Gerade heute vor drei Wochen kam ich zu Ihnen nach Schweta und nun bin ich bereits eine Woche in England. Da möchte ich Ihnen gern einen Gruß senden. Die Herfahrt war bis Hoek von Holland schön. Als ich jedoch auf das Schiff ging, da heulte der Sturm und die Matrosen waren in schwarzes Lederzeug gehüllt. Durch die Erfahrung meiner Reise nach Schweden gewitzt, wartete ich nicht die Abfahrt ab, die gewiss sehr romantisch gewesen wäre, sondern legte mich gleich zu Bett und kam so abwechselnd wachend und schlafend nach Harwich. Es war schauderhaft stürmisch, ich hatte Mühe auf einer Seite liegen zu bleiben, weil das Schiff rollte. Noch am nächsten Abend rumorte mein Magen infolge der dadurch entstanden Lebensmittelunruhe, die jedoch infolge meines Liegens nicht in offene Revolution überging. Die Kontrolle in Harwich war, wie Sie vorausgesagt hatten, sehr streng. Mein Koffer wurde durchsucht und der Beamte zog etwas Eingewickeltes ans Licht, aber er hatte sich verrechnet. Es war nicht, wie er wohl gedacht hatte, Zigarren sondern es war nur Briefpapier. Den Sichtvermerk bekam ich erst nach langem Diskutieren in einem schauderhaften halb englisch / deutschen Kauderwelsch. Offenbar befürchtet man das Einwandern von mittellosen Personen, die nachher der Staatskasse zur Last fallen könnten. Das war aber nicht der Grund, weshalb ich mein Vermögen anzeigen musste. Glücklicherweise hatte ich fünfhundert Mark mit. Es war auch misslich, dass ich nichts
Genaues über Kings Meet wusste. Erst Miss Gollock sollte mir Instruktionen geben. Nachdem ich auch meine ärztliche Untersuchung durchgemacht hatte, war ich frei. Aber der Zug war glücklich fort. Ein Mann, mit dem verheißungsvollen Mützenschild Interperter klärte mich in German über meine Weiterreise auf und so kam ich ins schwarze rußige London. Miss Gollock war nicht im Edingburghhaus anwesend, aber sie hatte einen Brief hinterlassen, der mir alles Nähere über die Weiterfahrt mitteilte. So kam, ich glücklich ans Ziel.
Nun suche ich mich ins Englisch einzuleben. In wöchentlich fünf Stunden werde ich bei Mrs. Powers, einer sehr freundlichen Lehrerin, die auch Deutsch spricht, mit einigen anderen in Grammatik, Phonetik, Prosa, Poesie und ähnlichem unterwiesen...
Weiter finden hier eine Anzahl Vorlesungen über allerlei theologische und pädagogische Gebiete statt, durch deren Besuch man auch im Englisch gefördert wird. Schließlich bietet sich dazu viel Gelegenheit bei den Mahlzeiten, wo wir etwa 50 Menschen sind. Zum allergrößten Teile sind es junge Damen auch aus Indien und China, die sind glücklicherweise meist redelustig und machen Attacken in Englisch. Da muss man wohl oder übel antworten und so kommt man auch in dieser Hinsicht ins Englische. Selbst wir drei Deutschen, Herr Missionar Rothe, Missionar Misslinger Basel, China und ich sprechen untereinander möglichst wenig Deutsch. Es ist also in bester Weise dafür gesorgt, dass man viel Englisch spricht, hört und liest. An der merkwürdigen Tageseinteilung Vorlesung (vorlesen) viertel vor zehn bis eins und halb fünf bis sieben, die die beste Zeit dem Privatstudium überlässt, an der Art der Begrüßung. Das Händeschütteln ist verpönt. An der Anlage der Häuser, den tadellosen Gartenanlagen, die Zimmer mit Zentralheizung, ... warmes Wasser, Badegelegenheit, Tennisplätze, an den opulenten Mahlzeiten, mit Weißbrot, viel Fleisch (täglich) und Fettigkeiten, aber in sehr geringen Dosen, an der Art der Frömmigkeit (völlig interkonfessionell), der Wissenschaftsbetriebes (oh my goodness), der Stellung zur Politik (der Völkerbund ist Trumpf) usf., wir Deutschen kommen aus dem Verwundern nicht heraus. Wohltuend war die Freundlichkeit auf der Polizeistation in Birmingham. Ob der unaufhörliche Regen auch eine englische Eigentümlichkeit ist, habe ich noch nicht ergründet. Übrigens gibt es hier auch eine reichhaltige Missionsbibliothek in englischer Sprache, die ich natürlich auch benutze. Alles in allem fühle ich mich hier wohl und hoffe auch mit dem Englisch weiter zu kommen.
Hoffentlich geht es Ihnen allen recht gut. Wie wohl die drei Fotographien von Herrn Schubert gelungen sind. Herzliche Grüße sendet Ihnen hochverehrter Herr Professor, Ihrer Frau Gemahlin und Fräulein Lisa.

Es ist ein wunderschöner Sonntagnachmittag. Ein kleiner Luftzug hat sich aufgemacht, so dass man die 80°F nicht so sehr spürt, und draußen krächzen unermüdlich die Krähen. Wenn man da zur Feier des Tages etwas Siesta hält, kann es gar nicht ausbleiben, dass man noch mehr als sonst an Deutschland denkt. Heute am 17. sind es gerade zwei Monate, dass wir Indienfahrer aus Leipzig abfuhren. An die lange Reise denke ich gern zurück; sie brachte so viele schöne Eindrücke. Leider trafen wir es in Italien nicht sehr gut, weil es fast immer dunstig oder gar regnerisch war. In Neapel wäre ich gerne nach Pompeji gefahren, aber tatsächlich entschließen wir uns für Kloster Gamaldoli und bereuten es nicht. In Rom kamen wir zur großen Missionsausstellung hinter dem Vatikan gerade, als sie geschlossen wurde; die Zeit wäre aber auch sonst ziemlich knapp geworden. Die Seefahrt war im allgemeinen ganz erträglich; seekrank wurde ich nur 1½ Tage, abgesehen von der schauderhaften Überfahrt von Tolaimannar nach Danukodi(?), sonst fehlte es allerdings auch nicht bei mir an gemischten Gefühlen, aber man gewöhnt sich selbst an so etwas wie schaukeln. Herr Kannegießer war noch etwas widerstandsfähiger; dagegen Herr Direktor hatte nicht das Geringste zu lachen. Besonders schön waren die Abende auf Deck, wo man im Schiffsstuhl lag und in den Sturmhimmel guckte. Schön war es, dass wir überall im Schiff herumgehen konnten; im Maschinenraum krochen wir an der Schiffsschraubenwelle entlang bis zu der Stelle, wo sie den Schiffsleib verlässt; auf der Kommandobrücke sahen wir uns die Hebel und die nautischen Hilfsmittel an, und auch der Funkerbude statteten wir einen Besuch ab. Die Passagiere waren bunt zusammengewürfelt, ein norwegischer Missionar. Berliner Missionarskinder aus Shintau(?), die künftig die dortige Missionsschule der Amerikaner besuchen sollen, ein amerikanischer Botanikprofessor, der in Ceylon unzählige Pflanzen für die amerikanische Regierung kaufen wollte, Kaufleute, Vergnügungsreisende usf. Im Ganzen waren es nette Reisegefährten, etwa 35. Mit den Schiffsgottesdiensten hatte es einige Schwierigkeiten. Die mitgenommenen Singzettel waren als Notzettel ganz geeignet; aber es kamen nur etwa die Hälfte der Passagiere, von den Mannschaften überhaupt niemand, vom Kapitän und Oberstuard abgesehen. - Der Kapitän, ein alter, eigentlich sympathischer Seebär, hatte für das Christentum nicht viel übrig. Einmal ist er mit mir nach dem Abendessen stundenlang auf dem Deck hin und her gewandert und hat es nicht begreifen können, wie man als Christ fröhlich sein und noch dazu wohlmöglich anderenorts zu Christen machen könne; es sei für die Schwächlinge da, für die, die sich nicht (?) wollten, die die kein Mark in den Knochen hätten; ich tat ihm ordentlich leid, dass ich in seinem, d.h. Christus Armen geraten wäre. Er muss wohl richtige "Waschlappen" von Christen kennen gelernt haben. Viel kam natürlich bei dem Disput nicht heraus. Der Kunstgeschichtler Mayer-Gräfe äußerte sich bissig über uns Missionsleute, und ich möchte nur wissen, ob er uns nicht in seinen Artikeln, die er nachher geschrieben haben wird, (er stieg in Port Said aus) lächerlich gemacht hat. Herr Direktor sprach davon, dass er dem wohl nachgehen und es nötigenfalls festnageln möchte; aber ich fürchte, dass er nicht dazu kommen wird bei aller anderen Arbeit; ob Ihnen vielleicht zufällig solch ein Artikel über den Weg kommt?
Auf Ceylon, wo wir infolge der Überschwemmungen in Südindien einige Tage festgehalten wurden, verlebten wir schöne Stunden. In Madura wurde uns ein sehr herzlicher Empfang bereitet, gemeinsam ging dann die Reise weiter über Dindigul nach Trichinopoly, wo dann unsere Wege auseinander gingen. Ich bin dankbar, dass ich so lange mit Herrn Direktor und Herrn Kannegießer zusammen sein durfte; auf dem Schiff hatten wir jeden Tag, wenn es nicht gerade sehr bewegt war, unsere gemeinsame Bibelbesprechung (1. Timotheusbrief). Nach ganz kurzem Aufenthalt bei D. Heumann fuhr ich in der Nacht weiter nach hier und war endlich am 18. Dez. am Ziele.
Bexells haben mich sehr herzlich und warm aufgenommen. Die Gemeinde begrüßte mich dann am 4. Advent, wo ich antwortete auf Englisch, vom Dolmetscher ins Tamilische übersetzt. Dass man Tamilisch erst lernen muss, ist eine mühsame Sache. Die erste Zeit nahm ich an den Gottesdiensten in der Weise teil, dass ich die Lieder einfach deutsch sang. Aber nun habe ich wenigstens die Buchstaben einigermaßen gelernt - vor einem Jahr legte schon Missionar Petermann in Leipzig dazu den Grundstein - und ich singe vorsichtig tastend und oft daneben greifend tamilisch mit; auch durch die Liturgie finde ich jetzt ziemlich durch. Aber vorläufig ist es noch Schall und Rauch, weil ich den Sinn nicht verstehe. Seit etwa 1½ Woche habe ich einen Muntsi (Sprachlehrer) denselben, den Fräulein Hübener vor dem Kriege gehabt hat und drille mit ihm. Vielleicht kann ich aber doch noch, wie es ja ursprünglich geplant war, nach Kodaikanal hinauf, wo die Language School nach dem Urteil von Herrn Bexell u.a. gut ist; augenblicklich macht noch die Quartierfrage Schwierigkeiten. Hoffentlich bin ich Ende dieser Woche oben.
Dass ich an der Konferenz in Madras teilnehmen konnte, war sehr schön. Da bekam man einen hoch willkommenen Einblick in die Missionsprobleme, und man bekam auch die führenden Persönlichkeiten zu sehen. Es sind doch z.T. sehr widerstrebende Kräfte in den lutherischen Körperschaften Indiens tätig. Die Missionare haben glücklicher Weise schon früher ihren Austritt erklärt. Am schwierigsten sind noch die Dänen, die stark modernistisch angehaucht sind und Angst davor haben, dass Leipzig stark wieder in den Vordergrund treten könnte. Besonders das Trankebarer Theologenseminar scheint ihnen ein Stein des Anstoßes gewesen zu sein, obwohl sie die Bücher von D. Zch(?) gerne benutzen. Aber es kam doch zu positiven Ergebnissen.
Auch Teddy Benze war dort aber ohne "Rauchen". Ich glaube, dass Geld reichte nicht ganz. Wir haben viel zusammengesessen und uns erzählt, er über Amerika und Deutschland, und ich über Deutschland. Er schalt noch über "die dumme Wirtschaft" in Frankreich; auch sein Vater hat dort einmal mit seinem Gepäck Schwierigkeiten gehabt. Auch auf Prof. Richter kam er zu sprechen, der sich auf seiner Amerikafahrt durch Grosstun alle Sympathien verscherzt habe; stets hätte er nur zu schelten und kritisieren gehabt. Gern dachte er an seine Deutschlandfahrt zurück, auch an seinen Besuch bei den "guten Onkel Paul" in Schweta. In Radjamundy hat er sich mit seiner Frau aufs Sprachenlernen geworfen; es sei eine Arbeit, die Freude mache, aber er müsse sich tüchtig anstrengen, weil sie zu zweit sich sehr Konkurrenz machten. -
Das (?) Zeug von Kumbakonam habe ich Herrn Kannegießer gegeben; ich glaube, er hat am ersten Gelegenheit, Ihnen das Gewünschten mitzubringen. Nachdem ich mich ein wenig eingelebt habe, geht es nach der Melodie "Wie sanft ist aller Tage Fluss bis zum geliebten Wochenschluss." Sanft d.h. in Bezug auf äußere besondere Ereignisse. -
Hier grünt und blüht es ringsum, und die Balsameinen sind hoch emporgeschossen, während es in Schwetas Garten wohl noch Winterschlaf gibt. Erst vor einem Vierteljahr war ich bei Ihnen - mir ist, als ob wäre es viel länger; wenn man viel erlebt, geht die Zeit so langsam hin.

Für Ihre Karte und für die Übermittlung des Indienkatalogs möchte ich Ihnen gern sehr herzlich danken. Ich hätte nie geahnt, dass die Literatur über Indien so umfangreich ist. Vor fünf Tagen bin ich nach Kodi heraufgekommen. Schon voriges Jahr gefiel mir Kodi mit all seiner Schönheit sehr. Aber dies Jahr geht es mir doch noch anders. Immer wieder freue ich mich an der Stille ringsum und an der Schönheit der Gottesnatur. Eben unter Mittag zeigt das Thermometer im Zimmer 20 Grad Celsius. Mir kommt das kühl vor und der wollene Winteranzug, den ich aus Deutschland mitgebracht habe, ist mir dafür gerade recht. Wie wird hier das Auge erquickt durch das Grün ringsum und durch die Blumenpracht und das rauschende Wasser. Hier oben lässt es sich "leben".
