg bis zur Gipfelhöhe „Clouds End“.

Von den „drei Tannen“ aus – Gesamtsteigung bis dahin etwa 1.200 m – konnte man zwar bis an den Horizont in die Tiefe der indischen Land­schaft blicken, aber nicht einmal das allerkleinste Stück vom Himalaja sehen. Viele Gipfelstürmer hatten hier schon genug von der Anstrengung. Zwanzig Kilometer waren im Auf und Ab der Bergwelt zurückgelegt. Sie mussten nun beim Rückweg noch einmal bewältigt werden, um pünktlich um 5.20 Uhr an der Brücke zu sein, die über einen kleinen Zufluss des Ganges führte.

Wegen der steigenden Tageswärme war Anfang März für eine Gipfeltour letzter Termin. Zu fünf Personen sagten wir uns am Abend des 8. März: Jetzt oder nie! Mit Feldflasche, Brotbeutel, Stock und neuen Turn­schuhen traten wir am 09.03.1944 zum Sturm auf den „Clouds End“-Gipfel an. Die genauen Daten dieser Tour verdanke ich den Aufzeichnungen meines Kollegen Alfred Flick: Ab Lagertor 7.50; an der Brücke 8.05; in Tani­gaon 10.10; bei den „drei Tannen“ 11.30 Uhr. Vor der letzten ent­scheidenden Stunde des Anstiegs gönnten wir uns dort 10 Minuten Pause. Die berganführenden Pfade wurden immer schmaler und der Baumbestand immer karger und weniger. Ich selbst ging lieber voran, um nicht am Schluss der Gruppe allzu leicht zu ermüden oder gar zu verzagen. Ein einzelner Baum zeigte sich noch am Rand des Pfades. In einer Ent­fernung von etwa 20 Meter geriet der ganze Baum mit seinen Ästen plötz­lich in Bewegung. Ein Rudel von 10-15 – wenn nicht gar mehr – weißlich aussehenden Affen mit langen Schwänzen verließ unter unwilligem Geschnatter in weiten Sprüngen die Äste des Laubbaumes. Und in Sekunden waren sie im niedrigen Gestrüpp des Abhangs verschwunden. Wie froh war ich, dass diese große Schar mich völlig unbehelligt gelassen hatte. Alles ging so schnell vor sich, dass die nachfolgenden Kameraden die Affen gar nicht zu Gesicht bekamen.

So hoch wir auch gestiegen waren – ich schätzte, dass die Höhe von 2.000 m überschritten war-, der Himalaja entzog sich noch immer unseren Blicken. Erst auf der allerletzten Biegung des Pfades und geradezu bei den letzten Metern tat sich eine neue Welt vor uns auf. Um 12.30 Uhr standen wir auf dem ersehnten Gipfel. Das Ziel „Clouds End“ 2.148 m hoch war erreicht. Eine Gesamtsteigung im Auf und Ab der Vorgebirgswelt von 1.633 m war geschafft. Vom Lager aus waren 25 Kilometer zurückgelegt. Doch der Lohn war groß. Die Aussicht auf den ewig weißleuchtenden Himalaja war wirklich über­wältigend.

Über Abgründe, Täler und Höhen und einen weit vor uns in der Tiefe liegenden grünen Waldgürtel von etwa 50 bis 100 km hinweg tat sich die steil aus dem Boden in die Höhe strebende weiße und weit zer­klüftete Gebirgswelt des Himalaja vor uns auf. In unendlicher Breite und stolzer Höhe in der Pracht vieler eisiger Zinnen und Zacken lag das Hauptgebirge des Himalajas vor uns. So gewaltig, großartig und erhebend auch der Anblick war, die Erschöpfung war noch größer, so dass man sich erst einmal gut 10 Minuten auf den Boden legte, ehe man sich wieder in das herrliche und einmalige Bild, das so nahe und doch noch so weit vor einem lag, versenkte.

Aber es war einfach unglaublich, dass sich erst beim letzten Meter der Steigung und bei der letzten Wegbiegung vor der zu erreichenden Höhe der Vorhang hob, der uns vom Lager aus diesen prächtigen und über­wältigenden Anblick auf das ganze Panorama der höchsten Gottesschöpfung dieser Welt verwehrte. Riesige grüne Täler – unterbrochen von Bergen und Tiefen – trennten uns noch von dieser bizarr gegen den Himmel auf­ragenden Eiswand. In sich ist diese alles überragende und auch alles abschließende große Gletscherwand wieder durch gewaltige Eisklötze, die Einschnitte und Pässe von etwa 5.000 m Höhe freigeben, vielfach gespalten. Ob das Land, zu unseren Füßen und vor uns bis dahin auch noch so weit war, im Blick auf die unendliche Höhe und Weite des Himalajas, dessen Breite der Horizont in der Ferne nicht fassen konnte, erschien uns die Entfernung bis dahin plötzlich nur gering.

Die Besteigung der Vorberge und der Ausblick von dort in eine völlig neue und andere Welt der Schöpfung ist mir bis heute zum Sinnbild und Gleichnis für unsere Pilgerreise zum ewigen Ziel der Gottesstadt in der ewigen und neuen Welt Gottes geworden. Wie mühen wir uns auf dem Weg ab, oft wollen wir vor Ermatten kurz vor Erreichung des Zieles wieder umkehren. Aber erst bei dem letzten Meter der irdischen Pilger­fahrt wird sich der Vorhang heben und wir werden vom Glauben zum Schauen kommen. Und wir haben doch die Verheißung und Zusage unseres Herrn, der wohl stets des Vaters Willen erfüllt hat und doch zum Schluss im Gebetsringen dem Vater sagen konnte: „Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die Du mir gegeben hast, dass sie meine Herrlichkeit sehen…“ (Joh. 17, 24). Und diese Herrlichkeit wird noch schöner und erhabener sein als die der höchsten Spitzen und der schaurigsten Abgründe des alle Horizonte sprengenden Himalajagebirges, das meine Augen schauen durften und das für mich diese bleibende Note folgender Liedstrophen bekommen hat:

„Wenn nach der Erde Leid, Arbeit und Pein ich in die goldenen Gassen zieh ein, wird nur das Schau’n meines Heilands allein Grund meiner Freude und Anbetung sein. Das wird allein Herrlichkeit sein, wenn frei von Weh ich sein Angesicht seh!“

„Dort vor dem Throne im himmlischen Land treff ich die Freunde, die hier ich gekannt; dennoch wird Jesus und Jesus allein Grund meiner Freude und Anbetung sein. Das wird allein Herrlichkeit sein, wenn frei von Weh ich sein Angesicht seh!“

Die Zeit von einer knappen Stunde, die uns auf dem Gipfel zur Ver­fügung stand, verrann sehr schnell. Nachdem ich mich an dem mit­genommenen Proviant gestärkt hatte, versuchte ich noch einmal und nun für immer und bleibend den Kontrast zwischen der vor mir liegen­den grünen und heißen und der sich himmelhoch erhebenden weißen und eisigen Welt in meine Seele aufzunehmen. Immer gigantischer und groß­artiger wurde einem das Bild. Die sich bis ins Unendliche aus­dehnende Eisbarriere, deren Seiten rechts und links in nebelhafter Ferne verschwammen, lag in schneeweißer Pracht, die sich allem Zu­griff entzog, dennoch wie zum Greifen nahe. Wie viele Kilometer es bis an die schimmernden Paläste der Könige der Berge sein mochten, versuchte ich erneut vergeblich abzutasten. Das Auge schaute und schaute und konnte sich doch nicht satt sehen an der weiten, durch­brochenen grünen Ebene, die Menschen noch Lebensraum bietet, in der aber wegen der Entfernung kein einziges Haus zu sehen war, bis hin zu diesen Königen der Berge, die den Menschen keinerlei Wohnstatt mehr gönnen.

Jede Minute war so kostbar, wie sonst nur ganz wichtige Stunden des Lebens sein können. Hier galt das Wort wirklich: Trinket Augen, was die Wimper hält, von dem gold’nen Überfluss der Welt! Und dabei wusste man aus der Erfahrung der Indienjahre doch sehr genau, dass die Menschen, die dort leben, ärmlich und bescheiden – ich will nicht sagen unglücklich – ihr Dasein verbringen.

Von dem Überfluss an Weite, Schönheit und Erhabenheit, das unsere Augen erschaut und unsere Seele in der Tiefe aufgenommen hatte, galt es nun Abschied zu nehmen. Gerne hätten wir noch länger ver­weilt. Es ging uns fast so wie Petrus auf dem Berg der Verklärung: Hier ist gut sein! Hier wollen wir Hütten machen! Doch die Zeit eilte und nur wenige Schritte, nur ein bis zwei Meter tiefer und die ganze Pracht der ewigen Eis-, Schnee- und Gletscherlandschaft war für immer unseren Blicken entschwunden. Für immer? Nein, denn bei der Rückfahrt von Dehra Dun sollten wir vom Zuge aus die massive weiße Pracht noch stundenlang – allerdings immer niedriger werdend – am Horizont langsam verschwinden sehen.

Nicht nur der Seele, sondern auch unseren Beinen fiel es schwer, wieder Tritt zu fassen. Immerhin schwellte das stolze Gefühl die Brust: Auch wir haben es geschafft, so nahe, wie das nur eben vom Lager aus möglich war, an die unnahbaren und achtungsgebietenden stolzen Höhen und fernen Eisriesen der Berg- und Gletscherwelt des Himalajas heranzukommen. Um pünktlich am Sammelplatz zu sein, ging es im Eilschritt hinab bis wieder ein kleiner Aufstieg begann. So ging es – nun mehr bergab als bergauf – die 25 km wieder zurück – bis wir genau um 5.25 Uhr ohne Unfall am Sammelplatz waren. Fünf Minuten Spielraum wurden zum Sammeln an der Brücke immer dazugegeben. Wir hatten allerdings in Tanigaon, wo wir um 2.45 Uhr waren, eine erneute Pause von 25 Minuten gemacht. Damit hatten wir vom Lager aus nicht nur insgesamt 50 km zurückgelegt, sondern auch einen Höhen­unterschied von etwa 1.300 Meter geschafft. Ein das ganze Leben be­reicherndes, einmaliges, einzigartiges und unvergessliches Erlebnis lag hinter uns.

