Sep 132018
 

Kaiserswerth

Wer heute durch Kaiserswerth bei Düsseldorf schlendert, findet Erholung auf einem Spaziergang am Rhein. Wenn der Fluss mit hohen Wolkentürmen über sich im Gegenlicht schimmert, steigen hinter den scharf geschnittenen Linien der Silhouetten Bilder meiner Erinnerung auf. Weite Wiesen ziehen sich am Ufer hin, unterbrochen von Linien struppiger Weiden mit bizarren Formen. Hier wuchs ich auf.

Als ich ein Kind war, verwandelten sich die Kopfweiden in Ritterburgen oder Räuberhöhlen, ihre Zweige zu Indianer­bogen. Unzugänglich eingezäunt liegt jetzt die Welt meiner wil­den Kindheit mit ihren echten und fantasierten Abenteuern. Ungezählte, verträumte Stunden verstrichen, wenn wir zwi­schen den Kieseln am Ufer spielten, mein Bruder und ich, wenn unsere Mutter mit uns an den Rhein ging. Spannend wurde es, wenn wir die Schleppkähne mit ihren Lastbooten zählten. Wie viele tuckerten flussauf, wie viele glitten den Rhein hinunter? In der Zeit von 1947 bis 1950 waren sie mit Kohle und Holz unterwegs, so vollgeladen, dass sie im Wasser zu versinken schienen. Manche hatten ihre Güter unter einem Verdeck verborgen.

Wir mochten Flaggen. Flussaufwärts kamen die Schiffe mit den rotweißblauen Streifen von und fuhren flussabwärts nach Rotterdam. Im Sommer 1947 gingen wir dort an Land und betraten zum ersten Mal Europa. Wir kamen als Inter­nierte, als zivile Kriegsgefangene aus Indonesien, das damals trotz Unabhängigkeitserklärung immer noch als niederlän­dische Kolonie galt. Nach einer sechswöchigen Reise auf der Intrapura, einem Ozeandampfer, ließen wir die tropische Welt unseres Geburtslandes endgültig hinter uns.

In Kaiserswerth verbrachte ich die ersten Jahre meiner Kind­heit ohne Stacheldraht. Ein Leben in Freiheit war es nicht. Im „besetzten“ Deutschland waren wir nicht so frei, die Grenze nach Holland zu überschreiten, um wie früher mit holländischen Kindern zu spielen. Im Lager der Heilsarmee, in Medan, auf der Insel Sumatra machten wir es möglich. Wir Kinder, deutsche und holländische, unterliefen das Ver­bot uns mit den Feindeskindern zu treffen, ständig. Das „besetzte Deutschland“ war in Zonen aufgeteilt. Wir lebten in der englischen Zone der Westmächte. Mit unseren deutschen Freunden sangen wir lauthals „Wir sind die Eingeborenen von Trizionesien“ auf dem Schulweg, schmuggelten leise ein heimwehkrankes „Indonesien“ dazwischen.

Nachdem wir das Lager hinter uns gelassen hatten, umfuhren wir die halbe Welt auf den weiten Ozeanen. In dem Land, das uns Heimat und Freiheit versprach, gab es enge Grenzen. Der Fluss überschritt Grenzen. Der Rhein, der träge dahinfließende Strom, nahm seinen Weg in die Freiheit des grenzenlos offenen Meeres.

Aus der Richtung stromaufwärts brachten die Schiffe rote Fahnen mit weißen Kreuzen mit. Sie kamen von Basel, der Stadt mit den blauen Straßenbahnen, aus der Schweiz, die keinen Krieg kannte. Dort begann der Rhein. In den Schweizer Bergen verbrachten wir Geschwister den Sommer 1948 in großer Freiheit, als die siebenjährige Stacheldrahtzeit kaum ein Jahr hinter uns lag. Wir kamen als deutsche Hungerkinder auf kleine Bauernhöfe frommer Mennoniten.

Die vorüber ziehenden Schiffe waren das Zuhause unserer Klassenkameraden, der Schifferkinder aus dem Kinderheim der Barbarossaschule, der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, die wir als Externe besuchten. Die Schifferkinder hatten immerzu Heimweh. Ihr Kinderleben lang waren sie unterwegs auf schwankendem Boden. Die Eltern gaben diesen kleinen Menschen in ihrem unsteten Leben Halt, wenn die Ufer – sich unablässig verändernd – an ihrem Schiff vorüberzogen.

Im Heim waren sie eingesperrt – unter viel zu vielen Kindern – mit viel zu vielen fremden Erwachsenen – getrennt von ihren Eltern – hinter Mauern, die sie nicht verlassen durften. Man hielt sie gefangen – uns ließ man frei.

In dieser Landschaft, an diesem Ort lernte ich, ein deutsches Kind in Deutschland zu sein. Vorher war ich ein deutsches Kind in Indonesien. Ich war auf dem Weg in die Freiheit. Bis dahin kannte ich nur Gefangenschaft. Die Anpassung an die deutsche Kultur war und blieb ein Weg der Stolpersteine.

In Deutschland lebten wir mit unserem Vater zusammen, den wir vorher nur vom Hörensagen kannten. Nach seiner Internierung in Indien, kam er schon im Winter 1946, vor uns, nach Deutschland. Er erklärte uns die unbekannte Welt Europas. Außer ihm, schien niemand auf den Gedanken zu kommen, dass uns Europa und das kriegszerstörte Deutschland verstörten. Er nahm mich, das achtjährige Kind bei der Hand, benannte und beschrieb zuerst die Natur. Das war eine Entdeckungsreise, die Staunen und Lernen wunderbar verband. Zum Fürchten schienen dann auch die Menschen nicht mehr, aber fremd. Sie waren anders, nicht so freundlich wie Indonesier und rochen ungewohnt.

Konfliktreicher ging es bei dem Erwerb von Verhaltensformen und Einhalten von Regeln zu. Für uns ließ sich alles Deutsche in einem Wort zusammenfassen: VERBOTEN. Das Wort stand zudem auf zahllosen Schildern.

Ich hatte einen strengen Vater. Er hatte uns als Babies zuletzt gesehen. Er tat so, als sei der Zeitsprung gleichgültig. Er konnte nicht begreifen, dass für uns unsere Mutter die einzige Person in unserem Leben war, auf die es ankam. Er kannte uns nicht, wir ihn nicht. Es gelang ihm, diese Kinder aus der tropischen Welt, aus dem Lager, nicht nur mit den ihm bekannten oder dem Klischee wohlerzogener Kinder zu vergleichen. Er respektierte uns, soweit es ihm möglich war. Wir entsprachen so gar nicht seinem Wunschbild.

Selbst unsere Mutter tat sich in der neuen Umgebung schwer mit uns. Waren diese Wilden ihre eigenen Kinder? Wir hatten keine Ahnung, dass man an unserem Verhalten Anstoß nehmen könnte. Wir übertrugen naiv die Regeln der gewohnten Welt in die neue. Erwartet wurde von uns, dass wir uns wie deutsche Kinder benahmen. Indonesier waren wir nicht, obwohl manches von ihrer Kultur für uns selbstverständlich war. Deutschsein misslang uns zunächst gründlich. Es entsprach nicht den Standards, die man mit recht von uns zu verlangen glaubte.

Was waren wir? Wanderer zwischen den Welten: gefangen und frei, asiatisch und europäisch? Oder waren wir etwas Drittes? Weltbürger, die sich überall zu Recht finden? Würden wir die Welt, nicht nur einen kleinen Ausschnitt, unser Zuhause nennen? Könnte man vergessen machen, woher wir kamen?

Wenn mein Vater hinter unserem scheinbaren Ungehorsam diese, unsere „Dritte Welt“ ahnte, versuchte er behutsam oder unerbittlich genau, uns an unsere Umgebung zu gewöhnen. Er erzählte, las vor, belehrte und wies auf Zusammenhänge hin. Er schaffte Ordnung in dem unverständlichen Chaos, in dem wir uns unversehens wiedergefunden hatten. Ich wünsche jedem Kind einen Vater, der ihm die Welt erklärt.

Schleppkähne gibt es kaum noch. Heutzutage sind riesige Containerschiffe auf dem Rhein unterwegs. Manchmal düsen Motorboote vorbei oder Ruderboote ziehen in Ufernähe dahin. Der Fluss scheint weniger fleißig als früher. Damals stieß ein Schiff beinahe an das vorhergehende.

Gelassen zieht der Rhein dahin, immer noch lebensgefährlich mit seinen Strudeln, von modernen Brücken überspannt. Weitläufige Industrieanlagen türmten sich in meiner Kinderzeit nicht an seinen flachen Ufern. Inzwischen versperren sie den Horizont unter dem weiten Wolkenhimmel. Meine Kindheitstage sind, wie das Leid der einsamen Schifferkinder, im Fluss der Zeit versunken.

Ich gehe gern an den Rhein zurück. Ich mag die weite Landschaft, den immer gleichen Fluss. Er ist nicht mehr derselbe, wie ich auch nicht mehr dieselbe bin, wenn ich wiederkomme. Meinen Kindern Bettina, Friedemann und Annina zeigte ich den Fluss am liebsten, wenn er im Frühjahr über die Ufer tritt. Er verlässt souverän sein Bett, wenn er die Schmelzwasser aus den Alpen mit ausholender Bewegung über Wiesen und Äcker verteilt, in die Häuser und Städte dringt. Nur er kennt seine selbstgewählten Grenzen. Wie der Wind lässt er sich seine Freiheit nicht nehmen. Unaufhörlich weht der Wind am Rhein. Meine Enkel Lukas, Tobias, Samuel wachsen in Dresden an dem Ufer der Elbe mit seinem unvergleichlichen Panorama heran, wo ich mit ihnen spielte, wie ich es am Rhein tat, als ich ein Kind war. Manchmal nehme ich sie mit nach Kaiserswerth mit dem weiten Blick auf die schlichte, niederrheinische Landschaft.

Barbarossaschule 1947-1950

Bei den Kaiserswerther Diakonissen ging ich von der dritten bis zur fünften Klasse zur Schule. An Lehrschwestern war ich gewöhnt, nicht aber an eine Klasse mit 67 Schülern. In der Lagerschule auf Sumatra hatten wir zu siebt um einen Tisch gesessen. Schwester Emmi gehörte zu unserem täglichen Leben wie alle Lagerinsassen auch. Ein Privatleben gibt es im Lager sehr, sehr eingeschränkt.

Schwester Änne gehörte nicht zu meinem Leben. Sie vertrat die Öffentlichkeit. An den Mangel an Vertrautheit hatte ich mich zu gewöhnen. Ich saß staunend auf einer langen Bank zwischen Kindern, die wild wedelnd ihren Arm hochreckten, um eine Antwort loszuwerden, als ginge es um ihr Leben.

Manche Mädchen trugen Schürzen, an denen man erkannte, dass sie Schifferkinder, Heimkinder, waren. Mich schaudert noch heute, wenn ich daran denke, dass die Diakonissen für sie gleichzeitig Lehrerinnen, Erzieherinnen und Betreuerinnen waren. Sie ersetzten ihnen Verwandte, Freunde und die Gesellschaft außerhalb der Heimmauern. Diese unheilvolle Vermischung privater und öffentlicher Bedürfnisse nahm den Heimkindern jede Rückzugsmöglichkeit und verhinderte Nähe. Ich bedauerte meine Freundinnen unter ihnen sehr.

Pflichterfüllung und unbedingter Gehorsam erzeugte im Unterricht ein Klima angespannter Ängstlichkeit. Für Freude oder gar Humor gab es selten eine Gelegenheit, stattdessen wurde mit Ächtung, Beschämung, Einsperren und Nahrungsentzug in Hungerzeiten gedroht. Schlimm waren die Züchtigungen mit dem Stock und die Demütigungen vor unseren Augen.

Ich trug als Missionarskind eine schwere Bürde. Ich war zu meinem Entsetzen verpflichtet, nie mehr als fünf Fehler im Diktat zu machen, gut zu rechnen, still zu sitzen, nicht mit meinen Nachbarn zu schwätzen, wie der Austausch brisanter Neuigkeiten verunglimpfend bezeichnet wurde. Wie konnte man mir nur die lebenswichtigen, getuschelten Gespräche mit den Banknachbarn verübeln? Ich musste mich dafür schämen und zur Strafe in der Ecke stehen.

In der Barbarossaschule schrieb ich nicht mehr auf meine Tafel aus Sumatra, ein Geschenk meiner Patentante, Schwester Magdalene. Das Gehäuse war mit javanischer Schnitzarbeit verziert. Man klappte die Tafel auf und konnte links rechnen und rechts schreiben. Karos und Linien hatte meine Mutter mit einer Stricknadel hinein gezeichnet.

Die deutsche Tafel war leicht, aus einem Stück. Auf der Vorderseite gab es Linien für das dritte Schuljahr, die schon recht nah übereinander lagen. Auf die Rückseite schrieben wir die „Rechenpäckchen“ in die kleinen Karos. An der rechten Seite baumelte mein unentbehrliches Läppchen zum Auswischen.

Außerdem gab es einen zweistöckigen Griffelkasten. Den oberen Teil schob ich immer wieder auf und zu. Er war für spitze Griffel und den marmorierten Federhalter gedacht, nicht zum Spielen. Ich konnte ihn auch seitwärts drehen, um im unteren Teil nach den Buntstiften zu wühlen. Ich liebte meinen Griffelkasten mehr, als die Geheimnisse der deutschen Rechtschreibung.

Wir schrieben auch auf Papier in Hefte, an die ich leider kein Läppchen zum Auswischen hängen konnte. Wenn mir eine Fee diesen Wunsch erfüllt hätte, wäre mir mancher Kummer erspart geblieben. Obwohl jeder Klecks im Heft schrecklich geahndet wurde, kleckste ich riesige, hochinteressante Gebilde, die aus der Feder, ohne mein Zutun, auf das schäbige Nachkriegspapier flossen. Stillsitzen war heilige Pflicht? Wieso eigentlich? Ich war doch nicht tot, ich war quicklebendig und neugierig. Zuwiderhandlungen wurden mit Strafarbeiten bestraft. Was die Fehler im Diktat anging, schaffte ich anstandslos fünfzehn. Für alle Fehler über die geduldeten fünf hinaus, bekam ich mit dem Stock Schläge auf die Hände. Zahlen tanzten irritierend vor den Augen oder purzelten als Kakophonie durchs Ohr. Diesem Chaos war ich hoffnungslos ausgeliefert. Das Versagen im Rechnen wurde mit furchteinflößenden Drohungen für mein weiteres Leben bedacht. Ich sei eine Null und scheine es bleiben zu wollen. Ich sei ein Missionarskind, das anstatt ein Vorbild zu sein, nicht nur sich, sondern die Mission blamiere. Ich wurde ein trauriges Kind, das lieber weniger Übles in die Welt gebracht hätte, es aber nicht zu verhindern wusste.

Ich starrte auf das Bild mit der Frakturschrift, an der kahlen Wand des Klassenzimmers. Da stand in geschnörkelter Schrift in Holz eingebrannt: „Du musst zunehmen. Ich aber muss abnehmen“. Darunter war noch JOH. zu erkennen und einige Zahlen. Ich bete vertrauensvoll: Herr Jesus, kannst du mir zeigen, wie „zunehmen“ geht? „Abnehmen“ gelang mir mit Schätzwerten, mit denen Schwester Auguste, meine Mathematiklehrerin, leider nie einverstanden war. Ich war ein hoffnungsloser Fall.

Es gab etwas unvergleichlich Schönes in diesem grausamen Grau. Nie wieder sind mir Menschen begegnet, die mit soviel Fantasie, in einer so poetischen Sprache Biblische Geschichten erzählen konnten, wie die Kaiserswerther Diakonissen. Wenn ich das Neue Testament in der Ausgabe des britischen Militärs las, das mir mein Vater für die langen, heimwehkranken Monate in der Schweiz mitgegeben hatte, begleiteten mich ihre Bilder. Der Rhythmus ihrer Worte tröstete. Ihr bedeutungsvoller Stimmklang während des Erzählens leitete mich in eine lichtvolle Welt.

Durch Lesen eroberte ich mir eine ungeahnte, freie Welt außerhalb der drückenden Schulatmosphäre. Mein Vater war nach dem „Desaster des Zusammenbruchs des Deutschen Reiches“ bemüht, seinen Kindern eine bessere Welt zu zeigen. Er bereute seine Mitgliedschaft in der NSDAP. Im Lager lernte er bei den Engländern demokratisches Gedankengut kennen. Er bemühte sich, englische und amerikanische Kinderbücher aufzutreiben. In diesen Notzeiten waren es Hefte in DIN A 4-Format auf schlechtem Papier. Ich bekam: „Pu der Bär“, „Alice im Wunderland“ und „Huckleberry Finn“ in die Hand. Mein Vater glaubte an die Kraft poetischer Sprache und las selbst viel. Die Besatzer bemühten sich, die neue Generation in Deutschland über Bücher, zu einer demokratischen, westlich orientierten Mentalität zu erziehen. So trugen sie dazu bei, aus meiner Generation Europäer zu machen. Bewusste Europäer lassen enge, nationale Einstellungen hinter sich.

Wer heute über das Kopfsteinpflaster durch die Gassen in Kaiserswerth schlendert, gelangt vielleicht auf die Friederich-von-Spee-Straße, an der meine Schule lag. Die Barbarossa-Schule und das Kinderheim sind verschwunden. Geübte Augen mögen noch den alten Schulhof ausmachen, wo damals Kinder in langen Reihen zur Ausgabe der Schulspeisung anstanden. Obwohl wir hungerten, meckerten wir über die süßen Nudelsuppen. Wer sich weigerte sie zu essen, bekam einen „ermunternden“ Hieb mit einem kleinen Rohrstock. Ein Dogma, mit dem unerbittlicher Zwang ausgeübt wurde, hieß: „Iss deinen Teller leer!“ – „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“.

Niemand wusste mit Sicherheit, ob und wann es wieder etwas zu essen gab. Kinder erkennen oft nicht, dass es die Erwachsenen gut mit ihnen meinen. Ohne die Schulspeisung der Aliierten hätten manche Menschen meiner Generation das Erwachsenenalter nicht erreicht.

