Jul 082018
 
Eine Kindheit hinter Stacheldraht in Indonesien von 1938-1945

Von Dietlind Klappert

Inhalt

Meines Vaters Dschungelbuch
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„Gefangen im Paradies“,  Dietlind Klappert, 2012
PDF  mit vielen Bildern – 4,0 MB


Als ich ein Kind war
und alle Glaskugeln
verlor
im Spiel
ließ ich Tautropfen
als seien es Tränen
von Blatt zu Blatt
rinnen
ohne sie zu stören
durchs wuchernde Wirrwarr
der herb duftenden Kapuzinerkresse
die blühte
gelb und orange

2000

Die Deutschen schauen nie zurück.
Rafik Schamir


Das Land der tausend Inseln

Indonesien ist ein Land aus sehr viel Wasser und vielen tausend Inseln, großen und kleinen, mit denen es, wie  ein Perlenhalsband, die Äquatorlinie schmückt. Sumatra ist eine von den großen Inseln. Eine Kette von zwölf Vulkanen durchzieht die Insel wie ein Rückgrat. Aus den einen steigen gelben Schwefelfahnen, andere speien regelmäßig glühende Lava oder zeigen in scheinbarer Ruhe ihre geschwungene Silhouette. Der Krakatau bildete bei seinem legen­dären Ausbruch am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine neue Insel vor der Südspitze Sumatras.

Die Gebirgsketten verdämmern am Horizont in einem unwirklichen Blau.

Das Land ist grün. Sehr grün.

Der Tobasee, einer der größten Binnenseen der Welt, ist ein Krater. Verlockend glitzert er unter der Tropensonne. Der Toba-Vulkan brach zuletzt in erdgeschichtlichen Zeiten aus und hält seitdem still.

Das Land ist ein Paradies. Den Winter lässt es ausfallen.

Nur bebte die Erde  immer wieder, als ich ein Kind war, in diesem Land des immerwährenden Sommers.

Damals, vor  mehr als siebzig Jahren, bedeckten undurchdringliche Regenwälder, selten von einer Straße durchschnitten, – die gesamte Insel. Heute sind die Wälder zu großen Teilen abge­holzt. Das rigorose Werk internationaler Holzfirmen, japanischer und amerikanischer. Das dunkle Grün unendlicher Ölpalm- und Gummiplantagen ist an ihre Stelle getreten. Ein melan­cholisches Einerlei.

Der Blick gleitet über die schimmernden Wasserspiegel der Reisfelder, hellgrüne Terrassen in rhythmischer Anordnung. Abgelöst werden sie  von blaugrünen Teepflanzungen. Höher hinauf folgen  Kohlfelder und  Mandarinenplantagen bis zur  Baumgrenze.

Nicht überall wurde das Land  nach der Brandrodung bepflanzt. Der morastige Urwaldboden glimmt noch jahrelang. Bläuliche Rauchschwaden ziehen über die schwärzliche Öde der verkohlten Bäume die Luft verpestend.

Wo  Erdöl gefördert wird, ersetzen Wälder von Pumpen den Dschungel.  Sie arbeiten Tag und Nacht. Ihre Fackeln glühen weithin.

Wenige Elefanten sind geblieben und ziehen sich in die letzten Regenwaldgebiete zurück.

1995 legte sich ein Nebel aus Rauch monatelang über die Inselwelt, der alles Leben mit seinem heißen Atem erstickte. Diese Wetterlage, El Ninio genannt, entsteht immer wieder in der Regenwaldregion. Vor dem Sumatratiger brauchen sich die Menschen nicht mehr zu fürchten. Die  königlichen Tiere  verschwanden in  kurzer Zeit, als ihre Zähne in Massen für die Produktion von Tigerbalsam ins Ausland verkauft wurden. Schon lange vermehren sich Orang Utans aus Nahrungsmangel nicht mehr. Auf indonesisch werden die roten Affen Waldmenschen genannt.

Die Zivilisation ist eine gewaltige, eine gewalttätige Macht.

Auch unter dem Indischen Ozean wacht eine nimmermüde, gewaltige, gewalttätige Macht. Im Erdinneren verschiebt und hebt glühende Magma die Erdplatten, lässt die Erde beben, türmt ungeheure Wassermassen zu Riesenwellen auf. Tsunamis kümmern sich nicht um  zivilisatorische Errungenschaften. Blitzschnell schaffen sie eine neue Ordnung, indem sie die alte gnadenlos mit sich ins Chaos reißen. So wie an Weihnachten 2004, als die Nordspitze Sumatras und damit ein großer Teil der Provinz Atjeh im Indischen Ozean verschwand. Das geschah an meinem 66. Geburtstag.

Ostern 2005 wurden weite Teile der Insel Nias vor der Westküste Sumatras von einem Erdbeben zerstört und von einem Tsunami weggerissen.

Noch bringen, im Gleichmaß, Passatwinde den Monsun – mit ihm kommen die große und  kleine Regenzeit. Auch  das scheint sich zu ändern.


Die Tochter des Stammes Simorangkir
Nordsumatra: Teil der Kolonie Niederländisch-Indien 1938 – 1940

Der südliche Sternenhimmel führt andere Sternbilder über sein nächtliches  Gewölbe als der nördliche.

Ich bin unter dem Kreuz des Südens geboren.

Am zweiten Weihnachtstag, dem 26. Dezember.

Immer war Sommer, wenn ich Geburtstag hatte.

Seitdem ich im Rhythmus von vier  Jahreszeiten in Deutschland lebe ist an meinem Geburtstag Winter.

Das Jahr meiner Geburt 1938 fällt in ein vergangenes Jahrhundert, in ein vergangenes Jahrtausend. Vergangen ist seitdem das Land meiner Geburt: Niederländisch-Indien, vergangen ist mit ihm die Kolonialzeit – geblieben ist Sumatra, im indonesischen Archipel. Da war ich ein Kind, dort wuchs ich auf  – bis 1947.

Heute sind das Land und seine heiteren Menschen frei und unabhängig.

In Tarutung, einer Provinzstadt in Nordsumatra, bei den Batak, dem Stamm der Simorangkir, kam ich als ihre Tochter, als Boru Simorangkir, zur Welt. Wer unter ihnen geboren wird, hat ein Anrecht auf ihre Gastfreundschaft und ist andrerseits selbst dazu verpflichtet, ein Leben lang. Meine Eltern waren Missionare aus Deutschland. Neben dem Missionskrankenhaus, in dem mich meine Mutter zur Welt brachte, prangt ein üppiger Busch, das ganze Jahr über mit roten Weihnachtssternen übersät.

Mein Elternhaus, die Missionsstation von Simorankir, war ein ebenerdiges, lang gestrecktes Gebäude im schlichten Kolonialstil mit einer Veranda ringsum. Auf das Wellblechdach trommelte der Regen. Er weichte den Boden zwischen den Holzhütten des Dorfes mit ihren Palmblattdächern auf, bis die grelle Sonne alles schnell trocknete. Mein einheimisches Kindermädchen soll mich, trotz der ängstlichen Einwände meiner Mutter, überallhin im Schultertuch mitgenommen haben – in ihre archaische Welt.

Simorangkir in Silindungtal in der Provinz Tapanuli

Die Batak waren damals noch eine Ethnie mit den Strukturen einer matrilinearen  Kultur der mittleren Steinzeit. Die Mutter und vor allem ihr ältester Bruder hatten eine wichtige Machtposition inne. Die Batak waren Animisten oder Christen. Die dort lebenden Javanen aber Moslem.

Indonesien ist heute eine freie Republik. Andere ehemalige Kolonien sprechen die Sprache ihrer damaligen Herren. Indonesien spricht  seine eigene Sprache, die Bahasa Indonesia, eine Kunstsprache aus eigenen Wurzeln, die nach der Unabhängigkeitserklärung aus dem Malayischen entwickelt wurde.

Wie Niederländisch Indien seine Ketten abschüttelte und Indonesien seine Freiheit erkämpfte, das habe ich als Kind erlebt.

Gefangen hinter Stacheldraht.

Schattenfiguren, Licht und Bewegung, tauchen aus meiner Erinnerung auf, ein Schattenspiel wie im Wayang Kulit, der indonesischen Tradition.

Davon will ich erzählen.

Mein Bruder Hartmut und ich sind noch in Freiheit geboren, aber in der Internierung aufgewachsen.

In den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren meine Eltern zu sehr damit beschäftigt, sich mit den schwierigen Lebensbedingungen der Aufbaujahre nach dem Krieg, den traumatischen Erfahrungen ihrer siebenjährigen Gefangenschaft und dem Bemühen, sich nach der langen Abwesenheit in dem veränderten Nachkriegsdeutschland zurecht zu finden, um uns die politischen Hintergründe unserer Kindheit zu erklären. Auch wollten sie uns allmählich von dem trotzigen Festhalten an unserer indonesischen Vergangenheit abbringen und uns durch Vergessen an eine deutsche Identität gewöhnen.

Ihr Vorhaben schlug fehl.

Mit dem doppelten kulturellen Hintergrund: dem Stolz auf unser, sich erfolgreich befreiendes Geburtsland, Indonesien, und dem durch Krieg und Schuld zerstörten Herkunftsland, Deutschland,  fanden wir  für beide einen Platz in unserem Leben. Wir vergaßen nicht, woher wir kamen, wie man uns nahe legte. Wir erinnerten uns. Wir bewahrten im Gedächtnis – immer – woher wir kamen. Wir behielten manche Gewohnheiten, einige Ausdrücke und Vorlieben für bestimmte Speisen bei. Uns war nicht bewusst, welche geistigen und emotionalen  Einstellungen wir beibehielten. Manchmal wurden wir darum mit unserer  Mentalität als fremd empfunden oder als nicht richtig Deutsch. Wir waren weder indonesisch, noch deutsch. Wir waren Wanderer zwischen den Welten. Third Culture Kids.

Durch die indonesischen Gäste, die häufig in unser Haus kamen, bewahrten meine Eltern glücklicherweise eine Kontinuität, die unsere Gegenwart mit der Vergangenheit verband.

Noch in der Kolonialzeit, mein Vater war 1934, meine Mutter 1937, als Missionsleute nach Niederländisch-Indien ausgereist. Inmitten der indigenen, batakschen Bevölkerung lebten sie beliebt und geachtet. Unter den befreundeten Holländern führten sie ein privilegiertes Dasein. Sie stellten gemäß ihrer methodistischen Tradition ihr Leben in den Dienst der sogenannten Heidenmission, verließen Heimat, Familie und Berufe (Bürovorsteher und Chefsekretärin), um “das Evangelium bis ans Ende der Welt zu bringen“, weil sie an eine messianische Zukunft glaubten. Für ihre Missionstätigkeit wechselten sie von der Freikirche in die Landeskirche, die die strukturellen Voraussetzungen für eine Weltmission bot.

Mein Vater war nach Sumatra gekommen, um die Erlösung aller Menschen mit Gott durch das Kreuz Christi, zu predigen. – Er ließ sich aber von seinen deutschen Mitbrüdern, Missionaren und Ärzten, zum Hakenkreuz der NSDAP, der nationalsozialistischen Partei Deutschlands, bekehren und trat der Ortsgruppe bei. Unglaublich für uns Heutige, wie dieser politische Wahn bis an den Rand des Urwalds gelangte, praktiziert und mit dem christlichen Glauben vereinbart wurde.

Als meine Mutter ins Land kam, war sie entsetzt, empört und todtraurig. Sie wollte ihre Hochzeit absagen und sofort abreisen. Leider hatte sie nichts anderes, als die vom Deutschen Reich bewilligten zehn Reichsmark, in den Händen. Sie saß in der Falle. Resignierte. Unablässig bemühte sie sich meinen Vater von seinem verhängnisvollen Weg abzubringen. Sie berichtete ihm, was sich inzwischen in Deutschland an Diktatur und  Judenverfolgung entwickelte.

Nach innerem Ringen versuchte mein Vater in einen Vortrag: “Jesus Christus, unser Führer“, seine veränderte Haltung öffentlich zu machen. Bald danach schrieb ihm die älteste Schwester meiner Mutter einen warnenden Brief, dass die NSDAP von dem Vortrag gehört, ihr gedroht und sie unter Druck gesetzt habe. Das veranlasste  meinen Vater, seinen Parteiaustritt vorzubereiten, was immer es auch koste. Da war es leider schon zu spät.


Kindheit hinter Stacheldraht
In der holländischen Internierung: 1940 – 1942

Am 10. Mai 1940, dem Tag, an dem die deutsche Wehrmacht in Holland einmarschierte, wurden wir interniert; die Frauen mit ihren Kindern von den Männern getrennt. Es folgten sieben Jahre hinter Stacheldraht.

Niemand ahnte, dass der deutsche Einmarsch an der nördlichen Flanke seinen Anfang in Landschaftspolder nahm. In diesem Ort, unmittelbar an der deutsch-holländischen Grenze gelegen, lebte mein Bruder später mit seiner Familie.

Noch heute empfinde ich mein Leben in Freiheit als gestundetes Glück, als könnte am Horizont unvermittelt ein Zaun aus Stacheldraht auftauchen.

Am gleichen Tag begann in den Niederlanden die Deportierung der jüdischen Bevölkerung in die Lager Vught, Westerstede, Bergen-Belsen und Neuengamme.

Die deutschen Juden waren vergeblich zu ihren Nachbarn geflüchtet.

An der deutsch-holländischen Grenze, im Bourtanger Moor, erklang das Lied von den Moorsoldaten:

Wir sind die Moorsoldaten,
und ziehen mit den Spaten
ins Moor, ins Moor.

Der Nationalsozialismus hatte seine schnelle Akzeptanz u.a. der erfolgreichen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu verdanken. Nun vernichtete er millionenfach Menschenleben durch Arbeit unter dem zynischen Motto, dass Arbeit frei mache. Über dem Tor des „Arbeitslagers“, des KZ Auschwitz ist es noch heute zu lesen: Arbeit macht frei.

Bitter hat mein Vater – sein Leben lang-  eine Zugehörigkeit zur Nazi-Partei  bereut. Seine Internierung, in Kota Tjane, im Lager in der Allas Valley in Atjeh/Nordsumatra, später in Dhera Dun, im Himalaya/ Indien. Die Trennung von Frau und Kindern empfand er als Gottes Strafe für seine Schuld.

Als Opfer eines tragischen Schicksals in einer historischen Situation empfand er sich nicht, sondern fühlte sich verantwortlich für eine verhängnisvolle Fehlentscheidung. Auch wenn es Erklärungen gab, die Schuld blieb. Davon sprach er in meiner Gegenwart bis zuletzt nur in Andeutungen. Schmerz und Scham über sein Versagen rangen so sehr in ihm, dass ihm dabei Stimme und Sprache versagten. Es mag die Angst, unsere Achtung zu verlieren, mitgespielt haben. Nicht ausschließen will ich, dass es nicht nur in den Fünfziger Jahren heikel blieb, sich offen zu seiner Parteizugehörigkeit zu bekennen, sondern auch später noch.

Ambivalent war eine Art Trotz in seiner Haltung. Er hatte das Beste gewollt, sich engagiert und eine “Zelle“ verwaltet. Durch diese aktive Tätigkeit in einer Unterorganisation der Partei war er zum Mitläufer eines verbrecherischen Regimes geworden. Er bat uns, nie irgendwelche politischen Ämter zu übernehmen. Es müsse eine enthaltsame Generation zwischen seiner irregeleiteten, politischen Begeisterung und einem neuen, öffentlichen Engagement liegen. Wir sollten uns bescheiden vor Augen halten, dass Menschen, die unter einem solchen Vater und außerdem in Gefangenschaft aufgewachsen waren, keine Vorrausetzung für ein öffentliches Amt im demokratischen Sinn mitbrächten.

Meine Mutter überwand mutig die emotionalen Hürden der allgemeinen Vertuschung und Heimlichkeit. Sie wollte, dass ich Bescheid wusste. Sie wollte unbedingt, dass ihre Kinder, – wenn schon kein Verständnis für das politische Verhalten ihres Vaters, ihrer Onkel und Tanten, aufbringen konnten doch wenigstens die Gründe dafür kannten und nicht im Ungewissen blieben. Von dem bleiernen Schweigen über die Vergangenheit, wie es in den Fünfziger Jahren allgemein üblich war, hielt sie nichts. Sie war von der Überzeugung durchdrungen, dass uns die Kenntnis des Vergangenen zu besserem Handeln in der Gegenwart befähigen würde.

Jahrzehnte später erzählte mir ein Kollege, dass mein Vater wortlos vor Gram, völlig erstarrt, in den ersten Monaten der Internierung unansprechbar blieb. Er habe später stereotyp wiederholt: Das ist alles meine Schuld.

Dieser jüngere Freund leistete unbeirrt – vom ersten Augenblick an – politischen Widerstand. Ihm und meiner alten, jüdischen Freundin verdanke ich den Mut zu furchtlosem Einmischen als freie Bürgerin.

“Aufrauen will ich die Wahrheit – mit Schmirgelpapier“

sagt meine Lieblingsdichterin Hilde Domin in einem ihrer Gedichte.

Die deutschen Frauen und ihre Kinder kamen in niederländische Lager, die in rascher Folge immer wieder verlegt und zum Teil auf verschiedene Inseln des indonesischen Archipels verteilt wurden. In manchen Lagern fanden sie die übelsten Bedingungen vor. In manchen Lagern auf Java wurden nationalsozialistische Riten und Feste beibehalten, um das holländische Militär zu verhöhnen. Wir blieben – trotz wechselnder Stationen – auf Sumatra.

Kontinuität habe ich, wie viele in meiner Generation, erst spät kennen gelernt.


Die niederländisch-indischen Phase des Pazifischen Krieges
und die japanische Internierung 1942 – 1945/46

Dann kamen die Japaner.

Sie eroberten in einem raschen Siegeszug Südostasien, darunter den indonesischen Archipel, der ihrem Inselreich mit seinen Vulkanen und tropischem Klima glich. Wie ein Taifun kamen sie über das Land.

Am 10. Januar 1942 erlebten mein Bruder und ich als Kleinkinder ihren Einmarsch  und damit das Ende der Kolonialzeit – auch wenn das damals niemand erkannte und erst recht viel zu lange nicht wahrhaben wollte. Die westliche Welt zögerte mit der Einsicht in die irreversible Neuordnung der Welt, vermied angestrengt, sie sich in schmerzender Deutlichkeit bewusst zu machen und scheute keine Kriege, um zu halten, was nicht zu halten war.

Bruder Hartmut, Mutter Johanna und Dietlind, 1943

Der Inder Amitav Ghosh schildert in seinem Roman “Glaspalast“ die Umwälzungen in den kolonialen Imperien, berücksichtigt auch das Umdenken in den westlichen Überlegenheitsvorstellungen und das allmähliche Ende rassischen Dünkels, die der pazifische Krieg mit sich brachte. Diese Seite des Zweiten Weltkriegs findet noch heute schwer Zugang ins westliche, politische Denken. Ich hoffe da auf das neue Humboldt-Forum, das sich auch mit der Kolonialzeit auseinandersetzen will.

Ab August 1942 durfte der Name Indonesien offiziell gebraucht werden. Eine neue Nation war dabei, geboren zu werden.

Schon am 6. Dezember 1941 – nach der Bombardierung der amerikanischen Flotte in Pearl Harbour – hatte der pazifische Krieg mit der japanischen Invasion in Teilen der Sowjetunion und Chinas auch Indochina, die Philippinen, Thailand, Malaysia und schließlich Indonesien erreicht. Am 8. März 1942 kapitulierte die niederländische Kolonialregierung. Die Indonesier begrüßten die Japaner als Befreier.

Diese offizielle Einstellung blieb, auch als später bekannt wurde, dass es bis zu zwanzig Millionen Tote im pazifischen Krieg gab. Noch heute ist es für die älteren Mitglieder der indonesischen  Bevölkerung nicht selbstverständlich über das, durch die Japaner verursachte Elend, offen zu sprechen.

In China und Korea hinterließ Japan zur Unterwerfung dieser Länder eine Blutspur grausamer Gemetzel und Gräueltaten, die bis heute unvergessen geblieben sind. (Erste versöhnliche Zeichen wurden in jüngster Zeit, in der China sich zur Weltmacht entwickelte, von der japanischen Regierung unternommen.)

Die 350 Jahre alte holländische Ordnung brach in wenigen Wochen zusammen. Die Holländer, die am 10. Mai 1940 alle Deutschen und Österreicher internierten, wurden nun ihrerseits in japanische Lager gebracht.

Die leidvolle Geschichte dieser Lager wurde in Holland als Schmach empfunden und jahrzehntelang verschwiegen. Geert Mak schildert in seinem Buch über “Das Jahrhundert seines Vaters“ nicht nur die Geschichte der Holländer in den japanischen Lagern, sondern auch die ihrer unausrottbaren Gesinnung arroganter, rassistischer und religiöser Überlegenheit. Selbst die Internierungszeit habe diese Einstellung nicht erschüttern können, schildert er am Beispiel seines Vaters, eines  sympathischen Pfarrers.

Die öffentliche Diskussion über den Verlust der Kolonien durch die Übermacht einer asiatischen Nation wurde in den Niederlanden erst in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts möglich. Die Demütigung der weißen, ehemaligen Herrn in den Gefangenenlagern Javas wurde erstmalig 1984 von Jeroen Brouwers beschrieben. Sein Buch “Versunkenes Rot“, damit ist die japanische Besatzungszeit gemeint, konnte deshalb zuerst nur in Zürich erscheinen.

Für mich begann eine Kindheit ohne Vater. Es begann eine Kindheit mit der ausschließlichen Bezogenheit auf eine Mutter, die gerne eine Mutter war. Sie war selbst ab dem neunten Lebensjahr als Halbwaise unter fünf Geschwistern aufgewachsen. Ich wuchs mit einem Bruder unter fast geschwisterähnlichen Bedingungen im Lager unter vielen Kindern in der gleichen Lage auf. In meiner Kindheit hatte ich immer einen Schoß, der mich aufnahm, wenn ich einmal nicht zu meiner Mutter konnte. Ich hatte viele Mütter, die ich Tante nennen musste, mit Ausnahme der Missionsschwestern, die ich mit ihrem Titel anredete.

Es blieb mir beim Heranwachsen eine verunsicherte Einschätzung von Nähe und Distanz bestehen. Ich behielt ein naives, illusionäres Vertrauen in die Welt. Das wurde mir zum Hemmnis, der Wirklichkeit illusionslos zu begegnen.

Unser damaliges Lager befand sich an der Westküste, in der Hafenstadt Padang, am Äquator.