Fast wollten mich die Beine nicht mehr bis ins Lager tragen, wo für­sorgliche Kameraden zwei Eimer Wasser in die warme Tagessonne ge­stellt hatten. Nach dieser Erfrischung und dem Abendbrot hatte man jetzt reichlich Zeit zum Ausruhen und zum Erzählen. Und wollte auch in der Nacht der Schlaf nicht so schnell kommen, so konnte man noch einmal alles in Ruhe überdenken und nacherleben. Aber auch noch einen anderen Eindruck aus jener Vorgebirgswelt möchte ich erwähnen.

Zum Unterschied zu den Flusstälern der Ebene hatten die Flusstäler, die sich in den Vorbergen des Himalajas so sehr verengten, auch in der trockenen Zeit, wenigstens je höher man kam, desto mehr Wasser. In der Trockenzeit konnte man sich das Flussbett, in welchem sonst in der Monsunzeit das Wasser nur so strömte und sich schäumend und zischend seinen Weg zwischen den Felsen suchte, in aller Ruhe und sehr genau ansehen. Wie musste man dabei über die Urgewalt des Wassers staunen, das immer und stets an der Seite des nun so engen Flussbettes sich richtig in die Felsen hineingebohrt und hineinge­fressen hatte.

Wie riesige Schiffe, ja geradezu wie Schiffskonvois lagen in einer Höhe von über 1.000 Meter gewaltige Felsblöcke mitten in diesen enger werdenden Wasserwegen. Rechts wie auch links von diesen Blöcken hatte das Wasser sich in Jahrtausende langer Schleif- und Sägearbeit einen Weg zur Tiefe gebahnt. In der Mitte war dann genau die Breite eines Schiffsdecks übrig geblieben. Auch ohne besondere Phantasie konnte man sich, wenn man Schiffsreisen gemacht hatte, ganz ver­schiedene Formen von großen und kleinen Schiffen mit unterschied­lichen Aufbauten in dieser großartigen Schiffsschleiferei vorstellen. In immer wieder neuen Formen waren diese Urschiffe der Natur dort zu finden. Richtige Schiffswände von vier bis fünf Meter hatte das Wasser an beiden Seiten des Decks sich zurechtgesägt. So oft ich auch an die Vorberge des Himalajas erinnert werde, stehen diese riesigen Felsenschiffe der Vorberge vor meinen Augen.

Einmal wurde von Spaziergängern im Lager berichtet, dass sich der starke Monsunregen durch einen Erdrutsch, der wie ein Staudamm wirkte, hoch in den Bergen einen kleinen See geschaffen hatte. Das kommt ja in allen Berggebieten immer wieder vor. Es kann auch leicht zu katastrophalen Folgen führen. Welche unglaubliche Gewalt das Wasser hat, habe ich 1936 im Berggebiet des Dolok Pinapans in etwa 1.300 m Höhe in Sumatra miterlebt.

Zwei Wochen lang hatte es dort einmal Tag und Nacht ununterbrochen geregnet. Die kleinsten Bäche waren zu reißenden Wassern geworden. Als der Regen nachließ, kam aus einem Bergdorf am Fuße des Dolok Pinapans eine Unglücksnachricht. Dieses Dorf war mir gut bekannt. Wenige Wochen vorher war ich zusammen mit meinem Sprachlehrer, Missionar Quentmeier, noch dort gewesen. Schon auf dem Weg in diese Bergwelt waren mir die gewaltigen Steine, die mit Moos und Gras bewachsen waren, überall am Bergabhang aufgefallen. Ich fragte mich: Sind hier wohl die Riesen der Urzeit am Werk gewesen und haben die Steine wie Spielbälle vom Berg geworfen? Das Dorf hatte wohl deshalb auch den Namen Batu na godang „gewaltige Steine“ erhalten.

Mitten durch dieses Bergdorf floss ein kleines Rinnsal, das man mit einem stärkeren Schritt überspringen konnte. In einer Ent­fernung von etwa 10 Meter davon standen rechts und links je fünf Batakhäuser mit Satteldach in alter stabiler Bauweise. Durch den anhaltenden Regen, der einen Erdrutsch verursacht hatte, hatte sich das kleine Rinnsal im Berg gestaut und einen See gebildet.

Dieser See war nun in einer Nacht durchgebrochen. Mit Urgewalt hatten die Wassermassen sich einen Weg in die Tiefe gesucht. Und ehe die Leute recht wach waren, hatten sie alles, was im Weg war, Stämme, Steine und auch die fünf Häuser der einen Dorfseite mit sich ins Tal gerissen.

An der Stelle, wo früher Häuser gestanden hatten, lagen nun Stein­blöcke, die zwei bis drei Meter breit und hoch waren. Zum vorher grünenden Tal hin hatte sich eine 500 Meter lange Steinstraße mit größeren und kleineren Steinen gebildet. Hätte ich das schöne friedliche Dorf und das liebliche Tal nicht kurz vorher ohne diese Steinwüste gesehen, dann würde ich es nicht für möglich gehalten haben, dass Wasser allein in einer einzigen Katastrophennacht so etwas zuwege bringen kann. Und nicht nur die ganze linke Dorfseite, sondern auch alle Bewohner der völlig weggeschwemmten Häuser waren im Nu der Gewalt und dem Brausen der Wassermassen zum Opfer gefallen. Nun verstand ich den Namen des Dorfes erst richtig. Wortwörtlich waren dem Dorf durch die „gewaltigen Steine“, die das Wasser darüber gewälzt hatte, Tod und Verderben gebracht worden.

Die Siwaihügelkette

Wie nördlich dicht vor unserem Lager die Vorberge waren, so lag südöstlich weit hinter unserem Lager in etwa 15 Kilometer Ent­fernung die Siwalikhügelkette oder das Siwalik-Gebirge. Durch eine von Bauerndörfern durchsetzte fruchtbare Ebene kam man nach einigen Kilometern in ein größeres Hochwaldgebiet, in dessen Lichtungen die Hirten zahlreiche Herden weiden ließen. In der Ebene musste man erst einen Fluss durchwaten, der normalerweise dauernd Wasser hatte und so für das Land von großem Nutzen war. In unserem Lauf zu den Hügeln hielt er uns zweimal auf, denn Schuhe und Strümpfe mussten erst aus­gezogen werden. Im kühlen Wald kam man nach wenigen Kilometern an die steil und recht spitz aufsteigende Hügelkette.

Die besondere Eigenart des Siwalikgebirges ist es, dass jeder ein­zelne der unzähligen Hügel dieses mehr als hundert Kilometer langen Gebirges, wie ein spitzer Kegel einige hundert Meter steil in die Höhe strebt. Der einzige Pfad, der nach oben führt – und jeder Hügel hat nur einen Pfad – verengt sich immer mehr zu einem schmalen Grad, der oft nur noch 30 bis 40 cm breit ist. Nur eine Person konnte jeweils den Pfad begehen. Wer nicht schwindelfrei war, konnte den Aufstieg nicht wagen, denn rechts und links vom Pfad ging es an blanker Felswand steil in die Tiefe. Beim Abrutschen hätte es keinen Halt gegeben. Nur selten wagte sich ein verkrüppeltes Bäumchen von etwa einem einzigen Meter aus einer Fels- oder Geröllspalte hervor. Auf der mit Gras und auch hier oder da mit wenigen Bäumchen bewachsenen Spitze, die gerade Raum für einige Sitzplätze bot, hatte man einen unvergesslichen Ausblick. Auf der einen Seite ragten – nur bei hoch­gerecktem Kopf zu sehen – einige leuchtend weiße Spitzen des Himalajas über die Vorberge empor. Aber auch das ließ vor der „Clouds End“-Tour schon unsere Herzen höher schlagen.

Nach der anderen Seite dehnte sich ein viel hundertfaches Gewirr von spitzen Bergkegeln weithin vor uns aus, so dass man sich in eine Art Mondlandschaft versetzt fühlte. Das – wie die Geologen sagten – jüngeres Gestein der Siwalik-Hügel war vom starken Monsunregen zu diesem sehr eigenartigen Gebilde vieler spitzer Bergnadeln abgewaschen worden.

Im verkleinerten Maßstab wirkte es wie ein Nadelkissen mit tausenden von Stecknadeln. Keine Armee der Welt könnte mit ihren noch so starken Panzern hier etwas anfangen oder hier durchkommen. So war es ein wirklich eigenartiger Bergnadelwald, der sich im Anschluss an den Hoch­waldgürtel – den Wald weit überragend – urplötzlich steil und spitz in die Höhe streckte.

Was einem aber noch am meisten wunderte oder gar ärgerte, war, dass man oben auf der kleinen Plattform von nur wenigen Metern, noch von frechen Fliegen geplagt wurde, die einem weder Brot noch Ausruhen gönnten, sondern den letzten Rest von Feuchtigkeit in den Augen und Mundwinkeln begierig zu erhaschen versuchten.

Beim Abstieg auf dem steilen Grad musste man sehr vorsichtig sein, dass der Fuß nicht auf einem kleinen Geröllsteinchen ausrutschte, denn allzu leicht hätte man unaufhaltsam in die Tiefe weiter rutschen können.

Wollte man den Rückweg etwas abkürzen, so musste man sich quer durch den mit scharfen Gräsern und großem Farnkraut bewachsenen Hochwald durchschlagen. Weil man wusste, dass es in diesem Gebiet noch Tiger gab – Kameraden hatten sogar einmal auf einem Wagen zwei erlegte Tiger sehen können -, war das eine etwas ungemütliche halbe Stunde. Wie froh war ich, als der Wald sich wieder lichtete und die Hirten mit ihren Herden auftauchten. Ein Hirte machte uns einmal – mit gebührender Hochachtung in seiner Geste – auf eine ganz frische Tigerspur im lehmigen Boden aufmerksam. Der Spur nach konnte es noch nicht so lange her sein, dass die große Raubkatze dort ihre Visitenkarte hinterlassen hatte. Bis heute bedauere ich es, dass es nicht möglich war, einen Abdruck von diesen tiefen und unbeschädigten Spuren zu machen. Aber leider hatten wir keinen Gips bei uns. Bei einer seiner Kühe war wohl eine Geburt fällig. Zwei Beinchen hingen schon heraus. Leider konnten wir nicht länger warten, denn die Zeit zur Rückkehr war knapp. Der Hirt schien aber ohne Unruhe, die weitere Geburt geduldig abzu­warten.