Ein geschichtsträchtiges Städtchen

In der Schule hörte ich, dass der Name Kaiserswerth verriet, dass hier einmal eine Insel im Rhein war. Das imponierte mir. Weil ich auf einer Insel geboren war, wollte ich gern auf einer Insel leben. Ich lernte erstaunliche Dinge. Eine normale Straße war früher ein römischer Knüppeldamm. Der Heilige Suitbert missionierte ungläubigen Germanen, unsere Vorfahren. Mein Vater missionierte Indonesier. Ich wunderte mich daher sehr, dass unsere Vorfahren Heiden waren. Die Suitbertkirche erinnerte an diesen Heiligen. Der Stauferkaiser Friederich I, genannt Barbarossa, ließ eine Burg, eine Pfalz, von der eine eingezäunte Ruine am Rheinufer geblieben ist, bauen, als sie noch auf jener Insel (Werth) im Rhein lag. Wenn ich zwischen den verfallenden Mauern herumkletterte, träumte ich von dem deutschen, rotbärtigen Kreuzfahrer und dem englischen Prinzen Ivanhoe.

Der Priester und Jesuitenmönch Graf Friedrich von Spee sammelte und dichtete nicht nur wunderschöne geistliche Lieder, sondern bewahrte manche Frau, die als Hexe verurteilt wurde, vor dem Scheiterhaufen. Sein eigener Orden verfiel während der Gegenreformation in mittelalterliche Barbarei und Aberglauben durch das Unwesen der Inquisition. Ihn lernte ich durch meine Lehrerinnen als Schützer der unabhängigen Hebammen kennen, die zu Unrecht als Zauberinnen verfolgt wurden. Ferner brachten mir meine haubengeschmückten Lehrerinnen bei, dass im neunzehnten Jahrhundert Kaiserswerth zur Wiege der Inneren Mission und Diakonie wurde. Diakonissen hatte es vorher nicht gegeben.

Friedrich-Spee-Akademie nennt sich die Seniorenvereinigung in Wuppertal, der Stadt in der ich jetzt lebe. Kostenlos stellt sie sich Senioeren, die im letzte Lebensabschnitt noch eine Aufgabe bewältigen wollen, zur Verfügung. Diese Gesellschaft bekämpft auf diese Weise uneingestandene Alterseinsamkeit, Gefühle der Sinnlosigkeit und des Überflüssigseins und lässt die Mitglieder ihren Talenten und Interessen gemäß im Austausch Ziele verfolgen, die sie sich vorher nicht zu getraut haben. So wirkt dieser Mann, der in Kaiserswerth geboren wurde, hinweg über die Jahrhunderte bis in unsere Zeit.

Als ich in den vierziger Jahren des letzen Jahrhunderts die Schule der Diakonissen besuchte, waren sie eine mächtige Institution am Ort. Sie unterhielten die bedeutende Krankenanstalt und Pilgerhäuser in Rom und Jerusalem. Sie sind rar geworden, die Diakonissen. Sie prägen das Stadtbild nicht mehr. Einige von ihnen gehen langsam über das holperige Pflaster. Alt, manche uralt geworden. Ihre modernisierte Tracht scheint seltsam steif wie eine Uniform. Als ich ein Kind war, eilten sie, sie eilten – sie gingen nie gemächlich – in ihren langen, dunkelblauen, weißgepunkteten Baumwollkleidern, die sich im ewigen Wind vom Rhein her, bauschten. Mit den zierlichen Rüschenhauben aus weißem Tüll hatten sie etwas rührend Mädchenhaftes an sich. Die modische Kleidung der Kaiserswerther Bürgerinnen bestimmte der Gründer der Diakonissenanstalt, Theodor Fliedner zur Schwesterntracht.

Im Umgang waren die Diakonissen streng, durchdrungen von Hingabe als Pflicht, ohne Wenn und Aber, unerbittlich gegen sich und andere. Grausam ahndeten sie gnadenlos auch die kleinen Verfehlungen eines Kinderlebens. Ich kann mich nicht erinnern in ihrer Schule gelacht zu haben. Geweint wurde viel und oft. Spielen gehörte leider zu den Unerlaubtheiten, Weinen auch. Selbstverständlich wurde nicht geweint, auch nicht, wenn geschlagen wurde. Es wurde häufig geschlagen.

Ob Theodor Fliedner diese Strenge beabsichtigte, weiß ich nicht. Ich wurde gelehrt, ihn und Florence Nightingale, die legendäre Krankenschwester, die ihn beriet und mit ihm zusammenarbeitete, wie Heilige, fraglos, zu verehren. Das weiße Stammhaus der Schwesternschaft am Markt ist noch immer ein ehrfurchtgebietender Ort.

Von den Schwestern lernte ich nicht nur wahnsinnige Angst vor Autoritäten sondern auch ziviles Engagement. „Man kann etwas gegen das Elend in der Welt tun“, sagten sie und handelten danach. Ich wurde auch in die Frauenemanzipation eingeführt, als es dieses Wort im allgemeinen Sprachschatz noch nicht gab. Mut und Initiative lebten sie vor. Helden brauchten keine anmaßenden Einzelkämpfer zu sein. Es gab sie ebenso in der Gemeinschaft der Dienenden, die der Armut, der Unwissenheit und dem Leid der Kranken oder der verlassenen Kinder die Stirn boten.

Dienen war die Legitimation und Garantie für die Freiheit, die sich Frauen herausnahmen, wenn sie ohne den Schutz von Ehe und Familie, ein unabhängiges Leben führten. Dem Menschen ist nur gedient, wenn ihm professionell gedient wird, war die Devise dieser gut, bis sehr gut, ausgebildeten Frauen, als die Gesellschaft Frauen noch kein Recht auf Bildung gewährte. Demut und Dienen war ihr Gesetz. Sie waren immer im Dienst, ohne Ansprüche, nie privat. Manche verkümmerten bei dieser Haltung zu emotionalen Krüppeln. Das ahnte ich als Kind nicht, wenn ich nachts mein Kissen nass weinte aus Angst und Schrecken vor der Schule und mich wieder für irgendetwas Unbestimmtes schuldig fühlte. Das Gelübde der Ehelosigkeit wurde erst eingeführt als sich, Armen- und Krankenpflege und Haushaltsführung nicht mehr vereinbaren ließen.

In meiner Grundschulzeit bin ich ausschließlich von geistlichen Schwestern unterrichtet worden. Meine Lehrerinnen in Deutschland waren Diakonissen der Inneren Mission, die Schwestern im Lager auf Sumatra gehörten der Äußeren, der Rheinischen Mission an, wie meine Eltern.

Bei meinen Erinnerungen halte ich mir vor Augen, was für ein Kind ich war. Meine schulischen Kenntnisse waren lückenhaft, mein Verhalten noch nicht der deutschen Umgebung angepasst. Ich lebte in einem Prozess der allmählichen Anpassung. Ich würde nie ganz und gar dem deutschen Bild eines wohlerzogenen Mädchens entsprechen. Meine Prägung gleicht mehr einem doppelt belichteten Foto. Die deutschen Schüler, die mit mir gemeinsam die Barbarossaschule besuchten, erinnern sich gern an ihrer Schulzeit. Sie kamen mit den Schifferkindern kaum in Berührung. Sie entsprachen den Erwartungen ihrer Eltern und Lehrer, ich leider nie, so sehr ich mich auch bemühte.

Ein wenig verwundert betrachte ich die gegenwärtige, sterile Landschaft, dieses kleinen Ortes. Die geordneten Wiesen, die neuen Häuser, architektonische Experimente sehr wohlhabender Bürger, das flanierende Publikum auf dem asphaltierten Uferweg, in aktueller Mode. Es stellt Eleganz und teuren Geschmack zur Schau. Man fühlt sich als Düsseldorfer. Künstler haben sich hier niedergelassen. Galerien prägen das Stadtbild. Cafés laden zum Bleiben.

Ich habe den Krieg nicht in Europa erlebt, aber den Nachkrieg. In der Nachkriegszeit war Kaiserswerth eine Idylle. Der Vergleich mit dem kriegszerstörten Ruhrgebiet, wo meine Großeltern lebten, jagt mir noch heute einen Schrecken ein. Wie manche Idylle hatte der Ort etwas Unheimliches an sich.

Ein hoher Bunker aus Kriegszeiten, der so gar nicht in die Anmut seiner Umgebung passt, wurde nie abgerissen und bietet Platz für Wohnungen.

Die kopfsteingepflasterte Hauptstraße führt zum Stammhaus der Kaiserswerther Diakonie. Hier halten Touristenbusse. Die geschichtlichen Anfänge der Sozialarbeit und des Gesundheitswesens bleiben aktuell. Ihre Entwicklung in unserer Zeit geht weiter in den Krankenanstalten mit modernster Medizin und professioneller Patientenbegleitung.

Auf einer Nebenstraße gelangt man zur Suitbertkirche. An ihrer Außenmauer gibt es eine Märtyrerstele des Künstlers Gerresheim mit der Darstellung der Krematorien der Konzentrationslager, der mittelalterlichen Scheiterhaufen mit brennenden Hexen, den heißen Quellen, in denen in Japan Christen, die der Jesuitenorden gewonnen hatte, ertränkt wurden, das Inferno von Hiroshima – und mittendrin – Graf Spee mit Liederbuch und Nachtigall gegen das Grauen in der Welt. Mit unseren japanischen Freunden stehen wir manchmal vor diesem Epitaph, der das Märtyrertum japanischer Christen mit dem europäischer verbindet. Die ersten Christen Japans wurden in heißen Quellen verbrüht. Jahrhunderte lang lebten später japanische Christen in der Gegend von Hiroshima und Nagasaki, bis 1945 genau hier der Atomblitz alles zerstörte und sein Rauchpilz sich über dem „Scheiterhaufen“ ausbreitete. Das Epitaph zeigt das Leid des Atomkrieges parallel zu dem der ersten Märtyrer. Es verbindet es mit den jüdischen Märtyrern den Krematorien, den „Scheiterhaufen“ der deutschen KZs, auf denen jüdische Menschen in Massen in Rauch zum Himmel aufstiegen.

In der Ortsmitte liegt der Klemensplatz mit den Straßenbahnen nach Düsseldorf und Duisburg. Folgt man der Straße flussabwärts, kommt man an Bürgerhäusern vorbei, alten und neuen. Bomben fielen hier kaum. Eine Allee führt zum Schloss Kalkum und seinem Park. Im frühen Frühjahr verwandeln blühende Annemonen die Wiesen ringsum in luftige, weiße Teppiche.

Die Hungerwinter 1947/48

Im Winter kommt der Rhein immer noch aus seinem Bett, überschwemmt die Wiesen und zaubert kleine oder größere Seen zwischen die Weiden. Wenn er es streng meint, frieren sie zu. Er meinte es in den ersten Wintern, die ich als Tropenkind dort verbrachte, bitterstreng. Eisschollen glitten den Fluss hinab. Auf den Rheinwiesen froren die Wasserlachen zu. Mein Vater lehrte uns auf dem glatten Eis zu rutschen. Die anderen Kinder hatten Schlittschuhe oder als Ersatz, interessante Erfindungen aus Sperrholz oder Gummireifen an den Füssen. Es gab rote Backen, riesiges Gejohle und Getobe und Gelächter auf dem Eis. Nur ich rutschte aus und fiel hin, immer wieder. Ich blies auf meine erfrorenen Finger und beschloss, den Winter zu hassen. Die Schiffe auf dem Rhein tuten unheimlich, wenn undurchdringlicher Winternebel die Landschaft verschluckte. Ich fürchtete solche Tage. Vor dem langen Schulweg im weißlichen Nichts graute mir.

Wenn der Frühling kam, wälzte sich das Tauwasser – tausend Kilometer weit aus den Bergen kommend – bis in unsere Niederungen und überschwemmte die Rheinwiesen, kroch am Deich entlang, hinauf bis zu dem großen Haus, in dem wir wohnten. Es leckte erst an dessen hohen Schutzmauern, machte Ernst und holte sich, was der Keller hergab. Äpfel schwammen hinaus, gefolgt von leichtem Koks. Kartoffeln versanken schnell. Wir hingen aus den Fenstern und jammerten ihnen nach wie auch die Erwachsen, weil wir Hunger hatten, nie gestillten Hunger. Alle hatten Hunger. Alle froren. Die wechselnden Jahreszeiten waren für mich und meinen Bruder eine unerhörte Erfahrung. Im Herbst brachte er weinend bunte Blätter zu meiner Mutter. Verzweifelt schluchzte er: „Der Baum hat alle Blätter weggeschmissen. Ich habe sie ihm zurückgegeben. Er hat sie nicht genommen.“

Eiszapfen brachte er dagegen entzückt mit, um sich daran im Sommer die Hände zu „kälten“. Er legte sie vorsorglich auf die Heizung, um in Empörung auszubrechen, dass diese ihm die Eiszapfen gestohlen und dafür Wasser zurückgelassen habe. Böse Zeiten brachen an, wenn wir lange, gestrickte Strümpfe an einem Kleidungsstück, „Leibchen“ genannt, anknöpften und die mit Stroh versetzte Wolle an den Beinen unerträglich zu kratzen begann. Die Brotsuppen wurden wässriger, die Brotscheiben durchsichtig, die Kartoffeln blieben abgezählt, wurden nur immer kleiner. Ich versuchte mich in der großen Küche nützlich zu machen, wurde aber verjagt.

Haus Heimatfreude

Fast am Ortsende, an der Grenze zu Wittlaer steht an der Arnheimerstraße das große, rote Haus, in dem ich von 1947 bis 1950 aufwuchs. Über der mächtigen Freitreppe prangt immer noch die Inschrift HAUS HEIMATFREUDE. Wie bitterer Hohn klang dieser Name in den Ohren meiner Eltern, die hier eine schlimme dreijährige Leidenszeit unausgesetzter Schikanen nach der siebenjährigen Internierung erlebten.

Die Rotbuchen stehen nicht mehr, der hohe Zaun ist abgerissen – die Fahnenstangen mit ihrem schmiedeeisernen Emblem MT (Missionstöchterheim) sind fort. Geblieben ist der riesige Garten, nicht das Spalierobst. In den Sommernächten musste mein Vater mit anderen männlichen Mitbewohnern die Bäume vor Dieben schützen. Es gibt einen Rasen, wo sich einmal gepflegte Gemüsebeete ausdehnten. Er breitet sich auch dort aus, wo einmal aller Hungersnot zum Trotz, Blumen in paradiesischer Schönheit den Hang am Haus zierten. Niemand hetzt mehr über das Gelände wie Schwester Milli mit ihrer schiefen Haube, die Furie meiner Kindheit. Niemand schreitet umher, um gelassen Giftpfeile mieser Schäbigkeit zielgenau in das Herz meiner eingeschüchterten Eltern zu bohren, wie es Schwester Anna so unvergleichlich beiläufig erledigte. Ein eleganter, steriler Anblick bietet sich dem Besucher.

Die Schilder an den Klingeln verraten Adressen von Juristen und Wirtschaftsfirmen. An der Tür, die früher Pforte hieß, gibt es reges Leben. Junge, schicke Leute eilen hinaus und hinein mit Aktentaschen oder Laptops unter dem Arm.

Dahinter war einmal mein Zuhause. Eine wunderschöne Wendeltreppe führte nach oben. Eine kleine nach unten in den Keller und in die riesige Küche mit der Köchin Edeltraut und den Haustöchtern, jungen, christlichen Frauen, die lernen sollten, was sie einmal als Hausfrauen brauchten. In jener Zeit wurde ein Mädchen Mutter und Hausfrau oder Wirtschafterin in einem christlichen Haus oder Heim, wenn sie nicht heiratete.

Die Nachkriegszeit machte diesem Frauenbild ein Ende. Da die Männer im Krieg geblieben waren, übernahmen sie deren Aufgaben und Berufe. Ich war nicht nur von einem Erdteil in den anderen gewechselt, von Asien nach Europa, sondern auch vom Krieg in den Nachkrieg.

Der Hintereingang von Haus Heimatfreude war uns Kindern vorbehalten. Der Weg über die rote, gebohnerte Diele zur Treppe blieb ein Spießrutenlauf, weil unsere Schuhe oder nackten Füße selten den Reinlichkeitsanforderungen des Hauses entsprachen. Es gab Schmutz, den wir trotz gutem Willen nicht sahen und dafür bestraft wurden. Für deutsche Augen waren sie eben dreckig. Fassungslos standen wir vor Bohnermaschinen, die mit Wachs und Tuch von schweißtriefenden, hübschen jungen Mädchen hin und her geschoben wurden. Ihr Haar hatten sie unter Kopftüchern versteckt. Sie selbst verschwanden hinter weißgestärkten Schürzen, die durch irgendeine Zauberei nie fleckig wurden. Man durfte sich nicht mit ihnen unterhalten, weil sie pausenlos arbeiten mussten.

Einmal jedoch nahmen sie uns zum Ährenlesen mit auf den Acker vor dem großen Haus. Der Bauer ließ für die hungernde Bevölkerung Ähren liegen, die die Mähmaschine nicht erfasst hatte. Ährenlesen in Deutschland war für uns so schön wie Reisstampfen in Sumatra.

Ein anderes Mal zeigten sie mir, wie man einen Schneemann baut. Ich blieb allein zurück, als meine Eltern und mein Bruder zu einer Tante fuhren, weil ich krank war. Das Fieber sank und ich durfte in den Garten. Es war Schnee gefallen. Den hatte ich noch nie gesehen und ihn für die Erfindung einer schönen Geschichte gehalten. Eifrig schaufelte ich ihn mit den Händen in eine Hausecke, nahm einen Stock und modellierte damit einen Schneemann in die weiße Masse. Ich war allein und doch sehr glücklich, dass ich schon im Lager einen Schneemann aus Papier ausschneiden musste. So wusste ich doch genau, wie ein echter Schneemann auszusehen hatte. Die Haustöchter lachten mich herzlich aus. Gemeinsam rollten wir drei Ballen und setzten sie auf einander. Dem letzten Ballen zauberten wir mit Kohlestückchen ein Gesicht ins runde Nichts. Eine Möhre für seine Nase, wie man sie im Lesebuch sah, hätten wir lieber gegessen.