Dort unten aber ist es fürchterlich. Natürlich gewöhnt man sich an die Hitze, den Durst, die Trockenheit, den Staub. Man gewöhnt sich auch an das Gefühl, als wäre man mit Klintenleim bestrichen, weil alles klebt. Aber wenn man mal der Hitze entfliehen kann, ist man doch von Herzen dankbar dafür. Ich bin nur froh, dass nicht das ganze Jahr solche Temperaturen aufweist. Dass die Inder eine Anlage zur Trägheit und Gleichgültigkeit haben, wundert mich nun nicht im
Geringsten.
Die Tage, die ich in Pandur verlebt habe, waren fein. Da habe ich allerlei vom indischen Dorfchristentum
kennen gelernt. Die Lehrer, die dort abseits von allen Verkehrswegen hausen in weit entlegenen Dörfern beneide ich nicht gerade um ihre Stellung. Mir hat sich während des Kursus in Madras ein Vortrag von Bischof Asiria sehr eingeprägt. Er wies darauf hin, dass bei der Dorfmission die Dorflehrer die gegebenen Evangelisten sind. Nun scheint aber während der Abwesenheit der Deutschen in diesen Gebiet nicht viel zu ihrer inneren evangelistischen Ausrüstung getan zu sein. Die Lehrerversammlung, die eine Art Freizeit sind, sind ja weithin eingeschlafen. Da war es sehr interessant, an zwei derartigen Versammlungen, an denen Herr Heller mit teil nahm, teilzunehmen.
Ein Teil der Lehrer ist wohl müde geworden und schläfrig. Einzelne dagegen sind sehr aufgeweckt und rege. Auch die Dörfer machten einen sehr verschiedenen Eindruck. Besonders gefiel mir S., wo die Gemeinde beim Erntedankfest soviel Gaben darbrachte, dass bei deren Versteigerung etwas über 12 Rupies zusammen kam bei nur etwa 50 Gemeindegliedern. In anderen Ortschaften dagegen war es kümmerlich. Ich denke z. B. an M.
Als wir da durch einen Ort gingen, folgte uns auch ein alter Hindu, der von K. getauft war, aber später wieder abfiel. Herr Heller fragte ihn, ob er sich nicht schäme. Da grinste er, "nein durchaus nicht". Unser Pastor sagte mir nachher, solche Leute sein nicht selten. Sie hätten eben nie das Christentum wirklich mit dem Herzen aufgenommen. Wie gut, das dies schließlich wirklich nur Ausnahmen sind.

Du fragtest einmal, wie es mit meinem Examen werden würde. Jetzt habe ich nun vom Missionsrat Nachricht darüber erhalten. Ich soll das Examen am 5. Oktober in Madras ablegen. Wer mich prüfen wird, weiß ich noch nicht. Einer der Examinatoren ist sicher D. Fröhlich. Früh habe ich dann meine Probelexion oder Katechese in der Schule abzuhalten und am Abend habe ich den üblichen Mittwochabendgottesdienst abzuhalten mit Predigt. Im Laufe des Tages findet außerdem das Schriftliche und Mündliche statt....

Rundbrief vom 20. Oktober 1927 aus Madras
In dieser
Woche wandern meine Gedanken besonders viel nach Deutschland. Es sind ja
jetzt gerade zwei Jahre seit meiner Ordination und Abordnung vergangen.
Wie gerne denke ich an jene Tage zurück. Nun noch einmal eine doppelt so
lange Zeit - dann mag es sein, dass ich wieder nach Deutschland fahre.
Aber bestimmt ist es noch nicht, weil es noch nicht festgelegt ist, wie
lang bei uns ein Indienaufenthalt sein soll, vermutlich werden wir uns
ungefähr den Schweden angleichen, die eine Periode von sieben Jahren
haben.
Meine
neuste Errungenschaft ist ein Stahlross, das sogar den Beifall von
Heller gefunden hat. Wenn ich jetzt oft zur Fabrizius-Schule muss, ist
solch ein Ding hochwillkommen, Ich sprach mit unserem Propst darüber,
dass ich daran dächte, mir aus Deutschland ein Rad kommen zu lassen; da
sagte er mir, Herr Alm habe eins für 128/- Rs. zu verkaufen, Made in
Sweden. So schrieb ich ihm umgehend und bekam es dann schnell
zugeschickt. Es ist ein bisschen schwer, aber für die indischen
Verhältnisse ist es gerade das richtige Format. Vor allem hat es
Rücktrittbremse, ein Vorzug, über den erbärmlicher Weise weder die
indischen noch die englischen Fahrräder verfügen. Ich habe es schon
öfter benutzt und bin zufrieden damit. Namentlich in den von Menschen
und Krimskrams wimmelnden Basarstraßen muss man das Rad fest am Zügel
haben. dass man hier immer links ausbiegen und rechts überholen muss,
war mir erst etwas merkwürdig, aber schließlich tut man es ganz
automatisch. Dass man hier ein Rad gut brauchen kann, habe ich eigentlich
erst kürzlich entdeckt. Auf die Autobusse ist nämlich manchmal nicht
sehr viel Verlass, weil sie sich in ihrer unzähligen Zahl allmählich
gegenseitig zu Tode konkurrieren. Aber für weitere Entfernungen ist der
Autobus immer noch die ideale Beförderung. Auch während der glühenden
Mittagsstunden ist das Radfahren nicht empfehlenswert; denn da ist man
selbst bei vernünftigem Fahren sehr bald wie ein Kanonenofen, der bis
zum Hals voller Kohlen ist und vor sich hinprasselt.
Das Geld dazu
lasse ich mir vom Missionsrat vorschießen und zahle das Geld in
monatlichen Raten von vielleicht fünf Rs. von meinem Reiseetat ab, den ich
noch bewilligt bekommen muss. - Nun muss ich mir bloß noch eine Laterne
kaufen.
Vorgestern tauchte plötzlich Heller bei uns auf. Er hatte hier in Madras
zu tun; vor allem wollte er jedoch, dass ich am Nachmittag mit ihm einen
Trip nach Tiruvallur machte, um das Haus zu besichtigen. Das soll ja das
Wohnhaus, oder wie die Engländer so schön sagen, die Residenz von Lisa
und mir werden. Als wir dort ankamen, war der dort hausende Pastor Karl
Samuel leider ausgeflogen und in den Distrikt gefahren. Aber wir sahen
uns doch immerhin das Haus eingehend an. Es muss sofort nach dem
Aufhören der Regenzeit, auf deren Beginn wir immer noch ziemlich
verzweifelt Ausschau halten, repariert werden. An verschiedenen Stellen
regnet es noch gewaltig durch; vor allem muss dann auch alles geweißt
werden. Im Untergeschoß gibt es dort ein großes Vorderzimmer, von dem
man durch das Treppenhaus in das große Hinterzimmer spaziert. Rechts und
links vom Treppenhaus befinden sich die beiden Seitenzimmer. Steigt man
das Treppenhaus empor, findet man im Obergeschoß entsprechend über den
beiden Seitenzimmern zwei Räume, dis als Schlafzimmer und als
Gästezimmer gedacht sind. Über dem Vorderzimmer, das als
"Empfangszimmer" oder "Salon" oder Wohnzimmer dienen kann, befindet sich
oben eine schöne Veranda. In jenem Zimmer stehen augenblicklich noch die
acht Kisten von Missionar Söderström, dem Vorgänger von Heller in
Pandur, der in diesem Frühjahr heimreiste und vor ein paar Wochen
plötzlich an Blinddarmentzündung gestorben ist. Onkel Frölich und ich
waren voriges Jahr in Kodi bei ihm zu Gast, so dass wir ihn, seine Frau
und sein Töchterlein Sylvia näher kennen gelernt haben.
Das Hinterzimmer wird das Esszimmer bilden, weil es der Küche am
nächsten liegt, und von den beiden Seitenzimmern ist das, das links
liegt, mit einem Extra-Eingang versahen, so dass es sich als "Office",
oder wie die Inder sagen, als "Aapis" empfiehlt. Vorläufig wohnt jedoch
noch Karl Samuel in den beiden Seitenzimmern. Es ist fraglich, ob wir
ihn an die Luft setzen können, denn wo sollen wir ihn hinsetzen? Aber da
Heller die Sache vom Missionsrat zur Erledigung aufgetragen bekommen
hat, wird er schon versuchen, das Haus leer zu machen, im Notfall müssen
wir natürlich Geduld haben und den Pastor dort wohnen lassen, wenigstens
für den Anfang. Eigentlich liegt das Missionshaus jetzt an einer
falschen Stelle. Aber das hat seine Gründe. Als vor gut 20 Jahren das
Haus gebaut wurde, befand es sich schön in der Mitte des
Missionsgebietes, das wir dort haben. In der Mitte läuft von Osten nach
Westen die Eisenbahn, und weit nach Norden wie nach Süden erstreckt sich
unser Arbeitsgebiet. Als die Arbeit wuchs, wurde das nördliche Feld
selbständig gemacht und erhielt in Pandur seinen Mittelpunkt, und das
südliche Gebiet wurde von Tiruvallur aus verwaltet, bloß das das
Missionshaus leider nördlich ganz außerhalb des Gebietes liegt; das
Zentrum müsste eigentlich in solch einen Orte wie Kondantscheri liegen.
Nun ist der Trott so weitergegangen, dass selbst der indische Pastor
nicht nach dem Süden ging, sondern hübsch an der Eisenbahn wohnen blieb,
zumal er auch im Missionshaus residieren konnte. Aber als Entschuldigung
kommt hinzu, dass ihm die Kirche eben erst ein eigenes kleines Pfarrhaus
bauen müsste. Vielleicht hat unsere Übersiedelung nach Tiruvallur das
Gute, dass der Pastor endlich mal zu einem Pfarrhaus in der Mitte seiner
Gemeinde kommt.
Hinter dem Bungalow befindet sich das Nebengebäude, in
dessen linkem Ende die Küche steckt, ein schöner, appetitlicher Raum.
Sonst befinden sich da noch vier Räume, oder sind es bloß drei, wo der
Koch und der Gärtner ihre Zelte aufschlagen können. Rechts befindet sich
in diesem langgestrecktem Gebäude ein großer Schuppen alias Stall, und
daran schließt sich noch ein schmaler, verschließbarer Stall an, in dem
^an Tauben- und Hühnerzucht betreiben, kann. Wenn man will, kann man es
auch als Holzschuppen benutzen.
Sonst gibt es nicht weiter viel zu beschreiben. Der Garten ist etwas
kahl, weil es keine Blumen gibt; aber die Bäume sind hübsch
hochgewachsen und spenden Schatten; es sind vor allem Mangos. Für eine
Hausfrau ergeben sich dort also allerlei Entwicklungsmöglichkeiten.
Vom Bahnhof liegt das Haus fünf Minuten entfernt. Das hätte ich nicht
gedacht, dass ich noch einmal so schön in meinem eigenen Geburtshause
landen würde! Meine Pläne sind nun folgendermaßen. Anfang Dezember packe
ich meine Sachen hier in Madras und schicke sie dorthin, während ich bis
Weihnachten hier wohnen bleibe. Gelegentlich fahre ich jedoch hinüber
und gehe ans Auspacken und Einrichten. Vor allem hoffe ich, dass es
geht, dass Lisa von Mayavaram aus Mitte Dezember mal auf eine halbe oder
ganze Woche hierher nach Madras kommen kann - Sandegrens werden sie
sicher gern aufnehmen - und wir dann gemeinsam Einkäufe machen und auch
mal nach Tiruvallur hinüberfahren können, um alles anzusehen und zu
besprechen. Dann kann ich nachher alles soweit fertig machen, dass wir
bei unserem Einzug nach unserer Hochzeit in ein einigermaßen bewohnbares
Haus kommen.
Morgen in sechs Wochen kommt Lisa in Colombo an!! Ich habe auf meinem
Kalender die jeweilige Tage der noch fehlenden Tage bis zum 2. Dezember
hin eingetragen und streiche jeden Morgen mit einem dicken Rotstift die
überholte Zahl aus. Das ist eine herrliche Beschäftigung. Heute früh
habe ich die 44 ausgestrichen; es sind also noch 43 Tage. Wenn ich mir
überlege, dass ein Brief, den man nach zu Hause schreibt nicht länger
als dies zu seiner Beantwortung beansprucht, ist es lächerlich kurz.
Prachtvoll! Tüchtig Arbeit habe ich zu tun. Unser hiesiger
Pastor hat mich gebeten, dass ich einige Zeit regelmäßig die Mittwoch-Abend-Gottesdienste (um sieben Uhr) halte. Ich konnte nicht
gut nein sagen, aber ich habe damit eine ganze Portion Arbeit aufgeladen
bekommen. Denn hier in Madras muss jede Predigt sehr sorgfältig
ausgearbeitet werden, weil die Zuhörer ganz kolossal kritisch sind; das
hat natürlich das Gute, dass ich gehörig Selbstzucht üben muss und nicht
ins flüchtige Arbeiten kommen kann. Auf dem Dorfe hat man mehr biblische
Geschichte zu erzählen und zu vertiefen. Hier muss man schon ein bisschen
mehr zustande zu bringen versuchen.. Aber sehr schlicht müssen die
Predigten auch sein, da die Kichre immer auch von Frauen gerappelt voll
ist; und vorne sitzen außerdem die Kostschulmädels, mittwochs jedoch nur
die Älteren. Ich bewundere sie immer, dass sie nicht alle durch die Bank
sanft und süß einschlafen bei den hier oft üblichen Predigten, die oft
Kilometer lang sind. Ich habe es mir zur Regel gemacht, nicht länger als
höchstens 25 Minuten zu predigen. Leider dehnen sich die Anderen mit
ihren Predigten über sehr lange Zeiträume aus. Am längsten predigt
Pastor John David, der mit oft 40 Minuten der Rekord hält. Dann kommt
Onkel Frölich mit rund 30 Minuten, dann Pastor Gnanadickam mit rund
einer halben Stunde, die aber gelegentlich ziemlich stark überschritten
wird. Ich fide, erschöpfend kann man nur selten einen Text behandeln;
also mag man sich doch begnügen und das, was einem am wichtigsten zu
sein scheint, herausgreifen. Wenn man nicht innerhalb einer
Viertelstunde klar und nachdrücklich sagen kann, wird man vermutlich
auch nicht innerhalb von dreiviertel Stunden wirkungsvoller sagen
können.