An anderen Ausgangstagen konnte man außerhalb des Waldgebietes die Bauern bei der Feldarbeit beobachten. Nachdem der Regen den Boden auf­geweicht hatte, pflügten sie tagelang mit ihrem altertümlichen, museumsreifen Holzpflug, der von zwei dürren Öchslein gezogen wurde, vielhundertmal hin und her durchs Feld, um es für Hirse, Weizen oder gar Reis vorzubereiten. Weil auch hier die Pflanzen aus einem Saat­beet genommen wurden, ging das Wachstum in dem Treibhausklima über­raschend schnell vor sich.

Aus dem niedrigen und trägen Fluss holten die Frauen in runden Ton­- oder auch Messingtöpfen, die sie gefüllt in stolzer Haltung auf dem Kopf trugen, das für unsere Begriffe nicht einwandfreie Wasser für ihren Haushalt. Etwas oberhalb der Wasserstelle, wo sie die Gefäße füllten, standen Kühe im Wasser, die dort sicher nicht nur ihren Durst löschten, sondern auch auf ihre Weise das schon an sich trübe Wasser noch mehr verunreinigten, was aber unter Um­ständen – weil ja von der „heiligen Kuh“ stammend – sogar als Medi­zin betrachtet wird. Hätten wir, so wie die Frauen das taten, das Wasser des Flusses aus der hohlen Hand getrunken, dann wäre das wohl unser letzter Spaziergang gewesen. Immer wieder konnte man sich nur wundern, dass diese Leute das anscheinend ohne körperliche Beschwerden verkraften konnten.

Bisweilen gab es in den Dörfern auch Milch. Da wir Zucker und Kakao mitgenommen hatten, konnten wir uns anstelle von Tee einen wohl­schmeckenden Milchkakao bereiten. Die auf diese Weise abgekochte Milch war wenigstens dem Körper zuträglich. Wer sich aber aus so einer Milch Dickmilch machte, tat das auf eigene Gefahr. Verschiedentlich begegneten wir am Flussrand auch Hirten tibetanischer oder gar mongolischer Abstammung. Wenn es im Winter schneite und die Höhen mit Schnee bedeckt waren, zogen sie sich mit ihrem prächtigen Vieh bis in dieses Gebiet zurück. Am Flussrand gab es Gras genug. Für sich, besonders aber für ihre Frauen und Kinder, hatten sie nur ein erbärmliches Zelt errichtet. Im Umfang von knapp vier Meter standen einige Stangen, die sie oben mit einem Strick zusammengebunden hatten. Abgelegte zerrissene Kleiderfetzen oder Tücher, die schon mehr Lumpen waren, ersetzten die Zeltwand. Von da aus beobachteten sie uns weiße Fremdlinge mit den argwöhnischen und scheuen Blicken ihrer dunklen Augen. Ich habe es aber nie erlebt, dass Frauen oder Kinder die Hände zum Betteln ausstreckten. In unserer Interniertenkleidung machten wir selbst für sie wohl auch einen armseligen Eindruck. Für uns war es wiederum ein Anlass zur Verwunderung, dass es überhaupt Menschen möglich war, mit so wenigen Tieren ein so bescheidenes, aber sicher ihrer Ge­wohnheit entsprechend freies Leben zu führen.

Die Frauen in den Dörfern hatten oft die Hände innen noch viel brauner als außen. Für gewöhnlich sind ja die Hände aller Asiaten innen heller als außen. Das neue Braun der Innenhand kam hier aber von der be­sonderen Arbeit, die den Frauen zufiel. Männerarbeit war es, die niedrigen Hütten mit angebautem Stall aus luftgetrockneten Lehm­ziegeln zu errichten und mit Kalkmilch freundlich weiß zu streichen. Die weiße Farbe hält auch die Sonnenstrahlen ein wenig ab. Die Arbeit der Frauen dagegen war es, für den Hausbrand und den so wichtigen glatten Vorplatz des Hauses zu sorgen. Aus einer Mischung von Häckselstroh, Lehm und Kuhmist machten sie unzählige braune, tellergroße Kuhfladengebilde, die sie in der heißen Sonne hart und trocken werden ließen. Wie bei uns in Bauerndörfern das Holz auf­geschichtet wird, so wurden diese Lehmmistgebilde von den Frauen reihenweise übereinander an einer Seite des Hauses oder Stalles aufgereiht.

Der große Vorteil dieser festen Mistmasse war es, dass man ein kleines Stück davon beinahe stundenlang am Glimmen halten konnte, um damit außerhalb des Hauses – etwa bei der Feldarbeit – ein Feuer anzu­zünden. Die Hirten im Wald hatten immer so ein Stück bei sich. War es einmal ausgegangen, dann schlugen sie mit zwei Kieselsteinen Funken, die sie geschickt in die trockene Masse fallen ließen. Durch kräftiges Blasen brachten sie das Stück sehr schnell zum Brennen. Sie hielten es alsbald schräg über ihre Pfeife, deren Duft sie dann behaglich einsogen.

Mit demselben Material – wohl noch mehr Lehm und weniger Stroh – besserten die Frauen in jedem Jahr den 4 x 6 Meter großen Vorplatz des Hauses aus. Da die Häuser wenig Innenraum haben, so ist dieser Vorplatz für viele Verrichtungen des Tages sehr wichtig. Für die sehr heiße Zeit vor dem Monsun, in der man die mit Seil bespannten Bett­gestelle nachts draußen lässt, hat man dadurch einen Raum dazu ge­wonnen. Man kann sich nur wundern, was für eine feste Unterlage mit Kuhmist vermischter Lehm abgibt. Die Frauen haben große Übung, diese Mischung mit einer breiten Handbewegung glatt aufzutragen. Bis zur Regenzeit hält diese Unterlage bestimmt. Mit ihren leisen Sohlen, denn alle laufen ja barfuß, hinterlassen sie in der festen Unterlage keinerlei Abdrücke.

Das tägliche Leben der Einheimischen spielt sich überhaupt mehr außer­halb als innerhalb der Häuser ab. Da Seife für diese Leute noch weit­hin ein Luxusartikel ist, so bleiben einfach die Hände der Frauen nach dieser schmierigen Arbeit noch längere Zeit auch innen recht braun.

Als Tauschgeschäft für Früchte wurde sehr gerne ein Stück Seife in Empfang genommen. Außer großen Zitronen waren besonders die handball­grossen süßen Pampelmusfrüchte begehrt. Einer allein konnte eine solche mächtige, goldgelbe Frucht, die in ihrem Innern genau wie eine Apfel­sine angeordnet war, kaum verkraften. Nach längerem Fußmarsch war es jedes Mal eine besondere Erquickung, solch eine Frucht zu bekommen. Schon von weitem sah man die gelben Bälle in den Bäumen hängen. Es kam aber auch vor, dass nur noch eine einzige Frucht in einem Baume hing. Man hatte sie offensichtlich aus religiösen Opfer- oder Fruchtbarkeitsgründen noch hängen lassen. Solche ganz reifen Früchte waren auch be­sonders saftig und süß. Wenn auch zögernd, so gaben die Männer schließ­lich doch auf unsere anhaltenden Bitten und den Hinweis auf die Tausch­artikel die letzte Frucht her. An der nächsten schattigen Stelle setzten wir uns hin, und die große Frucht löschte unseren Durst voll­kommen.

In den weitausgedehnten Wäldern dieser Gegend traf man bisweilen in tiefer Einsamkeit auch die nur mit einem Schurz bekleideten Heiligen der indischen Mönchswelt an. In Askese und Zurückgezogenheit führten sie ein Leben der Entsagung und Verehrung eines Gottes, den sie nicht selten auch bildlich dargestellt hatten. Einmal trafen wir solche Mönche, die uns sofort zu einem neben ihrer einfachen Hütte stehenden gewaltigen, meterhohen und breiten Gebilde führten. Auch bei längerem Nachdenken wusste man nicht recht, was dieses Gebilde ihrer Hand darstellen sollte. Als Abbild eines Menschen war das Monstrum viel zu groß. Es konnte eher ein Stierbild in der Größe eines Elefanten sein. Leider fehlten uns die Sprachkenntnisse, um die Bedeutung des Gegenstandes ihrer Verehrung er­gründen zu können.

Eines war nur ziemlich sicher: Gott war für sie überall in jeder Pflanze, in jedem Stein und auch in jedem selbsterschaffenen Gebilde. Mit dem Zeigefinger wiesen die Mönche zugleich auf einen Stein am Boden, auf die Sonne am Himmel und auf das von ihnen verehrte Menschenwerk, um den Pantheismus ihrer Gedanken und Vorstellungswelt anzudeuten. Sie machen sich wenigstens noch Gedanken über das, was vielen nicht mehr des Nachdenkens wert ist. Wie sie allerdings bei einer Zahl von mehr als 30 Millionen solcher Götterbilder meinen, zum wirklichen Heil und inneren Seelenfrieden kommen zu können – denn sie können nicht allen Opfer bringen und alle um Verzeihung bitten – ist ein unlösbares Rätsel.

Wie bedrückend ist dabei der Gedanke, vielleicht den wichtigsten der Götter übersehen zu haben (siehe Apg. 17, 23). Darum ist für alle, die nach Erlösung streben und auch der Erlösung bedürftig sind, das schon allein wirkliche Erlösung, wenn uns von Gott selbst ein einziger Name zum ewigen Heil gegeben ist, denn „der Vater hat den Sohn gesandt zum Heiland der Welt“ (siehe 1. Joh. 9-16). Beim Betrachten der vielen Göttergestalten, die einem auf Schritt und Tritt in den Wäldern, an den Seen, in den Hausnischen und in den Tempeln selbst begegneten, kam mir immer wieder der so hilfreiche Vers in den Sinn: „Und ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden“ (Apg. 4, 12).