Bei einem Arztbesuch wurden wir auf eine Waage gestellt und hinausgeschickt, damit wir nicht mitkriegten, was sich die Erwachsenen über unser Gewicht zu sagen hatten. Es war ein Alarmsignal, das die Weichen für einen Aufenthalt in der Schweiz stellte.

Das erste Zuhause in Deutschland

Unser erstes Zuhause lag in der dritten Etage von Haus Heimatfreude. Das Zimmer für uns Vier: Vater, 42 , Mutter 43, Tochter 8 und Sohn 7 Jahre alt. Ein einziges Zimmer, unser Zuhause für drei Jahre. In dem Raum standen zwei hinter einander gestellte Betten für die Eltern, ein ovaler Tisch mit einer Decke, deren Spitzen auf den Boden reichten, ein Sofa mit hoher Lehne, zwei Stühle und ein eingebauter Schrank für unsere Habseligkeiten, ein Waschbecken. Ein Podest unter dem Fenster, mit Stuhl und Nähkorb war unser aller Lieblingsplatz.

Bruder Hartmut, Mutter Johanna und Dietlind 1948

An dem Tisch aßen wir. Meine Eltern hatten um dies bisschen Privatsphäre bitter gekämpft. Wir waren in einem Altersheim untergekommen. Während des zweiten Weltkrieges waren die Töchter der Missionare, für die das Haus vorher bestimmt war, evakuiert und zum Teil in alle Winde verstreut worden. Als das Haus seine Funktion verlor, öffnete es zu Kriegsende seine Pforte für alte, pflegebedürftige Missionsleute. In der allgemeinen Wohnungsnot und Zwangswirtschaft musste es Flüchtlinge wie uns, die nicht bei Verwandten unterkommen konnten, aufnehmen.

Am Anfang waren wir als Familie gezwungen worden, an dem Leben im Heim mit seinen Regeln teilzunehmen. Dasselbe Schicksal traf noch vier weitere Familien in derselben Lage. Sie taten sich zusammen, um dem despotischen Regiment der Schwestern zu entgehen. Meine Eltern versuchten alles, um sich wenigstens teilweise selbst zu versorgen. Ihnen wurde meines Vaters Gehalt bis auf ein Taschengeld abgenommen, unsere Lebensmittelkarten, ohne die niemand in der damaligen Zeit irgendetwas kaufen konnte, einbehalten.

Mit meinen Eltern und den Mitbewohnern ging man um, wie mit unmündigen, renitenten Kindern. Die beiden Schwestern demütigten sie und brachten sie arglistig um ihre Rechte. Als ehemalige Lagerinsassen waren sie passiv geworden. Geschwächt von Hunger, Krankheit und Gefangenschaft, wurden sie um den letzten Rest ihres Selbstbewusstseins gebracht. Aus dieser Mentalität der Abhängigkeit mussten sie sich befreien, um ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Erst in der Mitte meines Lebens, hörte ich, wie viele Missionstöchter dieses Heim als gebrochene Menschen verließen. Sie sollten eigentlich zu tüchtigen, christlichen Persönlichkeiten erzogen werden. Als ich „Ehemalige“ befragte, ergab sich ein weit gestreutes Spektrum. Manche lobten die Lebensgemeinschaft. Sie erzählten von Hochzeiten, an deren Vorbereitung alle Altersstufen beteiligt wurden. Sie lobten den Sinn für Schönheit, der ihnen vermittelt wurde. Sie lobten die lange Verantwortlichkeit, die die Schwestern auf sich nahmen, wenn die Eltern der Zöglinge noch im Ausland waren. Sie begleiteten und berieten die jungen Frauen in der Ausbildungszeit und bei der Partnerfindung. Das geschah ausschließlich für ihre Lieblinge.

Ich erlebte, wie eine Frau von achtzig Jahren, von unstillbaren Schluchzen geschüttelt, sich weigerte, über diese Zeit Aussagen zu machen. Sie wandte sich wortlos ab, weil sie nie mehr daran erinnert werden wollte.

Der tyrannische Stil der Schwestern blieb sich gleich, ob sie die anvertrauten Zöglinge erzogen oder ein Alters- und Flüchtlingsheim führten. Während die „Ungeliebten“ hungerten, luden die Schwestern gleichzeitig ihre Verwandten oder Lieblinge aus den Zeiten ihres Aufenthaltes im Töchterheim von außerhalb zu Festessen ein. Mit Hilfe der unterschlagenen Lebensmittelmarken wurden Menschen beköstigt, die keinen Anspruch darauf hatten. Mich empört immer noch, wie ohnmächtig meine Eltern ihrem hinterhältigen Tun ausgeliefert waren.

Wie wir Geschwister lernten, einen Vater zu haben

Mit unseren Lebensgewohnheiten eckten wir Kinder ständig an. An einem Tisch zu sitzen, war eine ganz und gar ungewohnte Haltung für uns. Wenn wir saßen, dann mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden, nur ausnahmsweise in der gleichen Haltung auf einem Stuhl. Auf der anderen Seite der Weltkugel, sagte mein Vater, herrschten andere Sitten, die auf dieser nicht mehr gälten. Er übernahm unsere Erziehung für die europäische Welt mit europäischen Methoden. Die unterschieden sich von dem sanften, bejahenden Umgang, den wir von meiner Mutter kannten, sehr. Auch meine Mutter war indonesischer geworden als mein Vater.

In der kleinen Küche, die die Bewohner des dritten Stocks benutzen durften, tauschte sich meine Mutter mit Tante Thea, der Mutter von Uli, meines Bruders älterem Freund, aus. Ich hörte mit gespitzten Ohren, dass „unsere Männer in Dhera Dhun, in Indien, nie Kinder um sich gehabt hätten, dass sie deswegen so seltsam streng und weltfremd mit ihnen umgingen“. Familie Meyer war in der gleichen Lage wie wir. Herr Meyer, ein Kollege meines Vaters, hatte die Internierungszeit mit ihm geteilt. Frau Meyer und ihr Sohn waren die ersten Jahre der Internierung mit meiner Mutter zusammen auf Sumatra durch diverse Lager gegangen. Unter der japanischen Besatzung gelangten sie auf die Gefangeneninsel Onrust und erlitten ein viel härteres Schicksal als wir.

Wenn wir uns nach dem Abendbrot um den Tisch versammelten, betete mein Vater das Abendgebet. Es nahm kein Ende. Die gesamte, uns unbekannte Verwandtschaft wurde aufgezählt, als müsste man Gott an jeden Einzelnen erinnern. Das war tatsächlich der Sinn dieser Zwiesprache, von der wir uns ausgeschlossen fühlten und grausam langweilten.

Es wurden Fritz und Gustav, zwei Onkel, Brüder meiner Mutter, erwähnt, die „vermisst“ waren. Das hieß, sie waren aus dem Krieg nicht wieder zurückgekehrt. Sie waren dort geblieben. Man wusste nicht wo. Meine Mutter malte sich schreckliche Bilder von Lagern aus, von denen sie gehört hatte. Wir versuchten sie zu trösten, so gut wir konnten. Sie weinte viel und oft.

Mein Vater las lange und unverständliche Dinge aus der Bibel vor. Wenn eine Geschichte, in dem nicht endenden Redefluss vorkam, spitzten wir die Ohren. Meist hielt er sich an ungewöhnliche Namenslisten. Das seien „Register“, erklärte er. Jedes Wort der Bibel sei kostbar. Man dürfe keines auslassen. Hinter jedem Namen stände ein ganzes Leben. Er las keine einzelnen Geschichten, er las stets ein ganzes Buch im Zusammenhang. Die Bibel bestand aus vielen Büchern. Wir staunten, dass er Leute kannte, die die gesamte Bibel mit all ihren Büchern von vorn bis hinten durchgelesen hatten. Das war uns fremd.

Wir begegneten der animistischen Welt der batakschen Indonesier. Wir lernten im Lager das Christentum in der Gestalt der holländischen Heilsarmee kennen. Meine Mutter las uns Geschichten aus ihrem „Gottbüchlein“ vor. Sie erzählte mehr, als dass sie vorlas. Ihre „Gotteswelt“ war uns nah, ein vertrautes Zuhause wie ihre Stimme. Uns an die christliche Welt des Vaters zu gewöhnen, dauerte. Wir würdigten sie sehr viel später.

Die Eltern Johanna und Gustav Rebuschat 1938

Unter dem Tisch, mit der gestickten Decke und ihren langen Fransen, war mein „Häuschen“. Ungestört, spielend, verbrachte ich dort Stunden um Stunden. Traumzeiten waren das, ziemlich weit entfernt von der Wirklichkeit. Manchmal ergab sich eine Gelegenheit, unbemerkt den Gesprächen der Erwachsenen zu lauschen. Ich strengte mich an, zu verstehen, was ich hörte. Ich war neugierig, weil sie von den Dingen sprachen, die unser Leben in Deutschland so bedrückt und traurig machten.

Sie vergaßen mich. Sie vergaßen sich. Sehr oft tauchte das Wort Nazi auf, mit dem ich nicht viel anfangen konnte. Wenn ich danach fragte, wurde mir ausweichend geantwortet oder geschwiegen. In Deutschland wurde viel geschwiegen. Wenn es sehr wichtig wurde, wenn eine Erklärung zum Greifen nahe lag, wurde abrupt geschwiegen.

Wenn die Namen der Geschwister meiner Mutter fielen, weinte sie herzzerbrechend. Ich mochte meinen Vater bei diesen Gelegenheiten nicht. Leider verdächtigte ich ihn zu Unrecht, dass er meine Mutter absichtlich quälen wollte, wenn er sie offenbar schonungslos in die Verstricktheit seiner und ihrer Familie in deren nationalsozialistische Vergangenheit einweihte.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland besuchte er die Verwandten, die sich in der britischen Zone befanden. Sie informierten ihn über die katastrophale Lage nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches. Sie berichteten von den Kriegsjahren mit ihrem unaussprechlichen Leid. Sie standen nicht nur vor den Trümmern ihrer Häuser, sondern auch vor denen ihres Lebens. Die grimmigen Folgen aus der Hitlerdiktatur drückten so schwer wie der Hunger. Was ihnen heilig gewesen war, stellte sich als Irreführung von dämonischem Ausmaß heraus. In der Luft lag unausgesprochen bleiern das Wort Schuld. Davon wollte niemand sprechen. Daran durfte keiner rühren. Das Eingeständnis von Schuld blieb aus. Jahrzehntelang.

In meinem schwarz-weißen Weltbild gab es nur schuldige Kinder. Kinder waren an allem schuld. Erwachsene ließen sich nichts zu Schulden kommen. Meinem kindlichen Gefühl für Gerechtigkeit misstraute ich, weil die Erfahrung mir sagte, dass jede Anstrengung, es Erwachsenen recht zu machen, vergeblich sei. Ich musste mich immerzu entschuldigen, auch für Dinge, die ich nicht getan oder unterlassen hatte. Wie oft habe ich gezwungenermaßen gelogen. So wurde ich immerzu hoffnungslos schuldig.

Ich erschrak, als ich erkannte, dass auch Erwachsene einander wehtaten. Sie fügten Kindern Schmerz zu, weil er ihnen in einer fernen Zukunft nützlich sein sollte. Der Schmerz, den Erwachsene einander antaten, schien keinen anderen Sinn zu haben, als den, einander weh zu tun. Die ethische Ordnung in meiner acht- bis zehnjährigen Vorstellung war von dem realitätsfernen Miteinander der Müttergesellschaft im Lager geprägt. Wenn ich meinen Vater bat, sein verletzendes Verhalten zu erklären, sagte er: „Das verstehst du nicht. Die Gründe liegen tiefer.“ Meine Mutter hob seufzend die Arme und stöhnte: Wo kämen wir hin, wenn …? Danach folgten als Erklärung irgendwelche „Nebelbomben“. Meiner Generation wurde das Fragen als ungehörig aberzogen.

In Haus Heimatfreude begegnete mir zum erstenmal bewusste Bosheit. Gezielte Verletzung. Mobbing, Schikanen, die Giftquelle für unablässigen Kummer, panische Angst und Jammer meiner unglücklichen Eltern. Noch immer von Nazi-Deutschlands Ideologien beseelt, deformierten die beiden Schwestern Alfs die Menschen um sich herum. Am schlimmsten fand ich, dass meine Eltern sich untereinander wehtaten. Denn sie gaben sich gegenseitig die Mitschuld an den Gräueln des Krieges.

Alle unsere Verwandten waren ausgebombt. Das Geschäft einer Schwester meiner Mutter war in Flammen aufgegangen. Die Flucht unserer Verwandten aus Ostpreußen endete mit ihrem Tod beim Untergang des Schiffes Wilhelm Gustloff. Mein Vater war dem Untergang der Van Imhoff auf dem Gefangenentransport von Sumatra nach Indien knapp entgangen. Die Nachrichten von der schuldhaften Verstrickung der geliebten Menschen zur Zeit des Naziregimes nahmen kein Ende. Mein Vater war Parteimitglied gewesen und suchte vergeblich eine Stelle als Pfarrer.

Mein Vater schlug uns, vor allem meinen Bruder. Das kannten wir nicht. Mein Verhältnis zu meinem Vater bewegte sich zwischen Liebe und Angst. Die Enge in dem kleinen Zimmer wurde im Winter unerträglich. Die Gereiztheit wuchs. Als wir nicht mehr zu Viert in dem kleinen Zimmer schlafen konnten, bekam ich eine Kammer. Ich teilte sie mit der viel älteren Doris Schrey, die mir aus der Internierungszeit vertraut war. Auch in diesem Zimmer gab es ein Podest unter dem hohen Fenster mit einem winzigen Tisch. Auf dem machte ich meine Hausaufgaben und träumte in die Rotbuchen hinauf. Nach mir nahm mein Vater dort Platz. Ich bin oft unter dem klappernden Geräusch seiner „Erika“, einer Reiseschreibmaschine, eingeschlafen. Zuletzt kam Doris. Mein Bruder wurde mit Freund Uli und Herrn Rudi Brandt auf einem Zimmer untergebracht. Rudi war schon zwanzig Jahre alt. Eine tolle Entdeckung. Vielleicht war er verliebt. Wir lagen auf der Lauer. Seine beiden Schwestern waren ständig verliebt. Wir beobachteten sie. Neugierig versuchten wir zu erfahren, wie sie sich in ihren Rollen als Mann und Frau unterschieden.

Den zahlreichen Erwachsenen konnten wir entfliehen, wenn wir hinaus auf die Rheinwiesen zogen. Die hohlen Weidenbäume, nahmen uns auf, wie uralte Menschen, die ein Kind verstehen, ohne dass es etwas erklären muss. In ihren Zweigen ließ sich klettern, schaukeln und träumen. Die Jungen wollten unentwegt kämpfen – als Ritter, Indianer, Soldaten. Einmal fanden sie ein Depot brauchbarer Patronen, auf denen sie fleißig klopften, um sie zum Platzen zu bringen. Welche Heere von Schutzengeln haben Wache gehalten. Die Abenteuer mit einem verrotteten Boot auf dem Schwarzbach lockten mit reizvollen Gefahren. Mein Vater, ein passionierter Karl-May-Leser, erweiterte unsere Spiele mit neuen Vorschlägen, während meine Mutter vor Angst verging. Da es noch keine Waschmaschinen gab, Seife selten oder gar nicht auf Marken zu bekommen war, durften wir uns nicht schmutzig machen. Das Verbot war das natürliche Ende jeden abenteuerlichen Spiels. Die Kleiderspenden in den Care-Paketen aus Amerika enthielten glücklicherweise einen „Mottenmantel“, d.h. einen zerlöcherten Kindermantel in unbestimmter Schutzfarbe. Dieses Gewand flatterte meinem Bruder malerisch um die mageren Beine. Ohne das gute Stück zog mein Bruder nie mehr in irgendwelche Unternehmungen. Uli versuchte es ihm gleich zu tun, mit einem mausgrauen Etwas, das genau so wie ein ausgewachsener Kindermantel aussah. Wen und wozu inspirierte der wohl? Zu nichts als Kinderkram, gewiss nicht zu atemberaubenden Erlebnissen, wie ein Mottenmantel es vermag.

Immerhin war es Uli, der die streng gehüteten Liebesbriefe seiner Eltern fand, als die beiden Freunde Brennmaterial für ihre Erdhöhle brauchten. Diese Alternative zu den luftigen Nestern in den Weiden bauten sich die Beiden, als es kühler wurde. Mit geklauten Streichhölzern, eine sorgsam gehütete Kostbarkeit in jenen Tagen, machten sie es sich an einem nasskalten Wintertag schön warm in dem unterirdischen Zimmer. Tante Theas Entsetzen kannte keine Grenzen, als sie den Verlust bemerkte. Den nahm der Onkel gelassen, was meine Mutter zu heller Empörung trieb.

Kindliche Albträume

Kinder haben eigene Wege ihren Kummer auszudrücken. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Gelände hinter Haus Heimatfreude den Grundriss eines Schiffes in den Sand kratzte, sorgfältig Maschinenräume, Schlafsäle und Decks und Reling einzeichnete. Mit diesem, in den harten Boden gekritzelten Schiff, spielten wir Intrapura, der Name des Schiffes mit dem wir Sumatra verlassen hatten. Wir segelten über die uns bekannten Meere. Wir nahmen die beiden etwas verständnislosen, aber willigen Töchter von Frau Wölk, einer Hausangestellten und Flüchtlingsfrau, mit auf die Reise von Indonesien nach Deutschland.

Nachdem wir in den Hafen eingelaufen waren, änderte ich das Programm und zeichnete aus dem Schiffsoval ein Haus Heimatfreude, mit verschiedenen Zimmern, Küche und Keller. Die einzelnen Kammern markierte ich sorgfältig mit Steinen und Mustern. Danach verteilte ich die Rollen. Uli wurde Hausmeister, mein Bruder Krankenschwester und eine von den Wölks Töchtern Köchin.

Laut rief ich triumphierend: „Ich bin Schwester Milli und kann euch alles verbieten!“ In dem Augenblick griff eine harte Faust nach mir, schüttelte mich, dass mir Hören und Sehen verging und schrie mich an: „Das nimmst du sofort zurück! Entschuldige dich für diese Lüge! Aber plötzlich!“ Ich starrte in zwei blitzblaue Eisaugen und brüllte zurück: „Nein!“. Ich starrte auf die schiefe Schwesternhaube und die Furienfratze, die keifend, allerdings vergeblich, verlangte, mich zu entschuldigen.