Es wurde umgehend unter die militärische Aufsicht von Japanern gestellt, die  mit Deutschland verbündet waren. Eine Gruppe alleinstehender Frauen, Missionsschwestern und kinderloser Missionarsfrauen nahmen das Angebot der Militärregierung an, sich in Japan internieren zu lassen, weil sie, nichts ahnend vom Inferno der zerbombten Städte in Deutschland, in Aussicht gestellt bekamen, auf dem Landwege über die Sowjetunion als freie Menschen heimzukehren. Eine sehr benachteiligte Gruppe wurde nach Onrust, auf die ehemalige Gefangeneninsel der holländischen Kolonialregierung vor Java gebracht.

In Padang gab es einen Kindergarten bei Tante Nelly. Wir durften am Strand spielen. Meine Mutter hatte Lagerdienst. Ich war  bei einer anderen Familie, als mich plötzlich eine dieser Killerwellen, die dort üblich sind, mit sich fortriss. Tante Frieda sah es und wollte mich  retten. Die Welle war schneller und stärker und nahm uns beide mit sich fort. Ein Indonesier, ein Moslem von den Minang Kabau, packte uns mit starken Armen  und brachte uns an Land. Diesen jungen Mann hat weder unsere weiße Hautfarbe noch unser christlicher Glaube daran gehindert, uns unter eigener Lebensgefahr zu retten.


Schiffe versenken spielt man nicht
In japanischer Gefangenschaft ohne Stacheldraht in Brastagi

Uns gab man die Möglichkeit im Gebirge, knapp 2000 Meter hoch, in Brastagi, im batakschen Karoland, interniert zu werden. Auf Stacheldraht wurde verzichtet. Wir durften den Ort nicht verlassen und wurden vom japanischen Militär streng kontrolliert. Wir wohnten in den verlassenen Villen der Holländer in einem malerischen Erholungsort: großzügig, kolonial, luxuriös. Hinter uns lag die Zeit der Gemeinschaftssäle, die mit notdürftig aufgespannten Betttüchern jeder Familie die Illusion einer Intimsphäre vortäuschten. Wir konnten uns im Ort frei bewegen. Vom japanischen Militär überwacht, unterhielt meine Mutter dennoch geheime Kontakte zu den Missionsgemeinden. Die batakschen Christen hätten uns gerne getröstet und uns geholfen und zeigten mit geheimen, mündlichen Botschaften ihre unerschütterliche Verbundenheit.

Zuwendungen vom Roten Kreuz wurden gestrichen. Wer nicht verhungern wollte, musste eine Möglichkeit zum Gelderwerb finden. Die älteren Kinder, wie die von Nolls hungerten.

Die meisten Frauen nähten für die Einwohner von Brastagi, weil sie ihre Nähmaschinen behalten durften.

Hinter der Holzvertäfelung in unserem neuen Zuhause De Merel, einer weitläufigen Villa mit einem parkähnlichen Garten ringsum, fand meine Mutter ein Märchenbuch von Hans Christian Andersen und – ein umfangreiches Kochbuch. Sie, die Großstädterin und ehemalige Chefsekretärin, lernte europäische Wurstwaren und Delikatessen in den Tropen herzustellen. Nach einigem Experimentieren fand sie die passenden Pflanzen für eine selbstgebaute Räucherkammer. Mit der islamischen Köchin gab es verständlicherweise Probleme bei der Verarbeitung von Schweinefleisch.

Unsere kleinen Finger halfen beim Knackwürstchenstopfen. Unentbehrlich waren  die unermüdlichen Hände von Klaus Röll. Er drehte den Fleischwolf, er half auch sonst überall, denn er war schon zehn Jahre alt und wurde viel zu schnell immer vernünftiger und tüchtiger. In Indonesien ist es selbstverständlich, dass Kinder zu allen Arbeiten herangezogen werden.

Klaus wohnte in unserem Haus zusammen mit seinem jüngeren Bruder Dieter. Die Mutter  der Jungen war in Padang an Malaria tropica gestorben, die meine Mutter und ich überlebt hatten. Die Erziehung beider Jungen hatte unsere Mitbewohnerin, Frau Graumann, eine gelernte Erzieherin, übernommen. Dieter gegenüber verhielt sie sich mütterlich, wie auch zu ihrer eigenen kleinen Tochter Erika. Klaus jedoch,  behandelte sie entsetzlich grausam. Leider konnte meine Mutter, die ihn  sehr gern hatte, ihre Zuneigung nicht wirksam genug spüren lassen. Klaus ganze Liebe galt seinem kleinen Gartenstück. Es war das einzige, was ihm gehörte. Als mein Bruder mit einem langen Bambusstab es gründlich verwüstete, bestrafte sie ihn nicht. Klaus sollte auf den Vierjährigen  Rücksicht nehmen, obwohl niemand auf den einsamen Jungen Rücksicht nahm. Er hatte vergeblich  versucht, seinen Kummer mit der hingebungsvollen Pflege seiner Blumen ein wenig zu vergessen. Diese Wunde blieb.

Mein Bruder neigte dazu, mich zu erpressen. Klaus blieb mein unerschrockener Beschützer, wie mir meine Mutter später erzählte.

Werner, der Jüngste der drei Brüder, wohnte bei Frau Schrey und deren Tochter Doris.

Frau Graumanns Tochter Erika war meines Bruders  gleichaltrige Spielgefährtin.

Außerdem gab es noch eine alte Missionarsfrau in der Hausgemeinschaft, Käte Möller, eine Tochter des Missionsdirektors Warneck.  Wir  mochten sie nicht so gern, weil sie, oft am Ende ihrer Belastbarkeit, schimpfte und uns vieles verbot.

Alle diese Münder galt es zu stopfen.

Wir Kinder führten ein Leben zwischen den Parks vor und hinter dem Haus. Ich lernte von der Köchin Kokos zu raspeln, Chili zu stampfen, Reis zu kochen. Meine Mutter schickte mich, in den Garten, um Lehm für meine Wunde am Knie zu holen. Ich wusch den Lehm, bis er zu Heilerde wurde. Mit fünf Jahren ging mein Bruder geschickt mit der Axt um. Unsere Angestellten lehrten uns mit Knetgummi feine Geschirre herzustellen, zu rauchen, gute und giftige Pflanzen zu unterscheiden. Einmal retteten sie uns, als wir mit jungen Schlangen spielten.

Ich erinnere mich, dass meine Mutter mir nur einmal gezeigt hat, in welch prekärer Situation wir lebten. Auf der Bettkante sitzend – zählte sie mit mir ihr letztes Geld. Das waren  Centmünzen  mit einem quadratischen Loch in der Mitte – Geldstücke mit dem geringsten Wert. Es blieben – so oft wir auch zählten – fünf Münzen. Rupiah gab es nicht, es fielen auch keine vom Himmel.

Meine Mutter brauchte  Geld für neue Ware, wenn sie am nächsten Tag auf dem Passar, dem Markt, einkaufen wollte. Ich weiß nicht, auf welchen Wegen sie es schaffte, die schlimmsten Engpässe zu überwinden.

Passar, 1981

Ich nehme an, weiß es aber nicht genau, dass Frau Gerstel, die Frau eines Pflanzers, die erst in der japanischen Zeit zu uns gestoßen war, ihr weiterhalf. Sie hatte uns mit meiner Patentante, Schwester Magdalene, bei sich aufgenommen, als wir in Brastagi ankamen. Sie verwöhnte uns Kinder und sprach zärtlich mit meiner Mutter, wie mit einer Tochter. Sicher weiß ich nur, dass meine Mutter  erzählte, unsere geliebte “Tanti“, wie sie für uns zur Unterscheidung von den „Tanten“ genannten Missionarsfrauen hieß, habe einen kölnischen Akzent gehabt und “gejüdelt“. Ich war noch zu klein, um ein Ohr dafür zu haben. Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich diese Variante des Deutschen wieder hörte.

Von Tanti wurde ich mit einem  Handtäschchen und einem Häkelschal aus orangener Wolle fein gemacht. Für ihr betörendes Parfüm und ihr liebes, runzliges Gesicht mit den Perlohrringen liebte ich sie sehr. Meine Patentante, Schwester Magdalene, blieb in ihrem Haus bis zum Ende der japanischen Internierung wohnen.

Bunt war das Paradies um mich herum. Durch die Gerberabeete lief ich, als wäre es ein Blumenwald. Schmetterlinge in großer Zahl schaukelten über mir. Am Ende unseres Parks gab es einen Bambushain. Ein feines Aroma zog mit dem Wind durch die Luft. Wenn die Tropennacht übergangslos hereinbrach, brachte sie ihre Düfte, die Nachtfalter und Vielstimmigkeit mit sich. Abendstille und Dämmerung kannte ich nicht. Aus dem nahen Dorf drangen in Vollmondnächten die Klänge der Gondang  (die Gamelanmusik Sumatras) herauf.

Trotz des immerwährenden Sommers, seinem Glanz aus Farben und Licht, trotz der üppigen Vielfalt der Natur, der ungeheuren Fruchtbarkeit des Vulkanbodens war nichts in Ordnung. Das Paradies stand auf keinem festen Boden. Der Boden schwankte häufig. Nicht nur er.

Die Welt war aus den Fugen geraten.

Hinter unserem Haus erhob sich, souverän – der Vulkan Sibayak mit seiner gelben Schwefelfahne -. Er würde nicht ausbrechen, gewiss nicht, versicherte man uns Kindern.

Im fernen Java bereiteten inzwischen Sukarno und Hatta die indonesische Befreiungsbewegung vor. Der Vulkan des Befreiungskampfes stand kurz vor dem Ausbruch.

Weil meine Mutter so sehr beschäftigt war, bekamen wir eine Kinderfrau mit einem bunten Sarong. Aus ihrem schwarzen Haar mit dem dicken Knoten, strömte ein leiser Duft von Kokosöl. wenn wir traurig waren, tröstete sie uns so sanft, wie unsere Mutter uns zu trösten wusste. Trost hat für mich immer noch ein helles Gesicht mit sehr blauen Augen und ein dunkleres mit samtbraunen und dem schönen indonesischen Wort: Kassian. (Mitgefühl und Erbarmen).

Meine mutige Mutter hatte als – Gefangene – die Existenz einer freien Unternehmerin aufgebaut. Wie ihre früh verwitwete Mutter sorgte sie als alleinerziehende Mutter ihre Kinder durch selbständiges Unternehmertum. Für unsere kleine Familie und die Hausgemeinschaft arbeitete sie unermüdlich: Ich sehe sie noch vor mir, wie sie Wäsche aufhängt, die ihr der Bergwind ins Gesicht bläst; wie sie Wäsche zum Bleichen auf der Wiese mit Wasser besprengt, während ich ihr helfe. Ich sehe, wie sie Seife aus Soda und Knochen kocht. Sie trug ein weißes Kleid mit dunklen Punkten, lachte viel, begegnete  den widrigsten Situationen mit Humor. So sehe ich sie vor mir – so ist sie mein Vorbild geworden.

Wieder zurück in Deutschland, war sie kaum wieder zu erkennen. Immer krank oder doch kränklich, von Ängsten geplagt, sich melancholischen Grübeleien überlassend, wurde sie depressiv, vereinsamte und verlor einen Teil ihrer Kreativität, nie aber,  wirklich nie, ihren unerschütterlichen Humor und damit ihre geistige Souveränität und Freiheit, gepaart mit einer übermütigen Lust am Reimen. Durch die Welt der nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Verwandten und Freunde schritt sie untröstlich. Durch die enge Welt der Adenauer-Ära bewegte sie sich wie ein Paradiesvogel mit gestutzten Flügeln.

Der paradiesische Blumengarten in Brastagi wich bald einem Gemüsefeld. Hühner und Enten liefen herum. Unsere beschäftigte Mutter war unser Glück. Fern der mütterlichen Kontrolle führten wir ein freies Leben, machten unerhörte Entdeckungen in der archaischen Welt des Kampongs, des einheimischen Dorfes, fanden unter den Kindern Spielkameraden: Steine für eine Art Brettspiel im Sand, Bambushölzchen über kleine Kuhlen gelegt und mit einem größeren Stab fortgeschleudert, Blumen für ein Gärtchen. Die Erwachsenen lehrten uns Reisstampfen, Reis in Bambusrohren kochen und auf den Steinen im Bach Wäsche schlagen und waschen auf die Art, wie es für diesen indigenen Volksstamm üblich war. Geduld war ihre hervorstechendste Eigenschaft, wenn die Indonesier uns in das Leben fern der Zivilisation einführten. In der Kolonialzeit wäre es nie möglich gewesen, die Bedeutung von Hautfarbe und Nationalität so absichtslos verschwinden zu lassen.

Wir Kinder von der Merel waren nicht allein, weil die Avés, die Nachbarskinder von nebenan, immer dabei waren.

Begabt für menschlichen Umgang und angesehen im Geschäftsleben, beschäftigte meine Mutter immer mehr Angestellte. Sie sprach nun nicht mehr Holländisch oder Bataksch, sondern Malaisch, das Idiom des indonesischen Archipels. Bald handelten die Dorfbewohner mit ihr und lobten ihr ausgezeichnetes, kaufmännisches Geschick. Ihren Fleischwarenhandel betrieb meine Mutter mit Genehmigung des japanischen Militärs, das den Transport kontrollierte und übernahm. Eine große Hilfe war der Schweizer Konsul, Dr. Surbeck, der auch für  Abnehmer von Mutters Waren in Medan, der Hauptstadt Sumatras, an der Ostküste sorgte. Es gab immer noch neutrale Ausländer, Inder und Eurasier, die sich diesen unerwarteten Luxus in Kriegszeiten leisten konnten.

Ermöglicht wurde ihre Arbeit in dem tropischen Klima durch die uneigennützige Unterstützung ihrer Freundin, Frau Marga Avé Lallemant. Sie besaß einen Kühlschrank, den meine Mutter mitbenutzen durfte. In dem tropischen Klima hätte sie nie ohne Kühlung ihre Waren lagern können.

Frau Avé hatte man auch ihre kostbarsten Möbel gelassen, als die Japaner in  Makassar (Sulawesi) einmarschierten und alle Holländer internierten. Sie galt als Deutsche. Wegen ihrer jüdischen Herkunft war sie aus Dresden als Kindergärtnerin – wie meine Mutter sagte – “ans äußerste Meer“ geflohen, hatte einen deutschen Arzt in holländischen Diensten geheiratet und versuchte mit ihm zusammen,  die holländische Staatsangehörigkeit zu erlangen, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen.

In genau diese Zeit fiel die Internierung des noch deutschen Staatsangehörigen, Dr. Avé Lallemant, bei den Engländern in Dehra Dun. Seine Frau mit den vier Kindern wurde verschont. Als die, mit Deutschland verbündeten Japaner, ins Land kamen, wurde sie nicht mit holländischen, sondern deutschen Frauen interniert. Die Holländer hatten Rücksicht auf ihr jüdisches Schicksal genommen. So kam es, dass sie den grauenvollen, japanischen Lagern entging. Im Schweizer Konsul Surbeck fand Frau Avé zum Glück eine schützende Hand, zumal ihre Tochter Eva Marie, genannt Koddy, aus der ersten Ehe ihres Mannes, mit Gladys Surbeck eng befreundet war.

Ihr Sohn Hans war mein Kinderfreund, dem ich eine abenteuerlustige, poetische Kindheit verdanke und ein frühes Interesse für die genaue Beobachtung der Natur. Heute noch sehe ich seine Kinderhand mit einem Kakerlakenflügel vor mir, höre seine ernsten Worte: „Du brauchst dich nicht vor Kakerlaken zu fürchten. Schau mal diese Rillen auf seinem Flügel an. Auf denen ist seine Lebensgeschichte geschrieben. Ganz klein. Man muss nur versuchen, sie zu lesen“. Später entzifferte er als Geologe die „Rillen und Gräben“ unseres Planeten. Er schuf mit der Erforschung der Abdriftung der Kontinente (Alfred Wegener) Grundlagen für die internationale Erdölindustrie als Professor an der Universität von Havard/USA. Später hatte er einen Lehrstuhl an der Rice Universität in Housten/Texas. Er arbeitete bei der Erforschung von Erdölquellen im südamerikanischen Urwald.

Die Shell-Anlagen in Rotterdam und ihre Kooperation mit Norwegen inspirierten ihn schon als Schüler. Durch den Urwald zu stapfen war sein Lebensziel. Er, im Kreise seiner Mitarbeiter im Dschungel von Lateinamerika bei der Arbeit ist im Naturhistorischen Museum in New York dokumentiert Hans und sein Bruder sind Amerikaner geworden, ihre Schwester Koddy Schweizerin.

Als ich 1980 in Brastagi auch in Avés Haus kam, erkannte ich die Treppenstufen, auf denen Hans mir, unendlich geduldig, beibrachte, wie man Schnürsenkel knotet. Er hatte einen älteren Bruder Heiner und eine jüngere Schwester Margret.

Frau Avé war für uns, was man heute eine Lichtgestalt nennt.

Avés Haus, 1980

Sie war schick, trug einen Bubikopf und hatte für jeden ein Ohr ohne irgendeinen Hauch von Bemühtheit oder Betulichkeit wie die lieben “Missionstanten“ ringsum. Wir durften sie Frau Avé nennen. Sie ersparte uns die “Tante“. Mit ihren Augen sah ich die indonesischen Schnitzereien an ihren Möbeln, die gehämmerten Messingtischplatten, streichelte die chinesischen, hohen Vasen, wenn sie sie mit Blumen füllte. Sie erklärte uns die Pagode aus Elfenbein. Es gab ein Tigerfell mit einem ausgestopften Kopf, weit aufgerissenem Maul und gefährlich funkelnden Glasaugen. Wir fürchteten den Tiger wie deutsche Kinder den Wolf.

Hans und ich schauten ihr über die Schulter, wenn sie mit dem Aquarellpinsel den hauchfeinen Linien ihrer Zeichnungen Farbe gab. Wir bewunderten sie, liebten sie fast abgöttisch. Die meisten Kinder hingen an ihr, viele Erwachsene, aber am allermeisten meine Mutter.

Beschwingt schritt sie durch den lichten Park zwischen den beiden Villen, gefolgt von ihrem Lieblingshuhn, das von allein an der Grundstücksgrenze kehrt machte, wenn sie Avés besuchte.

Es ging nicht allen Familien so gut wie uns in der Merel. Die Frauen, die ältere Kinder hatten, litten stärker unter Hunger und bitteren Entbehrungen. Frau Noll hatte fünf Kinder. Die Älteren waren inzwischen in die Pubertät gekommen und wurden nie satt.

Vom Roten Kreuz kam weiterhin keine Hilfe.

Unser Alltag war ungewöhnlich für eine Internierung. Er sah so aus:

Der Pasar bot, was wir zum Leben brauchten. Meine Mutter lief, mit Tasche und Netzen dorthin und kam beladen in einer Bendhi, einer zweirädrigen Kutsche, zurück. Im Schlachthof besorgte sie, was sie für ihre Wurstwaren, nicht für uns benötigte. Wir bekamen Fleisch nur, wenn eins von unseren Hühnern geschlachtet wurde.

Den chinesischen Bäcker betrachteten wir mit furchtsamer Neugier, weil er eine Opiumpfeife rauchte. Deren süßlicher Geruch erfüllte seinen Laden. Wir aßen nie Brot, zu seltenen Gelegenheiten Kuchen. Zum Frühstück gab es Reisbrei mit Kokosmilch, mittags und abends Gemüse, Süßkartoffeln oder Reis; Roten Reis, der war nicht so teuer. Der Schuster maß uns Schuhe an, die wir hassten. Meist liefen wir barfuß.

Sogar einen Arzt hatten wir am Ort.

Dr. Heinemann war jüdischer und deutscher Herkunft. Unangefochten durfte er weiterarbeiten. Die japanische Besatzung wollte der indonesischen Bevölkerung die ärztliche Versorgung lassen. So hatten wir eine, – für Gefangene außergewöhnlich – hervorragende, ärztliche Betreuung. Vor seinem Haus am Pasar warteten die Menschen in ihrem typischen Hocksitz oder jammernd an einander gelehnt. Ich bereue noch heute, dass ich ihn nicht in Amsterdam besuchte, obwohl Frau Avé es mir nahegelegt hatte.

Mit der Erlaubnis für Besuche beim chinesischen Zahnarzt ging es mit den japanischen Soldaten im Militärlastwagen die kurvenreiche Straße tausend Meter hinab nach Medan. Für uns Kinder ein Erlebnis, für unsere internierten, also ausgelieferten Mütter, eine bange Situation.

Post bekamen unsere Mütter selten. Nur einmal kamen – durch die Vermittlung des Roten Kreuzes – ein Paket von unserem Vater aus dem Lager Allas Valley, in Atjeh, nur 40 Kilometer von Brastagi entfernt und doch unerreichbar wie ein fremder Stern. Mein Vater hatte mir eine Puppenstube geschnitzt. Die liebte ich über alles. Meine Mutter nähte aus ihrer rosaseidenen Unterwäsche – wie man sie in den Zwanziger und Dreißiger Jahren in Europa trug – die allerfeinste Puppenbettwäsche. Ich erfuhr, dass Eltern, wenn sie zusammen leben und nicht an verschiedenen Orten gefangen sind, in einem Doppelbett schlafen.

Meinem Bruder schenkte mein Vater einen grünen Papagei auf einer Schaukel, meiner Mutter ein Körbchen aus einer schwarz geschliffenen Kokosnuss. Die Gefangenen hatten sich aus Glasscherben und Sand Werkzeuge gemacht, um das Holz der Kokosnüsse zu bearbeiten.

Das japanische Militär wurde gefürchtet, war aber nicht so schikanös oder  grausam, wie es aus holländischen Lagern berichtet wurde. Es bestand ein Konsens unter allen Erwachsenen, uns Kinder und Jugendliche realitätsfremd in einer heilen Welt, die von nichts Bösem wusste, aufwachsen zu lassen. Wenn ein Kind beim Namen nannte, was es sah oder hörte und das nicht in diese heile Welt passte, wurde ihm diktiert, was es wahrgenommen haben sollte. Störrische Kinder, die bei ihrer Ansicht blieben, wurden streng gemaßregelt. Man meinte es doch so gut mit uns, wenn man uns zu Verlogenheit und selbstbetrügerischer Schönfärberei erzog. Ich erinnere mich also in den meisten Fällen deutlicher an das, was man für uns Kinder zur Aufbewahrung im Gedächtnis auswählte, und weniger genau an das, was ich erlebte oder nicht verstand oder auch gar nicht erst erlebt haben sollte.