Wo Tempel und Opferstätten sind, sind auch nicht weit davon Brahmanen anzutreffen, die sich für die „Wissenden“ – die Kaste der höchsten Erkenntnis – halten. Sie waren die Herren des Tempels. Erkenntlich an Stirnzeichen und Gebetsketten saßen sie in unnahbarer Haltung im Vorraum des Tempels. Weil sie sich schon alleine durch ihre hohe Ge­burt in enger Verbindung mit „Brahma“, dem göttlichen Sein ihrer hohen Erwählung wussten, fühlen sie sich erhaben über alle, die den anderen Kasten angehörten und erst recht über die Kastenlosen. Sie glauben, dass sie bei der nächsten Geburt auf dem Weg der Seelenwanderung für ihr „reines Leben“ als Belohnung eine noch höhere Stufe der Versenkung ins göttliche Brahma erreichen werden. Sie sahen so selbstherrlich aus, als ob sie sich schon in dem Gefühl sonnten, dass ihnen selbst dem­nächst in diesem ihrem Tempel Verehrung und Opfer dargebracht würden. Sah man in den Dörfern neben den einfachen Lehmhütten Steinhäuser, so konnte man sicher sein, dass Brahmanen ihre Besitzer waren. Und solange sie sich in ihrem religiösen Besitzstand achselzuckend von der Not der „unberührbaren“ Kranken und Elenden abwenden, ist für das ganze Volk keine durchgreifende Hilfe vorhanden.

So primitiv weithin die Vorbereitung des Bodens zur Saat war, genauso primitiv geht es auch bei der Ernte zu. Wieder spielen Ochsen und Kühe eine große Rolle. In der Mitte eines aufgeschichteten Dreschhaufens wird ein starker Pfahl in den Boden geschlagen. Vier, manchmal auch sechs Tiere, die eng aneinander gekettet sind, drehen sich unablässig im Kreis um den Pfahl. In stundenlangem Stampfen wird so das letzte Korn herausgetreten. Bis dahin hat man wenige Meter weiter schon einen anderen Dreschhaufen aufgerichtet. Die Halme liegen mit den Ähren im Kreis nach innen, und das Spiel kann von neuem beginnen. Das ausgedroschene Stroh wird beiseite geschafft. Mit kleinen ge­flochtenen Wannen werfen die Frauen die Körner gegen den Wind in die Höhe. Staub und Spreu fliegen weg, und die gereinigten Körner können in die mitgebrachten Säcke geschüttet werden.

Zu der Zeit war das noch die durchgängige Erntemethode. Bei der traditionsgebundenen Einstellung der Inder ist es fraglich, ob man heute beim Säen, Pflanzen und Ernten überall schon mit modernen Maschinen arbeitet, um einen größeren Ertrag zu erzielen. Ich sehe noch immer einen großen modernen europäischen Traktorenpflug mit mehreren Pflugscharen ganz verrostet und verkommen in der Ecke eines größeren Gehöftes stehen. Sofort wusste ich: Hier hat man den Versuch einer modernen, teuren Entwicklung abgebrochen und war zum primitiven alten Holzpflug zurückgekehrt. Vielleicht wird auch ein zu tief auf­gepflügter Boden bei starkem Regenguss das Land allzuleicht in Gefahr bringen, dass der gute Ackerboden abgeschwemmt wird. In jeder Monsun­zeit tragen die Flüsse mit ihrer braunen Flut Tausende Kubikmeter guter Erde ins Meer. Das Mündungsgebiet der großen Flüsse samt den Häfen verschlammt und versandet auf diese Weise immer mehr.

Das Wunder im Wunderland hört nicht auf

Wenn im ganzen Land von Mitte März ab die Wärme von Tag zu Tag an­steigt, dann gewinnen im Waldgebiet die Bäume neue Triebe und Blätter. Schließlich steht der grüne Wald in voller Pracht neu da. Im Gegen­satz dazu trocknet der vor dem Wald liegende Ackerlandgürtel mehr und mehr aus. Durch die brennende Sonne bekommt das Land überall Risse und wird steinhart. Es sieht so aus, als wollte es durch die tiefen Risse um so eindringlicher seinen Durst nach dem Regen der noch lange ausstehenden Monsunzeit kundtun. Auf den Feldwegen wirbelt jeder Schritt tiefen Staub auf. Erst recht tun das die Ochsengespanne, mit denen die Leute Holz aus dem Wald holen. Für die mageren Kühe, die nur noch Stroh zu fressen haben, ist die Last auf den Karren fast zu schwer. Dennoch sitzt der Inder fest hinter den Tieren auf seiner Karre, um die „heiligen Kühe“ nicht nur mit dem Stock unheilig anzu­treiben. Mit einer kräftigen, schmerzhaften Drehung des Schwanzes der Tiere holt er auch hier das Letzte an Kraftreserven aus seinen Kühen heraus, die dann mühsam die Holzkarre, die eine lange Staub­wolke hinterlässt, weiter zum Dorfe hin ziehen. Diese Art von An­triebsmethode war überall im Land dieselbe. Nur einmal habe ich ge­sehen, dass zwei Inder den Tieren durch Mitschieben beistanden.

Das Holz diente vor allem zur Leichenverbrennung. Diese wurde auch an den Nebenflüssen des Ganges vorgenommen, so dass die Asche von selber in den „heiligen Fluss“ gelangen konnte. In jedem Dorf konnte man Stöße von Stämmen und Ästen sehen, die vorsorglich zur Leichen­verbrennung bereitgehalten wurden. Wieder wundert man sich, dass man das wenige Holz, das es im weiten Indien gibt, auf diese Weise ver­braucht. Wegen der unerträglichen Hitze, des Geruchs und der lauten Geschäftigkeit derer, die das Feuer schüren, hält man es nicht lange bei einer Leichenverbrennung aus. So etwas macht keinen „heiligen“ Eindruck.

Bis heute soll es noch hier und da Vorkommen, dass – was früher Sitte war – sich junge Hindufrauen zusammen mit dem verstorbenen Gatten ver­brennen lassen. Die Witwe hat in der sie umgebenden Gesellschaft meistens ein rechtloses und ungeschütztes Dasein. Um überhaupt ihr Leben fristen zu können, denn die Schwiegermutter gibt ihr die Haupt­schuld am Tode ihres Sohnes, hat sie – besonders wenn keine Söhne da sind, die sie schützen können – keine andere Wahl, als sich durch Prostitution ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Bei diesem Leidens­weg ohne Ende kann man es beinahe verstehen, dass sie dem durch Selbst­verbrennung ein Ende macht. Dass die Frauen nicht nur bei Trauer, sondern auch während der heißen Zeit vielfach langwallende dunkle Gewänder tragen, ist ein weiterer Punkt über den man sich oft wundern muss.

Auf unseren Wanderungen standen wir eines Tages im Wald urplötzlich vor einem großen mächtigen Elefanten. Hätten wir nicht sogleich einen dunklen Inder daneben gesehen, wären wir wohl noch mehr erschrocken gewesen. Einen zweiten Inder entdeckten wir hoch oben in der Spitze eines Baumes, wo er armdicke junge Zweige abbrach und nach unten warf. Mit diesen Zweigen wurde der Elefant gefüttert. Wir kamen wirklich nicht aus dem Staunen heraus als wir sahen, wie der Elefant diese starken Zweige knickte, mit seinem langen Rüssel in sein großes Maul schob und sie dort im Augenblick – als ob es Gras wäre – zermalmte. –

Ziemlich dünn standen am Rand des Waldes in einem kärglichen Getreide­feld die Erntehalme. Als wir uns zur Rast in der Nähe des Feldes nieder ließen, dauerte es nicht lange und es erschien eine große Herde brau­ner Affen, die sich an den wenigen Halmen noch gütlich taten. Sie waren ganz sicher die Übeltäter, die auch den anderen Teil der Ernte schon vernichtet hatten. Wiederum konnten wir uns nur wundern, dass niemand den Affen wehrte, die Ernte ganz und gar zu vernichten. In Indonesien baut man z.B. eigens zur Zeit der Ernte im Feld kleine leichte Bambushütten. Kommen die Reisvögel, die unseren Spatzen ähn­lich sind, dann zieht jemand an langen Fäden, die man über das ganze Reisfeld gespannt hat. An den Fäden, die in der Hütte zusammenlaufen, hängen einige mit kleinen Steinchen gefüllte Dosen. Erschreckt fliegen die Vögel, von dem rappelnden Geräusch gestört, davon. Nur so kann man die Ernte vor völliger Vernichtung bewahren, denn Ratten und Mäuse fressen dazu noch – besonders in Indien – einen großen Teil der Ernte weg.

Indem er aufsprang und die Affen aus dem Feld jagte, suchte mein Kollege Helmut hier diesen Stördienst zu tun. Mit Geschrei flüchteten die Affen, sobald er ihnen nahe kam, in den Wald. Es dauerte aber nicht lange, und sie erschienen wieder, um mit großer Dreistigkeit den Rest der Ernte zu verzehren. Nach einigem Hin und Her gab auch Helmut dieses Störmanöver auf. Die Affen hatten gesiegt. Man kann sich unschwer vor­stellen, wie viele Tausende von Tonnen des so wichtigen Getreides da­durch für die oft hungernde Bevölkerung Indiens verlorengehen.

Warum tut man nun nicht mehr gegen diese Mitfresser? Weil jeder Mensch nach dem Hinduglauben in irgendeiner Tiergestalt wiedergeboren werden kann, so könnte er theoretisch seinen nächsten Verwandten die Nahrung wegnehmen oder sie gar töten. Aus diesem Grunde können Ratten, Affen und Mäuse ziemlich ungestört einen großen Teil der für die Inder so notwendigen Ernte vernichten. Da der Schaden unübersehbar ist und Millionen und Abermillionen in Indien unter dem Existenzminimum leben müssen, wäre es unbedingt nötig, schärfer gegen diese Schädlinge vor­zugehen. Solange aber die religiöse Vorstellungswelt dies hindert – und man bekommt im Laufe von fünf Jahren selber etwas von dem Fluidum des Nichttötens aller Lebewesen mit -, so ist wohl auf sehr lange Sicht keine Änderung zu erwarten.