Meine Mutter liebte diese Begebenheit. Sie erzählte oft genüsslich, wie die empörte Schwester Milli mich zu ihnen in den Garten gezerrt habe, mich vor sie hinstellte und verlangte, mich zu zwingen, mich bei ihr, für meine freche Lüge zu entschuldigen. In dem Moment lachte Professor Eichholz und seine Frau schallend los. Auch eine Art Konflikte zu entschärfen. – Die beiden waren als Feriengäste in Haus Heimatfreude und mit meinen Eltern befreundet.

Als ich als Studentin nach Wuppertal kam, erzählte mir Professor Eichholz diese Episode mit großem Vergnügen. Dass ein unerschrockenes Kind dem gefürchteten Drachen wagte, die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, bliebe ihm und seiner Frau unvergessen. Meine Mutter mochte ihn seit ihrem „Bräutekurs“ für angehende Missionarsfrauen sehr gern, weil er für seine Auslegungen des neuen Testamentes jüdische Quellen benutzte. Eine Weise biblischer Auslegung, die mein früh verstorbener Großvater als Schneider bei einem Rabbiner zu lernen versucht hatte.

Es ergab sich, dass mein Mann als Student und später, als Kollege, das theologische Erbe von Georg Eichholz fortsetzte. Mit Frau Eichholz blieben wir bis zu ihrem Tod freundschaftlich verbunden.

Der Krieg zwischen mir und den Schwestern Alfs blieb über die Jahre mit unterschiedlicher Intensität bestehen. Schwester Milli, besann sich irgendwann darauf, dass sie einmal angetreten war, Missionarstöchter zu erziehen. So kam es wohl, dass sie mir an einem Sommerabend zeigte, wie sich die Blume „Schlafmützchen“, für die Nacht vorbereitet. Ich sehe die hagere Gestalt mit der weißen Haube sich sanft über Blumen beugen, mir ihre Eigenarten ,,beschreibend“. Für mich als Tropenkind öffnete sich damit die Tür zu einem liebevollen Interesse an der europäischen Pflanzenwelt, die anders als die vermisste, exotische, auch schön war.

Ein anderes Mal nahm Schwester Milli mich mit in ihr Wohnzimmer, wo ihre Fotografien an der Wand hingen. Ich wollte auch einmal solche wunderbaren Bilder machen können wie sie. Natürlich hasste unsere Familie Schwester Milli aus tiefster Seele. Dennoch erwähnte meine Mutter stets wenn ihr Name genannt wurde, dass sie betörend gut fotografiere, Blumenarrangements gestalte wie die niederländischen Maler und unbegreiflicherweise auch noch Reste verblichener Schönheit in ihrem Gesicht leider nicht zu übersehen seien, wo sie doch ein hässlicher Tyrann und schikanöser Folterknecht sei.

Unter Schwester Millis Regie erstand alljährlich in der getäfelten Eingangshalle ein Wunderwerk von einem Weihnachtsbaum vom Boden zur Decke reichend, über und über mit glitzerndem Schnee bestreut. An seiner Spitze leuchtete ein Stern. An seinen Zweigen hingen silberne Kugeln. Ob dazwischen weiß-silberne Engel flogen, weiß ich nicht genau. Ich sehe sie zwar vor mir, bin mir aber nicht sicher, ob sie nicht doch aus Wunsch und Fantasie dahin gelangt sind.

Unter den langen Zweigen am Boden zogen Kamele in langer Karawane. Solche hatte ich wenige Monate vorher am Suezkanal, kurz vor Port Said gesehen. Eine Schafherde, wie sie vor wenigen Wochen auf den Rheinwiesen graste, drängte sich zusammen. Die Stadt Bethlehem gab es und einen Ziehbrunnen, Menschen aller Art, die prächtigen Könige, die ärmlichen Hirten und den Stall mit dem Kind in der Krippe und Maria und Josef.

Vom Heiligabend bis zum Epiphaniastag, zwölf heilige Nächte lang, versammelte sich die Hausgemeinde um den Baum, um Weihnachtslieder zu singen. Die greisen Missionare oder ihre Frauen, fast alle verwitwet, kamen aus ihren Zimmern, alle Angestellten ließen die Arbeit ruhen, alle Heimkehrer, das waren Leute aus dem Ausland wie unsere Familie, oder solche, die aus den östlichen Teilen Deutschlands geflüchtet waren, oder Soldaten, die krank aus Lagern zu ihren Familien zurückfanden. Alle, alle, stimmten in die innigen Melodien ein.

Ich wartete sehnsüchtig auf das Lied vom „Morgenstern, der leucht’ daher zu dieser Stunde“. Von meinem Bett aus konnte ich ihn hinter der dunklen Rotbuche aufsteigen sehen und als Abendstern, wenn ich schlafen ging. Ich liebte diesen Stern, der mich die Nacht begleitete und morgens in den Tag entließ, seitdem das Kreuz des Südens nicht mehr über meinen Nachthimmel wanderte. Meine Eltern zeigten uns, wie die Milchstraße über den nördlichen Sternenhimmel führt und der Mond uns treu begleitet, wo immer wir uns befänden. Ehe uns die Augen zufielen, las uns unsere Mutter „Peterchens Mondfahrt“ vor.

Am zweiten Weihnachtstag wurde ich mit „Weihnachtskind“ angeredet. Es wurde mir zu meinem neunten Geburtstag gratuliert. Das blieb bis zu meinem elften Geburtstag so. Die Familien feierten ihr eigenes Fest auf ihren Zimmern. Wir hatten uns riesige Mühe gegeben mit unseren Geschenken für die Eltern und noch viel mehr für alle Verwandten. Mein Bruder und ich stickten Kissenbezüge. Den Stoff „organisierten“ die Eltern. Organisieren bedeutete ein Netz mannigfacher Kanäle aus Tausch-, Kauf- oder Gefälligkeitsaktionen. Das Stickgarn lieferten uns Mutters mitgebrachte Bestände aus der Internierungszeit. Trotz Krieg gab es immer noch Waren nach europäischem Geschmack in Medan, als wir Sumatra verließen. Im kriegszerstörten Deutschland waren Garne nicht mehr aufzutreiben.

Alle Verwandten hatten uns mit Gaben bedacht. Solch ein Weihnachten, mit diesem Hin und Her von Geschenken, war Freude und Last. Letzteres durfte man aber nicht laut sagen, sonst war man ein verwöhntes Gör.

Was haben wir Kinder gestöhnt, wenn Weihnachten vorüber, aber die Bedankungsbriefe unter der strengen Aufsicht meiner Eltern geschrieben werden mussten: auf Holzpapier, auf dem die Tinte zerfloss. Die Eltern meckerten, empörten sich. Zornglühend standen sie hinter mir, drohten, pochten mit langen, unerbittlichen Zeigefingern auf die vielen Fehler. Sie endeten mit ihrem Credo: „Man muss sich schämen, dass man dich kennt“.

„Ich kenne diese Leute doch nicht“, quengelte ich herum. „Das sind Verwandte, keine Leute“, hieß es. Also quälte ich mir weiter diese Briefe mit den unechten Gefühlen ab. Es gab immer wieder unvorhersehbare Hürden auf dem Weg deutsch zu werden.

Nach Weihnachten machte sich mein Vater wieder auf, um auf langen Reisen als Reisemissionar für die Mission zu predigen. Er leitete Schulwochen und vertrat erkrankte Pfarrer. Er war sehr fleißig und wollte unbedingt eine Pfarrstelle bekommen. Weil er aber Mitglied in der NSDAP gewesen war, erschien das im Nachkriegsdeutschland fast unmöglich. Da er mit seinen Predigten der damals noch unabhängigen Rheinischen Mission hohe Kollekten einbrachte, war sie nicht daran interessiert, ihn los zu werden.

Mein Vater gab uns Kindern ein Heftchen, um für den „Dankopferring“, zu sammeln. Das bedeutete, dass ich von nun an monatlich einmal von Tür zu Tür ging, die alten Missionare im Haus um eine Spende bat und diese ordentlich in ein Büchlein eintrug und das Geld in einem Säckchen aufbewahrte, das mein Vater als Gefangener genäht hatte. Wenn ich bei den Bewohnern anklopfte, gelangte ich jedes Mal in ein anderes Reich, je nachdem, auf welchem Erdteil der jeweilige alte Mensch als Missionar gearbeitet hatte und welche Dinge ihn bis zu seinem Tod begleiten sollten. Ich lernte von den erzählfreudigen Alten eine Menge über ihr Leben in fernen Ländern und ihr bleibendes Gefühl von Fremdheit im eigenen Land. Sie lehrten mich, meine kleine Welt in die Fremdheit Deutschlands einzuordnen. Alle wurden mit Onkel und Tante angeredet, wie meine Blutsverwandten. Ich wusste nicht, woran ich war. Wo begann das Fremde? Wo endete die Vertrautheit. Die Jahre in Haus Heimatfreude, waren im Grunde die Fortsetzung des Lagerlebens unter ähnlichen Bedingungen – aber in Deutschland. Das machte mir die Anpassug nicht leichter.

Onkel Rudersdorf schilderte, wie er im Urwald auf Nias vom Pferd stürzte, als er die Tiger brüllen hörte. Er hinkte seit seinen Unfall.

Frau Rabeneck nannte mich zartes Wesen. Zwar giftete ich zurück, dass ich nicht verwest sei, aber sie blieb dabei. Sie erklärte mir noch manche sprachlichen Missverständnisse, die ich nicht immer willig korrigierte. Deutsch war in Deutschland doch viel schwerer, als in Sumatra.

Auf der Bettkannte sitzend zeigte mir Onkel Diehl chinesische Schriftzeichen. Ein Kringel bedeutete „Mund“, ein Strich darin aber „sprechen“. Ein Dach stand für „Haus“, das Strichlein darin „Frau“ und „Frieden“. Zwei Strichlein wandelten es in „Unfrieden“. Da lachten wir beide, weil wir an die bösen Schwestern dachten, die uns das Leben so schwer machten. „Onkel Diehl, du siehst aus wie ein Chinese.“ sagte ich. „Dietlind, du siehst aus wie eine kleine Batakfrau“, sagte er. „Weißt du, wir Menschen passen uns an“. Wenn das so war, würde ich auch mal deutsch aussehen mit schöner, weißer Haut. Die deutschen Kinder würden aufhören zu rufen: „Mit dösigen Chinesen mit gelber Haut spielen wir nicht“. Das Chinin gegen Malaria ließ mich sehr lange gelblich aussehen. Die hellen Kinder taten dasselbe wie die dunklen Indonesischen, die nicht mit Weißen spielen wollten.

Ich erfuhr, wie weh es alten Menschen tut, einsam zu sein. Ich wurde geliebt, verwöhnt und nie getadelt, wie sonst in meinem Kinderleben. In Haus Heimatfreude wurde „die sprichwörtliche Missionsfamilie“ unter seinen Bewohnern gelebt.

Großeltern, Tanten und Onkel

Meine Großeltern mütterlicherseits habe ich nie kennengelernt. Das tut mir heute noch leid, weil ich meiner Großmutter sehr ähnlich sein soll, ihre Heiterkeit, ihr Temperament, ihre Gesprächigkeit, die Freude an offenen Türen und ihr arbeitsames Wesen geerbt haben soll. Nur ihr kastanienbraunes Kraushaar habe ich nicht geerbt, was meine Mutter bedauerte. Sie war sehr oft traurig, dass ihre Eltern gestorben waren, ohne ihre Enkel gesehen zu haben und wir nie erleben würden, wie es wäre, gerade diese Großeltern zu haben. Schon als neunjähriges Kind verlor sie ihren Vater. Wir hatten großes Mitleid mit ihr, weil wir einen Vater hatten und sie nicht. Ihre Mutter starb im Krieg. Als die Bomben auf Gelsenkirchen fielen, verbrannten mit ihnen alle Fotos und Dokumente. Ich beneide Menschen, die Akten, Briefe und Bilder besitzen, die sie mit ihren Wurzeln verbinden.

Die Eltern meines Vaters lebten in Gelsenkirchen. In Deutschland waren wir nicht mehr die einzigen Rebuschats auf der Welt. Wir besuchten unsere Großeltern unter dem löchrigen Dach der Methodistischen Kirche. Sie lebten mit meiner Tante Friede, der jüngsten Schwester meines Vaters zusammen.

Nebenan wohnte meines Vaters Schwester Lotte mit unserer Cousine Sigrid und ihrem Mann Fritz. Schüsseln standen auf dem Boden, in die der Regen hinein tropfte. Meine Großmutter jammerte. Mein Großvater schickte sich ins Unvermeidliche. Meine Tante Friede sorgte für eine Mahlzeit und ein Lager für die Nacht bei unserem ersten Besuch. Die Gemüsesuppe hatte meine Oma gekocht. Sie schmeckte uns himmlisch gut. Meine Großmutter sagte, Kochkunst bestehe daraus, aus nichts eine leckere Speise zu bereiten. Am nächsten Tag nahm sie mich mit auf den Markt. Zierlich wie sie war, eilte sie auf ihren hübschen Pumps davon. Sie drehte und wendete das Gemüse, sie tippte auf Fischleiber, meckerte und feilschte, zog jammernd ihre Lebensmittelmarken und einige Scheine aus dem schäbigen Portemonnaie. Mit dem mager bestückten Netz zogen wir ab.

Meine Großmutter fand ich schön, weil sie veilchenblaue Augen hatte und langes, schwarzes Haar mit einigen Silberstreifen darin. Meinen Opa liebte ich sofort. Er hatte pechschwarze Augen und stotterte ein wenig. Er versuchte trotz seines Alters auf dem methodistischen Friedhof zu arbeiten und fuhr mit meinem Onkel Fritz Ware aus: Fische. Sie rochen beide immerzu nach Fisch.

Meine Cousine Sigrid hatte keine Schuhe. Sie wurde im Kinderwagen gefahren, obwohl sie schon vier Jahre alt war, wenn sie auf die Straße wollte. Wir beneideten und bedauerten sie in einem Atemzug. Unsere Mutter hatte Leder aus Sumatra mitgebracht, aus denen der Schuster uns Winterschuhe gemacht hatte.

Auf dem Trümmerfeld vor der Kirche brachten uns die Pfarrerskinder, richtige Großstadtgören, bei, wie man auf den Gerüststangen ausgebombter Häuser balanciert, klettert und in unbekannte, einstürzende Keller gelangt. Wie man Angst vor Granaten überwindet und sich vorsichtig weiter tastet, ins Ungewisse, das so spannend lockt.

Als meine Tanten Charlotte und Friede sich am Sonntag zum Gottesdienst auf die Kirchbank setzten, hoben sie ihre dunkelrosa Plisseeröcke so hoch, dass man ihre hellrosa Unterröcke sehen konnte. Ihre Haare wickelten sie zu Locken auf und sprachen ein Deutsch voller Fehler. Ich wunderte mich sehr, wie seltsam Deutschland war, wenn man aus Kaiserswerth herauskam.

An dieser Stelle möchte ich erzählen, wie ich meinen Großvater zum aller ersten Mal kennen lernte. Das war im Juli 1947. Kaum waren meine Mutter und mein Bruder von der Malaria genesen, die sie gleich bei der Ankunft in Haus Heimatfreude packte, als wir uns auf den Weg nach Gelsenkirchen machten.

Zuerst ging es mit der Straßenbahnlinie 11 nach Düsseldorf an ausgebombten Häusern vorbei. Vor dem Bahnhof wurde mein Vater von fremden Leuten flüsternd angesprochen, ob er dies oder das kaufen oder tauschen wolle. Das war der Schwarzmarkt, wie ich hörte. Von außen konnte ich nichts Schwarzes erkennen und schloss daher, dass es sich wohl um etwas verborgenes Inneres handelte.

Auf dem Bahnsteig drängten sich Unmassen von Menschen, die ins Ruhrgebiet fahren wollten. Als der Zug eingelaufen war und zischend hielt, schob mein Vater meinen Bruder durchs Fenster, damit er schnell Plätze belegen konnte.

Ich liebte Züge. Die Dampfloks sausten als gigantische Ungetüme mit Lampen wie glühende Augen in die Halle. Dabei ließen sie mit Höllenlärm weißen Dampf entweichen, während die Räder nach und nach zur Ruhe kamen. Es roch auch gut nach Kohle. Mein Bruder lag inzwischen der Länge nach über der Bank, wie ihm mein Vater befohlen hatte, um Plätze für uns zu reservieren. Die Reisenden schoben mit schwerem Gepäck an ihm vorbei. Meine Mutter hatte zum Glück einen Sitzplatz in dem überfüllten Zug.

Die Leute kamen vom „Hamstern“. Auf den Bauernhöfen am Niederrhein hatten sie ihre Wertsachen gegen Essbares getauscht oder für horrende Preise gekauft. Die Menschen drängten sich überall. Selbst auf dem Dach der Züge saßen die Mutigsten, wie wir es heute nur aus indischen Filmen kennen. Der Zug fuhr durch ein verwüstetes Trümmerland. Ich sah in Räume wie in klaffende Wunden. Zerfetzte Tapetenreste winkten herüber. Eine Hängelampe schaukelte an einer Zimmerdecke, die von drei Seiten einsehbar war. Als wir Essen-Altenessen durchquerten, zogen nicht endende Trümmerhaufen an meinem Blick vorbei. Kein Baum, kein Gartenstück, nichts als Hügel aus zerbrochenen roten und grauen Steinen.

In Gelsenkirchen führte uns mein Vater in einen Park. Auf einer Wiese standen hohe Steine. Grabsteine wie sich herausstellte. Mein Großvater arbeitete auf diesem methodistischen Friedhof als Gärtner und Totengräber. Bergmann „unter Tage“ wie früher konnte er in seinem Alter nicht mehr sein. Wir schlichen, uns hinter den Steinen versteckend, heimlich an zwei gebückte Gestalten an, die eine Grube aushoben. Mein Vater fasste uns an den Händen und lief mit uns auf sie zu. „Vater da sind sie“, rief er. Der alte Mann schaute mich mit kohlrabenschwarzen Augen an, lächelte und sagte, „Marjellchen, Tochterchen, da bist du ja“. Das war der Anfang einer innigen Liebe.