Frauen der Plantagenbesitzer, die sich den Missionsleuten angeschlossen hatten, unterhielten intensive Kontakte zu “ihren japanischen Soldaten“ und führten ein angenehmeres Leben mit vielen Privilegien. Sie erweckten unsere kindliche Neugier. Sie schminkten sich und rochen sehr gut, nicht nur nach der streng gehüteten Eau de Cologne 4711 der Missionarsfrauen.

Gelitten haben die sogenannten Lustfrauen, die indonesischen Frauen, die von japanischen Soldaten gezwungen wurden, ihre Dörfer zu verlassen, um mit den Militärs ein gemeinsames Leben zu führen. Sie wurden nach dem Krieg nie entschädigt und blieben samt ihren Kindern ausgestoßen aus Dorfgemeinschaft und Familie – geächtet bis zu ihrem Tod und bis zur nachfolgenden Generationen. Schlimm erging es den Bewohnern des Dorfes, nicht weit von Brastagi entfernt, das schon zur Kolonialzeit den Plantagenbesitzern die Prostituierten stellen musste.

Übergriffe von japanischen Soldaten erlebten wir selten. Meine Mutter und Frau Graumann wurden einmal von Bruder Alois Seitz rechtzeitig geschützt, als  eines Abends die gläserne Flügeltür aufrissen wurde und sich zwei Gestalten den beiden blonden Frauen gewaltsam näherten. Mein kleiner Bruder, aufgeschreckt von dem Lärm, stand an der obersten Treppenstufe, schrie laut um Hilfe. Zufällig kam Bruder Seitz auf dem Heimweg an dem hellerleuchteten Haus vorbei, hörte den Tumult und rettete meine Mutter und Frau Graumann aus ihrer misslichen Lage.

Wer war Bruder Seitz vom Orden der Steyler Mission? Wie kam ein katholischer Mann, ein Klosterbruder, in das protestantische Frauenlager? Er kam von der Insel Nias. Ein Schiffbrüchiger. Ein Geretteter von der untergegangen MS Van Imhoff, einem Postschiff der niederländischen Verkehrsgesellschaft KPM, das als drittes Schiff die deutschen Gefangenen nach Indien bringen sollte, ehe sie von den verbündeten Japanern übernommen werden konnten. Mit ihm kamen auch der Matrose Herr Grimm und der feine Herr Schuer mit dem Bart, die lange Zeit zurückgezogen in dem Frauenlager lebten. Anders als Bruder Seitz, der sich zu einem geschätzten „Vater“ für alle Kinder entwickelte. Sie waren dem Tod entgangen und  der Gefangenschaft in Indien, in Dehra Dun.


Der Untergang der Van Imhoff

1942 – am 14. Januar – sollten die deutschen Gefangenen aus der Allas Valley in Atjeh von den Holländern außer Landes gebracht werden, um sie den verbündeten Briten zu übergeben.

Am 17. Januar brachen zwei Schiffe mit ungefähr zweitausend deutschen Gefangenen an Bord von Sibolga an der Westküste Sumatras in Richtung Ceylon, heute Sri Lanka, auf, um in einem britischen Sammellager in Nordindien, in Dehra Dun am Himalaya, untergebracht zu werden.

Am 18. Januar wurden noch vierhundertdreiundvierzig Gefangene an Bord der Van Imhoff, eines Paketschiffes gebracht und auf Deck hinter Stacheldraht eingesperrt oder in den tieferen Räumen, deren Türen man verriegelte. Entgegen internationaler Vorschriften fuhr das Internierungsschiff  ohne Rot- Kreuz- Flagge und auch ohne dem japanischen Gegner als Rote-Kreuz-Schiff gemeldet zu werden, los. Etwa hundert Kilometer von der Insel Nias entfernt, wurde das unbewaffnete Schiff am 19. Januar 1942 von japanischen Jagdbombern angegriffen und sank. Die holländische Besatzung konnte sich mit Rettungsbooten in Sicherheit bringen.

Die deutschen Gefangenen, preisgegeben, eingesperrt, verbarrikadiert hinter den Stacheldrahtverhauen, versuchten vergeblich, sich zu retten. Ein einziges Boot ließ die geflohene Schiffsmannschaft ihnen zurück. Sechsundsechzig Schiffsbrüchigen, darunter Bruder Seitz, gelang es, die Küste der Insel Nias zu erreichen. Die Szenen auf dem sinkenden Schiff mit den eingeschlossenen Gefangenen wurden von den Überlebenden als unvorstellbar grauenhaft geschildert.

Das war Verrat der Schiffsführung an ihren Passagieren, eine Todsünde der Seefahrt.

Dieses Kriegsverbrechen wurde der niederländischen Gesellschaft verheimlicht und wird erst jetzt, 70 Jahre später bekannt und diskutiert.


Vier Jahre lang hörten die Frauen in Indonesien nichts mehr von ihren Männern.

Niemand wusste, wer überlebt hatte. Es blieb bei den unbestimmten Nachrichten, die die geretteten Männer überbrachten. Jahrelang lebten die Frauen in Ungewissheit über das Schicksal ihrer Männer, wie sie auch für sich eine vollkommen ungesicherte Zukunft vor sich sahen. Ein Leben zwischen Hoffen und ängstlichem Bangen bestimmte das Lebensgefühl unserer Mütter, so sehr sie es auch vor uns Kindern zu verbergen suchten.

Die Geschichte vom Untergang der Van Imhoff und die Rettung meines Vaters, prägte unsere Familie für immer.

Weit vorher in Padang, erfuhr ich am eigenen Leibe, was es heißt, vor dem Ertrinken gerettet zu werden. Es ist meine erste deutliche Erinnerung. Ich war damals vier Jahre alt.

Einen Teil des Strandes durften wir benutzen. Er ist für plötzlich auftretende, mannshohe Wellen berüchtigt, bei denen es sich um Ausläufer der Seebeben handelt, die sich weit draußen im Indischen Ozean abspielen. Eine solche hohe Welle packte mich, riss mich mit sich fort, weg von der kleinen Hand meiner Spielgefährtin. Eben noch hatte ich Tante Frieda Klaiss am Strand gesehen, da fasste mich ihr starker Arm, hielt mich umklammert. Ich fühlte, wie wir beide den Halt verloren und von der Woge herab geschleudert wurden. Undeutlich nahm ich wahr, wie ein Indonesier auf einmal uns beide an sich presste und an Land schleppte.

Meine Rettung verdanke ich  einem moslemischen Indonesier, vom Stamm der Minangkabau, der sich immer wieder gegen die weißen, christlichen Kolonialherren mit blutigen Aufständen gewehrt hat. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass ein Moslem aus diesem Stamm sein Leben riskierte, ein weißes, christliches Kind und eine weiße  Missionarin vor dem sicheren Untergang zu bewahren. Meine Mutter erzählte, dass ich ihm gern ein Geschenk, einen Blumenstrauß bringen wollte, denn in meinem Geburtsland stehen Geben und Nehmen in einem fein ausgewogenen Verhältnis. Wir fanden den Mann nicht mehr. Aus dem Nichts war er aufgetaucht, ins Nichts schien er untergetaucht zu sein.

Die Westküste Sumatras hat nicht aufgehört, Unheil zu verbreiten.

Am frühen Morgen meines 66. Geburtstags, am 26. Dezember 2004, dem zweiten Weihnachtstag, erschreckte mich der Anruf eines Journalisten, der hören wollte, ob ich Näheres über das Erdbeben von Sibolga und dem Tsunami, der die Küste von Atjeh zerstört habe, wüsste. Ich erfuhr von ihm, was für eine Katastrophe sich ereignet hatte. Jäh brach die alte Angst vor urplötzlichem Untergang wieder auf. Kummer, Mitleiden, Klage und Trauer überfielen mich mit der Wucht nie bewältigter Schrecken, auch meinen Bruder und meinen Mann. Uns verbindet die gleiche Kindheit.

Kassian heißt das indonesische Wort für das tiefe Mitgefühl, mit dem wir Menschen Schmerz und Schrecken teilen. Wir trauerten um alle, denen keine rettende Hand mehr hatte helfen können. Meine Familie war davongekommen, immer wieder. Diese Indonesier nicht. Warum, warum nur? Sakit Trauma, Traumakrankheit, heißt das lähmende Entsetzen, dass die Bevölkerung mit Schockstarre und Hoffnungslosigkeit nach der katastrophalen Vernichtung zu ersticken drohte, die Zurückgebliebenen, die Kinder, die in den Trümmern ihrer Häuser nach Spuren ihrer Vermissten suchten, ihre Habe verloren und sich in den Resten ihrer Halbinsel einzurichten hatten.

Erschüttert erlebten wir die nie endende Zusammengehörigkeit mit dem Land unserer Geburt. – Über die Grenzen von Zeit und Raum hin weg bleiben wir in das Schicksal Sumatras eingebunden. –

Ostern 2005 zerstörte ein Erdbeben weite Teile der Insel Nias. Neues Leid, neues Elend in einer Weltgegend, die man Paradies nennt.

Als wir heranwuchsen, wollte mein Vater nicht, dass wir Geschwister in seiner Gegenwart das unter Schülern beliebte Spiel, “Schiffe versenken“ spielten. Er trauerte um seine “Brüder“, die Missionare und auch um die Künstler und Wissenschaftler, die er in der Gefangenschaft kennen gelernt hatte, die mit der Van Imhoff untergegangen waren. Menschen, die er sehr schätzte.

Untergegangen war Walter Spies, der Maler, der Bali dafür bekannt gemacht hat, wofür die Welt es liebt: seine wunderschönen Menschen, seine Tänze, seine Musik, seine Kultur in der Einheit von Natur, Religion und Kunst, seine Gastfreundlichkeit. Untergegangen war auch der Sprach- und Insektenforscher Hans Overbeck und der alte Missionar bei dem mein Vater die bataksche Sprache gelernt hatte, sein Mentor und Freund, Emil Möller.

Als mein Vater im Winter 1946 nach Deutschland kam, hörte er, dass sich seine Kusine Margot aus Masuren mit ihren vier Kindern, im Winter zuvor, auf der Flucht vergeblich über das Eis der Ostsee auf das letzte Schiff, die Wilhelm Gustloff, hatte retten wollen, um der russischen Front zu entgehen. Zusammen mit fast tausend Flüchtlingen fand sie den Tod, als das Schiff torpediert wurde.

“Schiffe versenken“, sagte mein Vater, damit spielt man nicht. Nicht in unserer Familie.


Das Christenkind und der Gottkaiser
Tennoverehrung

Nippon, das Land der aufgehenden Sonne, hatte seine Söhne ausgesandt, damit sie ihr Inselreich im Kampf um viele Länder ruhmreich erweiterten.

Als ich ein Kind war, umfasste Japan ganz Südostasien und stand auf dem Gipfel seiner Macht. Einmal im Jahr riefen die Sonnensöhne, die Soldaten des gottgleichen Tenno, an seinem Geburtstag die internierten Deutschen zu seiner Verehrung zusammen.

Wir Kinder bekamen kleine Nipponfahnen mit dem roten Ball auf weißem Grund in die Hand und wedelten eifrig mit ihnen. Es war eine feierliche Versammlung, mit Reden der Offiziere, die man leicht an ihren Uniformen erkennen konnte, Militärmusik und Parade. Die Frauen hatten ihre Kinder an die Hand genommen und mussten sich in langen Doppelreihen aufstellen – mit dem Gesicht nach Osten, zum Sonnenaufgang. Die Soldaten standen an der Seite oder gingen die Reihen auf und ab, um die  Ordnung und Würde der Feier zu gewährleisten. Dort, wo die Sonne jeden Morgen aufging, wohnte der Kaiser in einem großen Palast. Er war erhaben, von anderen Menschen ehrfurchtsvoll zu unterscheiden: Er war Tenno, der Gott der mächtigen Söhne der Sonne. Ihm galt unser aller Ehrerbietung.

An einer Stelle der großen Zeremonie gab es eine Stille. Alle, ausnahmslos, mussten sich in würdigster Haltung – nach Osten gewandt – tief, sehr tief, vor diesem Gott verneigen.

Meine Mutter ließ genau in diesem Augenblick unsere Hände los, bohrte schmerzhaft ihre Zeigefinger mir und meinem Bruder in den Rücken und zischte uns leise an:

“Ein Christenkind verbeugt sich nicht vor dem Gottkaiser“

Es blieb uns nichts anderes übrig, als sofort kerzengerade stehen zu bleiben, obwohl Kinder lieber tun, was alle tun.

Sie selbst stand hochaufgerichtet, das blonde Haar in der Sonne leuchtend, als einzige unter all den gekrümmten Rücken, wie wir ängstlich feststellten. Unverzüglich kamen zwei Soldaten, wiesen auf ihre erhobenen Stöcke und wollten sie auf meine Mutter niedergehen lassen, aber die blieb, wie sie war, ungebeugt.

Langsam ließen sie ihre Stöcke sinken, denn die Menge war gerade dabei, sich wieder aufzurichten. Noch lange fürchtete meine Mutter zu Recht ein böses Nachspiel. Es geschah ihr nichts Böses.

Ich war nun etwas älter geworden und durfte vorsichtig mit meiner japanischen Puppe aus Porzellan spielen. Sie war ein Wunder an Zerbrechlichkeit und Schönheit mit schwarzem Haar und einem Kimono aus kaiserroter Seide. Dann fiel sie mir hin und zerbrach in tausend Scherben.

Selten – sagte meine Mutter – hätte ich so anhaltend geschluchzt, wie bei dem Verlust dieser Puppe. Ein Märchen war wahr geworden, als die Puppe zu mir kam. Ein japanischer Matrose hatte lachend aus dem Bullauge seines Marineschiffes geschaut, das im Hafen von Padang lag, als wir, unter strenger Bewachung, dort entlang zu den Militärlastwagen gingen, die uns nach Brastagi bringen sollten. Er hielt diese Puppe in der Hand, winkte und schenkte sie mir.


Als die kolonialen Strukturen bröckelten

Ich begann aufmerksamer zu beobachten, was sich um mich herum ereignete. Elend gab es und Krankheit. Auf den Straßen von Brastagi bewegten sich verstümmelte Leprakranke auf Matten liegend wie Würmer fort, klapperten mit einer leeren Kokosnussschale, um Nahrung bettelnd. Meine Mutter erklärte, dass sie früher in dem Dorf Huta Salem zusammen lebten. Nun sei Krieg. Niemand versorge ihre Wunden, niemand gebe ihnen Nahrung und Kleidung.

Schrecklich sahen die verschwitzten Amokläufer aus, wenn sie mit langen Bambusstangen bewaffnet plötzlich durch den Ort rannten. Alle Menschen stoben bei ihrem Auftauchen schreiend auseinander, um sich zu verstecken. Behindert waren viele, Kinder und Erwachsene, denn unter der Bergbevölkerung der Karobatak war Inzucht weit verbreitet.

Als meine Mutter krank wurde, wurden wir bei einer befreundeten Missionarsfrau und ihren Kindern untergebracht. Die Frauen halfen sich untereinander. Trotz zahlloser Unstimmigkeiten, Gehässigkeiten und Feindseligkeiten bildete ihr Zusammenhalt eine verlässliche Basis. Die soziale Kontrolle der Missionsleute untereinander war außer einem Gefühl für Verantwortung auch geprägt von Zuneigung. Die individuellen Annehmlichkeiten wurden den allgemeinen Interessen der Gruppe unterordnet. Missionsleute fühlen sich auf Lebenszeit miteinander verbunden und spirituell miteinander verwandt.

Ich war im Silindung-Tal unter einer christlichen Bevölkerung zur Welt gekommen und als einziges weißes Kind unter vielen Batakkindern getauft worden. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass die christlichre Religion in der Zeit in Brastagi eine Rolle in meinem Leben gespielt hätte. Obwohl unsere Mutter uns manchmal aus ihrem “Gottbüchlein“ eine biblische Geschichte vorlas: Die von Josef, der von seinen Brüdern verkauft wurde.

Größeren Einfluss hatte unsere Kinderfrau aus Java. Sie brachte uns mit den hinduistischen Elementen ihrer Tradition die Ehrfurcht vor allem Lebendigen und seiner Beseeltheit bei.

Die Köchin war moslemisch in jener toleranten Form, für die Indonesien bekannt war. Auch waren damals die Moscheen in den Dörfern nicht so dominant wie heute. Im Schlachthof wurden die Tiere geschächtet. Kein Blut sollte das Erdreich tränken.

Unsere Angestellten waren meistens Karobatak, damals noch Animisten. Also lebte ich selbstverständlich in dem Glauben an  gute und böse Geister, teilte die magischen Vorstellungen meiner Umgebung und deren Abwehrpraktiken. Nie dufte ich zum Beispiel ein Messer mit der Schneide auf mich richten, wie man das in Europa tut. Die Geister sollten  mit dieser Geste nicht eingeladen werden, mir den Lebensfaden abzuschneiden.

Im Kampong lehrte man uns, die Metallstäbe der Angklung oder Gondang, eine Art Xylophon Ensemble, anzuschlagen. Manchmal zeigte man uns auch wie man dazu tanzt, in seitlich verschobener Haltung, wie die Schattenfiguren des Wajang. Die Sprache der beweglichen Hände ist traditionell festgelegt. Es sind uralte Muster aus den Veden.


Merdek heißt Freiheit
Die Anfänge der Freiheitsbewegung

Mittlerweile zogen kleinere Truppen halbnackter, indonesischer Soldaten durch den Ort. Nicht immer besaßen sie Gewehre. Oft hatten sie nur ein Buschmesser, einen Parang, im Gürtel. Wir Kinder standen am Straßenrand und riefen: Merdeka. Merdeka! Freiheit, Freiheit! Dazu sangen wir die neue Hymne: Indonesia raja, merdeka, merdeka!

Freiheit, Freiheit für Indonesien. Wir pfiffen sie durch die Zähne wie unsere indonesischen Angestellten. Ihre unbändige Freude übertrug sich unvergesslich auf uns Kinder.

Das stürmische Aufwachen der völkerreichen Nation auf den zahllosen Inseln, das Abschütteln der alten Kolonialmacht, diese Kraft zur Unabhängigkeit erlebte ich als sechsjähriges Kind. Was verstand ich schon? Immerhin soviel, dass Freiheit das allergrößte Glück für uns Menschen ist. Die Japaner schritten anscheinend nicht ein. Sie hatten mit ihrer Anwesenheit die Geburt des neuen Staates ermöglicht oder wegen ihrer Erschöpfung durch ihre zahlreichen Kriegsschauplätze nicht verhindern können.

Am 19. September 1944 versprach der japanische Premierminister Koiso die Unabhängigkeit Indonesiens.

Nur einige alte Menschen erinnern sich noch an die Qualen, die das japanische Heer über Indonesien brachte. Die jüngere indonesische Generation begegnet Japanern vorurteilslos. Sie alle sind unabhängige Asiaten, nicht künstlich von europäischen Nationen in deren Herrschaftsformen gepresst.


Wenn Kinder sterben
So viele Tode

Ich verlor meinen ersten Zahn. Etwas für immer zu verlieren, war eine neue schmerzliche Erfahrung. Ich begegnete dem Tod.

Die Diphterie riss ein Kind nach dem anderen in den Tod.

Als der Sohn des moslemischen Gärtners starb, stand hinter seinem Kopf eine Kerze. Ein grünes Seidentuch bedeckte ihn. Auf seine Brust hatte man eine offene Schere gelegt, die die bösen Geister zerschneiden sollte.

Starb jemand bei den Chinesen, dann jammerten sie laut, verschmierten ihre Gesichter mit Lehm und trugen ihre Toten in Säcke gehüllt, mit gelben Blumen geschmückt an unserem Haus vorbei.

Hans Kreck der eigentlich mit mir zur  Schule gehen sollte, starb.

Margretje Avé Lallemant starb im Nachbarhaus, fünfjährig. Ihre Mutter pflegte sie hingebungsvoll und las ihrem Kind seine so geliebte Geschichte von der „Prinzessin auf der Erbse“ von Hans Christian Andersen vor, aus dem Buch, das meine Mutter hinter der Holzverkleidung gefunden hatte. Etje wusste, wie wir alle, dass Tote verbrannt werden. Sie wollte in der Erde begraben sein und nicht, bestimmt nicht, verbrannt werden. Gleichaltrige, jüdische Kinder  wurden zur gleichen Zeit in Deutschland in den Krematorien der KZ´s verbrannt. Meine Mutter erzählte immer wieder, wie angstvoll sie Frau Avé gebeten habe, Eetje nicht zu verbrennen, als sie gestorben war. Doch sie wollte die Asche ihrer Tochter nach Europa mitnehmen, weil der Krieg irgendwann ein Ende haben würde.

Unser Wohnzimmer in der „Merel“, 1980

Etjes Brüder, ihre große Schwester und wir Kinder von der Merel, die wir mit ihr gespielt und sie so liebgehabt hatten, standen später vor der kleinen, silbernen Truhe mit ihrer Asche auf der Kommode in Avés Wohnzimmer und sprachen mit ihr. In dem Land, in dem ich ein Kind war, sind die Toten um uns. Sie verlassen uns nicht. Sie sind nicht fort, wie sie in Europa fort zu sein scheinen, wenn sie gestorben sind.

Vor Avés Haus war ihr Grab, in dem ein Teil ihrer Asche ruhte. Es war ganz und gar mit Margariten bepflanzt. Hör, sagte Hans, hör, die weißen Blumen flüstern ihren Namen: Margretje.

1980 stand ich vor diesem Haus und suchte nach Spuren ihres Grabes und fand einige wenige – beinahe zufällige Margariten an jener Stelle. Heimweh hatte mich zurück ins Land meiner Geburt geführt, auch zu diesem Haus, zu diesem Grab, in die Welt, die ich mir nachträglich zu erklären versuche.


Chamäleon und Atlasschmetterlinge
Schulanfang 1945

An meinem ersten Schultag bekam ich zu meiner Überraschung eine Zuckertüte, in der ich rote Bonbons vom chinesischen Bäcker entdeckte. Süßigkeiten bekamen wir sonst nie. Jedes deutsche Kind bekäme so eine Tüte, hörte ich. Deutsches Kind sein, war sonst eine wenig willkommene Begründung für solche miesen Dinge, wie Schuhe anziehen, Haarschleifen tragen ohne sie zu verlieren, auf einem Stuhl, anstatt auf dem Boden zu sitzen, nicht mit den Händen zu essen, nicht mit offenem Mund zu kauen wie ein Indonesier, auch nicht so zu sprechen wie er, nicht frei sein, sondern interniert sein müssen, weil man einen Krieg angefangen hatte, weit weg in Deutschland und hoffen sollte , eines Tages dorthin zu kommen.