Am liebsten höre ich Gnanadickam, der oft ganz
ausgezeichnet, anschauliche Predigten hält. Auch Sandegren höre ich
recht gern. Onkel Frölich und Sandergren haben nämlich jeder in
jedem Monat den 4. bzw. 2. Sonntag als "ihren" Sonntag, wo sie
predigen. Gerade anschauliche Predigten sind gar nicht leicht, aber hier
noch mehr als anderswo notwendig, wenn man ein Gleichnis von Sundar
Singh bringt oder sonst eine Geschichte, merkt man richtig, wie sich die
Gemeinde aufrichtet und zu spitzen anfängt; aber wo soll man bloß die
Geschichten alle herkriegen? Sie müssen an dem richtigen Platz die
richtige Sache klarmachen.
Ich habe gestern die 1. Seligpreisung gehabt, und ich will mit dem
nächsten fortfahren;; aber ich habe inzwischen entdeckt, dass ich mir
eine schwere Nuss ausgesucht habe. Meine Gliederung gestern war:
-
Wir
sind vor Gott arm
-
Aber
gerade in dieser Armut liegt Segen
Nach der
Predigt gestern wurde abgekündigt - das besorgt immer der Katechet
- das der Präsident der Leipziger Missionar, der lange Jahre ihr
Direktor gewesen sei und auch das indische Missionsfeld besucht habe,
und dessen jüngst Tochter die Braut von Rev. Paul (spr. "Pool") Gäbler
sei und deshalb bald nach Indien käme, heimgegangen sei. Gott möchte die
Hinterbliebenen trösten.
Als ich
nachher unseren Boy hier fragte, ob er Vater gekannt habe, schmunzelte
er, er sei am Ende seiner Visitation bei Heller gewesen, dessen Boy er
damals gewesen sei, und habe sich drei Tage in Sidambaram aufgehalten.
Er sei sehr lebendig und sehr freundlich gewesen. Bei seinem Fortgehen
habe er ihm zwei Rupies gegeben; da habe er sich mächtig gefreut.
Ist nicht diese Perspektive eines Dieners glänzend?
Inzwischen habe ich Joh. Sandegren unser Februar Missionsblatt und die
Allgemeine Missionszeitschrift vom Februar gegeben, damit er Stoff hat
für Artikel, die er im "Gospel Witness" und im Tamulischen "Arunodayam",
unserem monatlich erscheinenden Sonntagsblatt, schreiben will.
Am
vorigen Sonntag waren wir nach der Kirche zu einer Geburtstagsfeier
eingeladen. Die Einladung besagte, wir möchten doch kommen "On the
occasion of the Ear Boring & Birthday Cermony" der Enkeltochter Gladys
Chandra Bai; der Großpapa hieß Jesudoss Pillay. Der Vater und die Mutter
spielten keine große Rolle. Hier in Indien herrscht eben das
Familiesystem; das wichtigste Glied des Hauses ist nicht der Vater,
sondern der Großvater, und wäre er als wie
Methusalem, von
Mutter und Großmutter ganz zu schweigen. Bei ihm wohnt auch das ganze
Gekribbel von Kind und Kindeskind samt allen Ehefrauen. Wenigstens ist
das das Normale. Da sieht man, wie individualistisch wir Abendländer
eingestellt sind. So ist es auch ganz natürlich, dass bei Hochzeiten und
sonst der Vater bzw. Großvater die erste Geige spielt. Dadurch ist aber
wenigstens ein Gutes gesichert: den Indern steckt das vierte Gebot tief
in den Knochen, und bei der Heidenpredigt bietet der Gedanke das
Vaterhaus eine ganz selbstverständliche und allgemein verständliche
Anknüpfung. So stieg denn auch Mr. Jesudoss Pillay am vorigen Sonntag in
seiner ganzen Würde einher und spiele den Hausherrn in großer Würde und
mit reichem Wortschwall; die Inder sind die geborenen Volksredner; was
habe ich mich schon oft gewundert über ihre rednerische Begabung! Es mag
sein, was für ein Anlass ist - immer haben sie eine schöne, wohlgesetzte
Rede parat, die sie mit riesigem Pathos und großartigen Armbewegungen
hervorbringen. Aber es ist nicht bloß hohles Geschwätz, sondern es ist
brav und rechtschaffen gemeint, so dass man sich durchaus nicht darüber
zu amüsieren braucht.
Als wir
zu dem Hause hinkamen, hörten wir schon von weitem die Musiker Vor der
Eingangstür war ein Pandel, eine Art leichtes Dach, aufgebaut, unter dem
eine Anzahl von den Gästen saßen, während wir selbst in das geräumige
Zimmer hineingeführt wurden, das vollgepfropft war mit lauter holden
Schönen. In ihrem hübschen Sonntagsstaat saßen sie alle auf dem Boden
und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Nachdem die Musik
verstummt war, kam erst eine kurze Andacht, besonders Gebet. Und dann
trat das Mädel in den Mittelpunkt. Es war ? Jahre und ein Monat alt und
angetan mit einem schönen blauen Samtkleidchen. Zunächst wurde von
seiner Tante mit einem in Kalk getauchtem Strohhalm auf jedes
Ohrläppchen ein kleines weißes Tröpfchen gesetzt, wohl zur
Desinfizierung. Dann wanderte das Kind in den Schoß des Großvaters,
während draußen die Musik anhob mit dumpfen Handtrommelgetön und greller
Dudelsackpfeif-Musik. Nun ergoss sich über das Mädchen, das sich mir
beinahe vor den Füßen befand, ein ganzer Strom von Zuspruch und
Ermunterung. Bananen wurden ihm in den Mund gesteckt, und gleichzeitig
rückte ihm ein nicht gerade sehr reinlich aussehender Mann auf den Laib,
der wohl eine Art mittelalterlicher Dorfbarbier war. Er holte einen
Ohrring hervor, der gleich mit einer Nadel verbunden war und wischte mit
seinen Fingern noch einmal ordentlich über das goldene Schmuckstück und
die goldenen Nadel hin, damit es ja schön rein sein möchte. Und
dann piekste und würgte mit viel Anstrengung die Nadel durch das rechte
Ohrläppchen des armen Wurmes, das erbärmlich schrie und mit den Armen
und Beinen strampelte, soweit ihm der Großvater und andere Assisten dazu
Spielraum ließen. Das Ohrläppchen muss ziemlich schwer zu durchstechen
sein, denn es ging ziemlich langsam; aber die Nadel ist ja auch
lächerlich kurz und bei der allgemeinen Hitze auch glitschig. Nachdem
sie von außen durch den weißen Fleck nach innen hindurchgeführt war,
wurde mit einer mächtig großen Pinzette die Sache noch richtig
festgemacht. Nun folgte wieder eine Menge Tröstung und Zuspruch, und die
Prozedur der Durchstechung des linken Ohres schloss sich an. Dann wurden
die Tränen getrocknet, das Kind bekam eine rote Schnur um den Leib
gebunden, silberne Ringe wurden ihm um den Fuß gelegt, und bald
trippelte es wieder stolz und strahlend in der Weltgeschichte herum.
Dann wurden wir feierlich bekränzt, und die Verwandten überreichten dem
Kinde je eine Rupie, das dieses Geld jedes Mal der Mutter weiterreichte,
die es ihrerseits sorgfältig in einem Hefte aufzeichnete. Dies
Geldgeschenk beruht übrigens ganz auf Gegenseitigkeit.
Nachher
schloss sich sogar noch ein schönes Frühstück an, das uns trefflich
mundete, denn wir waren rechtschaffen ausgehungert.
Ja, das
ist Indien!

Rundbrief vom 27. Oktober 1927 aus Madras
Da ist mir einmal wieder ein schwerer Stein vom Herzen. Eine Woche sehr strammer
Arbeit hat mich nun glücklich so weit gebracht, dass die Übersetzung druckfertig
vorliegt. Gleich heute geht sie mit einem längeren Begleitbriefe nach Leipzig an
Inspektor Weishaupt. Gerade fünf Monate hat die Sache gedauert, und es besteht
jedenfalls das Unikum, dass innerhalb dieser ganzen Zeit noch nicht ein
Sterbenswörtchen von Weishaupt an mich gelangt ist. Selbst wenn er sehr
überarbeitet ist, hätte er mir mal ruhig eine Karte schreiben können, denn zum
puren Vergnügen habe ich die Sache doch nicht gemacht; bei der wunderbaren Hitze
musste ich oft alle Energie zusammennehmen, um nicht ins Bummeln zu kommen. Aber
ich bin Weishaupt nicht etwa deshalb gram; hoffentlich gelingt es ihm, die Sache
noch vor Weinnachten erscheinen zu lassen, sei es im Missionsverlag oder wo
anders. Die Abingdon-Press drängt mich auch sehr, so dass ich froh sein will,
wenn die Sache unter Dach und Fach ist. Aber eins will ich Euch gleich verraten:
Da ich arm wie eine Kirchenmaus bin, kann ich Euch nichts aus Indien zu
Weihnachten schicken; aber stattdessen kriegt Ihr eine Kopie des Buches, wenn
es heraus ist, von mir geschenkt. Wenn Ihr mir als Gegengabe ein Verzeichnis der
Unebenheiten und Fehler schickt, verspreche ich Euch, dass das bei der zweiten
Auflage (!!!) gebührend berücksichtigt werden wird. O diese Entfernung von
Indien bis Deutschland! Man. ist so völlig rettungslos auf die Gnade und Ungnade
der anderen Menschen angewiesen! Aber allmählich wird man geduldig und
fatalistisch. Dass gerade ich mit meiner "Püttcherigkeit" diesem Schicksal
anheim fallen müsste, hätte ich ja früher nicht gedacht, aber ich suche, immer
weniger "püttcherig" zu werden.
Am nächsten Sonntag und Montag (Reformationsfest) möchten wir
wieder nach Pandur. Ob es bei Hellers passt, wissen wir indessen noch nicht. Da
werde ich dann wohl auch Näheres über das Haus in Tiruvallur hören. Es ist ja
die Frage, ob der Pastor eine andere Klause findet oder nicht.
Neulich fand hier eine große Konferenz von Schuldirektoren
aus der ganzen Madras-Präsidentschaft über die Frage der körperlichen
Ertüchtigung der Jugend statt. Man scheint in dieser Hinsieht allerlei Schritte
tun zu wollen. Ich sah dabei zu, wie im Senatshause allerlei Vorführungen
stattfanden; Spiele, Freiübungen, Wettkämpfe und dergl. folgten in bunter Reihe.
Es war ein sehr großer Saal; man veranstaltete die Sache im Inneren, weil man
Regen befürchtete, der aber leider nicht kam: Die Kerlchen machten ihre Sache
fein. In der deutschen Jugend geht es vielleicht noch rassiger und exakter zu,
aber sonst konnten sich die Inder sehen lassen. Eine ganze Reihe von Schulen in
Madras hatte eine Riege geschickt, Mit am besten gefiel mir die Gruppe von Adyar,
wo die Theosophen ihren Mittelpunkt haben. Aber das ist auch kein Wunder, weil
sie eigentlich nur Jungens aus höheren Kasten haben, und die sind natürlich von
vornherein ein ganz anderes Material.
Übrigens ist es interessant, dass die
Theosophen dort auch Mädels haben und Jungens und Mädels gemeinsam erziehen; das
ist eine der großen Probleme hier, ob und wie weit man das wagen kann.
Eigentlich ist dies der einzige Weg, der zu einer wirklichen Hochachtung und
gewissen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes in Indien führen könnte,
denn dieser Weg fängt unten bei der Wurzel an. Aber natürlich gibt es dabei
allerlei Unheil, und das ist ein Risiko, dem sich die Missionsarbeit, die stets
vorsichtig tastend und möglichst auch nur auf erprobten Bahnen bewegen darf,
nicht leichthin aussetzen darf. Aber es mag sein, dass auch wir in der
Missionsarbeit in dieser Richtung Versuche anzustellen haben werden.
Die letzte Post aus Deutschland brachte die Nachrichten über
Hindenburgs 80. Geburtstag. Habt vielen Dank für alles, was Ihr darüber geschickt habt. Onkel
Frölich und ich haben es sehr eingehend studiert. Dass man alles Derartige aus
einer so großen Entfernung miterlebt, ist nicht schön. Aber das schadet nichts.
Ich lese jetzt jeden Tag zwischen Mittagessen und Mittagschlaf deutsche Zeitung;
mit der Deutschlandpost kriege ich ja immer den "Tag", alle Nummern von der
letzten Woche. Dann setze ich mich hin und nehme jeden Tag eine Nummer vor. dass
das drei Wochen alt ist, schadet nichts. Aber man wird doch dadurch sozusagen
mal wieder ans deutsche Leitungsnetz angeschaltet.