Damit hängt auch zusammen, dass die „Wissenden“ der Hindureligion an Blinden, Lahmen und vor allem an Aussätzigen achtlos vorübergehen. Es ist ja nach Auffassung der Brahmanen Strafe aus vergangenen Lebensstufen, die diese Elenden getroffen hat, und die sie, verur­sacht durch eigene Schuld, nun auch geduldig tragen müssen. Nach diesem Hindudenken würde man nur einer religiös motivierten aus­gleichenden Gerechtigkeit in den Arm fallen, wenn man sich für diese Menschen noch besonders einsetzen wollte. Hier wird spätestens der große Unterschied zum Evangelium deutlich. Nur in der befreien­den Kraft christlicher Liebe, die Jesus den Armen, Elenden und Kranken hat zuteilwerden lassen und die er auch von den Seinen als Zeichen der Nachfolge und echter Jüngerschaft fordert, ist ein Um­denken so radikaler Art möglich. Als Beispiel sei das Aussätzigen-Asyl im Tobaland genannt, wodurch der Aussatz im Tobatal völlig zum Stillstand gekommen ist. Allerdings sind die etwa 2 oder 3% Christen in Indien eine zu schwache Kraft, um dort gegenüber der verhängnis­vollen Kette des Unheils wirklich Entscheidendes tun zu können.

Im Blick auf die vielen Gefäße, besonders die Koch- und Trinkgefäße oder die großen und kleinen Wasserkrüge – in Mentawai z.B. holt man das Wasser im Bambusrohr aus dem Fluss -,hat in Indien der Töpfer reichlich zu tun. In einem Dorf trafen wir einen Töpfer bei seiner vielseitigen Arbeit an. Gebückt arbeitete er an einer metergroßen, schweren und doch unhörbar leicht rotierenden Eisenscheibe. Neben der Scheibe lag griffbereit der zu verarbeitende Lehm. Mit einem Stock, den er in eine kaum sichtbare Vertiefung am Scheibenrand ansetzte, brachte er die Scheibe in immer schnellere Umdrehung. In ein Stück Lehm, das er genau in der Mitte der Scheibe anbrachte, drückte er eine leichte Kuhle und mit der Hand, die er ins Wasser tauchte, hatte er im Augenblick einen schönen kleinen Tontopf fertig. Man wusste nicht, worüber man sich mehr wundern sollte: Über seine geschickten Finger, die den Ton innen wie außen gleichmäßig dickwandig glätteten, oder über die Scheibe, die so lange in dieser drehenden Bewegung blieb. Da jeder gebrannte Tontopf porös ist und nach außen schwitzt, kann das Wasser im Inneren lange Zeit kühl gehalten werden.

Mit den Zehen ihrer Füße sind die Inder fast ebenso geschickt wie mit den Fingern ihrer Hände. An einer Stelle wurden neue Räder gemacht. Das Holz für den Speichenkranz hielten die Handwerker mit den Zehen so gut fest, dass dadurch die fehlende Hobelbank einigermaßen ersetzt wurde. Mit einem scharfen Werkzeug in der Hand verwandelten sie die zu bearbeitenden Holzstücke recht schnell in passende Radspeichen. – Noch mehr habe ich aber einmal gestaunt, als ich sah, wie einer mit seinen Füßen und Zehen eine ganze Körpermassage durchführte. Lang­sam und vorsichtig schritt er über den am Boden flach liegenden Kör­per mit beiden Füßen hin und her. An schmerzenden Stellen drückte er die Zehen noch besonders tief ein, um so den Krankheitsherd zu verteilen. Was z.B. die Chinesen mit ihrer Akupunktur erreichen wollen, machen die Inder auf ihre Weise mit den Füßen. Ich hatte so­gar den Eindruck, dass dem Mann, der so behandelt wurde, das sicht­lich gut tat. Ob mit dieser Methode in allen Fällen geholfen werden kann, ist sicher fraglich. Am Ende könnte es abgewandelt heißen: Massage gelungen, Patient tot.

Nicht nur Hindutempel, sondern auch Moscheen konnte man hier und da antreffen. So standen wir einmal außerhalb eines Dorfes, hinter einer Mauer und hinter Schattenbäumen verborgen, unerwartet vor dem Eingang einer kleinen Moschee. In dem Vorraum erblickten wir ein recht unterschiedliches Paar. Ein bärtiger alter Lehrer und ein junger Schüler saßen sich gegenüber. Unter andauerndem Nicken seines Kopfes, der dicht mit schwarzen Haaren besetzt war, rezitierte der Schüler mit lauter aber monotoner Stimme Seite um Seite aus dem Buch, das er vor sich auf seinen Knien liegen hatte. Offensichtlich trug er alles auswendig vor und sein Gegenüber hörte ihn schweigend ab. Die Moslems tragen beim Auswendiglernen Seite um Seite aus dem Koran laut vor. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, dass auch der Inhalt verstanden wird. Das Sprechen der heiligen Worte genügt. Da uns die fremden Worte, das stetige Nicken des Schülers und das unentwegte Abhören bald zu langweilig wurden und wir auch nicht stören wollten, zogen wir weiter. Ich musste an den Kämmerer denken, der in seinem Wagen laut den Propheten Jesaja las (s. Apg. 8, 26 ff.). So wird auch heute noch im Fernen Osten ungeniert laut gelesen und rezitiert. Leider können nur 6% aller Inder lesen.

Die religiösen Ansichten der Moslems sollte ich später in Mentawai noch besser kennenlernen. Alle Beamten dort sind Moslems, und zu­sammen mit meiner Frau habe ich fast zwei Jahre lang Seite an Seite mit ihnen gewohnt. Sie sind Allahgläubige, die im Alltag sich sehr vor dem unabwendbaren Schicksal und vor allem vor den Geistern fürchten. Gebet, Almosen, Fasten und bestenfalls eine Pilgerfahrt nach Mekka sind Hauptbestandteile der Religion. Dass Gott sich allein um unseretwillen und zu unserer Rettung als Vater, Sohn und Heiliger Geist geoffenbart hat, lehnen sie ab. Auf den Hinweis, dass schon in der Natur eine Einheit zugleich Dreieinheit sein kann – denn die eine Sonne strahlt, wärmt und erhellt, das eine Wasser kann zugleich im Eis fest, im Dampf gasförmig und im Wasser flüssig sein und das eine Phänomen Mensch zeigt sich zugleich als Vater, Mutter und Kind -, wissen sie wenig zu sagen. Die Heilige Schrift ist ihnen im Gesetz Mose, in den Psalmen und selbst auch noch in den Evangelien ein heiliges Buch. Doch Jesus gilt ihnen höchstens als Prophet, aber keineswegs als Erlöser, Heiland und eingeborener Sohn Gottes. Der letzte höchste Prophet ist für sie Mohammed, in dessen Lehre alle anderen Lehren aufgehoben sind. Darum sprechen sie als Hauptbekenntnis: „Allah ist Gott und Mohammed ist sein Prophet.“ Dass Gott in Christus sich am Kreuz für alle Welt zur Versöhnung und Sündentilgung dahingegeben hat (s. 2. Kor. 5, 19-21), nehmen sie als frohe Botschaft von Erlösung und Vergebung nicht an. Jesus, der „Isa“ des Korans ist nach ihrer Meinung nicht gestorben und wird selbst einmal den Islam ausbreiten. Gemäß der Koranlehre sehnen die Moslems sich wohl nach dem Himmel, aber zugleich fürchten sie noch mehr das Gericht. Sie kennen eben nicht den, der gesagt hat: „So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei“. (Joh. 8, 36).

Das Leben in den Dörfern spielt sich die meiste Zeit des Jahres über mehr draußen vor dem Haus als drinnen im Haus ab. Darum ist der aus Lehm und Kuhmist erstellte Vorplatz so wichtig. Nicht selten konnte man die Frauen beobachten, wie eine Frau der anderen mit Kennerblick die Haare durchsuchte und zentimeterweise durchkämmte. Unliebsame Bewohner wurden mit schnellem Griff dingfest gemacht. Meistens hockten sie bei dieser Prozedur auf dem Boden, oder eine Frau saß hinter dem Rücken der anderen und ließ das lange schwarzseidene Haar der Partnerin sorgfältig durch ihre Finger gleiten. War eine Wasser­stelle oder ein Wassergraben nahe beim Dorf, dann konnte man sicher sein, dass dort auch die 4-5 m langen Tücher, die die Frauen sich um den Leib wickelten, gewaschen wurden.

Beim Waschvorgang wurden diese langen Tücher geschickt auf glatten Steinen ausgeschlagen und dann in der heißen Sonne entweder auf den vielen Steinen eines Flussbettes oder gar auf Sand getrocknet. Weil Seife meistens Mangelware war, musste die heiße Sonne Indiens stets das Beste dabei tun. In Indonesien nahm man für diesen Zweck große dickschalige Zitronen. Sie wurden in der Mitte durch­geschnitten. Mit der Hälfte ging man, wie bei uns mit der Seife, eine zeitlang hin und her über die Wäschestücke. In Indien konnte man sich nicht genug wundern, wie geschickt die Frauen sein mussten, um sich in so riesenlange Tücher einzudrehen. Ich habe jedoch nie gesehen, dass sie beim Gehen behindert waren, oder ein Tuch lose um den Körper hing.

In derselben Länge, aber nur ein Drittel so breit (etwa 30 cm) sah man dort die Tücher ausgebreitet, die die Männer für ihren Turban brauchten. Dazu gehört wirklich schon etwas, um sich so ein langes Tuch in einem Zug zu einer kunstvollen festen Kopfbedeckung um den Kopf zu wickeln. Der Turban muss ja auch dann noch halten, wenn er abgesetzt wird. Tragen die Moslems den Turban um den „Fes“ (Filzmütze) geschlungen, so wickeln die Hindus denselben direkt um den Kopf.