Ich ging in die erste Klasse zu Missionsschwester Lenchen Siegler, wie Bertold Klappert, mein zukünftiger Mann. Das ahnte damals selbstverständlich niemand. Wir auch nicht. Es war nicht vorherzusehen. Meine und seine Freundschaften waren nicht dieselben.

Es war Ostern 1945. Es war Sommer. Wir suchten Ostereier, weil man das in Deutschland so macht.

Die japanischen Soldaten lehrten uns Kinderlieder,
die Indonesier Stabhochsprung an langen Bambusstangen.

Spielzeug brauchten wir ebenso wenig wie die indonesischen Kinder.

Meine Mutter beklagte sich, dass wir uns nie mit den schönen, gebastelten Tieren beschäftigten, die hatte sie unter Anleitung von Frau Avé aus buntem Karton (Wer weiß, wo sie den aufgetrieben hatte?) gebastelt. Wir sollten auf deutsche Bauernhöfe vorbereitet werden.

Hans und ich ließen lieber Chamäleons über bunte Nesseln laufen, um ihr wechselndes Farbenspiel zu beobachten. Wir versuchten die Schuppen auf dem Flügel des Atlasschmetterlings, der so groß ist wie eine Männerhand, zu zählen. Hans konnte schon mit vier Jahren lesen und schreiben und überraschte mich oft mit  Briefchen in selbst gefertigten Knallbonbons, als er fünf Jahre alt war. Das Leben war schön, zum Träumen schön.

Im März 1945 wurde die Gründung des Vorbereitungskomitees für  die Unabhängigkeit Indonesiens von der japanischen Militärregierung gebilligt.

Am 20. April wurde im Internierungslager auf Java von den deutschen Gefangenen die Zwastika gehisst – zum Führergeburtstag.

Am 8. Mai ging mit der Kapitulation Deutschlands der zweite Weltkrieg in Europa zuende.

Ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas davon gehört zu haben.

Auf Java wurde von Mai bis Juni mit sechzig Gruppen aus allen Bevölkerungsschichten beraten, wie Indonesiens Freiheit, Merdeka, aussehen sollte.

Die Verfassung, die Pancasila, sollte auf fünf Säulen der Staatstugenden begründet werden:

  • Nationalismus,
  • umfassende Humanität,
  • Demokratie,
  • soziale Gerechtigkeit und
  • der Glaube an den einen Allmächtigen Gott .

So hatte es Sukarno, der spätere Staatspräsident, formuliert.

Die Pancasila wurde das Fundament des Inselreiches in den Grenzen der ehemaligen, holländischen Kolonie: des indonesischen Einheitsstaates.

Indonesien, ein Wort das Indien und Nexos, griechisch: Insel, verbindet.


Traurige Botschaften
Das Ende des Pazifischen Krieges am 15. August 1945

Am 6. August 1945 ließen die Amerikaner  die Atombombe auf Hiroshima, am 9. August auf Nagasaki fallen.

Am 14. August kehrten Sukarno und Hatta von Saigon nach Batavia, dem heutigen Jakarta, zurück. In Saigon hatten sie mit japanischen Militärs über die Unabhängigkeit Indonesiens verhandelt.

Am 15. August kapitulierte Japan.

Am 17. August wurde die Unabhängigkeitserklärung vor Sukarnos Haus von Hatta vorgelesen. Am nächsten Tag, dem 18. August 1945, wurde Sukarno zum Präsidenten, Hatta zum Vizepräsidenten der Republik Indonesien ausgerufen.

In Brastagi kam es zu Schießereien zwischen allen Parteien.

Ich musste aufpassen, auf dem Schulweg nicht hinein zu geraten und hatte Angst. Alle hatten Angst. Es war eine wirre Zeit. Noch waren die Japaner im Lande.

Einige Holländer hatten sich aus den Lagern befreit. Die ersten Kämpfe begannen. Die britische Armee unter dem späteren Vizekönig von Indien, Sir Louis Mountbatten, mischte sich ein. Holland wollte seine überseeische Macht zurück erobern. Zwischen 1946 und 1949 setzte es zwei Kolonialkriege, sogenannte Polizeiaktionen, in Gang.

Diese chaotische Zeit mit ihren unklaren Fronten und kulturellen Verwerfungen ist literarisch erst in jüngster Zeit, interessanterweise in einem Comic: “Rampokan“ von Peter van Dongen dargestellt worden.

Erst am 27.Dezember 1949 würden die Niederlande die Souveränität Indonesiens anerkennen.

Bis dahin war es noch weit.

Die indonesische Guerilla versteckte sich im Urwald.

Mit meiner Kinderfrau brachte ich Speisen an den Waldrand für die tapferen Kämpfer. Als ihr Sohn gefallen war, brachten wir Speisen auf sein Grab, um die ihn begleitenden Geister auf seiner Reise ins Jenseits, gnädig zu stimmen. Nach meiner Kinderfrau, meiner “Babu“, sehne ich mich manchmal heute noch.

Es gab mittlerweile immer weniger Japaner in Brastagi.

Geschützt fühlten sich die deutschen Frauen nicht mehr. Sie fürchteten unvorhersehbare Gefahren. Interniert blieben wir weiterhin.

In dieser Zeit bekamen wir Post vom Roten Kreuz – zum erstenmal nach vier Jahren.

Vom Spiel erhitzt hereinstürmend, traf ich im Wohnzimmer meine weinende Mutter, die große, starke Frau laut schluchzend rief sie: “Meine Mutter, meine Mutter ist tot. Ein Jahr schon – und ich habe es nicht gewusst.“

Mein Bruder versuchte sie zu trösten. Mein Bruder konnte trösten, so klein er war.

Einmal kamen vielfach gestempelte Postkarten mit schwarzen Balken.

Meine Mutter stand am Fenster, hielt eine Postkarte gegen das Licht, senkte den Arm, wendete die Karte hin und her. Immer wieder tat sie das, als wolle sie, könne aber nicht, was da geschrieben stand, lesen.

Frau Graumann, die bei uns wohnte, stand auch am Fenster, hielt auch eine Postkarte gegen das Licht, nahm sie herunter – kopfschüttend.

Das internationale Rote Kreuz vergab solche Karten an Kriegsgefangene. Der Poststempel stammte vom Mai 1945 aus dem Internierungslager Dehra Dun, im Himalaya, in Britisch Indien. Für die Frauen war das erste Lebenszeichen ihrer Männer, eine unleserliche Botschaft. Unter den schwarzen Balken konnten sie die wichtigsten Wörter nicht entziffern. Die Zensur des britischen Militärs arbeitete gründlich. Soviel stand fest: Ihre Männer waren von Niederländisch nach Britisch Indien gebracht worden.

Irgendwann schafften einige Frauen, die Postkarten zu entschlüsseln.

Eins der Schiffe des Gefangenentransportes war untergegangen. Das hatten sie schon von Bruder Seitz erfahren.

Wer hatte überlebt? Die entscheidende Frage blieb.

Alle schienen eine Karte, ein Lebenszeichen, erhalten zu haben.

Nur Tante Käte Möller nicht, die alte Frau, die bei uns wohnte. Ich fragte sie, warum sie keine Karte bekommen habe. Da zog mich die strenge Frau stumm an sich und ließ mich den Faden für ihre Näharbeit einfädeln, weil sie ganz plötzlich nicht mehr gut sehen konnte. Von ganz nah durfte ich erleben, wie der Hohlsaum unter ihren geschickten Händen entstand: Fadenbündel und Lücke, immer wieder, eine lange Reihe, wie die Lagerzäune, hinter denen ich aufwuchs.

Zwei Jahre später, 1947 in Deutschland, bestätigte uns mein Vater, was wir erraten hatten – unter dem schweren, schwarzen Balken auf seiner Postkarte stand: Erwin Möller auf Van Imhoff. So hieß das gesunkene Schiff mit den 473 Gefangenen an Bord, das preisgegeben, bombardiert wurde. Erwin Möller war der Mann der alten Frau, der meinen Vater, als sie auf dem Weg zu den Schiffen nach Britisch Indien waren – unerlaubt und unbemerkt – auf die Gangway des anderen Schiffes geschoben hatte. Er war an seiner Statt zurückgeblieben und später auf die Van Imhoff gegangen. Meinem Vater sagte er leise:“ Dieses Schiff wird nicht ankommen. Du hast kleine Kinder.“

Das Kind, das ich war, hat von dieser Tragödie etwas ahnen, aber nichts wissen können.


Namenloses Todesgrauen
Der Beginn des Atomzeitalters

Inzwischen zogen die Japaner gänzlich ab. Die ersten erschütternden Nachrichten von dem grellen Blitz, der ihm folgenden alles verdunkelnden Wolke, dem ascheschwarzen Nichts und der absoluten Auslöschung alles Lebenden durch die Atombomben sickerten durch.

Das namenlose, angstvolle Todesgrauen, das die vagen Mitteilungen begleitete, habe ich nie aus meinem Lebensgefühl, nie aus dem Gedächtnis  verloren.

Die Atombomben bedeuteten nicht nur das Ende des Pazifischen Krieges.

Sie waren der Anfang einer neuen Zeit, in der die totale Vernichtung der Welt möglich geworden war. Als ich in Deutschland heranwuchs, war es mir unmöglich, deutlich zu machen, dass ich den Atomkrieg als unmittelbare Realität fürchtete. Der Anfang des Atomzeitalters mit der immanenten Gefahr eines Weltkrieges überschattete die Diskussionen zu Hause, als der Koreakrieg ausbrach.

Der pazifische Krieg, sein geographisches Ausmaß und seine sozio-kulturellen Folgen mit dem Ende der kolonialen Herrschaft und dem Beginn des “Lebens mit der Bombe“, als neuer Qualität, schien kaum ins Bewusstsein der westlichen Völker vorzudringen.

Für sie schien es, als habe der Zweite Weltkrieg nur als europäischer Krieg, mit Schauplätzen in Afrika und im Nahen Osten, mit seinem verheerenden Völkermord und der Hölle von Auschwitz stattgefunden. Zwei Jahre später, im Juli 1947, betraten wir im KZ Neuengamme bei Hamburg zum ersten Mal deutschen Boden, als auslandsdeutsche Kriegsgefangene, ehe wir von der britischen Militärregierung in die Freiheit entlassen wurden. Wir erlebten, was in Deutschland so lange verschwiegen und geleugnet wurde, die zweite Geschichte des KZ Neungamme, als die Spuren und Wunden seiner ersten Geschichte noch offen waren.

Als die Parlamentsdebatte unter Leitung von Bundeskanzlers Adenauers zur atomaren Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland Ende der Fünfziger Jahre in meinem Gymnasium durch Lautsprecher in allen Klassenzimmern übertragen wurde, bekam ich Angst. Ich wollte nicht zuhören und begann aus Protest einen Brief zu schreiben, um mich abzuschotten. Wenn von diesem nie begriffenen Entsetzen der totalen Vernichtung gesprochen wurde, wollte ich fliehen. Ich konnte und wollte nicht hören, dass Atomwaffen als eine Art verlängerter Arm der Artillerie, als ihre bloße Weiterentwicklung missverstanden wurden. Ich weigerte mich, auch nach mehrmaliger Aufforderung meiner Lehrerin, der Debatte zu folgen. Den Grund für meinen Ungehorsam konnte ich damals nicht in Worte fassen. Die Lehrerin war so erstaunt, dass sie auf eine Strafe verzichtete, als ahnte sie, dass diese Schülerin, die ihr oft  fremd war und “die aus einem Lager im Fernen Osten gekommen war“, den Grund für ihr seltsames Verhalten nicht absichtlich verschwieg.

Dem Entsetzen eine Form zu geben, versuchten in dieser Zeit unsere Dichter. Es gab die ersten Physikerdramen auf den Bühnen von Friederich Dürrenmatt, Carl Zuckmayer und Heinar Kipphardt.

Der Philosoph Karl Jaspers erhob seine warnende Stimme. Carl Friedrich von Weizsäcker, Physiker und Philosoph, erklärte mit den Göttinger Achtzehn den Widerstand gegen die Atomwaffen, die er zum Teil selbst entwickelt hatte.

Die Lyriker, Marie Luise Kaschnitz und Günter Eich klagten und protestierten, leise, doch unüberhörbar. Gudrun Ensslin, spätere Führungsfigur unter den Achtundsechzigern, eine Terroristin in unserem bleibenden Bewusstsein, gab 1964 eine Anthologie: “Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe“ heraus, in der jüdisch-deutsche Schriftsteller, Holocaust und Hiroshima verbanden. Nelly Sachs stellte darin ihren Zyklus:“ In den Wohnungen des Todes“ zur Verfügung.

Was wusste ich von Flucht und Vertreibung, was von Bombenhagel und Bunkernächten der Menschen in Deutschland? Nichts. Nichts, aus eigenem Erleben.

Uns Kindern wurde mahnend als Versäumnis vorgehalten, all diese Schrecknisse nicht mitgemacht zu haben. Wir wurden verpflichtet, für unsere behütete Kindheit hinter dem Stacheldraht dankbar zu sein.

Als junge Frau begegnete ich in Bonn einer nur wenige Jahre älteren Japanerin, die einen Deutschen geheiratet hatte. Beide hielten wir unsere Babys auf dem Schoß und tauschten uns über die prägende Erfahrung mit der Bombe auf Hiroshima, ihrer Heimatstadt, aus. Sie schenkte mir zur Erinnerung ein rotes japanisches Schriftzeichen, auf goldene Kiotoseide gestickt, mit der Bedeutung: “Mit dem Herzen kämpfen“. Wir wollten beide in dem Willen verbunden sein, in unserer Generation und für unsere Kinder eine Welt zu bauen, in der es weder ein Hiroshima noch Auschwitz geben würde, wohl aber eine Kultur gegenseitiger Akzeptanz.

Einige Jahre später saß ich mit einer anderen japanischen, jungen Frau in Göttingen vor dem bekanntesten, deutschen Gynäkologen, der ihr mit seiner Kunst nach vielen Fehlgeburten zu einem Kind verhelfen sollte. War sie nuklear geschädigt? Sie hatte sich als kleines Kind mit ihrer Familie in den Wäldern bei Nagasaki versteckt und allen Grund zu fürchten, ebenso genetisch geschädigt zu sein wie ihre unfruchtbare, ältere Schwester. Mit der Hilfe des Arztes bekam sie einen gesunden Sohn.

2006, als alte Leute, standen mein Mann Bertold und ich im Atommuseum in Nagasaki. Rückwirkend begriffen wir das düstere Schattenspiel von Erschütterung und Trauer in unserem Leben. Hier war der Zweite Weltkrieg auf der östlichen Seite der Erdkugel, wie wir ihn erlebt hatten, in zahlreichen Dokumenten und anhand der Nachbildung der beiden Atombomben und erschütternden Bildern der Zerstörung nach zu vollziehen. An den übereinander liegenden Zahlenstrahlen lasen wir die Etappen des Pazifischen Krieges ab: seine globale Vernetzung, seine, die Welt verändernde Bedeutung, im Hinblick auf das Ende der Kolonialmächte und die aufkommende Dominanz des Ostens.

Die grauenvolle Möglichkeit zur Auslöschung allen Lebens lag vor uns in den verdunkelten Sälen und ihren schwarz umflorten Fluren ausgebreitet.

Terrazonos, unsere japanischen Freunde, die wir als Endzwanziger kennen gelernt hatten, führten uns durch das Zentrum der ehemals ausgelöschten Stadt, die heute wieder zu großer Blüte erstanden ist. Sie führten uns in den Park des Gedenkens. Wir verharrten gemeinsam vor den Friedensvögeln, Kranichen aus Origami. Schulklassen liefen durch die Allee mit den Standbildern der Nationen, die diesen Gedenkgarten unterstützt hatten, darunter die ehemalige DDR. Die Bundesrepublik Deutschland fehlte.

Eine hohe, aufrechte Buddhastatue streckt segnend ihren Arm über das Gräberfeld und die neu erbauten Häuser ringsum. Unsere Freunde zeigten uns einen langen Fries, mit dem diese Stadt der christlichen Märtyrer aus dem sechzehnten Jahrhundert gedenkt. Sie waren nach einem mühseligen Pilgerweg durch Ertränken in heißen Quellen qualvoll umgekommen.

Für Japaner ist nicht einsichtig, dass Christen an genau auf diese Stelle, wo bis heute “verborgene Christen“ leben, die über Jahrhunderte durch alle Verfolgungen an ihrem Glauben festhielten, Atombomben fallen ließen. Wer nimmt in der westlichen, in der christlichen Welt, Kenntnis von diesen Zusammenhängen? Vom vergangenen Martyrium ja. Wer wagt es, sich der westlichen, der christlichen Verantwortung für das Versagen Amerikas an diesem symbolischen Ort infrage stellen lassen?

Zwei Jahre später stehen wir mit Takedas, anderen japanischen Freunden vor einem Bronzemahnmal an der Außenwand der Suitbertus-Basilika in Kaiserswerth bei Düsseldorf. Im brennenden Sonnenlicht erkennen wir die bildliche Darstellung von Passionsgeschichten in vergangener und heutiger Zeit. Zeugen des Glaubens und Symbole ihrer Verfolgung und Martyriums werden ohne Rücksicht auf ihre zeitliche Distanz auf kleinem Raum versammelt, um in aller Dichte zu zeigen, dass das Martyrium allgegenwärtig ist. Neben dem Christuskopf rechts in der oberen Reihe sieht man Franz Xaver (1552), den Indien- und Japanmissionar, auf seiner linken Seite den Chinamissionar Matteo Ricci.

Anstelle einer Pieta zeigt das Bild Friedrich Spee in der Rolle der trauernden Mutter, der eine sterbende Frau mit den Wundmalen Christi im Schoß hält – eine Frau, als Hexe zu Tode gefoltert. Hinter seiner linken Schulter erkennt der Betrachter: Scheiterhaufen für die Hexenverbrennung in Europa. Man sieht fünf der insgesamt sechsundzwanzig Märtyrerkreuze von Nagasaki von 1597, dem Ende der Japanmission. Die Krematorien der Konzentrationslager, Hakenkreuz und Judenstern, stehen für Ungeist und Massenpsychose, sagt der Künstler Bert Gerresheim, der diese Stele als spirituelles Mahnmal gestaltete.

Ost und West sind unausweichlich auf einander bezogen. An einander vorbeischauen, kann auf diesem Planeten lebensgefährlich werden. Das gilt in grauenhafter Aktualität für dieses Jahr 2011. Die Natur zerschlug mit einem Erdbeben die Stadt Fukushima so, dass ein Tsunami vom Meer aus, sie mit mörderischen Wellen zermalmte und mit ihr mehrere Atomkraftwerke zerstörte, deren Strahlung seither nicht unter angemessene Kontrolle zu bringen ist.


Das unerhörte Grüngrüngrün
Das Chaos der Guerilla

Japan kapitulierte am 15. August 1945.

Als das japanische Militär einige Monate später abgezogen war, verließen wir die Villa de Merel. Am Gundaling, einem lang gezogenen Berghang, lag das neue Zuhause, die Villa Günzel – Schuhmacher, von der aus der Blick über die fruchtbaren Gemüsefelder und die Mandarinenhaine auf den Vulkan Sinabung mit seiner schön geschwungenen Berglinie hängen blieb. Damals ahnte niemand, dass der Vulkan 2010 eine 1000 hohe Feuersäule speien würde, deren Staub alles Leben ringsum erstickte. Einige Jahre später spuckte er noch einmal. An dieser Stelle versuchen Christen und Moslem in ihrer Not und Bedrohung zusammen zu halten.

Günzel – Schumacher stand auf besonders hohen Pfählen, unter denen wir herrlich spielen konnten, als die Regenzeit kam. Gewürzbäume verströmten ihr Aroma im Park: Zimtbäume, von deren glatter Rinde wir zum Gebrauch etwas abschälten, Nelkenbäume, Sagopalmen, deren vielschichtige, haarige Rinde man mit einem Messer öffnete, um hinter der so entstandenen “Tür“ Sagokörner herauszukratzen konnte. Anschließend musste man die Klappe behutsam verschließen. Chilibüsche gab es in vielen Varianten, Dattelpalmen mit langen Rispen und hohe Kokospalmen.

Wir vermissten Avés Kinder, unsere liebsten Spielkameraden, Frau Avé Lallemant, die wir von allen Frauen am innigsten liebten.

Unsere neue Köchin nahm uns mit in ihren Kampong. Ihre Kinder brachten uns  zur Wasserleitung, wo wir das Wasser aus dem halbierten Bambusrohr über ein Blatt gleich in den Mund rinnen ließen. Wir tummelten uns am Bachlauf. Dort spülten die Frauen ihre zerbeulten Aluminiumtöpfe mit Sand und Asche aus. Ihre Sarongs schlugen sie mit weitausholender Bewegung auf die Steine. Wir fingen die Schaumblasen mit den Händen auf.

Aus nächster Nähe erlebten wir, was man in Europa indigene Kultur nennt, ihre elementare Vitalität, Intensität, Heiterkeit und gefährliche Unberechenbarkeit, wenn man den richtigen Ton im Umgang nicht traf.

Nicht weit davon gab es eine Ansammlung winziger Hütten. Sie standen nicht auf Pfählen, sondern direkt auf dem Lehmboden. Über eine Holzschwelle kam man in das fensterlose Innere. Auf der Schwelle hockten alte Frauen, Bethel kauend, in ihren karierten Sarongs und einem beeindruckenden Kopfputz. Fasziniert starrten wir auf die fast zahnlosen Münder, aus denen manchmal ein dünner Faden roter Bethelsaft rann. Geduldig zeigten sie uns die Bethelnuß, den Kalk und das Blatt, wohinein sie die Zutaten rollten, ehe sie es in die Backentasche steckten. Wenn sie lange genug darauf gekaut hatten, spuckten sie den  Saft in hohem Bogen aus. So sehr wir uns auch bemühten, es ihnen mit einem Schluck Wasser im Weitspucken gleich zu tun, wir schafften es nicht. Sie lachten uns aus, herzlich und nachhaltig. Die Männer rauchten Zigaretten aus getrockneten Grashalmen. Emsig bemühten wir uns in die sperrigen Dinger die wenigen Tabakfäden einzuwickeln, die man uns Kindern so selbstverständlich gab wie den indonesischen.