Am Dienstag besuchte ich die "Bärenfels"; ich war vorn bei
den Mannschaften gewesen, wo ich in der einen Stube sehr nette Kerle und in der
anderen Stube einen sehr wenig sympathischen, abgebrühten Menschen angetroffen
hatte, Da hörte ich, dass an Bord ein Geograph sei, der nach Kalkutta mitführe
und sich dann nach Sibirien begeben wollte, um dort eine Forschungsreise zu
machen. Das war mir sehr interessant, und richtig, der Kapitän stellte mich ihm
vor, ohne dass ich ihn erst darum zu bitten brauchte. Es war Prof. Weigel aus
Marburg; vielleicht kann mir Schwager Hans über ihn Näheres sagen. Er war jetzt
einige Zeit in Zeylon, und er schlängelt sich jetzt über Indien, Burma, Siam,
Java, China, Japan mach Sibirien, wo er im Mai seine Expedition vom Ochottschen
Meerbusen aus in Angriff nehmen will. Er reist im Auftrag und auf Kosten der
deutschen Regierung. Er muss dort Russisch reden. Er wählt diese Jahreszeit, die
infolge des Fehlens des Schnees für die Reise recht unvorteilhaft ist, weil er
überall Gesteinsproben nehmen will, Die ganze dortige Gegend ist noch terra
incognita, man weiß nicht einmal, ob es dort ein Gebirge gibt oder nicht.
Weigel reist ganz allein, weil er meint, dass man nur dann wirklich, fruchtbar
arbeiten kann; sonst sitzt man abends mit den anderen zusammen und schwätzt,
statt die rund 60 Tagebuchseiten, die man täglich schreibt, auszuwerten und ins
Reine zu übertragen; das sei ein hartes Stück Arbeit - drei Stunden koste es
stets; da müsse man eben die Zähne zusammenbeißen, wenn man auch lieber schlafen
ginge.
Während des Marsches werden beständig die Entfernungen und Winkel
gemessen, alle 100 Schritt oder so zwei Mann tragen jeder gebrauchsfertig die
dafür nötigen Instrumente, die sie alle paar Nasen lang hinsetzen müssen. Alle
paar Tage wird der Längen- und Breitengrad bestimmt, was schwerer ist als auf
See, weil man nicht einen geraden, einwandfreien Horizont hat. Scheint keine
Sonne, wird der Mond photographiert, und zwar so, dass der Apparat ein paar
Stunden lang offen gelassen wird, so dass man nachher in Form von Strichen die
Bewegungen des Mondes sehen kann. Dann wird das Bild an eine Sternwarte
eingeschickt, und dort wird dann herausgeixt, auf welchen Punkt der Erde diese
Mondbewegung zutrifft.
Ich fragte dann auch nach
Filchner. Da meinte
er, das sei ein so vorsichtiger und rührend guter Mensch, dass er niemandem ein
Haar krümmen könnte. Deshalb habe er es von vornherein für ausgeschlossen
gehalten, dass jemand ihm Leid angetan hätte. Wenn ein Forscher ermordet würde,
wäre es eigentlich immer seine Schuld, er brauchte sich bloß einmal hinreißen zu
lassen und jemandem eine Ohrfeige herunterzuhauen; aber sonst behandelten einen
die Leute stets hochanständig. - Von
Sven Hedin sagte er, dass
er nicht immer bis in alle Kleinigkeiten hinein zuverlässig zu sein schiene,
wenn er auch sonst ein überragender Forscher wäre. Jetzt sei er alt und beinahe
zitterig; die jetzige Expedition sei mit allem Komfort ausgestattet; so führte
er ein zusammenlegbares Haus bei sich. - Ihr seht, das war ein ganz fesselndes
Gespräch. Daraus, dass ich so lang davon erzähle, seht Ihr, wie froh man hier
ist, wenn man mal was anders zu sehen und zu hören kriegt und sich mal richtig
"gebildet" unterhalten kann.

Rundbrief vom 10. November 1927 aus Madras
Wenn Ihr diesen Brief erhaltet, ist gerade die liebe Weihnachtszeit angebrochen.
Wie viele schöne Erinnerungen sind doch mit ihr verbunden! So freue ich mich
auch dieses Jahr darauf, umso mehr, als sie mich auch Lisas Kommen wieder ein
Stückchen näher bringt. Der Hauptgrund, warum nicht nur ich, sondern alle
Missionsleute hier draußen, vom denen ich gehört habe, gegen ein späteres
Herauskommen als Ende Januar sind, ist eben vor allem des Klimas wegen. So bin
ich ganz entschieden dafür, dass sie Ende Januar in Colombo eintrifft. Selbst
Herr Meyner und Heller sagten, sie hätten ganz vergessen gehabt, wie groß die
Hitze ist; und sie konnten sich immerhin einen Bergurlaub von acht Wochen
nehmen. Bei uns werden es bestenfalls vier Wochen im kühlen Klima, und dabei
auch nur voll strammer Arbeit.
Pläne zu machen, ist nun nachgerade eine gefährliche Beschäftigung; aber man
muss sich doch auch vernünftig alles überlegen. Meine Zukunftsgedanken sind
folgendermaßen: Bis zum Herauskommen Lisas bleibe ich bei Onkel Frölich wohnen.
Darin nehme ich mir einen Urlaub von etwa 2½ Wochen
von Mittwoch, den 25.Januar bis Sonnabend den 11. Februar. Am Dienstag Abend
setze ich mich auf die Bahn und fahre bis Colombo in eins durch, so dass ich
dort am Donnerstag morgen ankomme. Am Freitag trifft das Schiff ein, aber da es
manchmal etwas früher ankommt ist es gut, wenn ich schon ein bisschen pünktlich
bin. Das Schönste wäre dann, wenn wir beiden dann auf ein paar Tage in Zeylon
bleiben könnten und uns z.B. Kandy ansehen könnten. Aber das wird vom Wetter und
vom Geldbeutel abhängen. Auch kommt es darauf mit an, ob Frl. Frölich mitkommt,
da wir sie vermutlich einladen müssten, mit uns mitzufahren; wir könnten sie
doch nicht allein herumsitzen lassen; das bedeutete dann aber, dass wir auch
ihre Reise zu bezahlen hätten; denn sie ist eine arme Kirchenmaus, während ich
hoffe, ich kann wenigstens ein klein bisschen sparen. Aber wie gesagt, das
müssen wir erst abwarten. Auf der Fahrt nach Indien wäre ich dann sehr dafür,
dass wir einige Tage bei Bexells rasten. Vielleicht könnten wir auch noch einen
Abstecher nach Pudukotta machen. Und wenn wir in Mayavaram sind, macht es sich
vielleicht auch, dass wir für einen Tag nach Tranquebar hinüberfahren. All dies
hängt freilich auch davon ab, ob Lisa das nicht zu viel wird. Aber ich dächte es
mir für sie interessant, wenn sie auf diese Weise gleich einen Einblick in
allerlei Missionshäuser und auch Haushalte bekäme. Denn nachher sind wir
angebunden. Und die ganze Zeit in Mayavaram herumzusitzen, will mir nicht sehr
befriedigend erscheinen. Vor allem wären wir durch das Reisen am meisten mit
einander zusammen. Für die Hochzeit scheint mir Mittwoch, der 8. Februar oder
Donnerstag, der 9. Februar, am günstigsten zu sein; denn dann kämen wir so
ziemlich in das Wochenende nach Madras, so dass wir uns da mit gutem Gewissen
noch ein ganz paar freie Tage verschaffen könnten. Das ist übrigens das Neuste -
und hoffentlich nun auch das Endgültige -, dass Fräulein Karlmark vom
Schwedischen Missionsrat nach Madura versetzt ist, weil sie dort dringend
gebraucht wird. Und sie geht auch wirklich! Joh. Sandegren sagte mir, sie dächte
daran, Mitte Februar ihre Zelte abzubrechen; aber ich hoffe, sie wird sich dann
entschließen, schon 1-2 Wochen vorher ihre Koffer zu packen, so dass wir
wenigstens ein halb leeres Haus vorfinden. - Am Montag, den 13. Februar, würde
dann sofort stramm die Arbeit bei mir einsetzen. Mir ist es jedenfalls so noch
verhältnismäßig am liebsten. Denn sich bei allerhand anderen Leuten nachher
herumzudrücken, ist nicht sonderlich angenehm, und Hotels gibt es ja kaum in
diesem schönen Lande. - Aber das sind bloß Pläne, die mir gekommen sind. Nur
dass Ihr eine Vorstellung habt, wie man es u.U. machen könnte.
Bei uns hat die Regenzeit vor etwa zehn Tagen angefangen. Wahre Wolkenbrüche
haben wir erlebt. Erst letzte Nacht hat es so gewaltig gedonnert, dass ich davon
aufgewacht bin; und das will etwas besagen. Dafür haben wir aber auch eine
Knitterkälte, so dass ich mich jetzt extra warm anziehe; d.h. ich laufe nicht
mehr zu Hause ohne Rock herum. Und beim Schlafen muß man sich sogar eine Decke
überlegen; sonst friert man Stein und Bein. Heute haben wir den kältesten Tag,
wo das Thermometer auf 27 Grad Celsius herabgesunken ist. Da könnt Ihr sehen,
wie gut ich mich akklimatisiert habe; bei 25 Grad kriegt man doch schon in
Deutschland hitzefrei, und dabei finde ich es jetzt bei 27 eisigkalt wie in
Deutschland bei 10 Grad im Zimmer. Nun verstehe ich auch Onkel Frölich. Als ich
vor knapp einem Jahr von den Bergen kam, hatten wir es auch kaum wärmer, aber
ich fand es schon unglaublich heiß, während Onkel Frölich mich auslachte. Und
den frisch aus Deutschland Herausgekommenen wie Lehmann und Kanschatt ging es
ebenso. Deshalb wird es Lisa Ende Januar auch schon höchst unbehaglich finden,
und sie kommt dann gleich in die Zeit hinein, wo das Thermometer bereits wieder
anfängt zu steigen.
Ich freue mich, dass es nun mit Tiruvallur nichts wird; die beständige Reiserei
wäre recht wenig angenehm gewesen. Nun muss ich aber auch sofort die
Mädchenschule mit übernehmen. Für Lisa ist das zwar nicht ganz einfach, aber es
ist eine ideale Gelegenheit, um verhältnismäßig rasch in das Tamulisch
hineinzukommen. Ich bin jetzt etwa täglich in der Fabrizius-Schule.
Augenblicklich hospitiere ich noch; aber nächste Woche fange ich auch selber mit
Unterricht an. Es wird ein Verwaltungsausschuss gebildet, der aus Manickam, der
die Arbeit als Principal und Headmaster voll behalten soll, Onkel Frölich und
mit bestehen soll. Das ist eine recht glückliche Lösung. Denn ich kann mich
tadellos einarbeiten, da sich Manickam ausgezeichnet zu mir stellt und mir
Einblick in seine gesamte Arbeit gibt. So wachse ich in alles hinein, ohne doch
schon die Verantwortung zu haben. Und Manickam bleibt seine Arbeitsfreudigkeit
erhalten.
Als ich neulich im süßesten Schlummer lag, wurde ich in aller Frühe um drei Uhr
aus dem Bette geholt. Unser Koch stand vor dem Fenster und sagte mir, ein
Skorpion hätte ihn geschlagen. So steckte ich meinen Kopf in die Waschschüssel
und war schnell munter. Dann kriegte ich meine Medizin hervor und ebenso eine
neue Rasierklinge. Der Skorpion war von der Decke gefallen und hatte unseren
alten Herrn in den Bauch geschlagen; ihm tat schon sein linkes Bein weh. In der
Nähe der Einschlagsstelle ritzte ich ihm die Haut und rieb ihm Medizin hinein,
und zu schlucken bekam er auch von der "marunthu". In gewissen Zeitabständen
hatte er weiter Medizin zu nehmen. Aber das konnte er selbst, nachdem ich ihn
instruiert hatte. Dann zog er mit seiner Stalllaterne wieder ab, und ich legte
mich schlafen. Seitdem habe ich ein tiefes Mitgefühl mit den Ärzten, die oft
nachts heraus müssen. Morgens war die Sache ziemlich in Ordnung, und das Bein
schmerzte auch nicht mehr. Am Mittag war selbst das Jucken verschwunden. Den
Skorpion hatte der Koch jedoch noch vorher beim Wickel gekriegt und gebührend
erschlagen.
Ich weiß gar nicht, was mit meinem Schmachtriemen los ist. Er scheint noch zu
wachsen. Erst vor ein paar Monaten habe ich fünf neue Löcher in ihn
hineingeschlagen, weil das engste Loch schon für mich viel zu weit geworden war;
und nun habe ich schon wieder drei neue Löcher hineingepocht. Was soll ich bloß
mit dem Riemen machen?
Für heute Schluss! Ich sende Euch allen die allerherzlichsten Grüße und treue
Wünsche für die Weihnachtszeit!

Rundbrief vom 11. Januar 1928 aus Madras
Wenn
dieser Brief ankommt, ist der 4. Februar nahe, der Geburtstag von Vater
Paul. Wie eigen ist es, dass er schon vor einem Jahr geahnt zu haben
scheint, dass er wahrscheinlich nicht mehr lange leben würde. Nun
ist es schon mehrere Monate her, seit es heimgegangen ist, aber um so
mehr fühlt man auch den Verlust.
Aber auch
in andere Hinsicht kommt dieser Brief zu einem besonderen Zeitpunkt nach
Deutschland: Es sind das gerade die Tage, wo Lisa hier in Indien
eintrifft. Heute sind es noch 16 Tage bis dahin. Ich kann gar nicht
sagen, wie ungeheuer ich mich darauf freue. Na, das könnt Ihr Euch ja
schließlich auch von selber ausmalen. Über alle Einzelheiten habe
ich Euch schon geschrieben, so dass ich mir das ersparen kann. Also am
10. Februar morgens ist die Hochzeit in
Mayavaram, wo uns Onkel Frölich
trauen wird; als Text möchte ich gern haben: "Der Herr ist Sonne und
Schild"; auch Lisa mag diesen Text sehr gern. Um wie viel Uhr die Sache
sein wird, weiß ich noch nicht, ich vermute um etwa 10 Uhr. Nachher gibt
es ein großes Mittagessen, und am Frühnachmittag gondeln Lisa und ich
nach Pondicherry, wo wir uns in einem Hotel einquartieren. Das werden
dort in der Stille und Abgeschiedenheit am Meeresstrand ein paar
extrafeine Tage. Am 16. Februar haben wir die deutsche
Missionarskonferenz in Mayavaram, wohin wir, wenn irgend möglich, auch
fahren möchten. Etwa am 17. werden wir dann unseren Einzug in
Madras im neuen Hause
halten. Dort werden wir, fürchte ich, allerlei Empfangs- und
Begrüßungszeremonien durch die Gemeinde über uns ergehen lassen müssen.