Wie in Indonesien so verbringt auch in Indien die männliche Be­völkerung mehr Zeit damit, die anstehenden Dinge des alltäglichen Lebens oder der Politik ausführlich miteinander zu bereden, als sich tatkräftig einer für die Familie nutzbringenden Arbeit in Feld oder Garten zuzuwenden. Die Hauptlast der Arbeit tragen überall die Frauen. Wo es eben geht, machen es sich die Männer leicht. An einer Straße, die nach Dehra Dun führte, standen fünf Männer. Sie unterhielten sich angeregt, wie man wohl am schnellsten den Rinnstein der Straße von angeschwemmten Schlammmassen befreien könnte. Zwei hatten unterdessen für sich die Frage beantwortet. Die für sie vorteilhafteste Methode war nicht, mit zwei Schaufeln ans Werk zu gehen. Sie befestigten ein­fach an einer Schaufel vorne noch einen Strick. Während nun der eine die Schaufel leicht an dem Schlamm ansetzte, zog der andere mit dem Strick kräftig an. Und mit gemeinsamem Schwung wurde dann der Schlamm auf die Seite befördert. Dabei strengte sich keiner zu sehr an. Noch vorteilhafter war es aber für die anderen, die weiterhin nur inter­essierte Zuschauer blieben. Später sah ich, an einem anderen Weg, dieselbe Art der Dreckbeseitigung. Daraus war zu schließen, dass diese Methode eine gewisse Allgemeingültigkeit hatte. Mir kam der Satz in den Sinn: „Arbeiten ist schön, stundenlang könnte man zuseh’n!“ – Der Schlamm auf allen Straßen, selbst auf Dorf- und Waldwegen, konnte in der Regenzeit auch für die Tiere Gefahren mit sich bringen. Am Ende eines Waldweges, der zu einem Dorf führte, er­schrak ich einmal sehr als mich aus dem Schlamm des Weges ein Auge anblickte. Es war nicht, wie man vermuten könnte, ein Glas­auge, das jemand verloren hatte. Nein, es war das Auge einer kraftlos in den Schlamm gefallenen Kreatur. Ein kleiner Hund lag verendend im Schlamm des Weges. Er hatte vielleicht noch soeben die Kraft, das eine Auge zu öffnen, denn er lag seitlich mit seinem ganzen Körper tief im Schlamm, der ihn schon völlig einhüllte. Hätte er nicht das eine Auge so ängstlich und doch so hilfesuchend zu­gleich geöffnet, dann hätten wir ihn nicht einmal bemerkt. Ihm war nun auch nicht mehr zu helfen.

Die Hunde haben mir im Fernen Osten oft sehr Leid getan. Entweder bleiben sie unversorgt, oder sie werden – wie das z.B. bei den Batak der Fall ist – sogar gut gefüttert, um eines Tages als Leckerbissen verspeist zu werden. Bei uns in Deutschland werden in jedem Jahr fast 85 Millionen DM für Hunde- und Katzenfutter ausgegeben. In Indien aber sterben Millionen von Menschen an Hungersnot. Wie sollte es da den Hunden besser ergehen? Ist aber das Auge des sterbenden Hundes, das aus dem Schlamm blickt, nicht eine Anfrage an die, die so viele Millionen für ihre Tiere ausgeben? Sollte nicht jeder, der das tut, auch etwas für die Hungernden in Indien erübrigen? Nie werde ich wieder das Auge, das mich einmal sterbend aus diesem Schlamm angeblickt hat, vergessen können. Wieviel Not und wieviel Anklage lag in diesem hilflosen, ängstlichen und doch zugleich hilfesuchenden Blick. Es ist darum geradezu einmalig, dass das Neue Testament auch an die so an­geschlagene Kreatur erinnert und sie in den Erlösungsratschluss mit einbezieht: „Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes“ (s. dazu Römer 8, 19-23).

Es hätte natürlich auch sein können, dass der Hund durch eine Vieh­herde umgeworfen und in den Schlamm getreten worden war. Eine schier endlose Herde kam uns nämlich am Eingang des Dorfes entgegen. Dieser geballten Kraft gingen wir aus dem Wege. Eiligst stellten wir uns mit gebührendem Respekt ganz an die Seite des engen Hohlweges. Schließlich waren wir heilfroh, dass nicht ein junger übermütiger Bulle dabei war, der es evtl. gerne mit uns Fremdlingen aufgenommen hätte. Als die etwa 40 – 50 Tiere vorbei waren, war ich doch sehr erstaunt, dass am Ende dieser Kraftmasse nur kleine Knaben und Mädchen zu sehen waren, die mit ihren Stöcken die Tiere vorantrieben. Es war ein ungeheurer Gegensatz von geballter Kraft und kindlicher Ohnmacht, von bahnbrechender Gewalt und Hilflosigkeit, wobei sich dennoch die Übermacht willig von der Gewaltlosigkeit leiten ließ. Unter „Mahatma“ Gandhi, der „Großen Seele“, hat ja die Politik der Gewalt­losigkeit in Indien Schule gemacht und 1949 zur politischen Frei­heit geführt. Hinsichtlich der kindlichen „Gewaltlosigkeit“ beim Antreiben der Herde kam mir die Erinnerung an das Prophetenwort: „Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh mitein­ander treiben“ (Jes. 11, 6).

Dieser Abschnitt vom Wunder im Wunderland soll mit einer wundervollen Begegnung abgeschlossen werden. Wir gingen auf der schon erwähnten Straße nach Dehra Dun. In der Ferne sah ich einen Mann kommen, der mit seinem Esel daherzog. Fast zog er ihn mehr, als dass er ihn führte. Als er nun näher kam und ich ihn direkt vor mir sah, erblickte ich zu meiner Verwunderung ein geradezu einmaliges Bild. Auf dem Esel saß nämlich eine junge Mutter, die offensichtlich ihr Erstgeborenes auf den Armen trug und so recht mütterlich lieb und fürsorglich um­klammert hielt. Kein noch so störrischer Seitensprung des Tieres sollte dem Kind Schaden bringen. An beiden Seiten trug der Esel noch ein paar Habseligkeiten, wohl das ganze Eigentum der Familie. Es war wirklich so, als ob in indischer Weise die Geschichte von Maria und Joseph auf der Flucht nach Ägypten eine Neuauflage erlebte. Ich weiß noch, wie ich damals bei mir dachte, das muss bei der Jesusgeschichte auch so und nicht anders gewesen sein:

So kreatürlich, so niedrig und so zum Umfallen schwach der beladene Esel; so schlicht, so treu, so ärmlich und doch seines Weges so ge­wiss der den Esel führende „Joseph“; und so lieb, so mütterlich, so beschützend und zugleich doch so verschüchtert und gar ängstlich die mich anschauende „Maria“, die mit ihrem Kind einer ihr neuen Stadt, einer ihr unbekannten Welt entgegenzog. Sie zogen nicht dem für sie und das Kind schutzbringenden Ägypten, sondern dem Ägypten der Aus­beutung, Ruhelosigkeit und des Flüchtlingsdaseins unserer Zeit ent­gegen. Dieses ergreifende Bild einer Familie auf dem Weg in eine unbe­kannte Zukunft war sicher für mich das eindrücklichste sinnbild­liche Erlebnis im Wunderland Indien. Das weitere Schicksal meiner eigenen Familie, in der die Mutter mit den Kindern während der Zeit der Trennung über weite Strecken ein dutzendmal in fremde Orte umziehen musste, stand ja wie ein großes Fragezeichen nach Ergehen und Verbleiben vor mir. Überall in der Welt unserer Tage, der Welt der Ängste, der Kriege und der nicht aufhörenden Flüchtlingsströme gibt es doch diese „Heilige Familie“, die um der Zukunft ihres Kindleins oder ihrer Kinder willen sich auf die Wanderschaft begibt oder unfreiwillig begeben muss.

Die Familie ist das köstlichste und wertvollste Gut, das diese Erde kennt. Ihre sichere Zukunft und ihren gesunden Lebensraum inmitten all der gottgeschenkten, reichen Lebensgüter in der Welt darf weder durch rücksichtslosen Raubbau der Rohstoffe noch durch Kriege oder Flüchtlingsdasein oder sonst irgendetwas eingeengt, beschmutzt oder verdorben werden. Wer das dennoch rücksichtslos tut, der versündigt sich nicht nur an der Zukunft der Menschheit, sondern am Schöpfer und an seiner großartigen Schöpfung. Aber Gott lässt sich nicht spotten. Der eingeborene Sohn des Vaters, den Gottes Liebe der Welt zum Retter gegeben hat (Joh. 3, 16), wird die, die die Schöpfung zerstören, vor sein Gericht ziehen. Es ist erstaunlich, dass das in der Schrift klar vorausgesagt ist.

Er, der einst die Flucht nach Ägypten und den Kindermord überlebt hat; er, der alles aus eigener Erfahrung kennt; er, der darum für all die Hungernden und Elenden, die auf der Flucht vor den vielen Mördern un­serer Welt und Zeit sind, eintritt und sich zum Fürsprecher für sie alle macht; und er, der als der Auferstandene seine Wiederkunft ver­heißen hat, er ist bereit. Er macht sich erneut auf den Weg, aber dies­mal nicht als Flüchtling und Knecht aller, der aller Krankheit, Not und Sünde trägt, ja schon voll und ganz auf Golgatha getragen hat, sondern als der Sieger, dem sich aller Knie beugen und den aller Zungen bekennen müssen, dass er alleine „Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters“ (s. Phil. 2, 10-11). Und er kommt nach dem Wort der Offen­barung, um die „zu verderben, die (allüberall, ob nun aus Macht-, Rach-, Hab- oder Raubsucht, das spielt keine Rolle) die Erde verderbt haben“ (Offb. 11, 18b). So wurde mir das größte Wunder, das je die Weltgeschichte (in der „Fülle der Zeit“) erlebt und gesehen hat und das ihr eine entscheidende Wendung gegeben hat, zum erneuten Wunder und Erlebnis durch seine Geschöpfe auf der indischen Land­straße.

Wir sind ja heute in der Entwicklung zur weltumspannenden Massen­vernichtung so weit, dass, wenn die Warnung und Mahnung der Heili­gen Schrift nicht von allen beherzigt wird, die Weltgeschichte nicht mehr verändert wird, sondern nur noch beendet wird. Sie wird aber beendet im Gericht über die, „die die Erde verderbt haben“.

Das Leben im Lager Dehra Dun

Das Leben hinter dem Stacheldraht konnte nur ein eintöniges Leben sein. Tagaus, tagein und jahraus, jahrein war man auf einigen hundert Quadratmetern mit Hunderten von Schicksalsgenossen eingepfercht und wurde Tag und Nacht gut bewacht. Die Verpflegung war reichlich. Selbst nach Überführung von 595 mitinternierten Seeleuten im Juni 1942 nach Kanada waren noch genügend Köche und Bäcker unter uns, die den ange­lieferten Proviant gut verwerteten. Nur Gemüse war sehr knapp.

