Aug 012018
 
Neoliberalismus und die Schaffung eines Systems
der organisierten Verantwortungslosigkeit

Diese Entwicklungen des Unsichtbarmachens der tatsächlichen Zentren politischer Macht haben im Gefolge des Neoliberalismus, als einer Extremform des Kapitalismus, einen weiteren Höhepunkt erreicht. Zum einen hat der Neoliberalismus eine Ideologie geschaffen, welche die bewußten Entscheidungen der Eliten als bloße Konsequenzen rationaler Naturgesetzlichkeiten eines (fiktiven) ‚freien Marktes‘ deklariert und sie damit jeder Verantwortlichkeit entzieht. Zum anderen wurden im Gefolge des Neoliberalismus neue Arten politischer Akteure geschaffen: nämlich Großkonzerne als wirkmächtigste politische Akteure. Diese wurden im Zuge einer vorgeblich gleichsam naturgesetzlichen Entwicklung, der sog. ‚Globalisierung‘, mit Rechten ausgestattet, die sie vollkommen einer demokratischen Kontrolle und Rechenschaftspflicht entziehen und sie zu den ‚perfektesten‘ totalitären Strukturen machen, die je in der Kulturentwicklung geschaffen wurden.

Dieser Prozeß stellt im Effekt nichts anderes dar als eine systematische Verrechtlichung der organisierten Kriminalität der besitzenden Klasse. In seinem Rahmen wurden und werden systematisch Mechanismen geschaffen, durch die sich ökonomische Macht in politische Macht transformieren lässt (und umgekehrt politische Macht wieder in ökonomische). Auf diese Weise ist es zu einer gigantischen Machtverschiebung von Regierungen zu Großkonzernen gekommen, so dass die tatsächlichen Zentren der Macht nun noch viel schwerer erkennbar sind als je zuvor.

Das ist gerade der Kern der neoliberalen Revolution ‚von oben‘- einer Revolution, die sich nicht nur auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt, sondern die das gesamte gesellschaftliche Leben umfasst und auf die Schaffung eines neuen Menschen, eines auf eine Konsumentenrolle reduzierten Menschen zielt, der seine freiwillige Knechtschaft als höchstes Glück ansieht.

Neoliberalismus als totalitäre Ideologie

Im Neoliberalismus lassen sich leicht typische Merkmale von Totalitarismus identifizieren, also Merkmale autoritärer Formen von Herrschaft, die alle sozialen Lebensverhältnisse durchdringen.

Als Prototyp des Totalitarismus läßt sich der Faschismus ansehen. Obwohl sowohl Faschismus wie Neoliberalismus einen totalitären Charakter aufweisen, unterscheiden sie sich wesentlich in Zielsetzung und Charakter – beispielsweise ist der Neoliberalismus auf ‚Globalisierung‘ angewiesen, der Faschismus auf einen nationalen Rahmen. Gleichwohl lassen sich strukturell einige Gemeinsamkeiten identifizieren.

Eine vergleichende Betrachtung kann auch dazu beitragen, besser zu verstehen, warum sich gerade Vertreter des Neoliberalismus bisweilen von den Möglichkeiten totalitärer Herrschaftsformen fasziniert zeigen.

Beide, Neoliberalismus und Faschismus, verbindet ein Hass auf „1789“, also auf die sozialen und politischen Errungenschaften der Aufklärung. 1789 wurden durch die französische Nationalversammlung die Bürger- und Menschenrechte verabschiedet. Aus der Perspektive des Neoliberalismus und des Faschismus steht das Jahr 1789 für Sozialstaat und egalitäre Demokratie.

Beide verbindet ein Sozialdarwinismus mit seiner Verglorifizierung der Starken und seiner Verachtung der sozial Schwachen. Beide sind elitär und teilen eine Verachtung des Volkes. Beide verlangen eine Anpassung und vollständige Unterordnung unter eine Fiktion, den ‚freien Markt‘ auf der einen Seite, das ethnisch homogene ‚Volk‘ auf der anderen Seite.