Die Zeit in Brastagi erscheint mir noch heute als Kindheitsparadies.


2000 kehrte ich dorthin zurück und beschrieb in einem Bericht, wie die Kindheitserinnerungen trotz aller Unschärfen in meinem Empfinden als Grundmelodie erhalten blieben.

Liebe Freunde, gern hätte ich euch auf die Wanderung, auf den Vulkan Sibayak hinauf mitgenommen.

Am Anfang des neuen Jahrtausends im September 2000, als ich in Indonesien, um genau zu sein, auf Sumatra, war. Eine Ansichtskarte hätte ich euch damals nicht schicken können. Auch heute nicht. Wo kein Tourismus, da auch keine Ansichtskarten.

Wenn ihr nach Brastagi kommt, könnt ihr seine mächtige Gestalt schon von weitem sehen, seine gelblichweiße Rauchfahne, seine äußeren Kraterschrunden in der gleichen Farbe. Man kann ihn sogar riechen. Sein leichter Schwefelgeruch hängt in der Luft.

Die Lava-Vulkane liegen weiter südlich, unter der Äquatorlinie, in der Höhe von Padang, an der Westküste, am Indischen Ozean.

Wir befinden uns auf der Karo-Hochebene von Nordsumatra, ein wenig über dem Äquator, an der Ostküste. Sibayak und Sinabung sind Schwefel-Vulkane. Der Sinabung erhebt sich in so vollkommener Gestalt, dass man glaubt mit seiner geschwungenen Silhouette, den Urtyp aller Berge vor sich zu haben. Knapp 3000 Meter hoch, bestimmt er die weite Landschaft ringsum – dieses unerhörte Grüngrüngrün unter dem sehr blauen Himmel, der nie ohne Wolken ist. Ohne Wolkentürme.

Ein riesengroßes Wolkenspektakel im grellen Sonnenlicht – am Tag. Ein vielfältiges Farbenspiel in der kurzen Dämmerung, bevor die schwarze Tropennacht einbricht mit ihren tausend Stimmen.

Die Wolken geben ein kurzes Gastspiel. Sie kommen vom Meer, ziehen zum Meer, ihr Weg dahin ist nicht weit. Indonesien ist zuerst einmal Wasser mit ein wenig Land dazwischen.

Man hört schon am Namen, wie er aus India und dem griechischen Wort Nessos für Insel, zusammengesetzt wurde. Als das geschah, war ich ein Kind.

Nordsumatra liegt zwischen der Straße von Malakka und dem Indischen Ozean, falls ihr es in dem Labyrinth von 15 000 Inseln einmal suchen solltet.

Der Sibayak ist wild zerklüftet. Holger, der Wasserbauingenieur fährt uns darum in seinem Van die Straße, eigentlich eine Sequenz von Schlaglöchern, an der Rückseite des Berges durch ein fruchtbares Tal mit guter Agrikultur, hinauf. Neulich sah ich im Gegensatz dazu, ziemlich erschüttert, die verwahrlosten, verschlammten Reisfelder am Tobasee.

Die weißen Dampffahnen im Tal zeigen heiße Quellen an, die der Dorfbevölkerung vorbehalten sind. Diese heiligen Orte sind Wohnsitze der Begus, der Geister, die die Einheimischen Tag und Nacht begleiten. Auch ihre Ahnen ruhen nicht, erscheinen in ihren Träumen und fällen die Entscheidungen für sie. Das bedeutet nicht, dass sie nicht fromme Moslems sind. Jedes Dorf hat eine Moschee, auch diese abgelegene.

Wir lassen die Anlagen der Erdgasbohrungen hinter uns. Am Schlagbaum muss gezahlt werden. Rechts und links dampfen einladend schön eingefasste Schwefelquellen, die wir nach dem Aufstieg genießen werden. Nach einer weiteren Rüttel-Schüttelfahrt parken wir in einer Kurve. Da gibt es doch einige Wegorakel oder Opfergaben, auf Bambusstäbchen gespießte Blüten und Zigarettenstummel (Ersatz für Räucherstäbchen?) zu entdecken.

Drei Männer mit ihren Hunden überholen uns. Sie werden Schwefelbrocken zum Verkauf oben am Krater suchen. Durch wilde Azaleen, orange blühend, durch Farne, soviel größer, grüner, üppiger, als in gemäßigten Breiten, durch dieses ungestüme Gewucher vielgestaltiger Gewächse, da hindurch versuchen wir die Steinstufen zu finden. Wegen der Regenzeit ist der Untergrund glitschig, die Stufen nicht weniger. Die Luft wird dünn. In der schwülen Wärme der Tropen erlahmen die Lungenflügel, ermatten die Gedankenflüge. Beklemmend.

Da, die letzte Steinstufe! Noch ein Schritt durch das Zuviel-Grüne.

Der Krater liegt vor uns. Von den steilen Felswänden zischt, dampft, tost der Schwefel aus zahllosen Löchern. Der Vulkan stinkt, kracht, knattert, knallt. Ein Höllenlärm, ein Höllengestank. Hier wächst nichts mehr. Das Ende der Vegetation.

Hier ist nur noch Tod. Kristalline Schönheit.

Wir gehen hinunter, am gelben, blubbernden Schwefelsee vorbei, klettern wir die Kraterwand hoch. Hinter uns das graue Nichts, die steinerne Macht großartiger Felszacken.

Vor uns – weit – so unendlich weit – die grünblaue Ebene.

Die glitzernde Straße von Brastagi mit seinem Häusergewimmel, dahinter der Highway nach Kabanjahe, die elegante Linie des Sinabung, am Horizont der Vulkan Sisipisu, steil abfallend in den Tobasee. Den sehen wir nicht, von dem wissen wir nur.

Rechts die Bergkette, eine feine, durchsichtige Wellenlinie am Horizont, von fast überirdischem Blau, das Gebirge von Aceh.

Dort tobte damals der Freiheitskampf, jahrzehntelang. Vier Jahre nach unserem Aufstieg, riss eine Riesenwelle, ein Tzunami, viele Tausend Menschen und fast ein Drittel des Gebietes mit sich in die unersättliche Tiefe des Ozeans. Dort, auf dem Meeresboden bäumen sich  manchmal unvermittelt neue Vulkane gegen die Wassermassen über ihnen auf, bis Seebeben mit ihren rasenden Wellen über Tausende von Kilometer an andern Ufern neues Unheil bringen.

Am gegenüberliegenden Ende des Kraters, uns zu Füssen, liegt die Hauptstadt Medan im Dunst. Inmitten von dunkelstem Grün, das Tropengrün von Gummi, Palmöl, Gummi, Palmöl usw. Das ist die Plantagenlandschaft von Deli. Hier lagen die reichen Sultanate, die die Araber gründeten und damit die hinduistische Ära ablösten. Hier lagen fast vier Jahrhunderte lang die Plantagen der Kolonie Niederländisch Indien. Die Plantagen nehmen kein Ende. Sie ziehen sich die Ostküste entlang. Nie wird dieses Grün unterbrochen. Nie wird eine Jahreszeit dieses Immergleiche unterbrechen. Gummi, die schnurgerade grüne Hölle, dort, wo einmal  der Dschungel  chaotisch mit Riesenbäumen in den Himmel wuchs. Dschungel, Plantagen, ewig fruchtbar, ewig lichtlos. Geschichtslos. Verdammte Tropen. Heute bleibt in Dunst gehüllt das grünliche Garnichts.

Wir gehen zurück zum Krater. Jugendliche übernachten hier manchmal in der Trockenzeit, ungeachtet der Dämpfe. Sie haben mit Steinen ihre Namen auf dem Sandboden ausgelegt.

Lebenszeichen am lebensfeindlichen Schlund des Kraters.

Ich entdecke Ameisen und Flechten.

Raubvögel kreisen am verdüsterten Himmel, als wir absteigen. Der Monsun ist zuverlässig.

Wir wissen also, dass in wenigen Stunden ein Gewitter auf ziehen wird. Zwischen den Felsen der Donner hallen wird. Ungeheure Massen von Tropenregen werden das Zischen der Schwefelgase übertönen.

Bald hat uns das Leben wieder! Wir wickeln uns – der Landessitte gemäß – in bunte Sarongs. Die heiße Quelle hinter blühenden Büschen, die unsere wandermüden Glieder erfrischt, scheint uns, das Paradies zu sein.

Freunde, hier war ich ein Kind. Hier war ich einmal zu Haus.

Dietlind


Im August 2010, zehn Jahre später schrieb ich wieder einen Brief.

Liebe Freunde, der Sinabung ruht nicht mehr in majestätischer Stille wie seit vierhundert Jahren. Knapp dreitausend Meter hoch, bestimmt er die weite Landschaft ringsum – ein unerhörtes Grüngrüngrün unter dem sehr blauen Himmel, der nie ohne Wolken ist.

Nach tagelangem Grollen, quollen am 28. August 2010 schwarze Wolkensäulen von mehr als tausend Metern über dem Sinabung auf. Ihre Asche legt sich auf die Felder. Die Menschen wurden mit Atemmasken versorgt. Als der Vulkan nicht aufhörte unter dröhnendem Grollen und Erschütterungen auszubrechen, wurden die Bewohner in abgelegenere Gebiete evakuiert.

Die indonesische Regierung hat aus dem entsetzlichen Geschehen des Tsunami von 2004, im einige Kilometer weiter nördlichgelegenen Atceh, gelernt.

Wochenlang blieben die Aschewolken des Sinabung und zerstörten die Ernte und brachten Krankheit und Unheil über Menschen und Tiere.

Inzwischen tun die Menschen, was sie in Vulkangegenden immer taten. Sie kehren zurück.

2000 gab ich im nahen Kabanjahe der Dorfbevölkerung einige Feldenkraislektionen, die ihnen helfen sollten, mit ihren Rückenschmerzen, besser fertig zu werden. Was geschieht, um ihnen bei den materiellen Sorgen beizustehen? Was geschieht mit denen, die unter Schock stehen?

Mein Kindheitsparadies wankt. Ich wende mich heute dem aktuellen Leben meines Geburtslandes zu, ohne den verklärten sondern mit dem klaren Blick eines Erwachsenen , der das Land seiner Geburt liebt, wie es ist, nicht wie er es sich wünscht.

Dietlind


Leben zwischen Bettlaken
Niederländisch-englische Internierung hinter Stacheldraht
Ende 1946 – 1947

Als 1946 die Polizeiaktion, der holländische Kolonialkrieg, ausbrach, kamen wir erneut hinter Stacheldraht, diesmal in der Hauptstadt Medan, unweit des Flughafens Polonia, der der Militärstützpunkt für die niederländische und englische Armee war. Es handelte sich um eine sogenannte Schutzinternierung, weil die deutschen Frauen sich und ihre Kinder in dem Guerillakrieg der Willkür der verschiedenen Kriegsparteien ausgeliefert glaubten. Die indonesischen Aufständischen lieferten sich mit den holländischen Soldaten Gefechte. Die Truppen der englischen Armee in Südostasien unterstützten sie dabei.

Bruder Seitz versicherte mir in den Siebziger Jahren, dass die Frauen vorschnell und unüberlegt ihre Freiheit nach dem Abzug der Japaner für die Sicherheit einer demütigenden und entbehrungsreichen Gefangenschaft freiwillig in unangebrachter Panik eingetauscht hätten. Er und Dr. Heinemann mit seiner Frau, blieben jahrelang unangefochten in Brastagi.

Medan war berüchtigt. Bei Europäern für sein mörderisches, feuchtheißes, malariaverseuchtes Klima gefürchtet. Eine große Stadt, mit kolonialer Prachtentfaltung, die sie dem Reichtum der Gummipflanzer der umliegenden Plantagen von Deli zu verdanken hatte. Eine Stadt mit internationaler Bevölkerung, Handelshäusern, die jeden europäischen Luxus anboten, Banken, breiten Alleen, Autos, Motorrädern und als Besonderheit: Rikschas, die von Kulis gezogen wurden.

Die vorgelagerte Hafenstadt Belawan liegt an der Straße von Malakka.

Unser neues Zuhause war das flache Lagergebäude eines Waisenhauses der Heilarmee für Kinder, aus Verbindungen indonesischer und europäischer Eltern, der damals gesellschaftlich am meisten verachteten Menschengruppe. Eine Hälfte des Karrees wurde unser Lager. Die dazugehörige Hälfte des Innenhofs durften wir benutzen. Die andere Seite, den Innenhof eingeschlossen, war streng tabu für die „bösen Deutschen“. Der Stacheldraht ringsum war elektrisch geladen. Am Eingang wurden niederländische und englische Soldaten postiert.

An diesem Stacheldraht blieb Bertold einmal hängen, als er ihm zu nahe gekommen war. Diesen quälenden Schock hat mein Mann nie vergessen – vieles andere sehr wohl.

Untergebracht waren wir in riesigen Sälen, auf Pritschen. Sie waren – wie so oft schon vorher – mit dazwischen aufgehängten Bettlaken für jede Familie ab – und eingeteilt. Unser Tisch war der Schiffskoffer mit einer Decke darüber. Wir saßen der Landessitte entsprechend, auf dem Boden, unsere Mutter auf ihrem Klappstuhl. An dem „Koffertisch“ machte ich meine Hausaufgaben. Selbstverständlich schienen unsere Schulschwestern bei der Heilsarmee einige kleinere Räume erkämpft zu haben. Als Selbstverständlichkeit wurde so schnell wie möglich scheinbare Normalität eingeführt, so schien es mir jedenfalls als Kind. Um den Schein zu wahren, behielten die Erwachsenen trotz mancher Auseinandersetzungen untereinander, die Häme, die Erniedrigungen, die Schikanen der Holländer für sich. Wir sollten nichts merken, wir sollten eine glückliche Kindheit haben.

Heiter, freundlich und sanft sind die indonesischen Menschen, entgegenkommend und tolerant und neigen zu herzlichem Lachen.

War es das, was uns unsere Mütter und selbst die kinderlosen Frauen als geistiges Gut allen politischen Widerständen zum Trotz erhalten wollten? Gaben sie uns nicht vielmehr ein verheerendes Weltbild mit auf den Lebensweg, das unterschiedslos alle Menschen für gut hält? Eine Selbsttäuschung, die mit ihrem eingeschränkten Realitätssinn, auf andere im besten Fall naiv, im Grunde aber nur beschränkt wirkt. War es eine Art aus Schuldbewusstsein geborene Ideologie? Meine Mutter sagte, wir seien im Jahrhundert des Kindes aufgewachsen. „Ihr solltet es besser haben als wir, die wir den ersten Weltkrieg erlebten.“

Was auch an einschneidenden Veränderungen geschah, alles sollte unterschiedslos in unserem Erleben selbstverständlich, normal sein. Nichts war normal. Wir durften es aber nicht merken. Wer doch etwas merkte oder sogar davon sprach, war böse. Wer am Netz des schönen Scheins und der Illusionen mitwebte, war ein wohl erzogenes Kind.

Die auf kleinem Raum zusammen gepferchten europäischen Frauen, die jahrelang in großzügigen Häusern im angenehmen Bergklima gelebt hatten, versuchten sich mit der Disziplin derer, die eine ungewisse Zukunft vor sich haben und nicht ahnen, wie lange sie es noch miteinander aushalten müssen, an die neue Situation anzupassen.

Sie waren Christinnen, Missionsleute, die außerdem unter einem starken, moralischen Anspruch standen und nirgendwo der sozialen Kontrolle entfliehen konnten. Die meisten wurden immer häufiger krank. Seuchen wie Amöbendysentherie, Ruhr und Beri Beri griffen um sich. Skorbut, Skrofulose und vor allem Malaria, gehörte zum Alltag.

Es war normal, dass wir bei Strafe nicht mit den holländischen Waisenkindern von gegenüber spielen durften, weil wir deutsch waren. Wir waren es, die den Krieg angefangen hatten, wurden “Rottmoffen“ gerufen und sollten zur Kenntnis nehmen, entsetzliche Übeltäter zu sein, mit denen ein anständiger Mensch nichts zu tun haben wollte. Das war eine schlimme, beängstigende Erfahrung.

Ich fing an, mich zu schämen, dafür dass es mich gab und dafür, wie es mich gab – deutsch, darum gehörte ich hinter Stacheldraht – weiß, darum war ich außerhalb des Lagers geächtet, weil ich nicht von Holländern und Engländern, den Kolonialmächten, zu unterscheiden war.

Meine Mutter erklärte uns den Wechsel von Brastagi nach Medan so: In der Freiheit hätten uns die uns freundlich gesonnen Indonesier, wegen der weißen Hautfarbe nicht von den zurückgekehrten Holländern, die sie bekämpften, unterscheiden können. Bei kriegerischen Auseinandersetzungen hätte man uns leicht verwechseln, vielleicht auch unabsichtlich erschießen können. Im Lager seien wir zwar unseres Lebens etwas sicherer, aber als Deutsche den Holländern verhasst.

Wir gehörten nirgends hin.

Ich war neugierig auf die Kinder auf der verbotenen Seite des Lagers.

Während der Siesta, die in den Tropen eine stille Zeit großer Erschöpfung ist, schlich ich mich allein oder mit Michael einem Klassenkameraden, hinüber. Genauso neugierig wurden wir empfangen. Weil wir leise sein mussten, um nicht aufzufallen, gab es keine Sprachbarriere, denn wir spielten sofort lautlos und stumm miteinander. Wenn die indonesische Schwester uns erwischte, lächelte sie. Der weißen Schwester wussten wir geschickt zu entkommen.

Später besserte sich die anfängliche Aggression der Holländer.

Wir wurden zur Sonntagsschule eingeladen. Ich lernte rudimentäres Niederländisch in Wort und Schrift. Bald sangen wir Heilsarmeelieder, betraten die an Wundern reiche Welt biblischer Geschichten, vor allem die vom Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer. Schwester Sus Kraut, war eine begnadete Erzählerin.

Durchs Rote Meer gehen, ohne unterzugehen, das war eine spannende Geschichte, eine unerschöpfliche Quelle ungeahnter Möglichkeiten mit der Aussicht auf ein gelobtes Land. Ich assoziierte das Wort mit Loben, nicht mit Versprechen, weil es mir so mehr einleuchtete.

Meine Mutter hatte mir in ihrem “Gottbüchlein“ ein Bild zu der Geschichte vom Roten Meer gezeigt. Steile, blaurote Wassermauern rechts und links, dazwischen, auf dem langen Sandweg, die Israeliten mit ihren Kindern und Karren, mit Bündeln bepackt – wir konnten uns nicht satt sehen. Auf der nächsten Seite waren diese Wassermassen zusammengefallen und die armen Ägypter gingen mitsamt ihrer Pferde und Wagen unter. Wir vergingen vor Mitleid: Kassian, Kassian. (Erbarmen und Mitleiden).

Wenn ich zurückblicke, begann hier mein bewusster Kontakt mit dem Christentum.

Wir Kinder gewöhnten uns an das Lagerleben. Schließlich mögen es Kinder, wenn es viele andere Kinder gibt, mit denen sie spielen können. Wir gewöhnten uns an die englischen Soldaten. Am beliebtesten war Major Davis, ein Riese mit roter Mähne. Breitbeinig stand er im Innenhof und ließ uns an sich herumklettern, die Arme weit ausgestreckt, damit wir daran schaukeln konnten. Gegen Ende der Internierungszeit nahm er uns mit zu Fahrten im Jeep und sogar auf einen Flug in einem winzigen Segelflugzeug. In den Wirren des Kolonialkrieges wurde Major Davis leider im Dschungel hinterrücks ermordet.

Der verlässlichste Soldat war Jan, ein blonder Niederländer, der Älteste von zehn Kindern, wie er verriet. Er wusste viele Bedürfnisse der Erwachsenen ohne Aufhebens zu lindern.

Als wir einmal abends zusammen auf der Mauer saßen, die das Lager umgab, teilte er seine Zigarette mit mir. Das nahm ich zum Anlass, ihm einen Heiratsantrag zu machen. Er lehnte ab, weil er doch schon zweiundzwanzig Jahre alt sei und ich erst sieben. Ich tröstete ihn und versprach ihm, schon an Weihnachten acht Jahre alt zu sein, die anderen Jahre kriegte ich auch noch hin. Da wurde er sehr ernst und sagte, dass sein Vater ihm nie und nimmer erlaube, eine Deutsche zu heiraten. Das verstand ich sofort und war sehr, sehr traurig.

Das war ein Grund, den man mir nicht zu erklären brauchte.

Die, von der bald siebenjährigen Gefangenschaft zermürbten Erwachsenen, ließen uns Kindern allerlei Freiheiten. In der Regenzeit rasten wir nackt ins Freie, tanzten wild unter dem herabstürzenden Tropenregen, streckten ihm unsere offenen Münder entgegen. Anschließend gab es Gelegenheit zu lernen, wie man sich von Blutegeln befreit.

Um die Wette erklettern wir die wenigen Bäume im Innenhof.

Damit wir deutsche Spiele kennen lernten, sprangen wir über Seile, lange und kurze und hüpften allerlei Hinkespiele mit den dazu gehörenden Versen. Mit den Holländern sangen wir deren Lieder und Verse, die zu ihren Spielen gehörten. Wie indonesische Kinder hatten wir bisher unseren Alltag zum Spiel gemacht, jetzt spielten wir europäische Spiele mit festen Regeln und Riten.

Während der Regenzeit hielten wir uns unter dem Säulengang auf.

Nie hatte ich Langweile, denn ich hatte eine Freundin. Inge hatte rote, lange Locken  und ein sommersprossiges Gesicht. Sie war die Tochter der Frau, die mich vorm Ertrinken rettete. Wir waren unter den vielen Jungen unzertrennlich. Mit unseren Puppen spielten wir das Lagerleben nach. Am liebsten ließen wir die verlorene Welt von Brastagi auferstehen: Kaufen und Verkaufen auf dem Passar, Herumtragen unserer Puppenkinder im Schultertuch, Kochen auf imaginären Kohleöfchen. Als jemand einen Kerzenstummel fand, schmolzen wir die Margarinereste auf den Deckeln der Armeedosen auf seiner kleinen Flamme.

Einmal spielten wir deutsche Hochzeit. Jemand hatte von seiner Mutter erzählt bekommen, dass man dafür einen Pfarrer in schwarzer Kleidung brauche und es anschließend eine Hochzeitsnacht gäbe, damit man auch Kinder bekäme. In der Hochzeitsnacht mussten alle verheirateten Paare still und steif nebeneinander liegen bleiben, damit der Pastor in seinem Gewand aus dunklen Geschirrtüchern den Puppenbestand fast aller Mädchen gerecht verteilen konnte.