Meistens gab es Zwiebelgemüse. Abwechselnd hatte jeden Tag eine Baracke Küchendienst. Dabei wurden stundenlang und tonnenweise Zwie­beln geschält. Wir kannten das schon aus den Lagern vorher. Zweimal am Tage wurde Appell gehalten. Die Namen wurden einzeln verlesen. Ein evtl. Fluchtversuch wäre sofort aufgefallen.

Täglich gingen nicht nur alle möglichen Gerüchte, sondern auch neue Anordnungen der Kommandantur durchs Lager, die aber im Einerlei der Internierung bald wieder vergessen waren. Entlang des Stacheldrahtes war ein Trampelpfad entstanden, weil dort einige ihre täglichen Spaziergänge machten. Es gab auch solche, die aus Protest andere Spaziergänge ablehnten. Von unserem Wing aus blickten wir in die mit hohen Bäumen durchsetzte Teeplantage. Die stets dort spielenden Affen konnten sich offensichtlich nicht genug verwundern, dass nicht sie, sondern Menschen hinter dem Stacheldraht waren. In Europa kennt man das ja nur umgekehrt Um diese Eintönigkeit zu durchbrechen, wurde enorm viel an Sport und Spiel, Chormusik, Kursen, Vorträgen und Theatervorführungen getan. Ein Chorabend, den Kollege Berghäuser einübte, fand viel Anklang.

Herausragend war der Tanzabend, den unser Barackenkamerad Alexander von Swaine, Tänzer von Beruf, zusammen mit seinem Freund Tamare uns bot. Unter den zehn Programmpunkten war der Tanz „Besinnung“, d.w.s. „Johannes bei der Kreuzesabnahme“, mir so besonders eindrücklich. Unermüdlich übte er dafür jeden Tag fast bis zur Erschöpfung auf unserem Sportgelände.

Da etliche durch das tägliche Musiküben gestört wurden, gruben die unentwegten Geiger sich einen Musikstand in die Erde und für die Posaunisten war gerade die hinterste Ecke am Stacheldraht der richtige Platz zum Üben. In der Lagerbibliothek konnte man sich Bücher leihen. Hatte einer ein gutes Buch entdeckt, dann wollten es alle haben. Filme gab es auch, die aber – besonders in der Wochenschau – vorwiegend antideutsch eingestellt waren. Entlang des Stacheldrahtes fand sich auch manches schöne Gärtlein mit Blumen, Tomaten und Gurken. Letztere boten eine wertvolle Abwechslung des Speisezettels. Die Brotration wurde erst nach Kapitulation gekürzt. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte man sich mit Tomaten, Gurken, Zwiebeln und Gewürzen als Brotauflage ein vitaminreiches zweites Frühstück bereiten. Manche hatten auch eine bescheidene Tauben-, Enten- oder Hühnerzucht angefangen.

Internierte 1941 in Dehradun

Am meisten beschäftigt waren Friseure, Brotbeutelhersteller, Tischler und Klempner. Letztere fertigten nicht nur kleine Klappstühlchen, sondern auch Destillierapparate an, um Schnaps herzustellen. Das war natürlich verboten, aber verbotene Früchte schmecken bekanntlich gut und manche gaben dafür ihr ganzes Lagergeld aus. Vor dem wöchentlichen Rundgang des Lagerkommandanten und seiner Untergebenen mussten solche Dinge vorher sorgfältig versteckt werden. Es kam zu keiner Bean­standung. Betrunkene gab es auch nicht. Die monatlichen 20 Rupie Lagergeld waren schnell für die allernötigsten Dinge in der Kantine ausgegeben. Wollte man bei den Spaziergängen Obst holen, dann musste man vorher Streichhölzer, Seife, Zigaretten usw. einkaufen und im Brotbeutel mitnehmen. Wenn es hoch kam, leistete man sich zu Weih­nachten mit einigen Kameraden zusammen eine Weihnachtstorte. An Sonn­tagen holte ich mir gerne nachmittags meine Blechtasse voll Kaffee. Das kostete 5 Annas (etwa 10 Pfg.). Sonst gab es nur Tee. Weil sich jeder in eine bestimmte Arbeit verbohrte, konnte man erstaunlicher­weise trotz der Fülle der Zeit oft genug den Satz hören: „Ich habe keine Zeit!“

Waren Theater und Film, Vortrags- und Musikabende immer gut be­sucht, so war das mit den Gottesdiensten und Bibelstunden leider nicht der Fall. Es waren immer dieselben, die sich dazu einfanden. Der zeitlich unabsehbare Zustand des Lagerlebens wurde nach der Kapitulation immer hoffnungsloser. Die gläubige Bindung an die Hand, die letztlich alles führt und regiert, war mein einzig starker Halt. Postverbindung, die die Engländer monatlich einmal mit der deutschen Heimat erlaubt hatten, hörte nach der Kapitulation erst ganz auf. Mit Indonesien hatten überhaupt keine Postverbindungen bestanden, da die Japaner nicht wie die Engländer mit dem Roten Kreuz zusammenarbeiteten.

Die Nachrichten aus der Heimat ließen immer stärker die Überein­stimmung mit dem erkennen, was uns täglich die englische Zeitung vorsetzte. Besonders schmerzlich war die Nachricht aus der Heimat, dass nach dem ersten Bombenangriff am 16.12.1944 auf Siegen die Stadt völlig zerstört und meine verletzte Mutter im Bombenhagel des zweiten Angriffes am 04.02.1945 gestorben war. ln dem Durcheinander von Sterben und Verderben hörte zunächst jeder Briefwechsel für Monate auf. Die Monate später eintreffende Nachricht vom Tode meiner Mutter bewegte mich so, dass ich noch in Dehra Dun versuchte, das Leben der Mutter in einigen Reimen festzuhalten.

Die Mutter
(03.12.1870 – 04.02.1945)

  1. Die Mutter starb nach Gottes Walten,
    Als Bomben schaurig niederhallten.
    In fünfundsiebzig langen Jahren
    War rüstig sie an allen Tagen.
  2. Des Lebens Last bracht‘ ihr manch‘ Schmerzen,
    Vier Kinder trug sie unterm Herzen.
    Im gläubigen Aufblick zu dem Herrn
    Wirkte früh und spät sie immer gern.
  3. Von Herzeleid blieb sie nicht verschont,
    Nach erwachs’nen Kindern griff der Tod.
    Nicht achtend des Mutterherzens Weh
    Riss zwei der Kinder ihr aus der Seel‘.
  4. Die Jahre gingen darüber hin,
    Drei Enkelkinder sie sah erblühn.
    Den ersten nahm jung der Tod dahin,
    Den andern war stets sie ein Gewinn.
  5. Ihr’n Jüngsten ließ zur Fremde sie zieh’n,
    Des Meisters Befehl dort auszuführ’n.
    Das wurde ihr wahrlich gar nicht leicht,
    In Sumatra er sein Ziel erreicht.
  6. Briefe sie schrieb mit zitternder Hand,
    so manchen ins ferne Batakland.
    Bangt voll Sorge in manchen Nächten,
    Bis die Braut stand an seiner Rechten.
  7. Dankbar vernahm sie vom fernen Glück,
    Das der grausame Krieg riss in Stück‘.
    Man trennte ihn bald von Weib und Kind,
    Die Internierung kein Ende nimmt.
  8. Im Gebet trägt sie den fernen Sohn,
    Denkt stets an alle vor Gottes Thron.
    Schafft im Haus wie in jungen Jahren,
    Um für die Front Kräfte zu sparen.
  9. Der Krieg neigt sich dem End‘ entgegen,
    Die Heimat liegt im Bombenregen.
    Die Mutter wurde verletzt gar sehr,
    Und auch das Elternhaus stand nicht mehr.
  10. Was an Glück und Schmerz Gott zugedacht,
    Hat sie getragen still und mit Kraft.
    Was sie geschafft all‘ Tag des Lebens,
    Zuletzt schien alles doch vergebens.
  11. Währt’s auch nicht lang ihr schweres Leiden,
    Schwer ist’s, in der Fremde verscheiden.
    Viel Zeit verging, da wusst‘ ich es erst:
    Für dich schlägt nicht mehr der Mutter Herz.
  12. Nun lebt die teure Mutter nicht mehr,
    Ohn‘ sie scheint mir die Heimat so leer.
    Sie sieht nicht mehr die Not der andern,
    Die nur unter Ruinen wandern.
  13. Das Haus ist wohl wieder aufgebaut,
    Mit gläub’gem Mut zum Himmel man schaut.
    Und gibt’s kein Wiedersehn hienieden,
    Für ewig sind wir nicht geschieden.
  14. Schmückt auch kein Kranz ihr unbekannt‘ Grab,
    Im Herzen mir lebt ihr Wort und Tat.
    Wie sehr ich ihr zu Dank verbunden,
    Diese Worte mögen’s bekunden.

(Dehra Dun, 09.06.1946)

So schwer das Geschehen in der Heimat auch war, man hörte wenigstens nach Monaten wieder voneinander. Für uns im Lager war das alles des­halb fast noch schwerer, weil wir schon vier Jahre lang nichts mehr von Frauen und Kindern in Indonesien gehört hatten. Sie wussten nichts von uns und wir wussten nichts von ihnen. Wir konnten sie nur täglich der Gnade unseres treuen Gottes anbefehlen.

Eine Wendung kam erst, als auch die Japaner 1945 kapitulierten, und die Engländer die japanischen Soldaten in Sumatra entwaffneten.