Mein Großvater nahm mich zu einem Stein, auf dem stand: Gustav Dziewas 1913. „Da unten liegt dein anderer Großvater“, sagte er. „Der Vater von der Johanna“. Die Johanna war meine Mutter, die mein Vater wie alle Welt, Hanna nannte. „Sein Grab sollte schon lange Platz machen für ein anderes, aber ich wollte es behalten, bis ihr zurückkommt. „Mein Großvater sprach abgehackt, als müsse er die Worte mühsam aus irgendwelchen Tiefen holen. Mein Großvater Rebuschat, der Gustav hieß wie mein Vater, hatte dafür gesorgt, dass das Grab nicht eingeebnet wurde, bevor wir nach Deutschland kamen. „Die Kinder sollen wissen, woher sie kommen“, sagte er zu meinem Vater. Die wurzellosen Angereisten aus dem fernen Asien sollten ein Zuhause finden.

Er zeigte mir noch ein zweites Grab. Darauf stand: Esther Dziewas. Das war meines vermissten Onkels Gustav erste Frau, die sehr jung an einem Hirntumor gestorben war. Eine Schwester meiner Mutter, Tante Emmi, meinte später, man habe sie wahrscheinlich durch einen Euthanasieeingriff sterben lassen. Als Krankenschwester konnte sie das beurteilen.

Meine Großmutter besuchten wir in einem anderen Sommer im „Bergmannsheil“, einem Krankenhaus. Sie lag mit mindestes sechs anderen Frauen in einem Saal, in einem Bett am Fenster. Zwischen langen, schwarzgrauen Haaren lag ihr zartes Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Als mein Vater sie sanft streichelte und ansprach, schlug sie sie auf und sagte mit tiefer Stimme. „Kinder“.

Ich erinnere mich nur noch daran, wie meine Mutter sie nach Medikamenten fragte. Daraufhin lächelte sie schief, hob das Kopfkissen an und wies auf die gehorteten Tabletten, die sie alle nicht eingenommen hatte, bevor sie wieder das Kissen darüber gleiten ließ. Meine Eltern schüttelten den Kopf. Meine Mutter verkündete: „Sie wird wieder gesund“. Sie wurde wieder gesund und starb erst Jahrzehnte später im Alter von 95 Jahren, als eine der sechs ältesten Einwohner von Gelsenkirchen.

Vorher musste mein Vater allerdings zweimal im Jahr, mit Familie oder ohne, im Frühjahr und Herbst an ihr „Sterbelager“ eilen, weil sie Abschied nehmen wollte, sich aber jedes Mal entschloss, doch noch weiter zu leben. Von ihr werde ich später erzählen, denn ich liebte sie herzlich und war neidisch auf meine Kusine, die immer bei ihr lebte.

An einem Tag während dieses Besuches nahm mich mein Vater mit auf einen breiten Platz, der von riesigen Trümmerhaufen umringt war. „Das ist kein Platz“, erklärte mein Vater, „das ist die Poensgenstraße. Hier war ich ein Kind. Wo wir stehen, stand einmal das Haus, das dein Großvater kaufen wollte. Die Bomben waren schneller.“ Die Bomben ließen ihren Tod bringenden Regen so lange auf die Stadt mit den Zechen und Hochöfen, auf die „Stadt der tausend Feuer“, wie sie einmal hieß, fallen, bis aus ihr eine „tote Stadt“ wurde. Städte, mit gänzlich zerstörter Infrastruktur wurden so bezeichnet. Die Not der Restbevölkerung war unvorstellbar. Mein Vater bückte sich, hob etwas Rundes, gänzlich Verkohltes auf, zeigte es mir und meinte, die Reste eines Topfes in der Hand zu halten. „Das ist, was geblieben ist“, seufzte er und murmelte, „Phosphor“.

Meine Tanten sprachen von Verdunkelung und „Christbäumen“, die brennend vom Himmel fielen, das waren aber nichts anderes als leuchtende Bombenpakete aus Phosphor. Sie erzählten von Nächten in Kellern und lichterlohen Flammen auf den Straßen. Von zusammen stürzenden Häusern, die die Fluchtwege versperrten, wenn die Sirenen Entwarnung heulten.

Ich kannte die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki nur vom Hörensagen, weit weg von der Insel Sumatra, wo ich hinter Stacheldraht aufwuchs, abgeschnitten vom Rest der Welt.

Die Atombomben, die im August 1945 auf ihr eigenes Land fielen, zwangen die Japaner zur Kapitulation und zum Verlassen ihrer eroberten Gebiete, darunter Indonesien. Der nachfolgende Kolonialkrieg bewirkte, dass wir als deutsche Kriegsgefangene ausgewiesen wurden. Mein Zuhause lag seitdem nicht mehr hinterm Stacheldraht, sondern hier im kriegszerstörten Deutschland.

In Europa lernte ich den zweiten Weltkrieg über seine Spuren im Nachkriegsdeutschland kennen, in dem meine verzweifelten Eltern Reste des Vorkriegsdeutschland suchten.

Im Sommer 1947 stand eines Tages in der Eingangshalle von Haus Heimatfreude eine schwerbepackte Familie. Der Mann war ein Riese. Sein Rucksack mächtig. Seine kleine Frau trug einen kleineren. An den Händen hielten sie zwei kleine Jungen. Der Mann war mein Onkel Walter, seine Frau, meiner Mutter Schwester Emmi, die Jungen meine etwas jüngeren Vettern aus Schmalkalden in Thüringen Hans-Martin und Peter. Wir tobten mit ihnen durch das Haus und schliefen „Kopf-bei-Fuß“ einträchtig in dem überraschenden Gefühl: „Wir sind eine große Familie“ Die Reinholds reisten aus der russischen Besatzungszone an. Ein Jahr später, mit Gründung der Bundesrepublik und der Demokratischen Republik Deutschland konnte man das nicht mehr. Danach blieb nur noch die Flucht über die „grüne Grenze“, das hieß über Wiesen, Felder und Wälder, aus dem Osten in den Westen.

Mittlerweile konnten wir Deutschlands Zonen mit den scharf bewachten Grenzen unterscheiden. Meinen Eltern bin ich dankbar, dass sie mich nicht für zu jung hielten, mir politische Zusammenhänge zu erklären. Bei persönlichen Fragen lautete die Abwehr leider monoton: „Das verstehst du noch nicht.“ Meine Mutter hielt sich an einen Satz ihrer Mutter: „Kinder sperrt Augen und Ohren auf. Ihr lebt in geschichtlichen Zeiten“. Von nun an gehörte ich dazu: zu einer Familie, Schule, Stadt, zu einer Besatzungszone in einem geteilten Land. Sie hatten alle eine deutsche Geschichte.

Im Tropengenesungsheim

Im Oktober 1947 fuhren wir nach Tübingen ins Tropengenesungsheim. Als wir auf dem Stuttgarter Bahnhof auf den Zug warteten, hörten wir, wie Arbeiter ihre Reparaturen an der Bahnhofshalle mit lautstarkem Schwäbisch begleiteten. Mein Bruder stellte sich interessiert zu ihnen, kam zurück und meinte sachlich: „Also deutsch sprechen sie nicht, holländisch und malaiisch auch nicht, nicht mal englisch oder japanisch. Die reden wahrscheinlich französisch. Das kenne ich nämlich nicht.“

In Tübingen, im Kinderkrankenhaus wurden wir in einem riesigen Schlafsaal untergebracht, den wir glücklicherweise mit den Kindern aus der Internierung teilten. Noch im Mai und Juni machten wir gemeinsam in ebenso großen Schlafsälen die Schiffsreise von Sumatra nach Rotterdam. Wenn die Krankenschwester verschwunden war, erzählten wir von den Erfahrungen im fremden Deutschland, vom Heimweh nach Sumatra und der wenig verständlichen Welt, in die wir geraten waren.

Ich konnte mit einer Sensation aufwarten. Ich wusste nämlich, was sich in dem Stück leerer Sinaiwüste, an dem wir vorbeigefahren waren, zugetragen hatte, als wir nicht dabei waren. Schwester Gertrud, meine Lehrerin, konnte mit allen Details berichten, wie die armen Israeliten mit ihren Kindern und allem Gepäck vor dem bösen Pharao aus Ägypten flohen. Ägypten? Das war da, wo in Port Said unzähligen Boote unser großes Schiff umkreisten, ein Zauberer zu uns an Bord kletterte, dem kleinen Werner blitzschnell Küken aus dem Hemd holte und eins nach dem andern über das Deck laufen ließ.

Die Israeliten aber, als sie ans Rote Meer gelangten, konnten leider nicht auf die andere Seite schwimmen. Sie schleppten ihre Sachen und die kleinen Kindern mit sich. Zum Schwimmen war es zu weit. Das hätten wir mit eigenen Augen gesehen. Ich wüsste leider nicht, warum sie kein Schiff anhielten. Eines hätte sie vielleicht auf die andere Seite gebracht. Die Schwester hätte davon nichts, aber etwas anders, berichtet. Es hätten sich im letzten Moment, rechts und links, zwei Mauern aus Wasser, aus nichts als Wasser, aufgetürmt. Das gesamte Volk wäre, ohne sich die Füße nass zu machen, zwischen den Wassermauern auf die andere Seite des Roten Meeres gewandert. Die bösen Ägypter, die wären hinter den Israeliten hergejagt. Mit Pferden, wahnsinnig schnell. Auf die andere Seite wären sie nie gelangt. In dem Augenblick, wo die Ägypter mitten im Roten Meer ankamen, seien die Wassermauern über ihnen zusammengestürzt. Arme Ägypter! Alle sind ertrunken. Ihre Pferde auch. Auch ihre Kampfwagen. Eben alle und alles sei im Roten Meer versunken.

Warum hätten sie die Israeliten so gequält? Die mussten in der heißen Wüstensonne Pyramiden bauen. Moses, ihr Anführer, habe einen ägyptischen Aufseher vor Zorn totgeschlagen und sei mit seinem Volk geflohen. Das Rote Meer habe sich gespalten, weil er mit seinem Bambusstab ins Wasser schlug. Aus diesem Zauberstab habe er schon vorher eine giftige Schlange gezaubert, die sich auf den Pharao zu schlängelte. Mit giftigen Schlangen wüssten wir ja Bescheid. Man könne kaum glauben, was Mose mit seinem Zauberstab angestellt habe.

Ich wunderte mich insgeheim, warum die Israeliten nicht durch den Suez-Kanal gezogen waren, der war schmal und schlug keine Wellen. Das wagte ich niemanden zu fragen und überhaupt wäre die Geschichte nicht mehr so spannend gewesen und am Ende ohne Wunder und Zauberei ausgekommen.

Die Krankenschwestern nahmen uns mit zu den Streuobstwiesen. Die Äpfel schienen uns ungenießbar sauer. Nach und nach gewöhnten wir uns an den neuen Geschmack. Wir hatten Hunger. Den dicksten Apfel mit den rötesten Backen brachten wir Bertold Klappert ans Krankenbett. Man hatte ihm ein Ohr wegen einer Mittelohrvereiterung aufgemeißelt. Er lag still und unansprechbar unter seiner Decke. Bertold war im Lager mein Klassenkamerad und sollte später mein Mann werden. Seine jüngere Schwester Anneliese und ich bekamen Malaria. Zusammen lagen wir in einem kleinen Isolierzimmer. Anneliese war gerade sieben Jahre alt und in die erste Klasse eingeschult worden. Bitter beklagte sie sich, dass ihre Klasse in Siegen schon beim großen „T“ seien, sie aber hier festgehalten würde und gewiss den Anschluss verpasse. Mir war gleichgültig, was meine Klasse zurzeit lernte und wo ich sie einzuholen hatte, wenn ich zurückkäme.

Meine Mutter hörte in der Klinik, dass sie Skorbut habe. Ihr fielen in kurzer Zeit alle Zähne aus. Außerdem hatte sie sich in den Internierungsjahren eine unheilbare Darmkrankheit zugezogen. Meines Vaters Asthma, sein Nierenleiden, seine übergroße Nervosität waren unter den damaligen Umständen nicht zu behandeln. Bertolds Mutter, meine zukünftige Schwiegermutter, erlitt eine Fehlgeburt.

Tropengenesungsheim Tübingen um 1950 © Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth

Wie viel Leid damals in dem Tropengenesungsheim aufbrach, wurde uns erst als wir erwachsen waren, bruchstückhaft mitgeteilt. Es gab Situationen, in denen das damals übliche Schweigen gebrochen wurde. Wenn unsere Eltern verzweifelten, warben sie bei uns um Trost und Verständnis. Wir waren zu jung und überfordert. Welche Kinder waren das damals nicht, in ihrem Verhältnis zu den schwer geschädigten Erwachsenen? Niemand war da, sie psychologisch zu begleiten. Sie hätten es bitter nötig gehabt. Niemand war da, die Traumatisierten zu trösten. Jedermann hielt seine Kriegserlebnisse für die schrecklichsten. Man kannte sich aus mit Flucht, Vertreibung und Bombardierungen. Der Kriegsschauplatz auf der andern Hemisphäre der Welt war kaum jemand bewusst. Das Schicksal unserer Eltern weckte Befremden, aber kein Mitgefühl.

In ihren Augen waren wir Kinder dafür da, ihre Last mitzutragen. Wir hatten doch alles miterlebt. Sie hatten gelitten. Wir Kinder waren davongekommen. Dafür hatten sie alles getan. Sie hatten fast Menschenunmögliches geleistet, uns eine behütete Kindheit zu schaffen, alles Böse von uns fern zu halten und uns ein heiteres Leben in einem heiteren Land zu ermöglichen, das nicht umsonst als paradiesisch galt.

Wir wurden früh dazu erzogen, unserer Wahrnehmung zu misstrauen. Finstere Vorkommnisse sollten wir in einem positiven Licht sehen und solange umdeuten, bis sie in das Bild einer glücklichen Kindheit passten. Wir wurden zur Schönrednerei verbogen, als wir unsere verletzten Eltern gerne ungeschönt geliebt hätten. Die schlichte Wahrheit, dass eine Kindheit in Gefangenschaft keine schöne Kindheit ist, durften wir nicht einmal denken.

Vom „Gefängnis Nachkriegsdeutschland“ in die Freiheit der Schweiz

Im Frühjahr 1948 hörte meine Mutter gar nicht mehr auf zu weinen. Einmal weckte sie mich, was sie nie, nie tat, um den Schlaf ihrer Kinder nicht zu stören, der zu oft gestört worden war. Sie weckte mich mit den Worten, die ich nicht vergessen habe in all den Jahren danach. „Kind, wach auf! Israel ist heute ein Staat geworden. Du erlebst, was deine Vorfahren vor dir erleben wollten. Das Versprechen ist wahr geworden, die Juden kehren heim in ihr Land.“ Sie hatte uns Kindern in dem Jahr davor im KZ Neuengamme das Krematorium gezeigt, in dem man jüdische Gefangene verbrannte. Wir sprachen über unsere Freunde, die Avés, die durch ihre Flucht nach Indonesien, dem Inferno entkommen waren.

Es handelte es sich um eine jahrhundertealte Hoffnung unsere Familie, die darauf wartete, den wiederkehrenden Messias mit eigenen Augen zu sehen. Wenn er käme, bräche eine neue Zeit der Gerechtigkeit an – allerdings unter der Bedingung, dass Israel wieder in sein Land zurückkehre. Über Generationen hatten die Familien meiner Eltern diesen Glauben bewahrt. Jede rechnete fest damit, diese messianische Zeit zu erleben. Bitteres Leid sollte ein untrügliches Zeichen seines Kommens sein. Apokalyptisches Leid brach über die Welt im und nach dem zweiten Weltkrieg herein, also schien seine Zeit gekommen.

Für die Tränen meiner Mutter gab es viele Gründe. Der schmerzlichste war wohl die bevorstehende Trennung von ihren Kindern, die zu dem Zeitpunkt acht und neun Jahre alt waren. Wir Geschwister waren unterernährt. Schweizer Familien nahmen deutsche Hungerkinder bei sich auf. Meine Mutter schrieb Briefe in den Schweizer Jura, an Frau Loosli auf dem Moron, um meinen Bruder einzuführen und an Frau Minder in La Motte bei St Ursanne als Gebrauchsanweisung für mich.

Uns lockte das Abenteuer. Mit einem Kindertransport und einer Adresse um den Hals kamen wir in Basel an. Wir wurden in eine blaue Straßenbahn und später in einen elektrischen Zug nach Délémont gesteckt. Unbekannte Schweizer halfen uns freundlich weiter. Wir hielten ihre Fürsorge für selbstverständlich. Kinder scheinen mir in der Nachkriegszeit weniger gefährdet gewesen zu sein als heute, wo überall Gewalt und Missbrauch lauert.

Ein elektrischer Zug fuhr in den Bahnhof. Das war etwas anderes, als die deutsche Dampflok, die mit Kohle, wie sie mein Großvater als Bergmann aus dem Bergwerk geholt hatte, mit Getöse davon dampfte. Der Schweizerische Zug bewegte sich wunderbarerweise geräuschlos. Er hinterließ weder Dampf noch Staub. Die Mitreisenden fütterten uns mit Schokolade. Diese ungeahnte Köstlichkeit schmeckte uns so gut. Sie lachten, als wir sie zögernd probierten und beinahe zuviel davon aßen. Seltsamerweise sprachen die Menschen, soweit weg von Deutschland mit dem vertrauten Klang, mit dem die Familie Surbeck in Brastagi gesprochen hatte. Später erklärte meine Mutter uns, dass Herr Surbeck Schweizer Konsul gewesen sei. Von nun an würde man ein Vierteljahr schwyzerdütsch oder französisch auf uns einreden. In Délémont trennten sich die Wege für uns Geschwister zum ersten Mal im Leben. Auf beide wartete eine Zeit voller Wunder und unvergesslicher Erlebnisse und das schlimme Heimweh.