Wir kannten bis dahin nur Beerdigungsriten, wo man – je nach Kultur – die Toten mit klagenden Schreien zu Grabe trägt oder zur Verbrennung bringt. Mit Hochzeiten hatten wir keinerlei Erfahrung.

Die pubertierenden Jugendlichen wurden infantil gehalten.

Unsere isolierte Kinderwelt ging mit Wirklichkeit und Fantasie eine seltsame, eine verquere Verbindung ein. Wir sollten mit allen Menschen im Lager friedlich zusammen leben und uns niemals wehren, weil nur böse Menschen das tun. Wir sollten zwar die anderen Frauen gern haben, aber nur eine lieben, unsere Mutter. Dieses Gerangel um Nähe und Distanz in einem Lager, wo man sich nie abgrenzen konnte, war – ein Dschungel wuchernder Gefühle.

Mit der Wirklichkeit wurden unsere Mütter umso heftiger konfrontiert, als die englischen Soldaten sie eines Abends in den Speisesaal baten, um ihnen von dem Krieg in Deutschland zu berichten. Die Frauen hielten die gehörten Gräuel in den KZs zuerst für Feindpropaganda, bis sie den unvorstellbaren Bildern nicht mehr ausweichen konnten. Mit zertrümmerten Städten, elenden Flüchtlingsströmen und den abgrundtiefen Grausamkeiten der Todesmaschinerie in den KZ´s wurden sie in aller Härte konfrontiert.

Als sie Monate später, im Juli 1947 nach Deutschland kamen, waren sie sehr genau informiert. Später wagten sie niemals zu sagen: “Davon haben wir nichts gewusst“. Das teilten sie nicht mit den meisten Nachkriegsdeutschen.

Wir hungerten. Darum versuchte ich es – während der Siesta – mit der Rückseite des Lagers, kroch vorsichtig unter dem Stacheldraht hindurch, sprang über den Graben, um zu der kleinen Garküche unter den Palmen, an der Straße zum Flughafen zu gelangen. Ich versuchte, mich beim Mahlen der Erdnüsse, beim Stampfen der Chilischoten im Steinmörser unentbehrlich zu machen. Auf diese Weise kam ich zu einer kleinen Portion Pitchill, Gemüse mit Erdnusssoße, als Lohn.

Ich war schon lange sieben Jahre alt und fühlte mich groß. Wenn es kein Wasser gab, holte ich es bei Morgengrauen von der Pumpe im Innenhof des Lagers. Mein Moskitonetz drehte ich mir selbst über der Pritsche zu einem dicken Knoten. Dann stellte ich die Teller für den Reis bereit und die Becher für den Tee. Während die anderen aufstanden, ließ ich mir schon das Duschwasser aus der Konservendose über den Kopf laufen. Es gab große Bassins in der Kamamandi, dem Waschsaal, aber auch Brausen, die ersten, die ich sah, und die leider nicht immer das Wasser spendeten, dass wir in dem heißen Sumpfgebiet, so sehr brauchten.

Die kühle Bergluft von Brastagi vermissten wir sehr.

Ich bekam Malaria, fast jeden Monat, sagte mir meine Mutter später. Ich hatte Glück, denn der Arzt, der die Heilsarmeekinder versorgte, behandelte auch uns Deutsche, weil sich die Holländer an die Genfer Konvention zu halten versuchten.


Lagerleben bei der Heilsarmee in Medan

Der Alltag im Lager sah so aus: In langer Reihe standen wir für das Essen aus den Kübeln am Ende des überdachten Ganges, der Kakhilima, an. Danach ging es zur Schule -, wenn sie stattfand. Ich war jetzt in der zweiten Klasse bei Schwester Emmi Viering. Leider hatte ihr jemand hinterbracht, dass ich sie streng fände und nicht leiden könne. Bevor das Schuljahr für mich beginnen konnte, musste ich mich bei ihr für solche hässlichen Äußerungen entschuldigen. Ich sah sie nun von nahem, ihr leicht ergrautes, lockiges Haar, eine scharfe Goldrandbrille mit sehr blauen Augen dahinter und ziemlich feine Gesichtszügen. Ich fand sie hübsch und eiskalt zugleich, log eine Entschuldigung und gelobte Besserung. Ich schwor mir innerlich, kritische Gedanken von nun an für mich zu behalten. Der Schwur hielt nicht lange.

Die Sütterlinschrift, die ich vor ein paar Monaten gelernt hatte, war – nun da der Krieg verloren war – wertlos geworden.

Wir lernten lateinische Buchstaben und Druckschrift, wie die holländischen Kinder. Mit dem Lesenlernen tat ich mich sehr schwer. Als die Schule wegen erneuter Angriffe der Guerilla geschlossen wurde, übernahm meine Mutter den Unterricht für mich und Bertold, dessen Mutter als Gegenleistung für uns nähte. Wie beneidete ich den Klassenkameraden, der später mein Mann wurde, um die selbstverständliche Flüssigkeit, mit dem er jeden Text las, auch die Wörter mit der Silbentrennung, ohne irgendeinen Zweifel, einfach so, weil es da stand.

Die zweite Klasse in Medan 1947
Ingeborg Klaiss (1993 †), Michael Rutkowski (Bildhauer), Dietlind Rebuschat (Logopädin), Hans Martin Steinhardt (Elektroingenieur), Bertold Klappert (Theologieprofessor mit intensivem Austausch nach Indonesien und Japan), Hannelore Berghäuser (3.Klasse), Rudolf Hebeler (Gefängnispfarrer)

Ich mühte mich ab mit Schlüs-sel-blu-men, Schnee-glöck-chen, weil ich erstens wissen wollte: was es mit diesen seltsamen Pflanzen auf sich hatte, und zweitens, warum man Wörter trennt, wo sie doch keine Kleider sind, die man ändern möchte.

Meine Mutter stellte ihn mir als leuchtendes Beispiel hin: Bertold liest, ohne zu fragen. Lies erst, danach darfst du fragen. Das half leider nicht weiter.

Abends las meine Mutter vor: Heidi, von Johanna Spiry. Ich liebte das Buch über alles, auch wenn mir die Schweizer Welt fremd war. Es gab – wie in Brastagi – Berge, rauschende Bäume und Gras. Heidi hatte Heimweh. Ich hatte Heimweh.

Als ich meine Mutter bat, mir das Buch ein zweites Mal vorzulesen, weigerte sie sich vernünftigerweise: Lies es nur selbst, sagte sie.

Das war der Anfang einer nie endenden Leidenschaft. Wo immer ich mich befand, hatte ich jetzt mit jeder Seite, die ich umblätterte, Flügel, die mich über alle Stacheldrähte dieser Welt, die sichtbaren und unsichtbaren, hinweg trugen.

Damals wusste ich noch nicht, dass ein Jahr später, im französischen Jura ein Heidileben auf mich wartete, weil menschenfreundliche Schweizer Familien nach dem Krieg deutsche Hungerkinder einen Sommer lang bei sich aufnahmen.

Weihnachten 1946. Mein Vater war gerade aus dem Lager in Dehra Dun entlassen und in Deutschland angekommen. Die Engländer lösten ihre Lager in Indien auf, als dort Unabhängigkeitsbestrebungen unter Mahatma Ghandi erstarkten.

Ich wurde acht Jahre alt und bekam eine Puppe geschenkt. Ich weiß noch, wie meine Mutter  ein Tuch von ihrer Nähmaschine nahm. Hervor kam eine Shirly-Temple-Puppe. Ich war glücklich, eine Puppe mit Locken und einem Voile-Kleid wie ich eins hatte, rosa, durchsichtig, fein und schön – wie ein Märchenkind.

Alle Lagerinsassen waren für das Weihnachtsfest in die englische Militärkirche eingeladen. Weil ich die Malaria noch nicht überstanden hatte und noch zu schwach war, um mitzugehen, blieb ich allein im Lager zurück, obwohl ich doch Geburtstag hatte. Als sie zurückkamen, zog ich mich an und kroch mehr, als dass ich lief, auf die Wiese, um mit den Soldaten Weihnachtslieder zu singen, englische und niederländische.

Dieser Ausflug der Gefangenen in die Welt außerhalb des Lagers brachte eine grundlegende Veränderung in ihr Leben. Meine Patentante Magdalene ging wieder ihrem Beruf als Hebamme in der nahen Klinik nach. Einige Male nahm sie mich  auf die Wöchnerinnenstation mit. “Lerne einen medizinischen Beruf“ sagte sie, „dann gelten für dich keine Stacheldrähte. Niemals.“

Bald konnte meine Mutter ihre indischen Freunde, Musiker, die einen Instrumentenhandel betrieben, besuchen. Unter Tränen lauschte sie dem Konzert mit Klassischer Musik, das sie ihr gaben. Wir Kinder durften unsere Hand auf das Cello legen, um seinen Klang nicht nur zu hören, sondern auch zu fühlen.

Im Haus ihrer eurasischen Freunde waren wir oft zu Gast. In der Küche durfte ich beim Kochen indonesischer Gerichte nützlich sein. Der indonesischen Küche bin ich bis heute treu geblieben.

Die ältere Tochter der Freunde, Willi, war schon achtzehn Jahre alt und zeigte mir ihren duftenden Puder, mit dem sie sich eine hellere Haut schminkte. Kati, ihre jüngere Schwester und ich probierten ihren Lippenstift aus.

Nachdem Indonesien 1949 seine Souveränität erlangt hatte, verließen es hollandtreue Einwohner in Scharen, weil sie zu Recht Verfolgungen fürchteten. Als diese Familie in den Fünfziger Jahren wegen der politischen Wirren nach Holland übersiedelte, erinnerten wir uns an Willis Schminkversuche, ihre indonesische Haut zu übermalen. Wir grübelten gemeinsam über das Rätsel nach, warum Europäer nur die weiße Rasse anerkennen, sich selbst aber an den holländischen Stränden bräunen lassen, um schön zu sein.

Mit Kati öffnete ich auch die Kiste mit dem Blöcken aus Kunsteis. Begeistert rührten wir mit der Eismaschine das erste Speiseeis meines Lebens.

Immer häufiger verließen wir das Lager für Besorgungen. Am liebsten nahmen wir Kinder den Weg zur überdachten Markthalle. Ich brauchte Hefte für die dritte Klasse, mein Bruder, der nun auch in die Schule ging, Griffel für die Tafel. Eine märchenhafte Welt von Sachen, die wir zwischen den langen Gängen auf den Auslagen der Ständen sahen und behutsam mit dem Finger berührten, tat sich vor uns auf.

Die Welt der Dinge war uns fremd. Wir kannten die Natur, also nur die elementarsten Bedürfnisse. In der Markthalle entdeckten wir, wie verlockend Dinge sein können, Dinge, die man erst braucht, wenn man erfuhr, dass es sie gab. Dinge, die man  entbehren würde, wenn man sie nicht mehr hatte. In uns meldete sich die Lust am Haben.

Ich wählte ein hellblaues Radiergummi mit kleiner Bürste, mit der ich in meinem Heft “fegte“, wenn ich Fehler verbesserte. Selbstverständlich entschied ich mich für eine Murmel, durchscheinend, ein Wunderding. Bunte Schlangenlinien waren in ihr eingeschlossen, denen ich nachträumte, seitdem es mich in eine Welt verschlagen hatte, der die Schmetterlinge abhandengekommen waren.

Der Weg führte an der Beatrix-Schule vorbei, die nach der holländischen Königstochter benannt war. Prinzessin Beatrix war eine wichtige Persönlichkeit, nur einige Monate älter als ich, würde aber, wie im Märchen, wirklich, einmal Königin sein. Obwohl sie in Holland lebte und uns nicht sehen konnte, feierten wir ihren Geburtstag auf Sumatra. Ein Fest mit vielen Spielen, schöner als der Geburtstag ihrer Großmutter Königin Wilhelmina. Deren gekrönter Kopf war auf den Briefmarken abgebildet, die meine Mutter, wenn wir sie “angeleckt“ hatten, auf die Briefe nach Deutschland klebte. Unter der Königin stand: Nederlands Indie. Sie war also auch die Königin des Landes, in dem wir lebten.

Meine Mutter kaufte Medizin in der Apotheke, Chinin gegen Malaria, die mich so oft plagte. Mein gelbes Gesicht rühre von diesem Pulver her, erklärte sie mir. Sie selbst brauchte Aspirin, das in kleine Tütchen abgewogen wurde. Wahrscheinlich habe ich erst in Deutschland die ersten Tabletten geschluckt. Es gab in kleinen Fläschchen auch Kügelchen von Hahnemann und  “Dr. Schwab“. Mich wundert noch heute, dass diese speziellen Medikamente in Medan 1947, als in Europa unbeschreiblicher Mangel herrschte und in Indonesien der Kolonialkrieg tobte, erhältlich waren.

Es gab es eine große  Aufregung, als Missionar de Kleine, für uns Kinder: Onkel Heinrich, aus einem japanischen Lager zu uns stieß. Seine Familie hatte Generationen lang in Deutschland mit holländischem Pass gelebt. Dieser Umstand hatte das japanische Militär nicht abgehalten, ihn zu internieren. Seine Frau und seine Kinder gelangten, aus einem Lager in Australien kommend, einige Monate später zu uns. Glücklicherweise konnte jetzt sein Pass dazu beitragen, Verhandlungen mit dem holländischen und dem englischen Militär zu führen, um seine und unsere Ausreise, die das Ende unserer Gefangenschaft und der Anfang der Freiheit sein würde, zu beginnen. Hochaufgerichtet ging er durch das Lager, um den Hals ein Handtuch gegen den rinnenden Schweiß gelegt.

Die Aufregung blieb. Die Guerilla brachte alle Fronten gegen einander auf. Im Dschungel gab es noch vereinzelte japanische Kämpfer. Die Trupps des Dr. Sukarno waren durch die geheime, aber immer offenere Unterstützung der Bevölkerung mächtig geworden.

Die englischen Einheiten strömten ins Land und verbluteten bei deren unvorhersehbaren, allgegenwärtigen Attacken, wie auch ihre verbündeten Niederländer, die durch die Rückkehrer aus dem Mutterland verstärkt, gehofft hatten, ihre koloniale Gewalt wiederherzustellen.

Die englischen Soldaten versuchten die Lage im Lager etwas zu normalisieren. Die Jugendlichen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren wurden in der anglikanischen Militärkirche konfirmiert. Alle bekamen ein schwarzes Kleid mit weißem Kragen und die Jungen lange Hosen. Eine seltsame Erfahrung für mich.

Der Alltag bekam eine religiöse Färbung.

Meine Mutter sang mit Begeisterung englische, liturgische Gesänge der High Church, wenn sie arbeitete. Wir Kinder schmetterten Lieder der Low Church: “Come into my heart, Lord Jesus“ und auf Holländisch: Liefde, oh so groot, deeper dan die ozean…

Der Alltag wurde zum Fest, als wir mit den Soldaten im Doppeldecker über den Flughafen kurvten und im Jeep im tollsten Tempo die Rollfeder auf und ab düsten. In einem Lastwagen brachte man uns zum Hafen Belawan in den Zoo. Die Tiere, die wir fürchteten, waren gefahrlos hinter hohen Gittern zu betrachten: Tiger, königlich, mit glühenden, wilden Augen, ein Orang Utan, der in die Hände klatschte und danach eine faltige, offene Menschenhand bettelnd durch die Gitterstäbe streckte. Da hinein legten wir wie einem Freund die Katjang, die geschenkten Erdnüsse, die wir gerne selbst gegessen hätten.

In einer flachen Pfütze döste ein riesenlanges Krokodil hinter einem ungeheuer hohen Maschendrahtzaun. Es schlug plötzlich mit seinem Schwanz, unaufhörlich. Verängstigt flohen wir, nicht ohne uns ständig nach ihm umzudrehen, ob es auch nicht hinter uns her robbte.

Die Kinder, die zu Jugendlichen heranwuchsen, versuchten mehr und mehr das Leben außerhalb des Lagers zu erkunden. In dieser, ausschließlich von Frauen dominierten Welt, waren  die Jungen froh, mit jungen Männern ihre Kräfte zu messen. Wir versuchten im nahen Fluss zu „schwimmen“. Wir ließen uns treiben, weil wir vom schwimmen keine Ahnung hatten.

Mittlerweile hatten wir eigene Messer zum Schnitzen. Beliebt war das Messerwerfen auf Territorien, deren Grenzen man auf die harte Erde ritzte. Der Kampf um die Erweiterung des eigenen Gebietes verband holländische und deutsche Kinder in einträchtigem Spiel.

Gemeinsam erkletterte man den einzigen hohen Baum, um lange Schoten zu ernten. Friedlich fädelte man ihre weißen Bohnen auf lange Fäden. Getrocknet verfärbten sich sie sich hellrot und bekamen die Form kleiner Herzen. Die geschicktesten Hände stellten aus ihnen Gürtel oder netzartige Täschchen her. Gegenseitig schmückte man sich damit, bevor man die Schätze unter seiner Pritsche hortete, hüben wie drüben.

Dass unter den deutschen Frauen und den Offizieren der Heilsarmee langsam eine vorsichtige Annäherung versucht wurde, weil der Krieg zu Ende und ein Neuanfang unabwendbar wurde, blieb eine Ausnahme. Die aus Europa eintreffenden Soldaten brachten die ungeheuerlichsten Nachrichten von den deutschen Kriegsverbrechen. Das trennte immer wieder aufs Neue.

Wir Kinder wurden systematisch auf ein Leben in Deutschland vorbereitet. Die Deutschtümelei der Frakturschrift wich der klaren Antiqua. Im Lesebuch beschäftigte uns Bernie, der zuerst in seine Hände blies und danach gegen Fensterscheiben mit Eisblumen, weil es so kalt war. Eine fantastische, vereiste Welt! Was war der eine! Block Kunsteis dagegen, den ich einmal gesehen hatte? Nichts.

Alle Vögel sind schon da“, mussten wir singen, wo sich doch die ganze Schar, wie immer, im hohen Baum im Innenhof in den Zweigen tummelte. Aus dem Land, nach dem sich die Erwachsenen so sehnten, flogen sie weg und kamen irgendwann wieder, so wie die Erwachsen, die auch aus ihrem Land weggegangen waren und  jetzt alle wieder zurückkommen wollten.

Eines Tages befanden wir uns nicht mehr in der zweiten, sondern in der dritten Klasse, weil es in Deutschland eine Versetzung zu Ostern und nicht mehr im Herbst gab. Was „Herbst“ war, konnte mir niemand schlüssig erklären. Am Ende hieß es auch noch drohend, den würde ich noch kennen lernen. Ich würde dem Herbst 1947 in Düsseldorf-Kaiserswerth begegnen.

Mein Bruder würde schluchzend die abgefallenen, bunten Herbstblätter meiner Mutter in den Schoß legen und seinen Kopf darin bergen und stammeln: „Ich habe sie alle dem Baum wieder gegeben und an seinen Stamm gehalten. Er hat sie nicht zurückgenommen. Kein einziges.“

„Wemn“ würde  meine Mutter fragen.“ Die Blätter!“ würde er leise wimmern: „die Blätter sind alle ab. Sie bleiben ab.“

Mein Bruder und eine Handvoll Erstklässler wurden nach wenigen Wochen in die zweite Klasse befördert, nachdem sie im Geschwindmarsch Druckbuchstaben, Sütterlin- und lateinische Schrift auf ihre Schiefertafeln gemalt hatten. Das Lesen blieb ihnen ein Ratespiel mit einigen Glückstreffern. Zahlen waren verlässlicher. Rechnen mit zuverlässigen Zahlen mochten alle gern.


Ein Mann namens Gustav
Ausweisung und Vorbereitung auf ein Leben in Deutschland

In die brüchigen, politischen Strukturen des Nicht-mehr und des Noch-nicht trafen Briefe aus Deutschland ein, mit den erschütternden Nachrichten vom Hungerwinter 1946/47. Mein Vater berichtete von der bitteren Kälte, der fehlenden Kleidung und Hunger unserer ausgebombten Verwandten. Es war unmöglich daran zu denken, dass sie uns heimkehrende Verwandten würden aufnehmen können. Er bereitete meine Mutter auf die vielen Toten vor, mit denen es kein Wiedersehen geben würde.

Als die internierten Männer 1946 in Deutschland eintrafen, bewarben sie sich um Pfarrstellen. An eine Missionsarbeit war nach dem Desaster der nationalsozialistischen Ideologie mit ihrem Rassenwahn und ihren Todeslagern damals nicht mehr zu denken.

Das Vertrauen der Weltöffentlichkeit schien für immer zerstört.

Die Männer versuchten irgendwo in der Trümmerwelt der Städte ein Obdach für ihre Familien zu suchen. Manche fanden Verwandte, die sie aufnehmen konnten. Bertold fand später bei seinen Verwandten in Siegen eine Bleibe.

Meine Mutter hatte eine Adresse, die sie auf den großen Schiffskoffer pinselte, in den sie unsere Habe packen würde, wenn  das Schiff käme.

Unsere Verwandten überlebten in Wohnungen zwischen den Trümmern der Stadt Gelsenkirchen, die man zur „toten Stadt“ erklärt hatte. Eine Tante in Wanne-Eickel wohnte mit ihrem Mann auf einem Zimmer. Ihre Wohnung teilte sie mit Flüchtlingen aus Ostpreußen.

Solche Leute wie uns, die wir keine Bleibe fanden, schickte die Missionsleitung in Wuppertal in ihr ehemaliges Töchterinternat, das zum Altersheim umfunktioniert wurde. Diese Adresse malte meine Mutter mit Schablone in weißer Farbe auf den Schiffskoffer: „Hanna Rebuschat, (das war sie), Düsseldorf-Kaiserswerth, (das war unsere zukünftige Stadt), Arnheimer Straße 142, (das war eine Strasse, die offenbar nach Holland führte.) Diese Stadt kannte meine Mutter nicht. Die Hausnummer war hoch und bezog sich auf den Zahlenraum, den ich gerade in der Schule vergeblich zu begreifen versuchte. Für Bertold war das kein Problem. Solche Probleme kannte er nie.

Vor dem Koffer hockte meine Mutter und packte Dinge hinein und holte sie wieder heraus, immer wieder – endlos. Am Ende riss sie Seiten aus ihren Tagebüchern und hielt sie über eine Kerze. Hinter dem Lager – an einer Stelle, wo ich verbotenerweise unter dem Stacheldraht her ins Dorf gelangen konnte.