Und dann sind wir zu Hause, im wahrsten Sinne des Wortes.
Die
Weihnachtstage waren eine wahre Erquickung. Am Ersten Weihnachtstag
fuhren Onkel Frölich und ich abends hinüber nach Pandur. Nachdem wir uns
erst etwas verschnauft hatten, fuhren Herr
Heller, Wilhelm Kanschatt,
Onkel Frölich und ich auf drei Tage in den Distrikt "for Camp". Auf den
einen Ochsenwagen wurden die Feldbetten, Kochsachen und der Koch
verpackt, und der andere war zu unserer Fortbewegung bestimmt; in
Wirklichkeit sind wir auf dem Hinweg fast ganz und auf dem Rückwegwirklich
ganz zu Fuß getippelt, selbst Onkel Frölich trotz seiner 59 Jahre
beträchtliche Strecken. Die Gegend war wunderschön, wie lauter
Frühlingsherrlichkeit. Am Horizont grüßten bläulich die Berge hinüber,
deren vorgelagerte Hügelketten unser Ziel war. Ringsum dehnten sich die
Reisfelder aus, und darüber prangte der blaue Himmel. Wie der Wind über
die grüne Gottesherrlichkeit strich, so dass die Halme wogten und
nickten, sah es fast aus, als hätte man ein deutsches Kornfeld vor sich.
An jenem Morgen, am 28. Dezember, blieben wir fast durchweg auf der
Landstraße, aber sonst wanderten wir oft auf den Rainen querfeldein, eine
Vorsicht erheischende Beschäftigung, bei der man nicht danebentreten
durfte, , denn die Felder standen fast durchweg unter Wasser,
absichtlich. Denn die meisten Reisarten müssen zu ihrem Wachstum immer
bis an die Hälfte im Wasser stehen. Das kostet einen Haufen Flüssigkeit,
und das ist eben die Schwierigkeit - wenn es trocken ist und der Regen
ausbleibt, kriegt der Reis sozusagen die Gelbsucht und vertrocknet, so
dass man ihn höchstens an das Vieh verfüttern kann. Deshalb wirbt Heller
so viel für Brunnenbau; aber auch dabei ist das Tragische, dass man Pech
haben kann; denn die Ochsen kommen ja manchmal auf die Idee, sich
hinzulegen und zu sterben; da hilft einem dann auch der beste Brunnen
nicht mehr. Deshalb will Heller gern einen Versuch mit einem Motor
machen. So ein Ding zu installieren, kostet aber ziemliche Moneten, und
so ist es zweifelhaft, ob er in seinem jetzigen Leben noch einmal dazu
kommen wird.
So
wanderten wir in allerlei Gespräch vertieft weiter. Nachdem wir etwa
eine halbe Stunde in westlicher Richtung marschiert waren, durchkreuzten
wir den Fluss, ein riesig breites Geschöpf, bei unserem Durchzug nur mit
ein paar schmalen Wasserläufen versehe, aber in der richtigen Regenzeit
ein rauschendes Ungeheuer von etwa 700 m Breite. Oft geht Heller mit den
Pandur-Kostschülern dort an das Flussbett und spielt da mit ihnen. Wir
stapften bloß hindurch und bekamen die Schuhe voller Sand; durch das
Wasser zogen uns seufzend und spritzend die Ochsen. Jenseits des Flusses
veränderte sich das Landschaftsbild ein wenig, da es dort nicht mehr so
viele Reisfelder gab. Die Gegend wurde immer rauer. Hinter Rậmantscherie
wurden die Wege immer erquicklicher und die Sonne immer wärmer. Der
ganze Weg war voll gerappelt mit faustgroßen Steinen, so dass es fast
aussah, als ob da vor Olims Zeiten Riesen gewohnt hätten, deren Kinder
dort mit Kieselsteinen gespielt hätten. Wir mussten mächtig aufpassen bei
unserer Wanderung wie in einem Harzer Flusstal, und der hinter uns her
wackelnde Ochsenwagen ächzte in allen Fugen. Mir kam ins Gedächtnis, wie
ich als Sextaner oder Quintaner in der Küche unserer alten Braunschweiger
Bültenweg-Wohnung mir den "Als
Kaiser Rotbart lobesam" eingebläut habe. So
hatte es mir damals auch ungefähr vorgestellt: "Viel Steine gab's und
wenig Brot." Dicht hinter Rậmantscherie kamen wir an einem Göttergarten
vorbei. Dicht an der Straße lag ein Stück Land, von einer halb
eingefallenen Mauer umgeben, wo in Reih und Glied aufmarschiert,
aus Ton angefertigte und bunt angemalte Götzen standen. Es war ein
idyllisches Stillleben, bloß ein bisschen grotesk. Aber ich will nicht
witzeln, dazu ist die Sache zu ernst. In den Baumzweigen befanden sich
ganz kleine Schaukeln, in denen auch Götterchen Platz genommen hatten.
Wenn dann der Wind durch die Zweige rauscht, können die Götter
schaukeln. Das ist eigentlich wirklich rührend.
Um halb
sieben Uhr waren wir abmarschiert. Als wir nun im Rasthaus in Alikuli
ankamen, war es etwa zehn Uhr, und wir hatten etwa 16 km zurückgelegt.
Freundlich einladend lag das Haus, massiv aufgebaut, am Wegesrand, und
gern kehrten wir ein. Schnell waren die Feldbetten aufgeschlagen, und
wir streckten uns zur wohlverdienten Ruhe aus. Bis zum 30. Dezember
blieben wir dort.
Die
Gegend von Alikuli ist "Kậdu",
d.h. Wildnis und Einöde. Es ist eben steinreich und ziemlich unfruchtbar
und ist vor allem weit ab von den Leuten, wo sich die Füchse gute Nacht
sagen. Nur selten kommt ein Weißer dorthin. Trotzdem sind die Leute
ziemlich wohlhabend: Sie besitzen ausgedehnten
Limonengärten,
in denen diese kostbare, gelben Zwergzitronen wachsen. Es wird damit ein
schwunghafter Handel getrieben, bis hinauf Rajahmundry, und das sich die
Geschichte lohnt, sieht man an den Häusern des Dorfes, die häufig aus
massiven Steinen ausgeführt sind und einen sehr sauberen Eindruck
machen. Die Parias dagegen, die Kulis der Wohlhabenden, machen keinen
besseren Eindruck als der sonstige Durchschnitt, im Gegenteil! Sie sind
eine raubeinige Gesellschaft, eben weil sie soweit hinter den Leuten
wohnen. Deshalb ist der Stand unserer Christengemeinden alles andere als
hoch. Ganz massive Sünden sind selbst bei unseren Christen im Schwange,
und man traut seinen Ohren nicht, wenn man hört, dass den Leuten solche
elementaren Sachen gepredigt werden müssen, wie: "Du sollst nicht
stehlen", "Du sollst nicht lügen". Es gibt dort ziemlich viele
Schafherden; da kommt es gelegentlich vor, dass so ein Tierchen heimlich
abgefangen und geschlachtet wird. Auch richtige Raufereien sollen nicht
zur Ausnahme gehören.
Das
zeigt, dass es besonders tüchtiger Lehrer bedarf, die sich dieser
Gemeinden annehmen und sie in Liebe und Geduld und mit fester
Handpflegen. Einst blühte das Gemeindeleben dort. Aber dann kam die
unglückliche Idee auf, die dortige Gegend wegen ihrer Abgeschiedenheit
als willkommenen Platz für Strafversetzungen zu betrachten, und so kamen
dort die unnützen Lehrer hin. Das war natürlich verhängnisvoll. Als dann
während des Krieges infolge der Lehrernot dort der größte Teil überhaupt
abgebaut werden musste, war das Unglück voll. Rậmantscherie,
Alikuli und Placepậlaiam
waren alles Gemeinden von rund je 3 - 400 Seelen. Und jetzt? Da belaufen
sich die Ziffern auf 9, 25 und 79. Alle anderen sind abgefallen. In Rậmantscherie
haben sie sogar in den beiden letzten Jahren einen regelrechten
Hindutempel gebaut. Wahrhaftig, es schneidet einem in das Herz, wenn
diese Gemeinden sieht, die verlassen und zerstreut sind wie Schafe, die
keinen Hirten haben. Sehr ernst sprechen Dr. Frölich und Heller mit den
Abgefallenen wie mit den Übriggebliebenen, und es wird eine der
Hauptaufgaben von Heller sein, sich der Wiedergewinnung der Abgefallenen
zu widmen. Damit ist es wirklich nicht getan, dass man träge gewordene
Christen einfach aus der Gemeinde ausschließt und sie sich dann selber
überlässt, wie es bis jetzt geschehen ist, wo die Leute geistlich haben
Hunger leiden müssen, ist es durchaus nicht verwunderlich, wenn sie müde
geworden sind; sie sind ja doch kaum viel mehr als große Kinder.
Augenblicklich befindet sich schon ein tüchtiger und energischer Lehrer
in Rậmantscherie,
und es bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass gerade dieses Stück Gegend
als Pionierland betrachtet werden muss, und dass es jeder als eine
besondere Ehre ansehen muss, wenn er dorthin geschickt wird. Eine
schwere Arbeit ist es, die dort auf die Leute, besonders die Lehrer,
wartet, und es gehört ein Charakter dazu, dass man dort unter den rauen
Bewohnern nicht die Geduld verliert und dass man nicht selber in der
Einsamkeit versauert und stumpfsinnig wird.
Sehr
hübsch war die Ersteigung eines ziemlich hohen Hügels, der
schätzungsweise 250 m hoch war und einen schönen Fernblick bot.. Der
Aufstieg war etwas hanebüchen, da die Steine so zahlreich waren, wie die
Haare auf dem Kopfe, aber um so lohnender war der Gipfel . Ob der Berg
vulkanischen Ursprung hatte oder ein altes Urgebirge ist, weiß ich
nicht; wahrscheinlicher ist vielleicht Letzteres, weil sich durch die
ganze Längsrichtung Südindiens Gebirgsgruppen hinziehen, von
denen der Berg bei Alikuli ein Teil ist, wenn auch losgelöst für sich
allein bestehend. Hoffentlich sind die Bilder etwas geworden, die Heller
dort von uns geknipst hat, denn wir bauten uns dort außerordentlich
malerisch auf. Der Blick schweifte weit hin nach Norden ins Teluguland
hinein, wie wir uns dort überhaupt an der Grenze des Tamulischen
Sprachgebietes befanden; als Abschluss dieser Nordseite riegelte ein
massiger Gebirgsstock die weitere Aussicht ab; fast kerzengerade strebt
er in die Höhe, etwa 1000 m hoch. Vielleicht machen wir später einen
Ausflug nach dort. Nach Süden und Osten erstreckte sich die Gegend um
Pandur, und nach Westen schloss sich weiteres hügliges Gelände an.
Am
gleichen Tage marschierten wir weiter nach Placepậlaiam,
wo wir am Mittag einen kurzen Gottesdienst hatten und in dem
Schulgebäude schönen Curry mit Reis vertilgten. Dann hielten wir Siesta,
indem wir uns auf Decken auf dem Boden ausstreckten; da es mir etwas
kühl wurde, zog ich einen Tisch vor, der auch meiner Länge Genüge tat,
aber sich durch bodenlose Härte auszeichnete, so dass ich ganz lahm
wurde; als Kopfkissen diente das in meinem Rock eingewickelte
Gesangbuch; in Anspruchslosigkeit sind uns die Inder denn doch noch
über. Während wir einzuschlafen suchten, las uns Heller im
waschechtesten Vogtländisch aus der deutschen Zeitung vor, und zwar
Ergüsse des "Schnell-August". Da umwehte einen richtige Heimatluft, und
wir haben herzlich gelacht. Das scheint bei der Mission ganz
selbstverständlich zu sein, dass man sich desto behaglicher und
humorvoller fühlt, je mehr der alte Adam behauptet, dass das Leben sauer
sei, Behalten habe ich von dem Schnell-August u.a. einen besonders
gedankentiefen Ausspruch: Was ist ein Defizit?
Ein
Defizit ist, was man hat, wenn man weniger hat,
als man hätte, wenn man gar nichts hat.
 |
In der
gleichen Schule war es auch, wo ich nach dem Mittagessen mit meinen
Gedanken den ganzen Tag nach Donauwörth spazierend - denn es war der 29.
Dezember -, das Brautpaar (Heil Dir, lieber Ernst und Deiner lieben
Maria!) hochleben ließ. Blechern klangen die Aluminium-Becher zusammen,
aber der Klang war mir liebliche Musik, und das ungezuckerte
Limonenwasser war schauderhaft sauer und trübe, aber mir war es wie
süßer Wein. Hinter den Guckfenstern meines Herzens war es mir freilich
etwas wehmütig zu Sinn, denn Deutschland ist gar so weit fort. Aber
sonst wäre es ja auch ein Kinderspiel, Missionar zu sein, und es ist
bloß gut, dass die Gedanken zollfrei sind und fliegen können. Und wenn
man bei seiner eigenen Verlobung nicht hat dabei sein können, gewöhnt
man sich auch an allerlei. Und trotzdem! Wie gern bin ich als Missionar
hier in Indien. Mit keinem anderen möchte ich tauschen.