An der Bahnstation wurde ich auf einen Leiterwagen gehoben. Danach ging es nach La Motte und weiter in die Berge des französischen Jura auf einen winzigen Bauernhof. Mit der etwas älteren Käti kletterte ich bergauf und -ab, den Geißen, d.h. den Ziegen, hinterher. Wir sammelten Walderdbeeren oder Holz. Ein Jahr zuvor hatte ich das Heidibuch von Johanna Spyri gelesen. Jetzt lebte ich dieses Leben selbst. Einen Peter gab es auch. Der wohnte weiter unten, auf einem Hof, der Milch zu Käse verarbeitete. Dort halfen wir, oder störten, dass weiß ich nicht so genau. Abends tröstete mich Elisabeth, Kätis ältere Schwester, wenn das Heimweh aus dem Herzen bis zu den Tränen in den Augen drang, so wie der Mond am Himmel höher stieg und die Sterne blinkten. Sie sang mir ein Lied zum Trost. In den Refrain: „Sternli, liebs Sternli, guet Nacht!“ fiel ich ein.

Samstags wurde ich in einen Holzzuber gesteckt und mit einer Bürste abgeschrubbt. Das Wasser hatte die Sonne gewärmt. Sonntags kam ein Prediger auf den Hof. Wir Kinder sammelten Blumen für den weißgedeckten Tisch, begrüßten die Nachbarn, die zu Fuß oder mit Pferdewagen erschienen und saßen in der ersten Reihe in der guten Stube. Wenn wir vor Langeweile mit den Füßen scharrten, entließ man uns in die Freiheit.

In die einklassige Schule mit ihren sieben Schülern brauchte ich nach gescheiterten Versuchen dem, in Französisch gehaltenen Unterricht, zu folgen, nicht gehen. So verbrachte ich die Zeit mit Blumen, Schmetterlingen, Käfern und den Wolken am Himmel und ihren Spiegelbildern in den Pfützen. Moos liebte ich, seinen Duft, die winzigen Tiere, die den Waldboden bevölkerten. Manchmal ackerte ich mich durch ein Buch in Schwyzerdütsch mit Sagen und Gedichten.

Ich las in der Taschenbibel, die mir mein Vater mitgab. Die bunten Geschichten beflügelten meine Fantasie. Ich träumte und träumte. Wenn es regnete, saß ich mit angezogenen Beinen träumend auf einem Balken. Vor Nebel und Gewitter im Gebirge befiel mich panische Angst. Die Geißen drängten sich tröstend um mich.

Mit Käti suchte ich im Wald nach Walderdbeeren, die wir in eine Tonschüssel mit Buttermilch schütteten, nicht ohne immer wieder ein wenig zu naschen.Im Garten gruben wir die ersten, winzigen Kartoffeln aus, kochten sie und brachten die dampfende Schüssel auf den Tisch. War das ein fröhliches Schmausen.Das Bergleben machte mich stark. Unter freiem Himmel knetete ich mit Frau Minder gemeinsam den Teig mit bloßen Armen im Backtrog. Käti zeigte mir, wie man mit einem langen Holzschieber das fertige Brot aus dem Steinofen holte, ohne es fallen zu lassen. Am meisten liebte ich den Duft des frischen Brotes: dies helle, runde Schweizer Brot mit der Kruste ringsum und den kleinen Holzkohlestückchen unter dem Boden. Es gab einen Klecks Honig und ein Stückchen Butter auf den Tellerrand. Beides wurde mit dem Messer verrührt und genüsslich Bissen für Bissen auf das Brot geschmiert. Die Schweiz war das Land in dem Milch und Honig floss. Ich war mir fast sicher, dass die alten Geschichten manchmal hielten, was sie versprachen.

In der Pfanne gebratene Käsestücke erfüllten die rußige Küche mit einem köstlichen Geruch. In der Küche am hellen Fenster stand der grobe Tisch. Die Tischplatte scheuerten wir so lange, bis sie hell und weich war. Darauf stand eine Schüssel mit Pellkartoffeln für alle. Mit dem Brot oder der Kartoffel tunkte man in die Käsepfanne und schob sich den Bissen in den Mund. In La Motte konnte ich wie gewohnt mit den Händen essen, was in Deutschland verpönt war. Nicht so gerne erinnere ich mich dunkel daran, dass ich mit Annemarie aus Hannover verglichen wurde. Sie war den Minders so viel sympathischer, als dies exotische Tropenkind mit seinem unverständlichen, undeutschen Verhalten.

Am ersten August bekam ich einen Franken, kein kleines Räppli, nein, einen großen, runden Franken, in die Hand gedrückt. Wir fuhren allesamt im Pferdewagen nach Bern, kehrten bei der Verwandtschaft ein und machten uns auf zum „Märit“, der Kirmes. Käti und ich bekamen kleine, rote Fahnen mit einem weißen Kreuz. Wir wedelten heftig und ausdauernd mit der Schweizer Flagge, wie alle Kinder ringsum. Mein neu gewonnener Wohlstand erlaubte mir, mit dem Kettenkarussell zu fahren und hoch über die Häuser der Stadt zu fliegen. Er reichte noch für eine Armbanduhr, die immer halb Vier anzeigte, die Stunde des „Vieri“, der Vesper am Nachmittag, die ich so liebte. Junge, kräftige Bauern traten als Ringer gegen einander an. Nach strengen Regeln zwangen sie sich aus dem Ring, in dem sie standen heraus. Sie rangen, boxten nicht, sich gegenseitig zu Boden. Herr Minder machte sich einen Spaß, warf die Beine in die Luft und stellte sich auf seinen Grauschädel. Andere Männer liefen auf den Händen. Sie spielten Nachlaufen. Wir Zuschauer klatschten und feuerten sie an. Am Abend schossen Raketen durch den nachtblauen Himmel. Es zischten rote, grüne, gelbe und blaue Lichtsträuße auf über unsere andächtig erhobenen Gesichter nieder. Ich durfte mein „Zuckerhütli“ auf den Rand des Springbrunnens stellen, wo es unermüdlich seine Lichtkaskaden versprühte. Ein kleinerer Springbrunnen aus Licht. Träume verzaubern nicht mehr als diese Wunder zur Feier des Schweizer Nationaltages.

Kurz danach kramte Herr Minder in der Abenddämmerung in dem großen Kleiderschrank. Zu meiner grenzenlosen Überraschung brachte er ein Gewehr hervor. Als er sich seine Uniform angezogen, seinen Tornister geschultert und sein Käppi aufgesetzt hatte, begleiteten wir ihn den Berg hinab. Von überall kamen Bauern, die jetzt Soldaten geworden waren, um sich in der Käserei zu treffen. Ich stand in der verräucherten Küche – fragend. Mir wurde immerhin soviel verständlich, als dass die Männer für eine Weile Soldat waren, jedes Jahr aufs Neue übten, ihr Land im Kriegsfall zu verteidigen. Auf diese Weise hatte die Schweiz tausend Jahre lang in Frieden gelebt.

So eine Sorte von Soldaten war mir, die ich Revolutions- und Kolonialheere, auch die alliierten Streitkräfte des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte, noch nicht begegnet.

Minders waren arme Menoniten. Tiefgläubige Menschen wie sie, nahmen aus Barmherzigkeit hungernde Kinder ihrer deutschen Feinde auf, auch wenn sie selbst kaum ihr Auskommen hatten. Wie arm sie waren, erfuhr ich, als Elisabeth Lehrerin werden wollte. Minders verkauften ihren Hof, um ihrer Tochter das Studium zu bezahlen. Auf diese nüchterne Weise lernte ich früh, dass Bildung etwas kostet. Dass man sich Bildung etwas kosten lassen muss. Dass Eltern Hab und Gut weniger wert sein kann, als das Glück ihrer Kinder.

An einem heißen Tag wurden allerhand Habseligkeiten auf den Leiterwagen gepackt, die Pferde angespannt. Ich durfte neben Herrn Minder sitzen. Ich starrte auf den hellen, ungepflasterten Weg unter uns, der in die Gegenrichtung, also rückwärts zu laufen schien, während wir schnell vorwärts fuhren der Stadt Porrentruy, an der französischen Grenze, entgegen. Ich lebte nun am Rande der Stadt, musste zum Einkaufen die französischen Wörter üben und und hatte leider wieder niemanden zum Spielen, weil alle Kinder in der Schule waren. Ich stromerte durch die Gegend. Ich sah den Bienen im Lindenbaum zu, sammelte Lindenblüten für Tee, setzte mich neben den Dorfdeppen und verging vor Mitleid mit ihm. Am Nachmittag versammelten sich die Leute auf der Bank unter der Linde und redeten über Krieg und Frieden. Einmal scharte sich die Familie um ein Radio, aus dem, lange nicht gehörte, holländische Worte drangen. Königin Wilhelmina übergab das Königreich der Niederlande in die Hände ihrer Tochter Juliana. Deren Tochter Beatrix war nur wenige Monate älter als ich und wurde in demselben Augenblick Kronprinzessin. An der Schule, die nach ihr benannt war, kamen wir oft vorbei, als ich noch im Lager, in Medan auf Sumatra, lebte. Das war nun schon ein Jahr her.

Als es wieder nach Hause ging, traf ich meinen Bruder wieder. Mit dem Kindertransport ging es von Basel zurück nach Düsseldorf. Als wir die Grenze hinter uns ließen, fuhren wir durch die zerstörten deutschen Städte, die wir beinahe vergessen hatten. Die Trümmerlandschaften ähnelten sich. Die Trostlosigkeit steckte an. Die älteren Kinder zogen Gardinen vor die Fenster. Wir vertrieben uns die Zeit mit Erzählen und Spielen und Singen, um nicht zu sehen, was uns erwartete. Als ich auf dem Düsseldorfer Bahnhof meinen Vater erkannte, auf Schwyzerdütsch „Vuoti“ jubelnd in seine offenen Arme lief, sagte er freundlich korrigierend: „Vati, Töchterchen, Vati“.

In der Straßenbahn nach Kaiserswerth zog er sein Portemonnaie hervor und zeigte uns das neue Geld: DM und Pfennige. Die alten RM, also Reichsmark, nahmen sich recht schäbig dagegen aus. Vierzig, 40 DM, hatte jeder Deutsche bekommen, als wir uns in den Schweizer Bergen tummelten. Alle bekamen gleichviel. Nichtdestotrotz ging die Ungleichheit sofort los. Auf dem Schwarzmarkt gab es umgehend alle Waren, die zuvor als Kriegsfolge vom Erdboden verschwunden schienen. Im Nu kamen die „Raffkes“ zu Geld und Konsum, während die meisten Menschen nicht wussten, wie sie satt werden sollten. Es wurde gehamstert, getauscht, übers Ohr gehauen, erpresst. Mir ist trotzdem nicht erinnerlich, dass irgendjemand Angst vor Dieben oder Gewalt hatte.Ich bin sehr behütet worden in diesen Zeiten, mehr oder weniger abgeschirmt von der Wirklichkeit. Die Erwachsenen wollten herbe oder erschreckende Erfahrungen von uns fernhalten.

An die wilden Zeiten der Währungsreform und die Geschichten, die später darüber erzählt wurden, dachte ich, als 1989, sofort nach der Wiedervereinigung, Schwärme von Glücksrittern in einer Zwei-Wochen-Frist die ehemalige DDR auf ihren kapitalistischen Raubzügen überfielen und ausräuberten.

Meine Mutter, die den Schrecken des ersten Weltkriegs in Gelsenkirchen erlebte, tat alles, um uns Geborgenheit, Zuversicht und vor allem Menschenliebe vor zu leben. Sie erfuhr als Halbwaise die Verarmung der Familie während der Inflationszeit am eigenen Leibe. Einfühlung und Großzügigkeit und schwarzer Humor waren ihre Waffen, wenn die Gier der Menschen das Leben schwer erträglich machte.

Mein Bruder und sein Freund Uli liebten Geld, eröffneten einen Blumenhandel, kamen zu kleinem Wohlstand in Sachen Taschengeld. Ich wurde von ihnen zum Blumenpflücken angestellt und mit einem äußerst mageren Lohn abgespeist. Das hielt ich für die Ordnung der Welt, wie auch alle Erwachsenen, die diese Sträuße kauften. Sie lobten amüsiert die beiden Jungen für ihren Unternehmergeist. Dass Frauen weniger verdienten, war fraglos genau das, was ihnen durch ihr bloßes Frau-sein zustand. Ich wurde bitter und wünschte zum ersten mal, ich wäre doch lieber ein Junge geworden. Ich hasste die ungleiche Behandlung. Diese abwertende Haltung gegen die Frauen wurde damals durch die enorme Tüchtigkeit der „Trümmerfrauen“, die ohne Männer Häuser aufbauten, Firmen in Gang brachten, ihre Familien ernährten, kleideten und die Kinder erzogen, erwähnt und gelobt. Politische Lehren zog man nicht daraus. Die meisten Kinder packten zu Hause tüchtig mit an und fanden doch noch Zeit zum Spielen.

In die Schule ging ich nach der langen Ferienzeit in der Schweiz nicht mehr gern. Meine Eltern schimpften mit mir, um auf diese Weise meine Wissenslücken zu stopfen. Das versuchten die Schwestern mit der Unterstützung ihres Rohrstockes auch vergeblich. In der Schweiz schimpfte niemand mit mir. Ich begann zu träumen und zu grübeln, mich von der Wirklichkeit abzukoppeln dahin, wo ich unerreichbar wurde. Ich las ununterbrochen. In Haus Heimatfreude gab es eine Bibliothek. Hinter den dunklen Glasschränken standen die Bücher, Rücken an Rücken. Hinter jedem Titel lag eine unbekannte Welt. Ich entdeckte meine Enge. Schon in der Schweiz lernte ich deutsche Namen für Pflanzen und Tiere. Durch Geschichten erfuhr ich, wie die Menschen meines neuen Lebenskreises dachten und fühlten.

Manchmal las ich Dinge, die das Gegenteil von dem schienen, was ich so fest zu wissen glaubte. In einem gelben Buch stand: „Die Liebe ist Gott“. Das schrieb Mahatma Gandhi, von dessen Hungerstreik meine Mutter erzählte, als wir Bombay, heute Mumbai, mit dem Schiff anliefen. Das lag nicht einmal zwei Jahre zurück. Ich hatte auf bataksch und deutsch gelernt zu singen: „Gott ist die Liebe, er liebt auch mich, Holong di roha ni de bataku.“ Ich fragte meine Mutter, welche Reihenfolge gelte. Sie erklärte mir, dass ich die Richtige schon gelernt habe. Nichts sollten wir Menschen hochmütig vergotten, nicht einmal die Liebe. Auch das sei Götzendienst. Götzendienst sei schlimmer als der Tod, weil er von Gott trenne. Der Tod sei aber im Gegensatz dazu, das Tor zu einem immer währenden Leben in Gottes Nähe.

Ich fand Bücher einer Ottilie Wildermuth, an deren Inhalt ich mich nicht mehr erinnere. Der Name der Schriftstellerin gefiel mir: dies musikalische „Ottilie“ und gleich danach der „wilde Mut“. So sollte ein Dichtername klingen.

Ich versenkte mich in die verschiedensten Märchenbücher. Meine hungrige Fantasie suchte immerzu neue Nahrung. Bei meinen Eltern verschlang ich Marc Twains „Tom Sawyer“, Swifts „Alice im Wunderland“ und „Pu der Bär“. Mein Vater las uns komödiantisch Kybers Tiergeschichten, meine Mutter Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ vor, Frau Meier, Ulis Mutter, Defoes „Robinson Crouso“.

Als ich Weihnachten 1948 zehn Jahre alt wurde, bekam ich ein hellblaues dickes Buch: „Komtesschen und Zigeunerkind“ von meinen Eltern geschenkt. Ähnlich wie im Heidibuch trifft ein blondes, zartes Mädchen auf eine dunkle kräftige Freundin. Die eine stammt aus einer überzüchteten, künstlichen, die andere aus einer primitiv-naiven Welt. In diesen beiden Kindern und ihren Konflikten mit der Umwelt fand ich mich wieder. Als ich dies Buch verlor, trauerte ich ihm nach wie einem verschwundenen Freund.

In diesem Winter lernte ich tränenreich sticken und häkeln für die Weihnachtsgeschenke. Für ein Mädchen stellte ich mich enttäuschend ungeschickt an. Wir waren oft krank, was eine angenehme Erfahrung war, weil wir bei den Eltern schlafen durften. Langeweile kam nicht auf, weil meine Mutter mit uns deutsche Gesellschaftsspiele spielte. Bis dahin kannten wir diese Art Zeitvertreib noch nicht.

Neuorientierung der Eltern 1949

Mein Vater versuchte in seinen eigentlichen Beruf als Missionar zurück zu kommen. Alle Länder, in denen die Rheinische Mission gearbeitet hatte, schlossen die Grenzen für die Deutschen mit ihrer Nazivergangenheit: Namibia, Indonesien, das Holland in einen Kolonialkrieg verwickelt hielt und China, das durch den wachsenden Einfluss Mao Tsetungs kommunistisch wurde. Als Heimatmissionar war er nicht sehr glücklich, obwohl er in dem engen, fremdenfeindlichen Deutschland, das er vorfand, viel bewegen konnte.

Er brannte vor Begeisterung für den ökumenischen Weltrat der Kirchen, der sich in jenem Jahr in Amsterdam zusammen fand. Ich hatte mitteilsame Eltern, die uns Kindern an ihrem Leben und dem Geschehen in der Welt teilhaben ließen.

Johanna und Gustav Rebuschat 1951

Vergeblich suchte mein Vater nach einer Pfarrstelle. Er war in der NSDAP gewesen. Diese Tatsache versperrte ihm den Weg, auch wenn der Missionsdirektor Berner erklärende Worte fand und entlastende Briefe schreib. Meine Eltern wurden immer verzweifelter und trauriger. Onkel Rudi und Tante Marlies Mennenöh, Mutters Schwester in Krefeld, versuchten vergeblich eine Pfarrstelle zu finden. Unser Vetter Peter kam manchmal zu uns zum Übernachten, dann gefiel uns das deutsche Familienleben denn sonst hatte es seine länger werdenden Schattenseiten.

Geschlagen wurden wir immer häufiger, besonders mein Bruder. Die räumliche Enge, die aussichtslose Lage ohne Perspektive für die Zukunft und unser Ungestüm, das ja auch der Stacheldraht nicht hatte bezwingen können, machte das Familienleben oft zur Hölle.