Als ein Brief von meinem Vater mit dem Stempel vom Roten Kreuz eintraf, war auch noch ein Foto darin. Wir mussten einen älteren Herrn mit beginnender Glatze und kleinem Bauchansatz hübsch finden, um unserer Mutter eine Freude zu machen. Der Mann hieß Gustav und war unser Vater. So sähe er aus, wenn wir ihn sehen würden, sagte sie.

Der Brief bewirkte, dass wir uns auf dem Passar auf ein hartes Leder stellen mussten. Um unsere Füße wurden Linien gezogen, erst passende, danach größer werdende. Die Erklärung dazu lautete, dass wir eine Cousine in Gelsenkirchen hätten, für die könne man keine Schuhe bekommen, darum würde sie noch mit fünf Jahren im Kinderwagen gefahren. Dies sollten unsere zukünftigen Schuhe für Deutschland werden. Wir empfanden Schuhe als eine überflüssige Erfindung unbegreiflicher Erwachsener. Unsere Einwände waren vergeblich. Aus weicherem Material wurde das Oberleder zugeschnitten. Drei Sommer lang trugen später wir in Deutschland diese Schuhe, die uns ein deutscher Schuster  zusammennähte und ihre Qualität bestaunte, als andere Kinder nur mit „Holzkläpperchen“ herum liefen. Dem harten Leder verdankten wir unter anderem auch die ersten Erfahrungen mit Blasen.

Eines Abends tat meine Mutter geheimnisvoll, holte eine Frucht hervor, einen Apfel aus Australien, sehr, sehr teuer, der uns Europa schmackhaft machen sollte. Wir spuckten das saure Zeug aus und verlangten nach Mango, Papaya, Passionsfrüchten, Longans, Mangostan, der stark riechenden Durian und süßen Ananas. Meine Mutter wischte sich verstohlen die Tränen ab.

Dietlind, Mutter Johanna Rebuschat, Bruder Hartmut, 1947

Für Ende Mai 1947 wurde unsere Abreise als „internierte Ausgewiesene“ auf einem Truppentransporter von Batavia, dem heutigen Jakarta, aus geplant. Vorher gab es ein Abschiedsfest mit allen Lagerinsassen, der Heilsarmee und den englischen und holländischen Soldaten. Lieder in unterschiedlichen europäischen Sprachen aus unterschiedlichen christlichen Kirchen erklangen. Jeder Chor sang zuerst in seiner Sprache und Religion, danach in der der anderen. Wir Kinder hatten die verschieden Texte geübt und sangen die meisten Lieder mit. Aus Leibeskräften ließen wir ein Lied in der batakschen Landessprache erklingen: Holong do roha, ni de bataku, (Gott ist die Liebe).

Mit allerhand technischen Tricks waren mehrere Betttücher für eine lange Leinwand  aufgespannt worden. Hinter dieser fand nun das Schattenspiel statt: Das Spiel unseres Lagerlebens. Schwarz-weiß tanzte es in wechselnden Szenen vor unseren Augen. Die Lehrschwestern sprachen die Geschichten dazu. Zu anderen Szenen wurde gesungen. Manche zogen als Pantomime schweigend vorüber.

In der uralten Kultur unseres Geburtslandes fanden wir unsere, in vielen Splittern zerborstene Biografie als eine fortlaufende Bewegung aus Licht und Schatten sinnfällig vor Augen geführt.

Für diese Erfahrung von Identität bin ich den Frauen, die meinen ersten Lebensweg begleiteten, dankbar.

Es wurde viel gelacht, denn Indonesier lachen herzlich und anhaltend, wenn sie etwas begriffen haben. Wir hatten mehr indonesische Gewohnheiten angenommen, als uns bewusst war. Zum Schluss erhoben sich alle und sprachen gemeinsam, jeder in seiner Sprache, in demselben Rhythmus. Dass sei das Gebet, „Vaterunser“, gewesen, erklärte mir meine Mutter.

Wieder bedeutete der Abschied das Zurücklassen liebgewordener Gegenstände. Meine Mutter strich weinend über die Nähmaschine, ein Geschenk ihrer Mutter, die sie nicht wieder sehen würde, ihrer Brüder, die vermisst blieben, ihrer drei Schwestern, auf die sie sich freute.

Ich durfte meine Puppen behalten. Sie steckten in dem Rucksack, den mir meine Mutter aus braunem Rupfen genäht hatte.


Die Reise in die neue Heimat
Sechswöchiger Gefangenentransport auf See

Lastwagen brachten uns, gut bewacht von schussbereiten Soldaten, an den Hafen von Belawan. Auf dem Schiff erkundeten wir neugierig jede Ecke und die Schlafsäle unter Deck. Dort hatte man in drei Etagen übereinander olivgrüne Segeltücher zwischen Rahmen gespannt Das waren unsere Betten.

Als das Schiff ablegte, sangen alle das Lied:

In der Heimat, in der Heimat, da gibt´s ein Wiedersehn´“.

Ich sang nicht mit. Meine Heimat versank am Horizont.

Eine Weile fuhr das Schiff an der Küste entlang. Man konnte dunkles Grün erkennen, bis auch das von der unendlichen Wasserfläche abgewischt und der Horizont weit wurde. Glitzernde fliegende Fische tauchten auf und verschwanden blitzschnell. Die Wellen wurden hoch. Das Schiff schaukelte, band sich einen weißen Schaumkranz um. Es roch köstlich nach Maschinenöl und Abenteuer.

Über der Reling hingen die, denen der Wellengang die Seekrankheit in den Magen spülte, während die pubertierenden Jungen übermütig intonierten:

Eine Seefahrt, die ist lustig,
Eine Seefahrt, die ist schön.
Ja da kann man alle Leute
an der Reling …… sehn
.

Unanständige Wörter durfte niemand benutzen und mussten notfalls mit Schweigen markiert werden. Die soziale Kontrolle war immer gegenwärtig, schlief nie. In der Enge der langen Überfahrt wuchs sie sich zum Ungeheuer aus.

Obwohl man so sehr darauf bedacht war, uns auf europäische Verhältnisse vorzubereiten, machte man uns ganz und gar unfähig zu Gegenwehr und Selbstbehauptung. Selbstbewusste Aggression oder schlichtes Durchsetzen berechtigter Bedürfnisse wurden geächtet, gemaßregelt und mit Beschämung bestraft. Selbstachtung wurde mit Egoismus verwechselt. “Der untere Weg“ führte direkt in den Himmel, in den scheinbar alle kommen wollten, noch ehe sie auf der Welt Fuß gefasst hatten. Die Frauen waren zermürbt von der langen Gefangenschaft und auch älter geworden. Vielleicht nahmen sie darum den Weg permanenter Kontrolle, um Konflikte schon im Keim zu ersticken. Ich habe es nie herausgefunden. Vielleicht machte sich auch der Mangel an männlichem Einfluss zerstörend bemerkbar.

Ich erinnere mich nur an diese hilflose, beschämende Naivität, mit der ich in Europa versuchte, mich zu Recht  zu finden.

Als die Nacht hereinbrach, leuchteten die Sterne zum Greifen nah, groß, jeder einzelne gut erkennbar, schöner, noch viel schöner, als ich sie aus dem Gebirge in Brastagi in Erinnerung hatte. Das Meer leuchtete dunkel unter der grellen Mondscheibe. Sie warf eine lange Lichtbrücke über das schwarze Auf und Ab der Dünung.

Meine Mutter wies auf die Sterne: „Schau, das ist das Kreuz des Südens“, sagte sie. Eine Sternengruppe war deutlich als Kreuzform zu erkennen. Ich ließ sie nicht mehr aus den Augen. Meine Mutter fuhr fort: “Allen Seefahrern haben diese Sterne den Weg gewiesen. Schau das Kreuz des Südens gut an. Wenn wir in einiger Zeit über dem Äquator fahren werden, kannst du es nie mehr sehen. Du bist unter dem Kreuz des Südens geboren.“

Wenn ich heute in das Sterngewimmel der Milchstrasse blicke, in die Unzahl kleiner Sterne, die verwirrenden Sternbilder der nördlichen Hemisphäre, ergreift mich wehmütige Sehnsucht nach dieser Stille, dieser Nähe des südlichen Himmels.

Auf Deck wurde Nachtwache gehalten, wegen der schlafwandelnden Kinder, die der Mond aus ihren Betten lockte, wie auch meinen Bruder. Man sorgte sich nicht umsonst, dass sie über die Reling stürzen könnten, wie sich bald herausstellte, weil einige Kinder sich tatsächlich schlafend auf den Weg machten.

Gegen Morgen steuerte das Schiff auf einen Koloss zu, den Ozeanriesen “Jan van Olden Baarneveld“. Ein Fallreep wurde herabgelassen. Zu gerne wären wir mehrere Male über den wogenden Wellen unter uns die enge Treppe an der hohen Schiffswand entlang hinauf und hinab gestiegen, die für die Älteren ein Albtraum war. Auf dem Schiff empfingen uns die, die auf der Gefangeneninsel Onrust seit 1942 interniert gewesen waren.

Der Schlafsaal war endlos und mit Hängematten ausgestattet. Unter Gejohle wurden sie sofort, mit allen akrobatischen Künsten, zum Schaukeln und Klettern ausprobiert, weil wir so, lebensecht „Orang Utan schwingt sich von Ast zu Ast“, spielen konnten. Nervöse Mütter wurden nahezu ohnmächtig.

Im Hafen von Batavia, dem heutigen Jakarta, bestiegen wir die “Intrapura“, ein langes Schiff, das auf den oberen Decks Holländer aufgenommen hatte. Sie wollten dem Guerillakrieg entfliehen und in ihre Heimat zurück. Außerdem waren die deutschen Internierten aus den javanischen Lagern an Bord, eine weniger homogene Gruppe als die unsrige. Angehörige der unterschiedlichsten Berufe und Lebensumstände fanden sich unter ihnen.

Ein jähes Entsetzen erfasste meine Mutter und die anderen Frauen, als ihnen ihre Söhne, wenn sie sieben Jahre alt oder darüber waren, entrissen wurden. Die Jungen kamen in den am tiefsten gelegenen Saal, in den kein Licht drang zu den Matrosen. Die Maschinen dröhnten. Die groben Männer waren meist betrunken. Die Jungen, gleichgültig, wie alt sie waren, vergingen vor Angst. Keiner war bisher jemals von seiner Mutter getrennt gewesen. Darunter war auch mein Bruder und Bertold. Tagelang kämpften die Frauen um ihre Kinder, bis man ihnen wenigsten die, bis zu Achtjährigen zurückgab.

Wir durften uns nur in den Sälen, in denen sonst Truppen transportiert wurden, aufhalten.

Die Bullaugen schlossen mit dem Meeresspiegel ab. Ich passte genau in eines, wie in eine Nussschale. So geborgen, schaute ich den hohen Wellen zu, dem Gefühl, im Meer zu schwimmen.

Die Betten bestanden aus den inzwischen bekannten olivfarbenen Segeltüchern. Aufs Deck hinauf durften wir lange Zeit nicht. Auf den Treppenstufen saß die Militärpolizei mit dem MP, auf der Armbinde und den Karabinern quer über den Knien. Allmählich lockerten sich die Regeln. Für die Übungen mit den Schwimmwesten mussten wir sowieso hinauf aufs Deck. Später gab es einen abgegrenzten Bereich für uns, damit wir die Holländer, durch unseren verhassten Anblick so wenig wie möglich störten.

Wenn das Schiff in einen Hafen einlief, eilten wir hinauf, lehnten uns über die Reling, genossen die freie Luft, den Geruch von Salz, die Weite des indischen Ozeans, die Wogen mit ihren unterschiedlichen Farben von Grün, Blau und Grau. Schön waren die Muster der Gischt und ihre Spiele bei Wind. Über den Himmel zogen Wolken oder eben tagelang keine. Es gab fliegende Fische, die als Schwarm plötzlich aufsprangen. Blaurote Quallen begleiteten manchmal das Schiff. Vögel erschienen nur, wenn wir in Küstennähe waren. Irgendwann erfasste die Erwachsenen eine freudige Aufregung, weil man den Äquator hinter sich gelassen hatte. Die Reise führte unaufhaltsam ihrem Ziel „Europa“ entgegen. Das Schiff passierte Ceylon, das heutige Sri Lanka.

Es legte in Bombay, jetzt Mumbai, an. Meine Mutter erklärte mir, dass dort, in Indien, ein Mann lebe, der den Engländern die Stirn böte, um sein Land zu befreien, durch passiven Widerstand, ohne Waffen, durch Hungern. Sein Name sei Mahatma Gandhi. Sie war feierlich dabei, was ihr sonst nicht lag. In diesem Land waren mein  und Bertolds Vater in den Bergen des Himalaya interniert gewesen.

Die großen Stürme legten sich. Der Ozean lag spiegelglatt unter brütender Hitze. Das war vor Aden. Im Roten Meer stiegen die Temperaturen bei anhaltender Windstille in unerträgliche Höhen. Der Hafen bestand aus einem Gewimmel kleiner Boote mit schreienden Händlern. Ich erinnere mich nur an die Farbenpracht und ein tausendstimmiges Durcheinander.

Später wurde eine Küste sichtbar, eine Steinwüste. Das war der Sinai.

Hier waren doch die Israeliten durch die Wassermauern des Roten Meeres gezogen, die nachsetzenden Ägypter elend darin ertrunken. Was wir gehört und in Mutters “Gottbüchlein“ gesehen hatten, gab es tatsächlich. Bei den Erzählungen der Erwachsenen musste ein Kind wachsam darauf achten, was wahr und vielleicht auch  wirklich war. Viel zu vieles stimmte nicht, wenn es darauf ankam.

Die Küsten auf beiden Seiten rückten nahe an einander. Am nächsten Morgen wurden wir eilig geweckt, um die Kamele, eine Karawane, auf der ägyptischen Seite zu betrachten. Als die Ufer zum Greifen nahe kamen, hieß es, wir passierten den Suezkanal.

An seinem Ende, in Port Said, wartete ein buntes Treiben im Hafen auf uns. Wieder umringten Männer in schmalen, hochbeladenen Booten das Schiff, schrien durcheinander, unablässig, hielten dicke Melonen hoch und breiteten bunte Tücher zum Kauf aus.

Einer kletterte die Strickleiter an unserem Schiff hoch und griff dem ersten Jungen blitzschnell in den Hemdausschnitt, um ein gelbes Küken herauszuholen. Ein Junge nach dem anderen sah ungläubig, dass auch er unwissentlich, ein Küken unter seinem Hemd beherbergte, das der Zauberer eins nach dem anderen ans Tageslicht holte. Piepsend rutschten die Tierchen über die Holzplanken, um zu ihren Artgenossen zu eilen.

Das Mittelmeer empfing uns mit gewaltigen Stürmen vor Kreta. Es entließ uns bei den düsteren Felsen von Gibraltar in die stürmische Biskaya. Der Atlantik bescherte uns ruhige Sommertage mit einigen gewaltigen Gewittern am tief violetten Himmel. Hinter Le Havre steuerte das Schiff durch den Kanal in die Nordsee. Diese Namen gaben dem Meer in unserem Gedächtnis verschiedene Gesichter. Ewig gleichbleibendes Wasser unter immer gleichen Himmel, davon konnte keine Rede sein. Schon an der Schaukelbewegung des mächtigen Schiffes erkannte man des Meeres augenblickliche Gemütslage von friedlich bis wütend.

Über den Nachthimmel zog das helle Band der Milchstraße, umringt von sehr fernen Sternen. So gänzlich anders als der Himmel, unter dem ich das Licht der Welt erblickt hatte. Von meinem Bullauge aus schaute ich staunend hinauf, bevor eine Art Jalousie darüber gezogen wurde.

An langweilige Stunden kann ich mich nicht erinnern, auch nicht daran, dass unsere unerschütterlichen und unermüdlichen Lehrerinnen uns während der Reise unterrichtet hätten.

Sechs Wochen dauerte die Seefahrt. Eine gute Erfahrung für Bertold und mich, die uns unser Leben lang begleitete.


Die neue Heimat, ein Trümmerfeld
Im Viehwaggon ins KZ Neuengamme bei Hamburg

Der Hafen von Rotterdam empfing uns mit einem Trümmerfeld. Beim Aussteigen zeigten die Soldaten mit einer weiten Geste ihrer Arme darüber hin und sagten: „Das seid ihr Deutschen gewesen. Dat zeijn jullie Duitsers geweest“. Uns  schlugen die gewohnte Verachtung, die beschämende Ablehnung und der bittere Hass entgegen. Jetzt sahen wir vor unseren Augen, warum das so war.

In langer Schlange durchquerten wir den Hafen, von den Soldaten grimmig zurechtgewiesen, bis zu den Viehwaggons eines wartenden Zuges. Die Junisonne stach vom Himmel. Als wir eistiegen, schlug uns der Gestank von Viehmist entgegen. Die Soldaten reagierten schroff, als die Frauen protestieren wollten. Sie setzten sich in die offene Tür des Waggons, die Gewehre schussbereit. Das war eine lange, lange Fahrt Tag und Nacht, von Rotterdam durch die Niederlande, die norddeutsche Tiefebene mit den weiten Sommerwiesen und den wogenden Getreidefeldern bis ins Alte Land vor den Toren Hamburgs, um an einem nebeligen Sommermorgen am hohen Drahtzaun des KZ Neuengamme zu enden.

Der Weg zum Lager (DPC Displaced persons Camp), das damals, in seiner „zweiten Geschichte“, der Entnazifizierung diente, führte durch ein Meer von Margeriten, wie sie auf Eetjes Grab gestanden hatten.

Sehr hohe Schlafsäle warteten auf uns. Die ebenfalls hohen Bettgestelle waren mit Strohsäcken ausgestattet. Die Schlafsäcke waren glatt und abwärts geneigt. Im Schlaf fiel ich hinunter. Wegen der langen Bewusstlosigkeit kam ein Arzt, der nichts ausrichten konnte, wie die Erwachsenen mir später berichteten. Als ich wieder wach wurde, herrschte ringsum die schlimmste, bedrückte Stimmung mit bleiernem Schweigen, wie ich sie noch nie erlebt hatte. In meiner Erinnerung wurde sie in den drei Wochen, die wir dort waren, nie anders. Ich fürchtete mich.

Im Morgengrauen wurden unsere Mütter auf den Appellhof beordert und kamen verstört wieder. Sie wurden der Reihe nach vom englischen Kommandanten verhört. Manche versuchten zu lügen, um ihre Männer zu schützen, die im Winter 1946 an derselben Stelle vor demselben Offizier “gestanden“ hatten – im doppelten Sinn des Wortes.

„Warum lügen einige dieser Frauen? Sie sind doch Christen“, fragte der Offizier meine Mutter, als sie ihm seine Fragen wahrheitsgemäß mit großer Angst  beantwortet hatte. Das waren Fragen nach Dingen, die ihr jahrelang Kummer gemacht und ihr Gewissen belastet hatten. So erzählte sie mir später. Der Aufenthalt in diesem Lager öffneten ihr die Augen dafür, dass sie damals, vor ihrer Hochzeit, die schuldhafte politische Lage richtig eingeschätzt, sich aber nicht heftig genug gewehrt hatte. Einmal ging sie mit uns Kindern durch das Lager bis zu dem Schornstein des Krematoriums. Hier hätte Frau Avé verbrannt werden können, wenn sie nicht „ans äußerste Meer“ geflüchtet wäre, sagte meine Mutter erklärend. Weil ich mich zu Tode erschrak, habe ich diese Situation nie vergessen können.

Wir Kinder fanden in einer stillgelegten Keramikfabrik kleine, braune, quadratische Fliesen, die wir in konzentrischen Kreisen oder unendlich langen Reihen, Spiralen und Schlangenlinien hintereinander aufstellten, um sie dann, wie Dominosteine, anzustoßen und zusammenfallen zu lassen. Wir stellten Labyrinthe auf, weitläufige Anlagen, wenn wir den Ascheboden des Geländes glatt gefegt hatten. Es war ein monotones Spiel in einer todtraurigen, monotonen Umgebung vollkommen gleicher trostloser Barackenreihen.

Die größeren Kinder suchten nach Zigarettenstummeln für die Gefangenen, Männer, die am elektrisch geladenen Zaun darum bettelten.

Als Anna Klappert, meine spätere Schwiegermutter, Wäsche aufhängte, rief einer der Gefangenen: „Anna, Anna!“ Es war ihr Vetter, der dort seine Strafe abbüßte, wie sich herausstellte.

Dass Missionarsfrauen aus Sumatra und ihre Kinder im Lager waren sprach sich herum.

KZ Neuengamme war eigentlich ein reines Männerlager. Gefangene aus einer streng geschlossenen Lagerabteilung, darunter Missionsärzte und Missionare, die hohe Posten bei den Nazis auf Sumatra innegehabt hatten, kamen eines Tages, in eine Gefangenenkappelle eingeschmuggelt, in unseren Speisesaal, mit allerhand lauter Musik und einer gewaltigen Tuba.

Die Frauen waren zuerst erschrocken, dann überrascht, dann erfreut, dann tuschelten sie, weil sie bekannte Gesichter entdeckten und ihren Augen nicht zu trauen wagten. Die Gefangenen ließen ihnen keine Zeit zur Besinnung und baten sie zum Tanz. Auf diese Weise wurden notwendige Nachrichten ausgetauscht. Diese Gefangenen waren nicht, wie mein Vater, im Dezember 1946 entlassen worden. sondern blieben inhaftiert.

Der Speisesaal war ein schmutziger Raum. Die Schüsseln kamen an einer langen Kette, die an der Decke befestigt war, herangefahren. Man konnte sich die Suppe in die zerbeulte Blechschüssel füllen, die man samt Aluminiumlöffel zu jeder Mahlzeit mitzubringen hatte.

Nach der langen Schiffsreise gab es frisches Gemüse, die der Gärtner im Lagergarten zog. Als ich Schwester Lenchen, meine Lehrerin, mehr als vierzig Jahre danach, auf diese grauenvolle Zeit ansprach, sagte sie triumphierend: „Neuengamme? Da war es doch gut! Wir bekamen frisches Gemüse“.

Das Gemüse baute der Gärtner auf der Asche des Krematoriums an, wie man mir vierzig Jahre später in der Gedenkstätte mitteilte. Das hatte die Forschung der „Zweiten Geschichte des KZ Neuengamme“ herausgefunden. Nach seiner Schließung beseitigte die Bevölkerung blitzschnell alle Spuren. Auf dem Gelände errichtete die Stadt Hamburg eine JVA.

Die Reemtsma- Stiftung rekonstruierte das Lager und baute die Gedenkstätte und sorgte für die Verlegung des Jugendgefängnisses.