1789 und die Errungenschaften der Aufklärung

Worum handelte es sich bei den durch „1789“ symbolisierten Positionen, die zwei so unterschiedliche totalitäre Systeme wie Neoliberalismus und Faschismus zu ihrem Hauptgegner gemacht haben?

Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die 1789 von der französischen Nationalversammlung beschlossen wurde, formuliert in ihren 17 Artikeln grundlegende Bestimmungen über natürliche und unveräußerliche Rechte von Menschen und über die Beziehung von Menschen und Staat. In der Präambel legen „die Vertreter des französischen Volkes, als Nationalversammlung konstituiert“ dar, dass sie „unter der Berücksichtigung, dass das Vergessen oder Verachten der Menschenrechte die alleinigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind“ eine Erklärung über die natürlichen und unveräußerlichen Rechte der Menschen beschließen. Hierzu gehören:

Artikel 1: Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Gesellschaftliche Unterschiede dürfen nur im allgemeinen Nutzen begründet sein.

Artikel 2: Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Das Ziel einer jeden politischen Vereinigung besteht in der Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.

Artikel 3: Der Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volke. Keine Körperschaft und kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgeht.

Artikel 6: Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken. Ob es schützt oder straft: es muss für alle gleich sein. Da alle Bürger vor ihm gleich sind, sind sie alle gleichermaßen, ihren Fähigkeiten entsprechend und ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Eigenschaften und Begabungen, zu allen öffentlichen Würden, Ämtern und Stellungen zugelassen.

Ebenso wie ihre amerikanischen Vorbilder legt die französische Menschenrechtserklärung eine Universalität der Menschenrechte zugrunde. Dies bedeutet: Sie müssen nicht erst geschaffen und gewährt werden.

Diese Erklärung von 1789 formulierte ein radikales und folgenreiches politisches Programm. Denn die naturrechtliche Gleichheit aller Menschen und die sich daraus ergebenden Rechte können nur durch eine konsequente Demokratisierung und radikale soziale Reformen gesellschaftlich umgesetzt werden. Von den Nutznießern der herrschenden Ordnung wurde sie daher ebenso entschieden bekämpft wie von all jenen, die eine tiefe Verachtung des Volkes hegen und eine Elitenherrschaft für die einzig ‚vernünftige‘ Herrschaftsform halten. Das lässt den Hass verstehen, den gleichermaßen  Neoliberalismus wie Faschismus gegen das durch „1789“ symbolisierte Denken hegen.

Im Kern der Aufklärung steht das Ziel, den menschlichen Geist aus den Fesseln seiner Vorurteile zu befreien und aus vernunftfähigen Menschen vernünftige Menschen, und somit auch mündige Bürger, zu machen. Aus dem Denken der radikalen Aufklärung lassen sich eine Reihe zentraler Prinzipien herausarbeiten. Das wichtigste Prinzip läßt sich als humanitärer Universalismus bezeichnen, nämlich die Anerkennung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Der Mensch hat, Kant zufolge, „nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde“. Er kann daher keinen „Marktpreis“ haben, weil er als „Person“, d.h. als autonomes vernunftbegabtes Wesen, „Zweck an sich selbst“ ist und niemals als bloßes Mittel für die Interessen anderer ‚verzweckt‘ werden darf.

Ein universeller Humanismus schließt alle Ideen einer Vorrangstellung der eigenen biologischen, sozialen, kulturellen, religiösen oder nationalen Gruppe aus, insbesondere also Rassismus, Nationalismus oder Exzeptionalismus.

In enger Beziehung damit steht ein weiteres Prinzip, nämlich das Recht auf politische Selbstbestimmung. Jeder Bürger soll einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen haben, die das eigene gesellschaftliche Leben betreffen. Alle Bürger haben somit ein Recht auf umfassende demokratische Mitwirkung an allen relevanten gesellschaftlichen Aspekten. Zentrale Bereiche einer Gesellschaft, insbesondere die Wirtschaft, dürfen nicht von einer demokratischen Legitimation und Kontrolle  ausgeklammert werden. Alle Machtstrukturen haben ihre Existenzberechtigung nachzuweisen und sich der Öffentlichkeit gegenüber zu rechtfertigen, sonst sind sie illegitim und somit zu beseitigen.