Meine Mutter grübelte viel. Sie war nicht mehr die Mutter, die wir bis dahin gekannt hatten. Wenn es ihr gut ging, bewältigte sie die aussichtslosesten Lagen mit einem lakonischen, schwarzen Humor. Obwohl sie zur Schüchternheit neigte, kannte ihr respektloser Humor keine Tabus und schonte keine Eitelkeit.

Wenn sie fröhlich war, ging ihr Übermut mit ihr durch. Sie konnte jede Situation ad hoc in Reime fassen. Sie spielte mit Wörtern wie mit Bällen. Mit dem ernstesten Gesicht brachte sie mit absurden Einfällen falsches Getue und Arroganz zu Fall, in dem es in erlösendem Gelächter unterging. Auf eine sublime Art war sie subversiv, wenn es ihr darum ging, der Wahrheit zum Recht zu verhelfen. Sie lebte überzeugend ein Paradox. Als tief religiöser Frau war ihr nichts heilig und ihrem souveränen Spott ausgeliefert, wenn Heiliges mit falschem Zungenschlag daher kam. Als ich älter wurde, machte sie mich mit ihrem Liebling, Heinrich Heine bekannt, als kein Mensch in Deutschland von ihm sprach.

In der Kaiserswerther Zeit begannen meiner Mutter Depressionen nach einer Lungenentzündung. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass ihre Brüder bei der SS gewesen waren. Sie liebte ihre Schwestern herzlich, aber einige behielten die NS-Gesinnung bei. Der Krieg hatte aus den Menschen, die sie liebte, andere gemacht. Sie hatte in ihrer jungen Ehe so viele Auseinandersetzungen mit meinem Vater gehabt, weil er, ohne ihr Wissen, in die Partei eingetreten war, als er schon in Sumatra, sie aber noch in Deutschland war. Mein Vater gab ihrem Drängen zu spät nach. Die Internierung überraschte ihn, ehe dem Antrag auf Austritt aus der NSAP stattgegeben werden konnte. Jetzt trugen sie die Folgen, indem es für meinen Vater keine Pfarrstelle zu geben schien.

Angekommen in Deutschland

Ostern 1949 sollte ich eigentlich aufs Mädchengymnasium gehen. Weil mein Schulbesuch häufig unterbrochen wurde, ließ man mich das fünfte Schuljahr in der Barbarossaschule machen. Dieses Jahr, ohne die Konkurrenz der besseren Schüler, genoss ich sehr. Es förderten mich die Schwestern in jeder Hinsicht. Der Lehrplan war spannend. In Erdkunde wurde Deutschland in den Grenzen von 1939 unterrichtet. Ich bekam eine ausgezeichnete Grundlage für die Kenntnis, des Landes, das meine Heimat werden sollte mit. Der Geschichtsunterricht wurde nicht weniger packend entlang geschichtlicher Spuren in Kaiserswerth gestaltet. Deutsche Geschichte gab es anhand von Sagen, vorwiegend Rheinsagen. Da die Kaiserswerther Diakonissen überzeugte Nazis gewesen waren, hörte ich abenteuerliche Göttersagen aus Walhalla, dazu auch die Heldengeschichten der Nibelungen. Die Schwestern konnten begeistern, ob nun mit biblischen Geschichten oder heidnischen Götterwelten. Wir lernten Balladen auswendig und deklamierten sie begeistert, weil es die einzige Möglichkeit war, Theater zu spielen.

Im Religionsunterricht bekam ich einen Lehrer, den ersten überhaupt. Er zeigte uns, wie man die Gleichnisse des Neuen Testamentes deuten konnte. Mir ging eine neue Welt auf, als ich lernte, Symbol und Wirklichkeit zu unterscheiden.Ich verliebte mich geradezu in die Realität. Durch scharfe Beobachtung und bohrendes Nachfragen versuchte ich ihr näher zu kommen. Bis dahin sprang ich mit meiner Fantasie dahin, wo es leichter und angenehmer war. Fantasie und Wirklichkeit zu trennen gelang mir nicht so genau, wie ich es mir wünschte und wie es meine Umwelt von mir vergeblich erwartete. Mein Weltbild behielt magische Vorstellungen und blieb etwas archaisch. Den Zugang zur Abstraktion fand und finde ich mühsam.

Ich lernte schwimmen. Mein Badeanzug bestand aus der Unterwäsche, einem Leibchen, an das eine Unterhose geknöpft wurde. Algen färbten die weiße Wäsche grün. Meine Mutter jammerte, weil sie sie nicht sauber bekam. Ich hatte ja nur zwei Garnituren.

Trotz der überstrengen „Zucht“, mit der ich unterrichtet wurde, denke ich doch dankbar an die Lehrerinnen zurück, die meine unbändige Neugier zu befriedigen suchten, mein lebhaftes Temperament nicht noch öfter bestraften und meine verletzliche Naivität nicht noch häufiger in beschämenden Situationen zur Schau stellten, wozu sie Gelegenheit gehabt hätten. Das Beste, was sie zu geben hatten, gaben sie an uns Nachkriegskinder weiter.

Das Jahr 1949 blieb aufregend. Trizionesien gab es nicht mehr. Die Bundesrepublik Deutschland wurde gegründet. Die Ostzone blieb zwar noch jahrzehntelang die „Zone“, aber sie hieß offiziell DDR. Die Verwandtschaft in Schmalkalden „machte über die grüne Grenze“ und kam in den Westen. Die letzten Heimkehrer wurden aus den Lagern in Russland und Europa entlassen, die Entnazifizierungslager geleert.

Einige Familien, mit denen wir die Internierungszeit teilten, bekamen ein „deutsches Kind“, d.h. ein in Deutschland geborenes. Dazu gehörte auch meine Schwiegerfamilie.

Mein Bruder und ich waren nun deutsch. Die Sozialisationsformen, die soweit auseinandergeklafft waren, konnten wir besser kontrollieren. Die Unterschiede verwischten sich, verschwanden nie ganz. Für die Lagergeneration blieb eine starke Verletzlichkeit bestehen, wenn es um Freiheit und Selbstbestimmung ging. Die Unsicherheit, im Austragen von Konflikten, war für uns, die wir „so lieb“ erzogen worden waren, ein Problem.

Der Horizont weitet sich

Die Versorgungslage blieb angespannt. Es wurde gehungert und gefroren. Der Kalte Krieg wurde bedrohlicher von Tag zu Tag. Die Amerikaner versorgten die hungernde Bevölkerung in Berlin über eine Luftbrücke. Uns wurden Care-Pakete aus Amerika geschickt. Ich bekam ein warmes Kleid, mit großen, schwarz-weißen Karos. Wenn mein Vater Evangelisationswochen auf dem Lande abhielt, brachte er manchmal etwas zum Essen für uns Kinder mit. Er war immer für eine Überraschung gut. Einmal nahm er uns in den Circus „Hagenbeck“ mit. Das große Zelt stand auf den Düsseldorfer Rheinwiesen. Drinnen roch es gut nach Sägespänen. Die Kapelle spielte laut knatternd. Wir starrten gebannt auf die Pferde, erschraken vom Knall der Peitsche, mit der der Dompteur sie zum Laufen auf den Hinterbeinen brachte. Über die Künste der Tiger konnten wir uns gar nicht beruhigen, weil sie für uns den Schrecken schlechthin bedeuteten, wie für deutsche Kinder der Wolf. Im Circus unterwarfen sie sich einem menschlichen Willen, rissen zwar das Maul auf, blieben aber ungefährlich hinter den hohen Gittern.In der Pause konnten wir die Tiere von nah besehen, bis uns mein Vater den Pferdedompteur als seinen Freund aus der Internierung in Indien vorstellte. Der Herr roch gut nach Pferd, trug einen gepflegten Anzug und zeigte uns liebevoll die Tiere, die wir anfassen oder füttern durften.

Im Dezember des Jahres wurde Indonesien unabhängig. Die Jahrhunderte währende Kolonialzeit fand ihr Ende. Bald sollten andere Länder folgen. So viele Dinge gingen in diesem Jahr zuende. So viele begannen.

Der Krieg war zuende. Ein Friedensvertrag kam nicht zustande. Es blieb bei einem Waffenstillstand, der sich zum Beginn der längsten Friedensperiode in Europa entwickelte. Unsere neue Verfassung, das Grundgesetz, bildete provisorisch den Anfang der demokratischen Gesellschaft und erwies sich als unverzichtbare Basis. Auf der materiellen Seite des täglichen Lebens brach die Zeit der Surrogate an. Es gab keinen Honig, aber Kunsthonig usw. Das ehemals Echte wurde vom Ersatz ersetzt: Ersatzkaffee, Zuckerersatz. Anstelle von Leder wurde gepresster Karton verwendet. Meine Großmutter backte Bratkartoffeln mit Wasser anstelle von Fett, tat Eiermehl in den Pfannkuchenteig statt der Eier. Mein Vater rauchte „Eigenheimer“ in der Pfeife. Das war Tabak von den Feldern am Niederrhein, der fein geschnitten wurde.

Erfindungen, wie z.B. die Raufasertapete aus Holzspänen und vor allem Kunststoffe, läuteten eine neue Ära ein. Das Wort ECHT gedieh zum seltenen Markenzeichen, wo es vorher die Normalität gewesen war.

Ich wuchs in eine Welt hinein, wo „Trümmerfrauen“ Behausungen aufbauten, aus Abfall, Kleidung, Schuhe und Möbel fabrizierten. Männer, gefallen, vermisst oder noch in Kriegsgefangenschaft, blieben weitgehend unsichtbar.

Wenn wir zu Tante Fitting, der ältesten Schwester meiner Mutter nach Wanne-Eikel fuhren, lernten wir vor fast leeren Geschäften Schlange zu stehen. Wir rechneten mit den winzigen Mengen der Lebensmittelmarken. Zum Einkaufen brauchte man eine kleine Schere, um die Marken abzuscheiden. Satt wurde kaum jemand, aber man tat als ob. Im kleinen Garten meiner Tante war jedes Eckchen mit Kartoffeln bepflanzt. Tomaten wurden in Blumentöpfen gezogen. Resteverwertung setzte dem Erfindergeist auf keinem Gebiet eine Grenze.

Während wir in Haus Heimatfreude am mager gedeckten Tisch saßen, die Haustöchter die Zimmer reinigten und alle Heiminsassen zur Untätigkeit verdammt blieben, gab es ringsum, niemanden, der irgendwem irgendetwas abnahm. Man schuftete rastlos für das schiere Überleben. Meine fleißige Mutter reagierte auf die Art ihrer neuen Gefangenschaft mit beidseitiger Nervenentzündung der Arme.

Mitten in dieser ärmlichen Bedürftigkeit gab es alljährlich für alle Schulen in Kaiserswerth einen Martinszug mit Laternen, einem Schimmel vorneweg mit einem Heiligen Martin darauf, glücklichen, singenden Kindern und aufgeregten Schwestern, die mit wehenden Kleidern im Dunkel für Ordnung sorgten. Die Barbarossaschule durfte sich der Stadtschule anschließen. Mein Vater verdammte das „katholische Getue“ lautstark. Wir hatten keine Ahnung von dem Unterschied zwischen evangelisch und katholisch, liebten den Heiligen Martin, der hoch zu Ross jedem von uns einen Weckmann aus Hefeteig mit Tonpfeife auf dem Bauch in die offene Hand drückte. Wenn der Novemberwind vom Rhein herüber unsere selbstgebastelten Laternen schaukelte, der Mond durch die kahlen Äste der hohen Bäume auf dem Wall schien und die Martinslieder erklangen, war ich selig vor Freude. Für meinen Bruder begann der Höhepunkt des Festes später, wenn er mit den anderen Kindern von Haustür zu Haustür zog. Die Kinderschar grölte die Martinslieder und ließ sich die schönsten Leckereien in den mitgebrachten Sack schütten. Zuhause wurde triumphierend verglichen, wer am erfolgreichsten war. Die ganz Schlauen stellten sich gleich zweimal an. Soviel Süßigkeiten gab es nur einmal im Jahr.

Noch heute, wo ich fast dreiundsiebzig Jahre alt bin, macht es mir ein unbeschreibliches Vergnügen für die singenden Martinskinder Süßigkeiten bereit zu stellen. Am 11. November summe ich leise das klassische Martinslied mit den Lieblingszeilen: „St Martin ritt hin weg in Eil mit seinem halben Mantelteil“.

Eine Reise durch Frankreich brachte uns, Bertold, meinen Mann und mich, nach Tours. In dieser Stadt erzählen die hohen Kirchenfenster der Kathedrale von dem sozialen Lebenswerk des Bischofs Martin. Seine Methoden sind so modern, als sei er ein Heiliger unserer Zeit, der nicht die individuelle Wohltätigkeit, sondern die strukturelle, soziale Verantwortung realisierte. Er war ein Römer in den wilden Zeiten des untergehenden Imperiums. Von ihm wird überliefert, er habe Christus selbst im Schneetreiben auf sich zukommen sehen. Nach dieser Begegnung sei er Christ geworden.

Uns begegneten die Bettler am Wegrand mit amputierten Gliedern, auf Holzkrücken gestützt. Das waren heimkehrende Soldaten, die versuchten ein wenig zu betteln, weil sie keine Lebensmittelmarken hatten.

Diese Marken machten es auch den alten Nazis schwer, sich vor dem Zugriff der Militärregierung zu verstecken. Die meisten von ihnen suchten abgelegene Ortschaften auf, wo sie auf Gleichgesinnte zu treffen hofften, die ihnen Unterschlupf gewährten. Nach der Gründung der Bundesrepublik wagten sie sich langsam aus der Versenkung. In dieser Zeit gelang es vielen Menschen trotz ihrer politischen Vergangenheit im öffentlichen Leben Fuß zu fassen.

Aufbau nach der Währungsreform

Inzwischen wurde nicht mehr lange nachgefragt und mit dem Aufbau begonnen. Mein Onkel Fritz in Gelsenkirchen beteiligte sich an einer Baugruppe, die kleine einstöckige Häuschen in Gemeinschaftsarbeit errichtete. Die Siedlung entstand hauptsächlich ohne die Hilfe von Baumaschinen. Das Gelände wurde gemeinsam enttrümmert, das vorhandene Material aus den Trümmern bearbeitet und ein wenig Neues „organisiert“. Organisieren war das Wort der damaligen Zeit. Es beschrieb legales und illegales Beschaffen auf dunklen Kanälen zwischen tauschen, kaufen und klauen. Bald zogen meine Großeltern mit ihrer jüngsten Tochter Friede und die Familie Schieling, Fritz, Charlotte und Sigrid in das neue Zuhause, mit dem winzigen Gärtchen dahinter.

Ihre Möbel bekamen die Schielings vorerst nicht zurück. Sie hatten vor ihrer Evakuierung in einer arisierten Wohnung gelebt. Nach ihrer Rückkehr aus dem Harz waren sie mit meinen Großeltern unter jenem undichten Dach der methodistischen Kirche untergekommen. Der Onkel kam seelisch zerstört aus der Gefangenschaft in Kreta heim. Die Not schien sich ins Unerträgliche zu steigern. Meine Großeltern waren zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus Ostpreußen eingewandert. Ein armseliges Leben ließen sie damals hinter sich, in einem armseligen fanden sie sich im Alter wieder.

Seltsamerweise verstanden die beiden Schwestern meines Vaters es nicht, wie andere Frauen, berufstätig zu werden. Die beiden Familien lebten in einer Fantasiewelt, in der es ihnen nie langweilig wurde, weil sie an ihrem Lebensroman aus Erinnerung, Wünschen und realen Ereignissen spannen. Meine Großmutter umhäkelte Taschentücher mit zarten Spitzen, wie es ihre hugenottischen Vorfahren Jahrhunderte lang vor ihr machten. Das Material konnte sie „retten“. Für eine gewinnbringende, „praktische“ Tätigkeit hielt sich die bitterarme Bergmannsfrau zu schade. Wie sehr Illusionen eine lebenserhaltende Funktion haben, konnte ich an meiner Gelsenkirchner Verwandtschaft staunend studieren.

In der ärmlichen Welt der Entbehrungen, gab es die „geretteten Dinge“. Gerettete Handtücher z.B. trugen eine imaginären Heiligenschein. Man unterschied die geretteten Dinge, die mit dem Zusatz „wie im Frieden“, bezeichnet wurden von den „unechten Kunstdingern“. Mit der Mangelwirtschaft entwickelte sich eine blühende Innovationsindustrie: Produkte aus der Chemie für Hygiene, Medizin (Antibiotika) und Textilien.

Da die alte Welt unwiderruflich vernichtet war, wollte man sie mit Nachahmungen restaurieren. An die von Hitler verbotene Bauhaustradition wollte offenbar kaum jemand anknüpften. Die Moderne hatte einen schweren Stand. Unschöne, enge, graue Häuserzeilen entstanden. Miefiges Kleinbürgertum etablierte sich. Mutig Neues zu wagen wurde gescheut. Des ersten Bundeskanzlers Adenauers Devise: „Keine Experimente“ verhinderte viel.

Zeitgleich hatte sich die literarische Gruppe 47 gegründet und schrieb modernste Poesie und Prosa. Kabarett und Theater fanden unter ärmlichsten Bedingungen statt. In Düsseldorf sang „Das Kommödchen“ seine frechen Lieder. Es war kein Geld da, aber es wurde Kunst gemacht. Echtes, durch und durch Echtes.