Auch
Heidenpredigt wurde etwas getrieben. Gleich in dem eben genannten Dorfe
versuchten wir es mit den
Sudras; aber sie waren nicht sonderlich entgegenkommend.. Aber
trotzdem kam nachher noch eine ganz hübsche Ansprache von Onkel Frölich
zustande, da sich doch noch eine ganze Schar von der vornehmen
Bevölkerung zusammen fand. Sie konnten fast durchweg nur
Telegu, so dass das,
was Onkel Frölich sagte, meist gedolmetscht werden musste; aber es ging
wider Erwarten gut. Unsere Dörfler begleiteten uns nachher noch bis an
die Dorffluren, wo plötzlich die Welt zwar nicht mit Brettern vernagelt
war, aber plötzlich eine gewaltige Wasserlache vor uns entstehen ließ,
deren Umgehung durch Kakteenhecken verhindert wurde; zum Überspringen
war die Geschichte viel zu breit, fliegen konnten wir nicht, und zum
Ausziehen von Schuh und Strümpfen hatten wir keine Lust. Da umhalsten
wir einer nach dem anderen zwei starke Männer, die uns lachend über die
lächerlich Lache hinwegschweben ließen; bei dem guten Heller-Ayier hatten sie
freilich am schwersten zu schleppen. Von der Furt hat er auch eine
Aufnahme gemacht.
Später
bei dem Rückmarsch waren wir noch in einem anderen Sudradorf, das fast
zum größten Teile im Besitze eines Großgrundbesitzers war, eines
ziemlich selbstbewussten Herren. Auch da wurde Heidenpredigt gehalten,
die auch ganz aufmerksame Zuhörer fand. Das ist eben typisch für das
heutige Indien und immer wieder überraschend, dass die Inder so willig
bei aller Heidenpredigt zuhören, ohne Störungen zu versuchen. Das
Christentum ist eben sozusagen salonfähig geworden. Damit ist ein sehr
großer Schritt nach vorwärts getan: Die Heiden hören wenigstens zu; sie
sind sozusagen unmittelbar in den Schallbereich des Evangeliums gerückt.
Das besagt noch lange nicht, dass sie etwa besonders zugänglich für das
Christentum geworden wären. Aber das ist ja auch gar nicht unsere Sorge.
Wenn man etwa daran denkt, wie ungeheuer schwer es etwa die Missionare
in mohammedanischen Gebieten haben, wo die Mohammedaner wütig
werden, sobald der Name Christi ertönt und den Sprecher überhaupt nicht
recht zu Worte kommen lassen, sieht man erst recht die Bedeutung des
Fortschrittes.
Bei der
Rückwanderung kehrten wir noch in Rậmantscherie
ein, wo wir über Mittag blieben, und am Nachmittag trafen wir wieder
daheim ein, richtig rotgebrannt von der Sonne.
Nun
dauert es nicht mehr lange, vielleicht noch zwei Monate, dann liegt die
ganze Gegend, die jetzt im schönsten Grün erstrahlt, trocken und kahl
und verbrannt da. Als ich die Gegend vor einem Jahre in diesem Zustande
kennen lernte, dachte ich, ich wäre in die Wüste Sahara geraten, so
trostlos öde sah es aus. Der Boden war von der Hitze und Glut gesprungen
und rissig, und höchstens die Kakteen, die es in ihrer Unverschämtheit
immer noch auf über Mannshöhe brachten, wucherten üppig.
Das war
Pandur! Am 8. Januar kehrte ich wieder hierher zurück.
.

Rundbrief vom 12. Juni 1928 aus Kotagiri
Wie schön ist es hier auf den Nilgiris Blauen Bergen! Unten in der Ebene brütet
die Hitze und quält die Menschen, aber hier oben in luftiger Bergeshöhe wehen
erquiekende Winde. Unter Mittag kann es hier auch knuffig warm werden, aber dann
gibt es auch wieder Zeiten, wo der Sturm die Eukalyptusbäume beim Kragen kriegt
und sie schüttelt, dass sie rauschen und stöhnen. Solch ein herbstlicher,
kalter, regnerischer Wind ist eine Wohltat. - Im Gegensatz zu den Palni-Bergen,
wo als einziger Ort Kodaikanal die Berghöhen krönt, sind es hier eine ganze
Anzahl Orte, die auf den verschiedenen Höhen liegen. In der Ebene hat man in Mettupalayam
die Zahnradbahn
zu besteigen, die mit unendliches Ächzen und Puffen das Zügle mit den Zwergwagen
den steilen Schienenstrang hinaufschiebt. Oft geht es unter Tunnels hindurch, in
denen man vom Qualm beinahe erstickt wird, wenn man zufällig dicht bei der
Lokomotive sitzt, Dann wieder schlängelt sich die Bahn an Abgründen entlang, die
sich steil und jäh auftun, während auf der anderen Seite sich das Gebirge nicht
minder jählings hundert und mehr Meter emportürmt, überragt von nackten
Felsgraten. Die erste Hauptstation auf dieser Strecke ist Coonoor in 1.600 Meter
Höhe. Nach einer weiteren Stunde erreicht man Ootacamond, abgekürzt Ooti, das
sieh etwa 2.000 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Kotagiri liegt auf einem
seitlichen Höhenzug in etwa 1.900 m Höhe und ist nur durch Autobusse in etwa
einstündiger Fahrt von Coonoor aus erreichbar. Bahnverbindung nach Kotagiri gibt
es nicht. Es gibt eine direkte Straße von hier nach Ooty, aber sie ist so
unzureichend, dass der ganze Verkehr den Umweg über Coonoor vorzieht.
Coonoor ist ein weitläufiger Ort, dessen Hauptmasse sich in
ein breites Tal und dessen Abhänge hineinschmiegt. Die Häuser von Herrn Fritschi,
bei dem wir zuerst ein bis zwei Wochen wohnten, und die drei Häuser der "Indian
Sunday School Union" liegen mehr oder weniger am oberen Rande dieses Talkessels.
Gerade schön ist nicht der Blick hinab auf das Meer der Häuser und Häuschen, da
die zahlreich vorherrschenden Wellblechdächer sehr unromantisch sind; aber
malerisch ist der Blick auf die etwas höher stehende, imponierende
Antonius-Kirche der Römischen. Darüber hinaus erstreckt sich Coonoor noch in
verschiedene Nebentäler. Von besonderem Reize ist der "Simspark", der Botanische
Garten, der sieh anmutig in ein Tal hineingepasst hat, das amphitheatralisch
aufsteigt. Die schönsten Blumen blühen dort um die Wette, und die mannigfachsten
Bäume laden zu einem Studium der an ihnen befestigten Namensschilder ein. Im
Talgrunde führen breitblätterige Wasserblumen ein idyllisches Dasein. -
Erwähnenswert sind dann schließlich nur noch zwei Bauten, die "Union Hall", wo
wir an einem ziemlich formlosen Gottesdienst teilnahmen, und die Kirche der
"Church of England", wo es feierlicher zugeht; aber dort stört einen die
antiquierte Sitte, dass im Mittelschiff auf den Kirchbänken Namenschilder
angebracht sind, die andere Sterbliche hinwegscheuchen, selbst wenn ihre Inhaber
nicht auf der Bildfläche erscheinen.
Will man einen Blick in die Ebene tun,
muss man es sich einen dauerhaften Spaziergang nach "Lamb's Rock" kosten lassen.
Aber man wird dafür auch reichlich belohnt. Zwar muss man etwas vorsichtig
balancieren, wenn man von hinten her auf diesen Felsenbuckel hinaufklimmt, da es
von oben kerzengerade 1.000 m tief in den Abgrund geht, aber die Aussicht ist
auch einzig schön. Leider war es dunstig, als wir mit Annett's dorthin
ausflogen, so dass wir die fernen Palni-Berge nicht erkennen konnten.
Der vierwöchige Kursus bei Mr. & Mrs. Annett hat uns sehr gut
gefallen, und wir freuen uns, dass wir daran teilgenommen haben. Wir mussten
freilich ziemlich stramm arbeiten, aber wir taten es gern. Lisa konnte auch
schön folgen. Wir wohnten im sogenannten Hostel, 19 "Students" an Zahl außer
einer Miss Dalton aus England, die ganz nett war, aber eine merkwürdige Stimme
hatte, die immer wie ein verunglückter Walzer klang. Sie war auf einer
Studienreise durch Amerika und Indien begriffen und beglückte uns mit einer
furchtbaren vierstündigen Lecture über Sonntagsschulwesen. Über die einzelnen
indischen Studenten - wir waren die einzigen Weißhäute - will ich nicht viel
Worte machen. Einige waren sehr tüchtig, manche dagegen dumm wie Bohnenstroh.
Sie kamen aus den verschiedensten Teilen Indiens und sollten nun sozusagen für
etwas "Leadership" in "Religious Education" ausgebildet werden. Da hatten wir
den schneidigen, leider etwas verabendländerten Chemieprofessor aus Allahabad
namens Malvea, den pomadigen bengalischen High School Headmaster Mondol aus
Calcutta, den stillen, aber zuweilen etwas pathetischen Pastor Theophilus aus
der Seestadt Cocanada, den vorlauten und etwas frechen Mr. Alexander aus Vellore,
den hilflosen und infolge seines Alters etwas steifen S. Samuel aus dem
dänischen Lager, den quecksilberigen Sundram aus Hyderabad u.a. stille Größen,
um nicht boshaft zu sagen: Kleinigkeiten. Von den Ladies zeichnete sich Miss
Benjamin aus Madras aus durch albern kindisches Gebaren; sie beschenkte Lisa
gern mit Blumen, weil sie ihr, als sie stöhnend im Bette lag, den Puls gefühlt
und Medizin zu futtern gegeben hatte; die andere Madrasserin, Miss Joseph, war
rundlich und tüchtig, wenn auch sehr still; Miss Biswas, die fast zwei Jahre in
England gewesen ist, hatte ein sehr sympathisches Wesen, suchte aber beim
Dominospiel stets schändlich au mogeln; Mrs. Balasundram war spinnehässlich und
auch schwerfällig, während eine zweite Miss Joseph, dünn und zierlich, ein
bisschen locker war. Wir lebten völlig frei und ungezwungen, eigentlich für
indische Verhältnisse eine bemerkenswerte Errungenschaft.
Der Tageslauf verlief nach ehernen Gesetzen und mit
unheimlicher Pünktlichkeit. Um sieben Uhr gab es das Zeichen zum Aufstehen, eine
halbe Stunde später versammelten wir uns um die vier bis fünf runden Tische zum
Einnehmen von Milchkaffee mit Brot, das dünn war wie ein Mondstrahl und
angeblich bedeckt mit Butter. Fünf Minuten vor acht Uhr rief uns die Klingel in
das Nebengebäude, einen sehr geschmackvoll eingerichteten Vorlesungssaal. Seine
Hauptsehenswürdigkeit ist eine wundervolle Reliefkarte von Palästina, die in die
Wand eingelassen ist und etwa zwei Meter hoch ist. Die Bänke waren reichlich
unbequem und hart, so dass Lisa öfter die im "Grinterhunde" stehenden Rohrsessel
vorzog. Eine verhältnismäßig reichhaltige Bibliothek und schöne Bilder an der
Wand vervollständigten die Einrichtung. Zunächst hatten wir stets eine gut
halbstündige Andacht von Mr. Annett, und dann schlossen sich drei Vorlesungen
an. Das Mittagessen bestand wie das Abendessen regelmäßig aus Curry und Reis.
Wir sind sehr stolz, dass wir diese holde Speise die ganze Zeit überstanden
haben, ohne uns den Magen zu verrenken; aber wir aßen manchmal Brot und
dergleichen nebenbei. Nach dreistündiger Mittagsrast begab man sich um halb vier
zum Tee, diesmal mit Marmelade-Brot, wieder in Mondscheindicke. Eine
Unterrichtsstunde im Anschluss hieran sowie eine Stunde vor dem Abendessen
vollendeten den Tageslauf. Nach dem "Supper" alias "Dinner" wurden entweder
Gesellschaftsspiele gemacht, oder man zog sich in seine Kemenate zurück, um dort
beim Scheine einer Made-in-Germany-Stalllaterne noch ein bisschen zu lesen oder
zu studieren. Bei dieser Tageseinteilung war wenig freie Zeit übrig, zumal wir
alle "Schularbeiten" aufbekamen.
Was trieben wir nun? In der ersten und dritten Stunde hatten
wir regelmäßig Vorlesungen über Psychologie, besonders Kinderpsychologie; das
waren außerordentlich wertvolle Sachen, besonders weil Annett überquoll mit
praktischen Ratschlägen und Beispielen. Auch in pädagogischer Hinsicht konnte
man da eine Menge Wichtiges lernen. Als ich herauskam, konnte ich ja nicht
ahnen, dass ich mal in Schularbeit hineinkommen würde. So war mir diese
Ausbildung außerordentlich lieb. Auf allerlei Fragen bekamen wir Antwort, z.B.:
Wie unterscheiden sich Jungens von beispielsweise 6, 10, 14 und 18 Jahren?
Inwiefern muss sich der Religionsunterricht auf den verschiedenen Stufen anders
gestaltet werden? Wie weit ist die Natur in den Unterricht mit hineinzuziehen?
Für welche religiösen Eindrücke ist die Jugend auf den verschiedenen
Altersstufen zugänglich? etc.
Dazu kamen abends Vorträge über Palästina und
seine Nachbarländer. Da Annett selbst mehrfach dort gewesen ist, wusste er alles
so lebendig darzustellen, dass man mächtig Lust bekam, selbst dorthin zu fahre.
Wer weiß, vielleicht blüht es uns noch einmal. - Hand in Hand damit gingen
praktische Übungen, die Mrs. Annett leitete. In der zweiten Stunde hatten wir
Lesson-Preparation, die reihum von uns gehalten werden musste. Ich bekam den
Schiffbruch Pauli. O, manchmal konnte man da aus der Haut fahren, wenn jemand
recht mährig war. Nachmittags hatten wir in der ersten Zeit richtige
Probelektionen und später Geschichten-Erzählen; so hatte Lisa die Bekehrung
Pauli vom Standpunkte des Ananias zu erzählen; es war ihr höchst fatal, aber sie
hat sich sehr schön und mit feinen roten Backen aus der Affäre gezogen. Das
Interessante bei diesen Nachmittagsübungen war die anschließende Kritik, die wir
nach einem bestimmten Schema schriftlich ausführen und dann mündlich wiedergeben
mussten. Da lernte man, gerecht zu urteilen und richtig die schwachen Stellen
herauszufinden, ohne zu subjektiv vorzugehen. - Auch bei der "Lesson Preparation" bestand ein bestimmtes Schema, das wir zu befolgen hatten und das sich als
außerordentlich praktisch erwies.