In dieser herrenlosen Übergangszeit sind im Inland Sumatras viele Menschen von aufrührerischen, umstürzlerischen und brandschatzenden Elementen umgebracht worden. In dem allgemeinen Durcheinander hat Sukarno sofort für die indonesische Bevölkerung die Initiative er­griffen und am 17.08.1945 die indonesische Unabhängigkeit ausgerufen. Es war aber noch vier Jahre lang eine sehr umkämpfte Unabhängigkeit. Von Medan aus, wo sich 1946 unsere Frauen und Kinder befanden, die bisher in Berastagi gewohnt hatten (Nordwest-Sumatra), bekamen wir etwa ab März 1946 über die Engländer wieder regelmäßig Post. Was ist das doch für ein unvergessliches seltsames Gefühl, wenn man nach so langen Jahren wieder einmal einen Brief von der eigenen Frau in den Händen hält. Zuerst wagt man es gar nicht, den Brief zu öffnen. Man dreht ihn still hin und her und besieht ihn zwei, dreimal genau von vorne und hinten. Man studiert die Schrift und denkt nur: Was wird der Brief enthalten? Allein der Brief selbst ist ja wohl der beste Beweis, dass die Frau noch am Leben ist. Aber wie wird es wohl mit den Kindern sein?

Schließlich öffnete ich dann doch den Brief und las und las immer wieder. Und dann konnte ich Gott nicht genug danken für die große Bewahrung, die er der Mutter und den zwei Kindern in vier Jahren der Beengung, Trübsal, Sorge und des vielen Hin und Her hatte zuteilwerden lassen. Sein Schutz und seine Bewahrung waren bis in die letzten Tage in Medan über ihnen sichtbar geworden. Sie waren dort bei der Heilsarmee untergebracht. Weil immer wieder Granaten der Befreiungs­kämpfer aus einer bestimmten Richtung über die Gebäude zischten, hatte meine Frau eines Tages unseren Bertold zu Kindern auf die andere Seite des Gebäudes gelegt. Und ausgerechnet in das Gebälk über den Kindern schlug eine Granate ein, die wohl die Kinder mit Staub und Kalk überschüttete, aber abgelenkt durch Balken in einem Seitenflur aufschlug, wo sie keinen größeren Schaden angerichtet hat. Was für eine gnädige Bewahrung!

Es war überhaupt ein Wunder, dass – wie aus den ersten Briefen zu ersehen war – außer einem Kind und einer Mutter alle Frauen und Kinder noch wohlauf waren. Wenn man bedenkt, wie unsicher die Zeiten waren, dann hatten wir viel Grund zum Loben und Danken. Wären die Frauen und Kinder nicht Anfang 1946 rechtzeitig unter dem Schutz von Japanern und Engländern nach Medan gekommen, dann hätte sie dasselbe Unheil treffen können, das so viele Europäer, besonders Schweizer in jenen Monaten getroffen hat. Für die Indo­nesier waren ja alle Europäer gleich. Sie waren alle weiße „Bolanda“. Es war wirklich zwecklos, als die Holländer ihre erneute Herrschaft durch ihre sogenannten „Polizeiaktionen“ von 1947-1949 wieder auf­richten wollten. Sie bezweckten das Gegenteil.

In solchen Zeiten schießen unkontrollierbare Elemente wie Pilze aus dem Boden, die dann mordend und plündernd durchs Land ziehen und alles unsicher machen. So wurden auch im Tobatal die so wertvollen Werkstätten und Handwerkerschulen (in Laguboti) mit ihren teuren Maschinen und den großen Holzvorräten ein Raub der Flammen. Diese Nachricht war für die, die in Toba gearbeitet hatten und auch noch persönliches Eigentum dort hatten, sehr schmerzlich. Weder die Ent­waffnung der Japaner, noch die Besetzung durch die Engländer, noch die Polizeiaktionen der Holländer, noch die Befreiungsbewegungen der Aufständischen und auch nicht die Ausrufung und schliessliche Aner­kennung der Unabhängigkeit Indonesiens konnten dem Land der vielen Inseln bis in die sechziger Jahre hinein wirkliche Neuordnung und Ruhe geben. Es kam letztlich (wie ich in Mentawai 1954-1959 am Rande miterlebte) zu einem Kampf der großen Inseln Java und Sumatra unter­einander. Und im Oktober 1965 kam es zu dem großen Putsch, dem Hunderttausende und schließlich sogar Sukarno selbst durch Absetzung zum Opfer fielen. Von da ab hält das Militär unter Suharto Ruhe und Ordnung im Land aufrecht. Mit dieser Linie der Entwicklung will ich nur die ganze Unsicherheit der damaligen Zeit aufzeigen.

Von Oktober 1946 ab machten fast täglich Gerüchte die Runde, dass das Lager aufgelöst und alle Internierten nach Deutschland gebracht werden sollten. Im Blick auf das zerstörte Deutschland wollte trotz solcher langersehnten Nachrichten keine rechte Freude im Lager aufkommen.

Erst als die Aufforderung kam, alle Bücher und schriftlichen Unter­lagen dem „Censor“ zum Stempeln zu geben, da wussten wir, dass man ernsthaft an die Heimreise denken konnte. Das endlose Hoffen über Tage, Wochen, Monate und Jahre sollte wirklich ein Ende haben.

Für unser Gepäck kamen genaue Bestimmungen heraus. Jeder durfte nur 40 kg mitnehmen. Diese Grenze war bei zwei Koffern und einigen Büchern schnell erreicht. So fing nun bis zum Tag der Abfahrt am 11. November 1946 ein großes Auswählen an. Wie froh war ich, dass der Censor mein kleines Konzept- und Gedichtsbüchlein gnädigst ab­stempelte. Einiges ist so erhalten geblieben.

Über die Erlebnisse der sechs Jahre und sechs Monate, d.h. über 2375 Tage hinter Stacheldraht habe ich noch in Dehra Dun in den Reimen „Weißt du, was Internierung ist?“ einiges zusammengetragen. Der gleichmäßige Anfang soll an die Eintönigkeit der rund 2400 Tage der Gefangenschaft mit Rückreise erinnern. Bis zum Wiedersehen mit Frau und Kind waren sogar sieben Jahre übervoll geworden.

Die Internierungszeit
(2375 Tage)

  1. Weißt du, was Internierung ist?
    Wenn du’s nicht weißt, wünsch es dir nicht!
    Von Draht umgeben und gut bewacht
    Gibt man Tag für Tag fein auf dich acht.
  2. Weißt du, was Internierung ist?
    Zeit und Dauer sagt man dir nicht.
    Gibt dir Kleiderbon und auch was Geld,
    Fährt mit dir kreuz und quer durch die Welt.
  3. Weißt du, was Internierung ist?
    Das Essen gibt man dir gratis.
    Kannst selbst nicht sorgen ums täglich‘ Brot,
    Machst dir nur selber bisweilen Not.
  4. Weißt du, was Internierung ist?
    Ein enges Leben oft ohn‘ Licht.
    Einer reibt und stößt sich am andern,
    Kannst immerzu am Draht nur wandern.
  5. Weißt du, was Internierung ist?
    Der Vorschriften kein End‘ mehr ist.
    Wirst kommandiert mit viel Befehlen,
    Kannst selber doch dich kaum beschweren.
  6. Weißt du, was Internierung ist?
    Kurse gibt’s und viel Unterricht.
    Geht das Lernen nun auch schwerer ein,
    Man hört doch nicht auf, tagaus, tagein.
  7. Weißt du, was Internierung ist?
    Zur Unterhaltung gibt’s Musik.
    An allen Orten wird schwer geübt,
    Das hat manch einen schon sehr betrübt.
  8. Weißt du, was Internierung ist?
    Sportsache ist keineswegs Pflicht.
    Doch Jugend und auch die alten Herrn
    Tummeln sich auf dem Sportplatz recht gern.
  9. Weißt du, was Internierung ist?
    Appell, Theater, Kino gibt’s.
    Hörst englisch im Film und hast studiert:
    Was an Kultur man weltweit verliert.
  10. Weißt du, was Internierung ist?
    In die Gärten schleppt man viel Mist.
    Der hält sich Tauben, jener Enten,
    Sie können’s Unheil auch nicht wenden.
  11. Weißt du, was Internierung ist?
    Leben, das völlig sinnlos ist.
    Hier schafft man in einer Schusterei,
    Dort legt dem anderen sein Huhn ein Ei.
  12. Weißt du, was Internierung ist?
    Ein totes Mühen ohn‘ Gewicht.
    Jeder um seine Zukunft sich sorgt,
    Einträglicher ist, was man sich borgt.
  13. Weißt du, was Internierung ist?
    Ein endloses Hoffen in’s Nichts.
    Wertloses Zanken und Zerreden,
    Recht viel Fluchen und wenig Beten.
  14. Weißt du, was Internierung ist?
    Trennung von allen, die du liebst.
    Jahrelang du ohne Nachricht bist,
    Als lebten alle die Deinen nicht.
  15. Weißt du, was Internierung ist?
    Nutzloses Quälen weiter nichts.
    Kommst von Kamp zu Kamp und Land zu Land
    Und äußerlich außer Rand und Band.
  16. Weißt du, was Internierung ist?
    Spaziergang gab’s im Alas nicht.
    Schmetterlingen ging’s an den Kragen, (solche, die im Lager flogen)
    Hier stürmt man Gipfel mit Behagen.
  17. Weißt du, was Internierung ist?
    Ein Leben, das kein Leben ist.
    Sehnst ungestillt dich nach Frau und Kind,
    Und immer mehr deine Zeit verrinnt.
  18. Weißt du, was Internierung ist?
    Anstrengung, die gar nichts einbringt.
    Drum werde doch endlich recht gescheit,
    Hast nichts zu tun und hast doch nie Zeit!
  19. Weißt du, was Internierung ist?
    Nein, du weißt es sicher noch nicht!
    Müsstest sonst stets an uns hier denken,
    Denen man Freiheit nicht will schenken.
  20. Weißt du, was Internierung ist?
    Man vegetiert, lebt aber nicht.
    Es wird so langsam alles öder,
    Und selbst wird man wohl auch gar blöder.
  21. Weißt du, was Internierung ist?
    Die internieren, wissen’s nicht.
    Ach, würden sie’s doch miterleben,
    Würd‘ es so schnell keine mehr geben.
  22. Weißt du, was Internierung ist?
    Ich weiß es, und ich weiß es nicht.
    Soviel man auch sinnt, weint oder lacht,
    Gott nur die richtige Lösung schafft.
  23. Weißt du, was Internierung ist?
    Er weiß allein, was uns gebricht.
    Er weiß den Anfang, weiß‘ das Ende,
    Zu ihm drum ich mich gläubig wende.

(Dehra Dun, 30.05.1946)