Mein Onkel Erich, der jüngere Bruder meines Vaters, kam einäugig aus dem Krieg. Sein Glasauge faszinierte uns immer wieder. Er fand Arbeit als Eisenbahner und zog die uneheliche Tochter seiner Schwägerin auf. Ein „Ami“-Kind. Diese Cousine hatte eine Mutter in Amerika und einen unbekannten amerikanischen Vater und war irgendwie Geheimnis umwittert. Obwohl ich elf Jahre alt wurde, hielt man mich für zu klein und dumm, um das Schicksal meiner Cousine erklärt zu bekommen. Auch dieser Winter war hart und lang. Meine verzweifelte Mutter erkrankte wieder lebensgefährlich an einer Lungenentzündung. Wir bangten um ihr Leben. Meine Klassenlehrerin, Schwester Gertrud, starb an einer Gallenoperation. Da ich sie wegen ihres strähnigen, roten Haares Wetterhexe genannt hatte, litt ich unter Schulgefühlen und meinte, ihren Tod verschuldet zu haben. Eine junge, unverheiratete Lehrerin, die ihre Tante manchmal in Haus Heimatfreude besuchte, befreundete sich mit unserer Familie. Sie warf sich unter den Zug, als sie feststellte, dass sie schwanger war. Sexualität schien lebensgefährlich zu sein. Sie konnte einem Kind den Vater nehmen wie meiner Cousine oder manchen Frauen das Leben, wie der netten Lehrein. Es wurden die schlimmsten Geschichten über russische Soldaten getuschelt. Niemand erklärte mir, was ich nur halb verstand. Auf meine bohrenden Fragen bekam ich nur die Antwort, dass ich nichts davon verstände. Darum hatte ich doch gefragt. Wenn ich so eine Feststellung laut heraus sagte, war ich frech. Mädchen hatten nicht frech zu sein. Mädchen steckten ihre Nase nicht in Dinge, von denen sie nichts verstanden. Sie hatten zu tun, was man ihnen sagte. Widerrede war verächtlich oder eine Strafe wert.

Meine Kinder lernten schon im Kindergarten:

„Der, die, das − wer, wie, was,
wieso weshalb, warum,
wer nicht fragt, bleibt dumm.“

Meine Kinder sollten und durften wissen.

Ich wuchs in einer bleiern schweigenden Zeit auf. Wollen durften Kinder nichts. Uns musste der Wille gebrochen werden. Das Argument auf unsere Nachfragen lautete:

Kinder, die was wollen,
kriegen was auf die Bollen.

Neue Horizonte 1950

Die erste, die kriegerische Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war vorbei, als mein Vater die Nachricht bekam, dass auch die Leidenszeit in Haus Heimatfreude, die ihnen die Freude an der Heimat so gründlich verdorben hatte, zuende sei. Er bekam im Februar 1950 als Heimatmissionar der Rheinischen Mission in Wuppertal-Barmen eine Wohnung in Rheydt, damals noch kein Ortsteil von „München-Gladbach“, dem heutigen Mönchengladbach.

Bei der Abmeldung meines Bruders Hartmut aus der Barbarossaschule bekam meine Mutter einen tiefen, tröstenden Blick von Schwester Gertrud mit guten Wünschen für das weitere Leben ihres unterbegabten Schülers. Auf der Sonderschule, einer „Hilfsschule“ sei er gut aufgehoben. Meine empörte Mutter war nicht in der Lage, ihr zu erklären, dass ihr Schüler in sie verliebt sei. Er verstumme, wenn er sie dümmlich anlächlte vor lauter Glück, dass sie ihn aufgerufen habe. Triumphierend schloss sie, wenn sie später diese Episode mit viel Dramatik zum Besten gab: „Heute noch würde ich ihr gern unter die Nase reiben, dass mein Sohn ein gutes Abitur auf dem Humanistischen Gymnasium schaffte. Aber das hätte sie nicht verdient.“

Die Familie zog ohne mich um. Um das fünfte Schuljahr zu beenden, nahm mich eine Nachbarsfamilie auf. Mit den sieben Geldermannskindern tobte ich durchs Haus, genoss zum ersten Mal ein Familienleben in einem Privathaus.

Als das Heimweh zu groß wurde, kam ich nach Rheydt in eine Wohnung, die zum ersten Mal, ausschließlich für unsere Familie bestimmt war. In der säkularen Volksschule, die auch mein Bruder besuchte, ging es mir sehr gut. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Die Kinder sprachen Dialekt, ohne berichtigt zu werden. Die Lehrerin war eine Riesin, uralt und kam ohne Stock aus, obwohl wir an die achtzig Schüler waren. Beim Rechnen wurde mir beigestanden. Ich war plötzlich an nichts Schuld, denn ich schubste und klaute nicht. Fertigkeiten im „Abgucken“ und „Pfuschen“ holte ich erst auf dem Gymnasium nach. Es wurde viel gesungen. Malen kostete Material und entfiel. Ich erinnere mich nicht, dort in Religion unterrichtet worden zu sein. Es gab Sport auf dem Schulhof. „Seilchen springen“ in der Pause.

Von nun an ging ich sehr gern zur Schule. Die meisten Lehrer waren im Krieg gefallen, darum wurden sie von Pensionären ersetzt. Weibliche Lehrerinnen füllten allmählich die Lücken. Meine Lehrerinnen am Gymnasium würden jung und weiblich sein. Männliche Lehrer alt, kriegsversehrt und nur ausnahmsweise jünger.

Ostern 1950 startete ich in ein neues Leben im Elternhaus auf der Von-Galen-Straße 92, in Rheydt. Zufällig hatte so unser Zimmer in Haus Heimatfreude geheißen. Nach den fünf vielfach unterbrochenen Jahren in der Volksschule mit Koedukation, begannen neun ununterbrochene auf dem Mädchengymnasium. Nach einer klerikalen Erziehung durch Schwestern würde ich nun eine säkulare genießen.

Sechs Jahrzehnte ohne Krieg in Europa lagen vor mir, vierzig Jahre ein geteiltes und zwanzig Jahre ein wiedervereintes Deutschland, achtzehn Jahre eines vereinten Europa mit einheitlicher Währung. Ein Leben in Freiheit, nach demokratischen Regeln wartete auf mich.

Die Frauen meiner Generation würden sich allmählich emanzipieren. Die alten Landkarten mit den Kolonialgebieten würden ungültig werden. Neue Nationen in Asien, Afrika, und Lateinamerika würden als Dritte Welt und Schwellenländer die Weltkarte ordnen. Die archaischen Ethnien würden verdrängt werden oder ganz verschwinden. Atombomben würden zu Versuchszwecken weiterhin gebaut und gezündet werden, aber bis heute nie mehr zu kriegerischen Zwecken eingesetzt werden.

Die Natur, in der ich ein Kind war, meine eigentliche Welt, würde ihr Gesicht gänzlich wandeln. Selbst das Klima Europas würde sich den wärmeren Zonen meines Geburtslandes annähern. An meinem sechsundsechzigsten Geburtstag würde ein Tsunami die nördlichste Spitze Sumatras wegreißen, die Gegend in der mein Vater und Schwiegervater interniert waren.

Erinnerungen wandeln sich mit dem Erinnernden. In den ersten Jahrzehnten meines Lebens haderte ich mit den Niederlagen und Wunden, die ich mir in den Konflikten mit meiner Herkunft in Schule und Lebenswelt einhandelte.

„Dietlind, es war ja so schwer Sie zu erziehen, dies Naturkind unter Bürgerstöchtern“, würde meine Lateinlehrein zwanzig Jahre nach dem Abitur stöhnen. Es war weder für das „Naturkind“ noch für das „weitgereiste Missionarskind“ leicht, sich in der engen Welt, die es vorfand, zurecht zu finden. Trotz Stacheldraht und Gefangenschaft hatte das Kind, das ich war, gelernt, dass die Welt sich außerhalb seines Horizontes nach anderen Gesetzen bewegte.

Mein Bruder hatte wenige Wochen nach unserer Ankunft empört gefragt: „Wo sind den hier endlich die braunen Menschen!“ Man reagierte peinlich berührt. Das Dritte Reich hatte durch Reise- und Informationsverbote eine rigide, engstirnige Mentalität hinterlassen, für die neue Horizonte verschlossen oder verboten schienen. Es blieb unangefochtene Übereinkunft, sich, trotz der Niederlage durch den Krieg, einer besseren Rasse angehörig zu fühlen, als es Farbige waren. Die eurozentrischen Vorstellungen schränkten schon die bloße Wahrnehmung der östlichen Hemisphäre ein.

In den Köpfen regierte der Kolonialismus. Er versuchte trotz seines Zusammenbruchs in den Freiheitskämpfen weiter die Geschicke der Länder zu manipulieren oder gar zu dirigieren, als das Regieren nicht mehr möglich war.

Heute sehe ich mein Leben mit mehr Verständnis und Anteilnahme. Die Bausteine und Möglichkeiten, die es mir gab oder verweigerte, erkenne ich leidenschaftsloser und nüchtern. C´est la vie. So ist das Leben. So war mein Leben.

Das Leben meiner Eltern war von Leid und Unglück geprägt, darum sollten wir es einmal besser haben. Als mein Vater (42) nach dreizehnjähriger Abwesenheit sich im Nachkriegsdeutschland zurechtfinden musste, versuchte er eine berufliche Existenz auf zu bauen, uns zu ernähren und seiner Vaterrolle nach besten Vermögen nachzukommen.

Meine Mutter (43) kam nach zehnjähriger Abwesenheit zurück in ein Land, an das sie sich vergeblich anzupassen mühte. Sie war trotz Gefangenschaft selbständige Unternehmerin gewesen. In der Nachkriegszeit wurde sie gezwungen, in die alte Frauenrolle zurück zu kehren. Sie wurde chronisch krank und verlor trotz tiefster Depression nie ihren Humor.

In der fremdenfeindlichen Nachkriegszeit lebten unsere Eltern auf eine weltoffene Weise, die sie fremd machte im eigenen Land.

Die Geschwister Hartmut und Dietlind 1954

Obwohl ich alt geworden bin, stoße ich immer wieder auf Nahtstellen, an denen meine Prägung mir die Anpassung an die deutschen Verhältnisse erschwert. Beim Schreiben dieser Erinnerungen bekam ich einen Hinweis auf das Buch:

David C. Pollock, Ruth E. Van Reken, Georg Pflüger: Third Culture Kids: Aufwachsen in mehreren Kulturen / Franke 2. Auflage 2007

Nach den Untersuchungen dieser Autoren sind mein Bruder, ich und mein Mann keine „seltsamen Vögel“ mehr, sondern Menschen, die allen Ortswechseln zum Trotz ihre Identität und Heimat gefunden haben. Mein Bruder arrangierte Hilfsgüterfahrten nach Polen und Rumänien und den Schüleraustausch. Mein Mann arbeitete als Theologieprofessor an den ökumenischen Strukturen unserer Kirche besonders mit Japan und Indonesien. Ich habe mich als Logopädin für die sprachliche und soziale Eingliederung von Migranten jeden Alters eingesetzt. Wichtig und gegenläufig zum Trend war mir der Respekt und Erhalt der Zwei- oder Mehrsprachigkeit, und über den achtsamen Umgang mit den eigenen kulturellen Wurzeln in der deutschen Sprache heimisch zu werden. Als Vorlesepatin in einem vornehmlich türkischen Kindergarten gelang es mir, mit dem Team für die Einführung von zweisprachigen Bilderbüchern sogar die Familien mit in den Spracherwerb ein zu beziehen. Bei den Veranstaltungen saßen die türkischen Familien auf den Boden, die deutschen auf Stühlen. Die Stadtbibliothek zog nach und stattete ihre Bestände mehrsprachig aus. Als Third Culture Kids setzen wir die Prägung durch unser Geburtsland, die Anpassung an unsere Heimat zu einem Zuhause in der Welt um, das sich nicht durch enge, nationale und kulturelle Grenzen abhalten lässt, seine Fenster und Türen offen zu halten

Rhein bei Kaiserswerth

Strom, großer Strom
dein Wasserfinger
verwischt die Linie
zwischen Himmel und Erde
dort, wo das Auge,
nie aber du,
endet

Strom, der gleiche, immer,
niemals derselbe,
deine weite Straße
mündet im Herzen der Meere

Wo aber mündet meine Straße,
wenn die Wasserfinger meiner Tränen
die Linie zwischen
Himmel und Erde
verwischen?

Ins Ungefähre
wo die Ufer abhanden kamen.

Danksagung

Eingebettet in die Ansichten und Fotos von Kaiserswerth und seine diakonischen Anstalten sind meine Erinnerungen an diesen Ort, an dem ich die Nachkriegszeit von Juli 1947 bis zum März 1950 verbrachte. Ich kam aus der Internierung in Sumatra/Indonesien als Achtjährige, die lernte, sich in der neuen Welt zu Recht zu finden und heimisch zu werden. Davon wollte ich meinen Kindern erzählen.

Meiner Schwiegertochter Katrin Klappert verdanke ich die doppelte Autorenschaft. Als Designerin strukturierte sie das Layout so, dass nun die angesprochenen Leser der heutigen Zeit den Text verstehen können. Mit detektivischem Gespür brachte sie die Fotos zusammen, die die längst vergangene, historische Ansicht des Städtchens sichtbar machen. Unser besonderer Dank gilt der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth in Düsseldorf und dem Archiv der Vereinten Evangelischen Mission in Wuppertal für ihre Unterstützung und die Zuverfügungstellung von Bildmaterial.

Katrins Bebilderung folgen dem Erzählgang über Schule, Wohnhaus und Alltag, der nun fast siebzig Jahre zurückliegt. Mit diesem „Zweiten Blick“ werden meine Erinnerungen nicht nur für die heutige Zeit verständlich, sondern auch in einen objektiven Rahmen gebracht, der sie aus ihrer hermetischen Privatheit holt.

Mit ihrer „graphischen Erzählung“ begleitet sie den Werdegang eines jungen Menschen, der die erste Kultur seines Geburtslandes mit der zweiten seiner neuen Heimat mental und emotional zu einer dritten Kultur zu verbinden sucht. Wie ich trotz einer Kindheit hinter Stacheldraht, als „Naturkind“, mich in die europäische Trümmerwelt der Nachkriegszeit, eben auch über die Natur zu Recht zu finden suchte. Durch die mir bekannten Strukturen der Äußeren Mission fand ich in der Inneren Mission einen Übergang, in eine nicht gänzlich unvertraute Umgebung, zumal ich mich erneut wie im Lager unter Heimkindern wiederfand. Die Geborgenheit des idyllischen Kaiserswerth erleichterte den Weg in das, was meine deutsche Heimat werden sollte.

Text und Bilder wollen zeigen, welchen Bogen zwischen der östlichen und westlichen Hemisphäre das Kind, das ich war, spannen musste, um eine „Dritte Welt“ aus beiden Biographien zu schaffen. Ich bin ein „Third Culture Kid“, wie auch mein Mann, Bertold Klappert, mit einer fast identischen Kindheit. Die innere Rückschau der Worte bekommt durch die Bilderzählung unserer Schwiegertochter sinnliche Anschauung und Struktur.

Von Herzen danke Ich meiner Schwiegertochter Katrin Klappert, meinen Erinnerungen ihre Gestaltung mit auf den Weg zu geben (Vgl. die PDF).


Was uns prägt

Wenn ich nichts mit mir anzufangen wusste, klopfte ich am Nachbarzimmer an. Einmal saß ich mit dem alten Herrn, der dort wohnte, auf der Bettkante. Die Nachttischlampe war angeschaltet und warf ihren Schein auf einen Notizblock, auf dem entstand unter seiner Hand eine kreisrunde Kalligrafie. Das ist das chinesische Wort für Mund, sagte er. Und, fuhr er fort, das ist das Wort für sprechen und zeichnete einen Kringel in den Mund. Natürlich war das die Zunge. Ich staunte. Ein Bild, ein Wort, nicht, wie ich es gelernt hatte: viele Buchstaben hintereinander ergeben ein Wort und eine Bild muss erst dazu gezeichnet werden.

Später als Logopädin zeichnete ich meinen Patienten, die durch einen Schlaganfall ihre Sprache verloren hatten, diesen Kreis für Mund und darein die Zunge. Das sei unsere Aufgabe, erklärte ich ihnen, Mund und Zunge zum Sprechen zu bringen und dazu das schreiben, Chinesisch schafften wir es schon. Das fanden sie komisch und wollten gleich mit dem „Schreiben“ beginnen, Mund gleich Kreis, Sprechen gleich eine Zunge darin.

Der alte Mann war lange Zeit Missionar in China. Jetzt, 1948, lebte er neben unserer Familie, die aus dem Lager aus Indonesien gekommen war, in dem großen Haus in Kaiserswerth. Ich war neun Jahre alt und neugierig, darum bat ich ihn um noch ein Schriftzeichen. Auf dem Block entstanden zwei geschwungene Bögen. Das war das Dach eines chinesischen Hauses. So etwas kannte ich aus meiner Heimat Sumatra. Ein Haus, sagte der alte Herr, und zeichnete eine Figur darunter. Unter dem Dach eines Hauses ist eine Frau, das heißt Frieden. Wir staunten beide über die Schreibkunst der Chinesen. Es entstand dann noch ein drittes Haus mit zwei Frauen. Streit, sagte der alte Herr, zwei Frauen unter einem Dach – bedeutet Streit.

Der alte Missionar war für mich Onkel Diehl. Ich kam aus der großen „Missionsfamilie“ mit Tanten und Onkeln. Meine Eltern hatten Brüder und Schwestern. (Die Muslime regeln die Anrede auch so). Onkel Diehl, fragte ich ihn: Warum siehst du aus wie ein Chinese? Weil ich die Chinesen liebe, sagte er. Wenn man lange genug das anschaut, was man liebt, dann sieht man ihm am Ende ähnlich. Tante Adele, die Missionsschwester in Kanton gewesen war, gab dieselbe Antwort.

Als Liping, meine chinesische Freundin, ihren Laptop zum ersten Mal aufklappte, sah ich die vertrauten lateinischen Buchstaben. Sie klickte und vor mir öffneten sich chinesische Schriftzeichen. Ich staunte, wie damals als Kind. Hier war in unserer digitalen Welt möglich, beide Schriften simultan auf einem Schreibgerät zu benutzen. Zu jedem Zeichen gab es dazu die Liste der Bedeutungsoptionen.

Auch meine japanischen Freunde benutzen Computer, die ihre Schriftzeichen, sogar in solche, mit chinesischem und japanischem Ursprung, unterscheiden.

Eine grundlegende Neuerung musste akzeptiert werden: Die chinesische Schrift wird horizontal und nicht mehr vertikal geschrieben.

Wenn ich über solche Erinnerungen stolpere, fällt mir der Untertitel zu meinem geliebten Heidi-Buch von Johanna Spyri Band 2 ein: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat.


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