So waren diese vier Wochen sehr anregend, und wir spazieren
mit viel Zuversicht in unsere alte Arbeit nach Madras zurück; ich fühle mich
jetzt sehr viel besser dafür gerüstet als vorher. Mr. & Mrs. Annett sind feine
Charaktere, wenn sie auch, wie alle Menschen ihre Schwächen haben. Mr. Annett ist voll gestopft mit Geschichten und Anekdoten; sicher würde er auf der
Weltausstellung
in Chicago den ersten Preis kriegen.
Sehr schön war auch der Umgang mit Benzes, die uns oft besuchten und bei denen auch wir unsererseits mehrfach
waren. Weniger schön war es, dass wir kolossal angebunden waren; aber da das
die Hausordnung war - um der Inder willen war sie sehr streng - , fügten wir uns
in sie hinein. Jetzt sind wir glücklich wieder unsere eigenen Herren.
Auch nach Ooty
machten wir einen Ausflug. Dort gefiel uns besonders gut der
Botanische Garten, der
großartiger ist als der in Coonoor. Dicht dabei ist eine Ansiedelung der
Todas, der Ureinwohner der Nilgiris; sie sind ein ganz anderer
Menschenschlag als die Dravidas, mehr arisch, mit breiten, langen Gesichtern.
Sie wohnen in seltsamen Holzhütten, die die Form einer riesigen, liegenden Tonne
haben; diese Hütten sind völlig geschlossen bis auf ein ganz niedriges
Eingangsloch. - Ooty ist während der heißen Jahreszeit der Sitz des Gouverneurs,
der mitsamt seinen ganzen Büros und Beamten nach dorthin übersiedelt. - Es liegt
zwischen den Bergen.
Es gibt eine Redensart: Ooty ist majestätisch, Coonoor
idyllisch schön und
Kotagiri gesund. Das trifft den Nagel auf den Kopf. Deshalb sind wir nun
auch für die letzte Woche hierher übergesiedelt. Wir wohnen hier in "Christiansberg",
wo die Breklumer zwei
Doppelhäuser besitzen. Mittag- und Abendessen haben wir bei Hübner's, und
sonst wirtschaften wir allein. Das Klima ist herrlich, viel frischer als in
Coonoor.
Kotagiri liegt wunderbar frei auf den Bergeshöhen und gestattet weite
Fernblicke. Von unserm
Häuschen aus können wir weit über die Ebene hinblicken. Wie genießen wir diese
Tage! - Und nächstes Jahr geht es nach Kodi, dem, scheint mir, trotz allem die
Palme gebührt!

Rundbrief vom 30. August 1928 aus Madras
Vielleicht habt Ihr schon öfter gedacht, dass Ich ein rechtes Faultier
wäre, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Aber erstens haben wir
nichts Weltbewegendes erlebt, und zweitens hatten wir tüchtig au tun.
Nur dem glücklichen Umstande, dass wir jetzt zwei Feiertage haben, den
einen zur Feier von Mohammeds Geburtstag, den anderen den Hindus
zuliebe, gibt uns eine kleine Atempause. - Viel Gescheites wird wohl aus
diesem Briefe nicht werden. Aber es schadet ja schließlich nichts, wenn
ich kunterbunt durcheinander erzähle.
Lisa
fühlt sich in ihrem Elemente, das sie wieder Federvieh zu betreuen hat.
Bis jetzt ist es erst ein einziger Hahn, ein schwarzes Geschöpf mit
X-Beinen, eine Verunzierung, die ein Nachklang des elenden
Beinezusammenbindens der indischen Hühnerhändler ist. Sonst entwickelt
sich der Hahn trefflich und versucht, dem Namen Mussolini, dem wir ihm
beigelegt haben, alle Ehre au machen. Wenn ihm die Krähen zu nahe
kommen, stürzt er sich mit Heldenmut auf sie, so dass sie kreischend
davon flattern. Die Krähen sind eine wahre Landplage. Wir ließen die
Krähennester vom Küster vor etwa einem Monat zerstören, so weit sie sich
auf unserem und dem Kirchgrundstück befanden, aber schon sind wieder
einige neue Nester entstanden. Mit Vorliebe baden sie in dem
Aufwaschwasser, in dem das Geschirr abgespült werden soll und wetzen
ihre Schnäbel an den darin herumschwimmenden Abwaschlappen; wenn Lisa
das sieht, wird sie immer grimmig. Die armen Tiere - sie wollen sich
doch auch einmal baden und haben es doch auch recht nötig. Lisa
behauptet sogar, dass manchmal die Krähen sich auf die Wasserleitung
setzen und den Hahn aufdrehen. Und nachher haben wir wo möglich eine
hohe Wasserrechnung, weil die Frechdachse den Hahn nicht wieder
zudrehen.
Ein Kapitel für sich sind die Eichhörnchen. Die Väter, die
unser Haus gebaut haben, haben leider nicht mit diesen Vierfüßlern
gerechnet. Sie haben im. Obergeschoß an der Stelle, wo die Dachbalken
auf der Mauer aufliegen, keine Steine dazwischengelegt, weil es besser
ist, wenn der Wind durchstreichen kann. Leider machen sich das nun die
Eichhörnchen zunutze und bauen dort Nester. Bas Schlimmste ist jedoch,
dass sie öfter einen Pfeifanfall kriegen und so entsetzlich fiepen,
das man schließlich wild wird und sie mit Klatschen und Zischen
davonjagt. Das hat dann zur Folge, dass sie um eine Ecke wutschen, wo
man sie nicht mehr erreichen kann und da um so triumphierender
weiterfiepen. Dabei sind sie richtig in Ekstase und peitschen
rhythmisch furchtbar schnell die Luft. Anscheinend besteht eine
Verbindung zwischen Schwanz und Stimmband, Wir sind uns nur noch nicht
klar, ob die Liebe sie so außer Atem bringt oder nicht; Lisa bezweifelt
es. Neuerdings schleiche ich mich mit einem Wassertopf an sie heran und
mache klatschend einen Angriff. Nur ist es gut, wenn Lisa das nicht
sieht; denn selbstverständlich ist das Wasser nass and verbreitet sich
ungehöriger Weise auch über weniger geeignete Gegenstände.
Und die
Katzen! Dass sich eine Katze eine unserer Kisten, in der es noch
Holzwolle gab, als Wiege für ihre Nachkommenschaft erkoren hatte, haben
wir vielleicht schon früher erzählt. Es war ein reizendes Bild, und wir
gingen öfter mit der Taschenlampe in den dunkeln Winkel und beleuchteten
das Stillleben. Die Alte machte auch oft Besuch. Aber als sie dann
anfing, unsere Sachen aufzufressen, kündigten wir den Mietern und
beförderten sie an das Tageslicht. Nach längeren Nachforschungen bekamen
wir heraus, dass die Gesellschaft unserem Küster gehörte.
Jetzt
verschließen wir regelmäßig alle Fensterläden für die Nacht, besonders
nachdem wir eines Nachte aus dem Schlafe gescheucht wurden infolge eines
entsetzlichen Geklappers. Da hatte eine Katze mit ihrem Maule den Deckel
vom Milchtopfe heruntergestoßen und mit Saufen angefangen. Als ich kam,
genügte schon mein bloßes Auftauchen, sie in die Flucht au schlagen. Sie
hopste mit einem gewaltigen Satz herunter, und zwar so geschickt, dass
sie weder die Aluminiumkelle herunterwarf noch die hoch aufgerichtete
Flasche, die sich am Abgrundsrande emporreckte, aus dem Gleichgewichte
brachte. - Ratten haben wir nach manchen Anzeichen anscheinend auch,
aber das wissen wir noch nicht zuverlässig.
Ihr seht,
wir haben eine ganze Menagerie. Ich könnte noch eine ganze Seite davon
weiter erzählen, aber dann fangt Ihr sicher mit Gähnen an.
Lisa hat
jetzt immer viel in der Boarding au tun, weil die Mädchen viel krank
sind. Gerade die gegenwärtigen Monate sind besonders ungesund. So zieht
sie fast jeden Morgen los, um einem Mädchen das Fieber zu »messen, sich
die Zunge ausstrecken zu lassen, Anordnungen über die Krankenkost zu
geben usf. Wir haben in unserer Gemeinde eine Ärztin, die in
schwierigeren Fällen mit ihrem zweirädrigen Ponywagen ankutschiert
kommt und kostenlos die Kranken verdoktert. In diesem Vierteljahr haben
wir allerhand erlebt, was uns etwas Sorge bereitete. Ein Mädel wurde
krank und bekam Paratyphus, eine leichtere Abart von Typhus; wir
besuchten sie im Hospital ziemlich oft. Kaum war sie wieder einigermaßen
gesund, als sie die Masern bekam, wieder wussten wir sie wegschicken,
diesmal zu Verwandten; als sie aus dem Hospital entlassen wurde, war sie
wider unseren Willen schon dort gewesen und hatte es sich da geholt. Wie
ein Polizist muss man immer aufpassen, denn die Eltern und Verwandten
sind oft so schrecklich unvorsichtig. Beim Paratyphus hatte sich
glücklicher Weise niemand angesteckt, wir hatten aber auch sofort bei
allen Schutzimpfung ausüben lassen, Jetzt schwebten wir in Sorge, dass
die ganze Gesellschaft die Masern kriegen würde, aber wir scheinen mit
einem blauen Auge davon zu kommen. - Augenblicklich laborieren
verschiedene Mädels mit Malaria herum. All solches Zeug fliegt einem
sozusagen zu. Wir sind jetzt freilich sehr umschwärmt von Fliegen und
Mücken, die aus der nächsten Nachbarschaft alle möglichen
Krankheitskeime herschleppen können; das ist der Nachteil davon, dass
man so mitten drin im Eingeborenenviertel lebt. Jetzt ging die Cholera
herum und forderte gerade in den Nachbarstraßen allerlei Todesopfer. Wir
haben nun alle gegen Cholera impfen lassen, wir selbst haben
Bilivaccintabletten gefuttert. Das ist ein Mittel, das im
Pasteur-Institut in Paris erfunden, vom Völkerbund empfohlen und in
Indien vielfältig erprobt ist; es soll ebenso gut wirken wie das Impfen
der sogar noch besser, und außerdem macht es einen nicht schwiemelig;
es ist bloß etwas teuer. - Da wir hier in der Hauptstadt leben, kommt es
öfter vor, dass wir kranke Kinder, die von auswärts kommen, beherbergen
und den hiesigen Ärzten zuführen müssen. So hatten wir ein Mädel, das
ausaatzverdächtig war. Leider ergab die Untersuchung eine Bestätigung
des Verdachtes. Jetzt befindet sich nun das Mädel in dem 1925 von der
Regierung in Chinleput errichteten großen Aussätzigenheim, das von der
schottischen Mission verwaltet wird. Da sich bei ihr der Aussatz im
Anfangsstadium befindet, ist er noch heilbar. Es müssen allerlei
Einspritzungen vorgenommen werden, aber auch so dauert die Geschichte
noch etwa ein halbes Jahr. Beim Aussatz sind eben die Ärzte über das
Laborieren noch nicht weit hinausgekommen. Ein anderes Mädel, auch aus
Mayavaram, hatte die Wassersucht und hatte einen aufgeschwemmten Körper.
Die Mutter kam mit ihr mit. Nachdem das Kind einige Tage im Hospital
gelegen hatte, wurde es plötzlich entlassen, und die Mutter brachte es
mit. Aber das Mädel war so entsetzlich schwach, dass wir schleunigst die
Ärztin holten, die feststellte, dass das Kind jeden Augenblick sterben
konnte. Im Hospital ist man nicht sehr zartfühlend und macht mit
hoffnungslosen Fällen kurzen Prozess, die Inder mögen es sowieso am
liebsten, wenn ihre Verwandten zu Hause sterben. Wir brachten
schließlich das Kind in einem benachbarten Haus unter, wo es die Macht
überlebte. Am nächsten Tage setzte ich es dann im Hospital durch» dass
das Kind wieder aufgenommen wurde. Erst zwei Tage später starb es, und
gemeinsam mit unserem Pastor begrub ich es auf unserem Friedhofe. - Und
nebenbei hatten wir immer noch die kranke Frau Meyner bei uns im Hause.
So hatte Lisa alle Hände voll zu tun, um mit allem fertig zu werden.