Ein weiteres wichtiges Prinzip lässt sich als moralischer Universalismus bezeichnen: Moralische Kriterien, nach denen wir Handlungen anderer bewerten, müssen wir auch zur Bewertung unserer eigenen Handlungen heranziehen.

Gegen diese Prinzipien entwickelten sich von Anfang an gewaltige Widerstände in verschiedenen Strömungen der sog. Gegenaufklärung. Die Gegenaufklärung ist gerade durch ein Negieren dieser Prinzipien gekennzeichnet, insbesondere durch Haltungen, die eine prinzipielle Vorrangstellung der eigenen biologischen, sozialen, kulturellen, religiösen oder nationalen Gruppe zum Ausdruck bringen. Neoliberalismus und Rechtspopulismus bilden, aus unterschiedlichen Perspektiven, heute wesentliche ideologische Zentren einer Gegenaufklärung.

Die Prinzipien und Ideen der radikalen Aufklärung reichen in ihrem Kern weit in die Ideengeschichte zurück. In der Zeit der Aufklärung wurden sie indes besonders prägnant formuliert. Seitdem wurden sie kontinuierlich verfeinert und in viele Richtungen weiterentwickelt. Sie stellen die wohl größten gesellschaftlichen Errungenschaften dar, die wir in dem mehr als 2000jährigen Kampf für eine menschenwürdigere  Gesellschaft gewonnen haben. Heute, in der Zeit einer radikalen Gegenaufklärung, sind sie im öffentlichen Diskussionsraum praktisch vergessen worden, sie wurden ihrer Radikalität beraubt und sind zu bloßer ‚Aufklärungs‘-Rhetorik politischer Festansprachen verkommen. Dadurch stehen sie uns als Leitideen, mit denen wir unsere Erfahrungen gedanklich organisieren können und mit denen wir unsere Veränderungsenergie kollektiv bündeln und wirksam machen können, praktisch nicht mehr zur Verfügung. Wir sind nicht nur sozial fragmentiert, wir sind entpolitisiert, wir sind weitgehend in politische Apathie und Resignation getrieben, und wir sind vom Besten unserer sozialen Ideengeschichte entwurzelt worden. Warum? Damit wir politisch orientierungslos bleiben und damit wir vergessen, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Zu den bedeutendsten Beiträgen einer solchen Weiterentwicklung gesellschaftspolitischer Ideen der Aufklärung gehören die Arbeiten von Ingeborg Maus. Maus hat das Kernprinzip der Demokratie, nämlich die Verbindung von Volkssouveränität, Menschenrechten und Rechtsstaat, sorgfältig aus den Ideen der radikalen Aufklärung rekonstruiert und nimmt es  in seinen radikalen Implikationen für eine Demokratietheorie ernst.

Das sind keine Folgen zufälliger Entwicklungen, sondern Erfolge einer jahrzehntelangen systematischen Indoktrination durch die herrschenden Eliten. Mehr als 50 Jahre Elitendemokratie haben uns gezeigt, wohin dieser Weg führt. Es ist der Weg der Zerstörung. Der Zerstörung von Gemeinschaft, der Zerstörung der Idee von Gemeinschaft, der millionenfachen Zerstörung von Leben, der Zerstörung von kultureller und zivilisatorischer Substanz – vor allem in der Dritten Welt – und der Zerstörung unserer ökologischen Grundlagen. Die Nutznießer dieser Zerstörung haben keinen Grund, diesen Weg der Zerstörung zu ändern. Die dazu notwendige Veränderungsenergie kann nur von unten kommen – von uns. Das ist unsere Aufgabe und das ist unsere Verantwortung.


Quelle

Rainer Mausfeld, Die Angst der Machteliten vor dem Volk, Demokratie-Management durch Soft Power-Techniken, Seite 33 bis 39
https://www.uni-kiel.de/psychologie/mausfeld/pubs/Mausfeld_Die_Angst_der_Machteliten_vor_dem_Volk.pdf
Vortragsausschnitt: https://www.youtube.com/watch?v=Rk6I9gXwack&feature=youtu.be&t=1h28m1s


Link