Naturkind unter Bürgerstöchtern
Einen Vater bekommen und das, was Freiheit genannt wird

Irgendwann war dieser Albtraum zuende. Meine Mutter bekam einen Pass für die englische Zone und einen Flüchtlingsausweis, obwohl wir gar keine Flüchtlinge, sondern Ausgewiesene waren. Ich war nicht mehr nur deutsch, ich war eine Auslandsdeutsche. Es gab auch kein Deutschland mehr, sondern ein besetztes Land ohne Souveränität mit vier Zonen: eine englische, eine französische, eine amerikanische und eine russische.

Lastwagen fuhren uns durch das große Tor in das weite, grüne Land, von dem wir vom Lager aus etwas durch den hohen Stacheldrahtzaun hatten sehen können. Es war unglaublich, wie ungeheuer der Kontrast zwischen der lieblichen Landschaft draußen und dem Grauen drinnen im Lager war. In Bergedorf bestiegen wir einen Zug, der uns an den Hauptbahnhof Hamburg brachte. Wir sahen, was wir in Rotterdam gesehen hatten: eine Wüste aus Steinen und Trümmern. Endlos.

Der Zug passierte eine Unterführung, hielt an. In dem nun folgenden Getümmel zog ein Herr meine Mutter an sich. Das war mein Vater.

„Hanna, Gustav!“ unsere Eltern stammelten immerzu ihre Namen.

Mein Bruder und ich hatten von jetzt an Eltern, eine Mutter und einen Vater. Der entpuppte sich bald als eine Art Zauberkünstler, der Gespenster vertrieb. Die hässlichen Viehwagen, vor denen ich mich wegen der bösen Erinnerung an den Zug aus Holland fürchtete, waren nämlich bei genauem Hinsehen Güterwaggons. Sie waren dafür da, lauter Dinge, ohne die Menschen gar nicht leben können zu transportieren. Sie brachten lauter Gutes, nämlich „Güter“, an die Orte, wo man sie brauchte. Von jetzt an hatte ich einen Vater, der mir die Welt zeigte und erklärte und außerdem wusste, wie sie wieder hell werden konnte. Er war mit mir traurig, dass Menschen in der Lage waren, diese Züge in ihr Gegenteil zu verwandeln.

Da wusste ich noch nicht, dass die Juden mit ihnen in die Gaskammern transportiert worden waren. Wir bekamen von den Holländern frühzeitig eine Lektion in unserer eigenen Geschichte.

Ich liebte meinen Vater, obwohl er seltsam roch. Das war der Zigarrenduft der Marke “Eigenheimer“. – Das aber ist – eine andere Geschichte.

Gustav Rebuschat, 1949

Die Freiheit, mit der wir keine Erfahrung hatten, ließ sich gut an. Wir kamen zu Schwester Ruth von der methodistischen Gemeinde, einer Freundin meiner Eltern aus Gelsenkirchen, in ein Haus, das sich „Eben Ezer“ nannte. Das war das sauberste Haus, das mir seit der Zeit in Brastagi begegnet war. Auf den Betten lagen weiße Federbetten, in die wir uns immer wieder stürzten. Wie konnte etwas so weich und leicht sein wie eine Wolke?

Schwester Ruth hatte die Schleife ihrer Haube nicht wie unsere Missionsschwestern hinten unter dem Haarknoten, sondern vorn unter dem Kinn gebunden. Die bewegte sich beim Sprechen auf und ab. Das war also auch deutsch: Schleifen, die tanzen konnten.

Wir zögerten keinen Augenblick, sofort alles zu lernen, was es in diesem Land, zu lernen gab, sei es auch noch so befremdlich.

Inzwischen sprachen die Erwachsenen von unverständlichen Dingen.

Das Fenster stand auf. Die Zweige eines Baumes kamen einladend nahe. Ein Griff, ein Schwung und wir befanden uns in einer Astgabel, umringt von lauter kleinen, roten Früchten. Wir rutschten am Stamm hinunter und rannten durch den Garten, wo alles anders aussah, als wir es kannten. Das war Deutschland oder Europa. Wir konnten beides nicht so genau unterscheiden. Meine Mutter rief verzweifelt nach uns. Wie wir hinaus gekommen waren, so kamen wir zum Entsetzen von Vater und Schwester Ruth wieder hinein. Meine Mutter schloss uns glücklich in die Arme. Wir erfuhren zu unserer Überraschung, dass “so viel Freiheit“, wie wir uns spontan nahmen, nicht gemeint war. “Nicht so viel Freiheit“ war deutsch und anscheinend unter anderem auch mit gutem Benehmen gleichzusetzen.

Gutes Benehmen bedeutete für uns ein Buch mit sieben Siegeln, schlimmer noch: einen Eimer voll Lebertran mit guter Miene zum bösen Spiel auszulöffeln. Gutes Benehmen war so ziemlich das genaue Gegenteil aller Umgangsformen, die wir mitbrachten. Niemand hatte Zeit, uns die Spielregeln zu erklären, die in der neuen Umgebung galten. Mit vielen Versuchen und bitteren Irrtümern versuchten wir, uns anzupassen.

Indonesia merdeka? Das war vorbei. Endgültig.

Fünfundzwanzig Jahre nach meinem Abitur würde meine Lateinlehrerin seufzen: „Ach, Dietlind, es war ja so schwer, Sie zu erziehen, dies Naturkind unter Bürgerstöchtern“.

Eins wurde uns sofort klar: die Sache mit dem guten Benehmen war erst der Anfang eines mühevollen Weges in die Enge, Arroganz und Unerbittlichkeit einer bedrohlichen Welt, die Fremdes nicht gelten ließ. Die Freiheit in Deutschland war nur zum Schein eine mit geöffne­ten Fenstern und lockenden Gärten. Dahinter führte am Ende der Weg zu unsichtbaren Stacheldrähten, öffentlichen und privaten.

Als ich im Juli 1990 den Ort, an dem ich zum ersten Mal deutschen Boden betreten hatte, wiedersehen wollte, ging ich die lange Allee zum ehemaligen KZ Neuengamme hinunter. Um mich zu vergewissern, fragte ich eine junge Frau, die zwei Kinder im Alter von ungefähr sieben und acht Jahren an der Hand führte, nach der Gedenkstätte. Sie gab mir freundlich Antwort. In dem Augenblick, wo ich mich umwandte, sagte der Junge: „Die Frau geht in den Knast. Sie will es nur nicht sagen“.

Ich wandte mich wieder um und antwortete:“ Ja, als ich ein Kind war, so alt wie du jetzt, da kannte ich nur Knast, auch diesen“.

Da ahnte ich nicht, dass ich wenige Minuten später vor der JVA „Altes Land“, dem Jugendgefängnis der Freien und Hansestadt Hamburg, stehen würde. Erschüttert erkannte ich, mit welchem Zynismus die Geschichte zuweilen mit ihren Traditionen spielt.

Am 14. Mai 2005, dem Befreiungstag des KZ wurde die neue Gedenkstätte der Öffentlichkeit übergeben.

Ich stand unter Menschen aus seiner „Ersten Geschichte“ und sang mit ihnen das Lied von den Moorsoldaten. Der Blick fiel auf einen Viehwaggon am Rande des alten Appellhofes. Die Grundlinien der Baracken hatte man eingefasst und mit glatten Steinen gefüllt, wie Juden sie auf die Gräber ihrer Toten legen.

Aus dem Lager war ein abstraktes Bild seiner Geschichte geworden. Die Gedenkstätte von 1990 war innen mit blutroten Fahnen behängt, auf denen die Namen der Ermordeten standen. Ein Schattenspiel des Grauens.

Als ich wieder auf die Allee trat, den Stacheldrahtzaun hinter mir – vor mir die Weite der grünen Saatfelder bis zum Horizont – im Wind  den Duft von Frühling, empfand ich ein Gefühl von Freiheit. Verbunden mit der Natur gab es Hoffnung, aus den vielen Schatten der Vergangenheit ins Licht der lebendigen Gegenwart zu treten.

Die tiefe Sehnsucht nach der Natur meines Geburtslandes verband sich auch mit seiner Sprache den Worten Merdeka für Freiheit und Kassian für Barmherzigkeit, Mitgefühl, Toleranz.

An der Hand meines Vaters lernte ich die Natur meiner neuen Heimat zu lieben. Mit der Stimme meiner Mutter lernte ich die Sprache meiner Heimat auf der anderen Hemisphäre der Welt, über Dichterworte zu lieben. Meiner Mutter Lieblingsdichter war Heinrich Heine.

Mögen seine Worte mit jüdischem Humor ausdrücken, wie es sich in dem Paradox von Gefangenschaft und Paradies allen Fesseln zum Trotz, leben lässt:

Wo wohnt der liebe Gott?

Wo wohnt der liebe Gott?
Im Fliederbusch, am Rasen.
Was macht er da?
Er bringt ihm wohl das Duften bei
für unsere Menschennasen 

Wo wohnt der liebe Gott?
Im Stalle, im Stalle.
Was macht er da?
Er bringt dem Kalb das Springen bei,
damit es ja nicht falle.

Vor mir und meinem Bruder lag eine Zeit, in der wir, jeder auf seine Art, versuchten deutsch zu werden. Über die Jahre gelang uns das, auch Bertold. Mit manchen Gewohnheiten blieben wir unserem Geburtsland treu, auch den Niederlanden. Wenn wir Indonesier treffen, fühlen wir uns auf eine sehnsüchtige Weise zu Hause. Unser Blick und Lebensweise blieb beiden Hemisphären verbunden. Heute sind Andar, seine frau Rheni  und ihre drei Söhne uns als Kinder von ihren Eltern anvertraut worden, als Rheni lebensgefährlich erkrankte. Uns hält die Tradition unseres Geburtslandes zusammen.

Mein Bruder Hartmut unterhält als Landwirt geschäftliche Beziehungen mit Holland und im Alter einen lebhaften Austausch mit holländischen und ostfriesischen Künstlern.

Mein Mann Bertold engagierte sich als Theologe im jüdisch-christlichen Dialog mit holländischen Kollegen und arbeitet mit internationalen, vornehmlich japanischen Wissenschaftlern zusammen.

Ich führte eine sprachtherapeutische Praxis mit einem hohen Patientenanteil mit Migrationshintergrund. Die moslemischen Ärzte sagten ihnen “Geht mal zu dieser Frau, die versteht uns.“ Die Prägung durch Indonesien, dem größten, moslemischen Land der Welt, blieb mir als Quelle zu Freude und Lebenssinn erhalten. Im Alter wurde mir angeboten, in einem, vorwiegend von türkischen Kindern besuchten Kindergarten, als Vorlesepatin zu arbeiten.

Ich konnte lebenslang dafür sorgen, dass Menschen die Möglichkeit fanden, ihre eigene Kultur zu behalten und sich gleichzeitig für die neue zu öffnen, ohne ihre Identität aufzugeben. In gewissem Masse gelang das sogar Menschen, die ihre Sprache durch Schlaganfall oder Hörverlust einbüßten. Der mühselige Kampf um die eigene Identität blieb Wunde und gleichzeitig Wurzel meiner Kreativität.

Im Bernsteinlicht

Zurückfliegen
in die Geschichte
wie die Mücke
im Tropfenanhänger
meiner gewichtigen
Kette.

1990


Nachwort

„Gefangen im Paradies“ habe ich für meine Kinder und Enkel geschrieben, denn das Land, in dem wir, Bertold Klappert und Dietlind Klappert/Rebuschat, gebo­ren wurden, gibt es nicht mehr. Der unabhängige Staat Indonesien mit seiner ei­genen Sprache hat die alte niederländisch-indische Kolonie in Vergessenheit  ge­raten lassen. Mit der neuen Zeit ist auch die Natur unserer Kindheit, ihre großen Urwälder mit ihren Tieren verschwunden, die archaische Kultur der Batak wird von der Zivilisation eingeholt. Immer noch fehlt in unserer deutschen Gesell­schaft die Kenntnis von dem  Kriegsschauplatz des Zweiten Weltkrieges in Süd- Ostasien, der unsere Kindheit prägte. Wir kommen aus einer, für euch, fremden Welt. Was für euch glücklicherweise selbstverständlich ist, Freiheit, Frieden und Demokratie, haben wir erst lernen müssen.


Meines Vaters Dschungelbuch

Von Dietlind Klappert

Internierung in Dehra Dun

Erzählen konnte mein Vater Gustav Rebuschat. Seine Erlebnisse im Dschungel von Sumatra, als er dort Missionar und noch ein freier Mann war, liebten mein Bruder und ich sehr. Es gab funkelnde Tigeraugen im nächtlichen Dschungel. Affen schaukelten auf Lianen entlang der Straße. Unserer Mutter brachte er einen Beo mit, den sie zu Sprechen lehrte. Einmal versuchte er einen kleinen Affen zu zähmen, der leider  bald starb.

Ich war acht Jahre alt, als ich meinen Vater nach sieben Jahren sah. Wir waren da schon in Deutschland.

Mein Vater, Gustav Rebuschat, Missionar der Rheinischen Mission in Wuppertal Barmen, war Missionar auf Sumatra in Niederländisch-Indien von 1934-10.Mai 1940.  An dem Tag, als Deutschland im zweiten Weltkrieg in Holland einmarschierte, wurden alle Deutschen und Österreicher interniert. Die Männer kamen in ein Lager in der Allas Valley in Atjeh (Nordsumatra). Frauen und Kinder blieben auf Sumatra oder kamen auf die Gefangeneninsel Onrust oder nach Java.

Als die Japaner nach und nach im pazifischen Krieg die Mandschurei und zuletzt Südostasien eroberten, gaben die Holländer ihre Internierten aus der Allas Valley an die Engländer nach Britisch Indien ab. Im Vorgebirge des Himalaya war ein Gefangenenlager, in Dehra Dun entstanden. Vor sich hatten die Internierten den Dschungel und hinter sich den Himalaya. Fliehen konnten sie nicht, ohne ihr Leben zu riskieren.

Die Missionare der Rheinischen Mission hielten zusammen und halfen einander, obwohl sie auf verschiedene Baracken, Wings, verteilt waren. Im Wing waren die Internierten auf Pritschen untergebracht. Meines Vaters „Bettnachbarn“ waren Dr. Dralle und ein Pferdedompteur vom Circus Hagenbeck. Dr. Dralle „rettete“ bei seiner Festnahme im Hotel nur seinen Musterkoffer. In dem Koffer hatte er Pomaden, Haarwasser und Haarwuchsmittel. Mein Vater erzählte als Pointe, dass der Herr Dr. selber kahl war und eine glänzende Glatze sein eigen nannte. Er habe seine Produkte an die Mitgefangenen verkauft und sich darum einige Extras gönnen können.

Den Dompteur lernten mein Bruder und ich 1949 auf den Rheinwiesen bei Düsseldorf kennen. Dort hatte der Circus Hagenbeck sein Zelt aufgeschlagen. Mein Vater, der für allerhand Wunder gut war, brachte uns in dieses Märchenland aus Licht und Musik, mit Tänzerinnen auf dem Seil, Akrobaten, die durch die Luft flogen und den allerlustigsten Clowns.  Es gab auch Tiere. Unsere lang vermissten Elefanten und Tiger, die durch Reifen sprangen, waren dabei. Wunderschöne Pferde und Kamele machten ihre Runden durch die Arena. Kamele hatten wir vom Schiff aus gesehen, als wir durch den Suez-Kanal fuhren. Mein Vater nahm uns mit zur Tierschau. Da war er dann: sein Freund aus der Internierung! Er roch gut nach Pferd und lehrte uns, den Tieren auf der flachen Hand Futter zu reichen. Ihre Nüstern waren weich und warm.

Weil wir unserem Vater erst als „große, vernünftige“ Kinder begegnet waren, erzählte er uns von seinem Leben im Lager in Indien, von dem wir nichts wussten. Was wir wussten war, dass wir Glück hatten, ihn lebendig vor uns zu sehen. Eigentlich wäre er mit den Mitgefangenen auf dem Postschiff, der Van Imhoff untergegangen, denn er war für dieses dritte Schiff, das die deutschen Gefangenen nach In Indien bringen sollte, vorgesehen, als ihm ein älterer Kollege seinen Platz auf dem zweiten Schiff anbot, geradezu aufdrängte.

Wahrhaftig, mein Vater konnte erzählen. Wenn er begann, versank die Welt um uns herum. Unter den Rauchwolken aus seiner Pfeife entstanden Landschaften, tauchten Tiere auf, wilde Tiere, aus dem wirren Grün des Dschungels schob sich dann und wann ein Gesicht, ein indisches Gesicht. Wenn er sich nicht rührte, kam das Gesicht heran, war eine Frau oder ein Mann. Wofür hatte man Hände? Weiße, leere, fragende Hände? Es gab schöne, schmale, dunkle Hände, die zauberten mit flinken, präzisen Bewegungen Bananen, Kokosnuss, Chili, Zwiebeln und Kartoffeln  in die Luft.  Wenn ein paar Rupiahscheine in der weißen Hand lagen, war der Handel perfekt und  Früchte lagen auf einem Bananenblatt vor meinem Vater. Die abgegriffenen Scheine wechselten geschwind den Besitzer.

Mein Vater und sein Freund Vollmer suchten eine geeignete Stelle im ausgetrockneten Flussbett, ordneten Steine zu einer Herdstelle, sammelten Brennbares und holten die sorgsam gehüteten Streichhölzer hervor. Auf dem blechernen Aluminiumgeschirr, aus der Lagerküche ausgeliehen, würden nun bald duftende Bratkartoffeln brutzeln. Die Kokosnuss war jung und hatte noch genug Kokosmilch für beide Freunde.

Mein Vater unterbrach sich und erklärte, dass es in Nordindien wenig Reis, aber Kartoffeln gäbe, die er so viel lieber äße. Die Picknicks im Flussbett seien in der Regenzeit nicht möglich gewesen. Wenn der Monsun kam, wurden Bäche und Fluss zu reißenden Gewässern. Aber, sagte mein Vater, der ein Schelm war und Späße liebte, da sei er sich sicher, er würde sich der mal einst, nachdem er in den Himmel gekommen sei, nicht in die himmlischen Chöre mischen und mit den Engeln singen. Er würde Bratkartoffeln braten, solche wie damals in Indien mit dem im gleißenden Licht der Gletscher vor sich und dem dunklen Grün des Dschungels dahinter.

Beide Freunde liebten die Berge. Wenn sie Ausgang hatten, eilten sie schnellen Schritts den Bergen entgegen. Vor ihnen stieg das Vorgebirge des Himalaya auf und darüber erschien gewaltig das höchste Gebirge der Welt mit seinen Gletschern. Eifrig versuchten Beide immer weitere Strecken in der leider streng vorgeschriebenen Zeit zu bewältigen, um immer höher hinauf zu gelangen. Überwältigend sei die Schönheit der Berge gewesen, sagte mein Vater.

Er war im Ruhrgebiet, in der dunklen Stadt Gelsenkirchen, unter Zechen und Kohlehalden aufgewachsen. Als junger Mann machte er mit seinem Bruder eine Radtour in die Schweizer Alpen. Auf einer Wanderung war er in eine Gletscherspalte gerutscht und erst Stunden später herausgeholt worden. Dennoch gab es für ihn nichts Schöneres auf der Welt – und er hatte eine Menge von ihr gesehen- als den Himalaya.

Wasserwege-Wanderwege

Die Freunde wanderten die Trampelpfade der Dorfbewohner entlang, bis sich die im Geröll verloren und sie sich am Sonnenstand orientieren mussten. Gern gingen sie an den schmalen Wasserrinnen vorbei, die zu Tal und in die Dörfer führten. Einmal, auf dem Heimweg, begleitete sie eine Kobra schwimmend, in ihrem Schritttempo, hielt an, wenn sie anhielten, schwamm weiter, wenn sie sich wieder in Gang setzten. Ihnen stockte der Atem. Das Blut gerann ihnen in den Adern. Es half alles nichts, kein Gehen, kein Stehen. Das Tier blickte sie ruhig an. Es konnte warten. Als der Weg eine Geröllhalde erreichte, sprangen sie in riesigen Sprüngen in Zick Zack Linien bergab, vergaßen die Angst, sich die Knöchel zu brechen, schauten sich erst um, als sie im Dorf ankamen.

Affentheater

Mein Vater liebte Schabernack und Streiche. Darauf verstünden sich Affen am besten. Die beiden Männer liefen gerne an den See. Dort kreischten Affen in großer Zahl, schwangen sich in den Ästen über dem Wasser und stießen einander hinein, jagten und turnten mit Anmut und in rasendem Tempo. Das sei das sprichwörtliche Affentheater.

Elefantenschiss

Man könne, sagte mein Vater, sich das trostlose, ja gespenstische Bild nicht vorstellen. Mitten in dem üppigen Grün sei es auf dem Platz auf einmal kahl  gewesen, eine Art Lichtung. Die Bäume ohne Blätter, nackte Äste, das Gras zu Boden getrampelt. Aber – sehr seltsame, hohe Haufen hätten vereinzelt zwischen den Baumskeletten herumgestanden Vorher seien Elefanten da gewesen, hätten sich an den Blättern in Rüsselhöhe gelabt, gründlich abgeräumt und eben ihre Haufen zurückgelassen. „DIE ELEFANTEN WAREN Da!“

Der Ruf der Freiheit

Ja, sagte mein Vater, jeder Gefangene möchte wohl irgendwann einmal hinaus. Im Vergleich zu den schrecklichen Zuständen im niederländischen Lager in der Allas Valley, sie es bei den Engländern in Dehra Dun recht erträglich gewesen und alles in allem oft auch lustig. Heinrich Harrer, sagte er, der hat es geschafft. Der ist tatsächlich ausgebrochen. Sie waren zu dritt. Sie waren in meinem Wing. So bekamen wir die Manöver mit, die zweimal daneben gingen. Am Ende funktionierte ihr Plan. Sie hätten sich unter einer Tragbahre mit Material versteckt und zwar mit dem Rücken zur Erde. Sie hätten Kumpel gefunden, die Monteure vortäuschten, um den Stacheldraht zu reparieren, Nun, der wurde nicht repariert sondern listig unterlaufen. Vor dem Lager hatten sie schon Material für ihren Weg in die Berge versteckt. Harrer sei jung gewesen und Alpinist, sei vorher schon im Nanga Parbat Gebiet gewandert, wäre also einigermaßen „ortskundig“ in das Abenteuer gegangen. Dies kalkulierte Risiko sei eine mutige Tat.


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