Seit dem
18. Juli bin ich, wie Ihr wohl alle wisst, "Lecturer in German" an
unserer Universität in Madras. Warum ich mich um diesen Posten beworben
habe? Weil mir einerseits der Missionsrat inoffiziell zuredete, da er es
für wünschenswert hielt, dass wir an der Universität Einfluss gewinnen,
und weil ich andrerseits auch selber Lust dazu hatte. Einmal ist das
Einkommen (monatlich 200 Rs) nicht zu verachten, und andrerseits macht
mir das Unterrichten Freude. Mit dem Geld bezahlen wir zunächst unsere
Schulden. Und dann sparen wir es auf, um einmal dafür ein Auto zu
erstehen. Bei den weiten Entfernungen in Madras wäre solch ein
Instrument eine wahre Wohltat. Zwar sind die Autobusse eine große
Wohltat, aber man schlägt oft unendlich viel Zeit mit Warten tot. Aber
bis wir so viel Geld zusammen haben, wird wohl noch mancher Tropfen
Wasser den Kaveri hinunterfließen. - Ich habe nun jeden Morgen außer
sonnabends und sonntags von 7 - 8 Uhr im Presidency College zu sein, das
sehr hübsch am Meeresstrande liegt, aber schmerzlicher Weise etwa fünf
Kilometer entfernt ist. In der Anfangszeit fuhr ich immer im Bus
dorthin, musste jedoch unterwegs an der Mount-Road umsteigen. Aber es
war immer eine Angstpartie, weil ich immer entsetzlich warten musste und
auch tatsächlich einmal fast zehn Minuten zu spät kam. Jetzt holt mich
indessen immer Captain Hesterlow einer meiner Students, der Direktor des
Hygienischen Institutes, ein Angloinder, in seinem Auto an der
Tannah-Street-Ecke ab und fährt mich auch so wieder zurück. Das ist sehr
schön und bedeutet für mich auch eine wesentliche Zeitersparnis. Etwa 20
Minuten nach acht Uhr bin ich wieder zu Hause, und es kann mir niemand
wesentlich den Vorwurf machen, dass ich der Mission die Zeit mause. Und
dass man früh aus dem Bette herausmuss, ist ja nur gut. - Meine Schüler
sind zum größten Teile Professoren und sonstige Graduierte. Das war der
Grund, weshalb ich um ein Haar diesen Posten nicht gekriegt hätte, denn
außer mir hatten sich noch verschiedene Inder um diese Stelle beworben,
die glänzende Zeugnisse und das halbe Alphabet hinter ihrem Namen
hatten. Bei meiner Vorstellung bei den Universitätshäuptern hatte ich
mir ziemlich fatale Fragen zu gefallen lassen, z.B. "Getrauen Sie es
sich denn zu, Professoren und Doktoren zu unterrichten?" Worauf ich
sagte, dass ich mich nicht beworben hätte, wenn ich nicht versuchen
wollte, mein Bestes zu tun; im Übrigen sei das eine Frage, die man nicht
beantworten könnte. Aber schließlich wurde ich doch ernannt. Meine
"Schüler" sind in der überwiegenden Mehrzahl Brahmanen; aber es sind
auch einige Christen und Mohammedaner dazwischen. Die Mohammedaner sind
eine Gesellschaft, mit der man nicht leicht fertig wird. Der eine ist
ein Mr. Fossil, der sich zwar mit seinem roten Fes sehr schön ausmacht,
aber sonst wirft er mir gern Knüppel zwischen die Beine. Das Tempo, das
ich einschlug, war ihm zu fix, und beständig knurrte er. Der andere war
einer, der etwa zwei Wochen nachgeklappert kam und deshalb den Anschluss
nicht erreichte. So suchte er mich in meinem Wigwam auf und wollte mich
dazu zwingen, dass ich ihm helfen sollte. Schließlich erwischte er Lisa
allein und sie bot ihm an, ihm zu helfen. Sie half ihm dann eine Woche
lang abends. Da er kein Buch hatte, kam er immer und vertiefte sich in
mein Buch. Wie ein Großkönig kam er angerückt, drehte in unserem
Wohnzimmer den Fächer an, so dass es surrte, rückte sich den Tisch in
die richtig« Beleuchtung, zog den Rock aus, krempelte die Ärmel hoch und
fing an zu arbeiten. Aber seine Gipfelleistung vollbrachte er an einem
der ersten Tage. Er wollte vom mir eine Grammatik haben. Ich besaß auch
noch einige, aber der Geier wusste, wo sie war. Nachdem ich alles
durchwühlt hatte, blieb nur die Möglichkeit, dass sie sich in einer der
Kisten verkrochen hatten. Er tauchte auf, als ich gerade einmal im Bette
lag {ein besonderes Ereignis, zum ersten Male seit Februar 1926, aber
auch bloß einen einzigen Tag). Er brachte zwei Kulis angeschleppt und
bat Lisa, er wolle die Kisten durchsehen lassen. So gab es ein großes
Rücken und Räumen, aber die boshaften Bücher fanden sich auch dort
nicht; so rückte der Herr wieder ab und hinterlie8 unbezahlt seine
Kulis, die wir zu allem Überfluss auch noch bezahlen mussten, um sie nur
wieder loszuwerden. Wir ließen uns dann nachher das Geld wiedergeben,
aber es bedurfte erst ausdrücklichen Zuspruches. Jetzt ist er, nachdem
er einige Zeit meine Stunden besucht hatte, wieder verduftet. Komische
Leute!
Ich bin
immer wieder erstaunt, wie hell die Inder sind. Sie lernen, wenn sie
sich nur bisschen Mühe geben, fabelhaft rasch. So haben wir schnell
Fortschritte machen können, so dass es einem richtig Spaß macht. Vorige
Woche, gerade fünf Wochen seit Beginn des Unterrichtes, haben wir
angefangen, das Johannes-Evangelium deutsch au lesen. Merkwürdiger Weise
hat niemand dagegen Protest erhoben. Natürlich beschränke ich mich
stramm auf das Sprachgeschichtliche. Keiner wird sich übertriebenen
Hoffnungen hingeben, aber es mag sein, dass vielleicht doch der eine
oder andere seine Freude an den Evangelien findet und so missionarisch
ein wenig beeinflusst werden kann. Eine Anzahl von diesen Leuten will
später nach Deutschland gehen. Da ist es mir sehr wertvoll, wenn ich sie
persönlich kenne und etwas Einfluss auf sie gewinne. Ich kann ihnen dann
raten, wie sie am besten in Deutschland unterkommen können und ihnen
Adressen anweisen; dadurch kann man dafür sorgen, dass sie später in
wirklich christlichen Familien kommen und nicht unter die Räder geraten.
Und wenn man in dieser Hinsicht etwas erreicht, tut man schon ein ganz
gutes Stück Missionsarbeit. - Ich glaube, die Missionsleitung hat keinen
Grund, über diese Arbeit den Kopf au schütteln'; erstens kostet sie
nicht viel Zeit - die Vorbereitung nimmt täglich nur wenige Minuten in
Anspruch -, und zweitens glaube ich, dass dadurch auch ein klein wenig
Missionsarbeit getan werden kann. Wie weit das wirklich der Fall sein
kann, muss die Zeit lehren.
Gestern
hatten wir nun die feierliche Eröffnung des "Ihmels-Blockes" wie der
Neubau auf unserem Fabrizius-Grundstück heißt. D. Frölich hatte das
Präsidium und thronte feierlich auf einem Podium, auf dem sogar ein
Tisch mit einer Blumenvase stand. Die vier Zipfel der Decke waren
vorsichtiger Weise an den vier Beinen festgebunden. Es ist ein schöner,
stolzer Bau. Ich hoffe ihn bald au photographieren, so dass Ihr Euch
daran ergötzen könnt. 12.000 Rs hat die Sache gekostet. Leider reichte
das Geld nicht aus, um außer den drei Räumen im Erdgeschoß auch noch
drei von der gleichen Art im Obergeschoß zu bauen; es langte oben nur zu
einem. Vor dem Neubau befanden sich in langen Reihen Bänke, auf denen
die erschienenen Gäste Platz nahmen, vor allem viele von unserer
Gemeinde, aber auch eine Reihe ehemaliger Schüler. Ansprachen,
turnerische Vorführungen und Lieder wechselte miteinander ab. Um halb
sechs, hatten wir angefangen, aber manche Anasrachen wuchsen sehr in die
Länge. Der gute Asrvadam sprach volle 20 Minuten, sein Vater ist einst
durch den Religionsunterricht der Schule zum Christentum bekehrt worden.
Ich musste auch mit auftreten und freute mich, dass ich der Schule als
Geschenk von jungen Freunden in Deutschland ein schönes Bild von Jesus
(Hofmann) überreichen konnte; da es schon duster geworden war, stellte
sich jemand neben das Bild und hielt eine Lampe davor, damit es
jedermann richtig sehen konnte. Zum Schluss eröffnete Onkel Frölich
feierlich das neue Gebäude ein und lud alle zur näheren Besichtigung
ein. Die große Jungenschar stürmte dann mit Jubel hinein. So sind wir
wieder einen Schritt weitergekommen.

Rundbrief vom 6. Dezember 1928 aus Madras
Ist es
wirklich wahr, dass wir jetzt die Weihnachtszeit haben? Es gibt doch
weder Schnee noch Kälte, und die Natur prangt in ihrem saftigsten Grün.
Aber was soll man schließlich anders von der tropischen Natur erwarten.
Wir sind schon froh, dass das Thermometer um ein paar Grad herunter
gegangen ist und der Regen etwas Kühlung gebracht hat. Aber dass das
Weihnachtsfest mit Riesenschritten naher kommt und dann mit ihm auch das
Jahr 1929, will einem nur schwer in den Sinn. Nächste Woche sind es
freilich schon 10 Monate, dass Lisa und ich unsere Hochzeit hatten. So
fix rennt die Zeit. - Wir beide senden Euch allen zu Weihnachten und
Neujahr unsere allerherzlichsten Grüße und wünschen Euch, das wir alle,
wenn auch getrennt, so durch unsere Gedanken vereint, ein schönes
stilles Fest feiern möchten, auch Hans in Afrika.
Seit
meinem letzten Rundbrief ist bereits wieder ein Vierteljahr verstrichen.
Aber es gibt ja, wenn man sich in seine Arbeit hineingefunden hat, auch
nicht mehr so viele Erlebnisse, die von besonderem Interesse sind. Aber
ein paar Einzelheiten lassen sieh doch herausgreifen.
Da steht
natürlich an erster Stelle der Autokauf. Das war ein großes Ereignis.
Aber ein fast noch größeres Ereignis ist es, solch ein Ding im Gange zu
haben. Es ist ein wunderschöner Kasten. Er läuft leise orgelnd wie
Butter, oder er braust wie ein Sturmwind. Ein ganzes Gedicht könnte ich
darüber schreiben, wenn mir nicht immer im entscheidenden Augenblick die
Reime wegblieben. Innerhalb drei Wochen hatten wir vier "Drivers". Der
erste wollte gern wieder zu seiner früheren Herrschaft zurück; er
brachte mir die gröbsten Grundbegriffe bei. Der zweite, mit dem ich
einen Kontrakt geschlossen hatte, kam überhaupt nie, so dass unser
braver "Chrysler 50" wunderbar faulenzen und wir und die Beine ablaufen
konnten. Der dritte quittierte innerhalb der ersten 24 Stunden den
Dienst; aber darüber waren wir nicht sehr traurig, da er ein richtiger
Taxi-Mensch war, der alles, was ihm in den Weg kam, kräftig
ausschimpfte; und außerdem spuckte er, wenn er links im Wagen saß, links
heraus, und wenn er rechts saß, rechts heraus, und da hatte man immer
Angst um das Trittbrett. Der vierte scheint nun endlich ganz vernünftig
zu sein, fährt vorsichtig, putzt tüchtig und ist pünktlich. Seine Mutter
ist bis jetzt auch nur erst einmal gestorben, wodurch er zwei Tage
Urlaub bekam, um dann plötzlich noch einen halben Tag länger
wegzubleiben und uns, wie nachher ersichtlich werden wird, in der Tinte
sitzen zu lassen.

Chrysler 50
Mir lag
und liegt es sehr am Herzen, das Autofahren zu lernen, was aber durchaus
nicht so ganz einfach ist. Denn man hat ja allerlei immer gleichzeitig
zu bedenken, und man wird im Anfang leicht nervös, bis man die Ruhe
eines Bierkutschers kriegt. Ich fing damit an, dass ich mich in etwas
stille und abgelegene Straßen fahren ließ und dort den Führersitz
erkletterte. Da lernte ich abfahren, schneller fahren, bremsen usf.
Dabei hatte ich alle Hände voll zu tun, um von allem einmal den
unbeweglichen Gegenständen nicht Schaden zu tun, wie den Hausecken,
Bäumen , Straßengräben. Die beweglichen Gegenstände bemühte ich mich
durch heftiges Tuten zu vertreiben, was auch meist gelang; nur die
fetten und mageren Kühe haben merkwürdig wenig Gefühl für die
Notwendigkeiten eines Autoverkehres. Auch das Kurvennehmen ist so eine
Sache, weil die Ecken ihrem Wesen nach weniger rund als eckig sind; aber
wenn man scharf zielt, die Zähne zusammen beißt - bloß man darf die
Augen nicht zukneifen - und die Geschwindigkeit herabsetzt, hat man
Aussicht, richtig herumzukommen. Später wagte ich mich dann auch in ein
wenig beliebtere Gebiete, in wirklichen Verkehr mit Basartrubel jedoch
erst nach drei bis vier Wochen. Das ist manchmal mächtig aufregend und
interessant. Mein Ärger sind freilich oft die Polizisten. Sie wollen den
Verkehr regeln, aber sie bringen sich doch bloß in Lebensgefahr, wenn
sie sich so unvorsichtig mitten in den Weg stellen. Wenn man solch einen
hochmützigen Hüter des Gesetzes anfährt, kriegt man, wie ich mir habe
erzählen lassen, elende Schwierigkeiten ; es ist ja auch für solch einen
Herrn sicher unangenehm, wenn er plötzlich Gelegenheit erhält, sich ein
Auto von unten her anzusehen und dabei Fettflecke auf seine Uniform zu
kriegen. Ich bin stolz, dass ich bis jetzt noch niemandem ein Härchen
gekrümmt habe, selbst nicht den verbiesterten Hunden, die die Straßen
von Madras allzu sehr frequentieren. Es ist aber auch anzuerkennen, dass
das Publikum verständnisvoll ist; als ich einmal im Anfang etwas
geschwind um eine Ecke wutschte, stand ein Mann gerade in der
Schusslinie; ich fing gerade darüber nachzudenken an, was für
Operationen ich auszuführen haben würde, um den Wagen zu verlangsamen
oder gar zum Stillstanden bringen, als auch schon der Mann mit jähem
Entschluss wie aus der Kanone geschossen zur Seite sprang; unmittelbar
darauf hatte er Gelegenheit, unser Auto auch von hinten zu betrachten;
auch von da aus sieht es sehr schön aus und ist mit einem Reservereifen
geziert; nachts brennt dort, falls man nicht versäumt, den Strom
einzuschalten, ein elektrisches Licht. Das war damals meine erste Fahrt
in der Öffentlichkeit; Lisa und Schwester Else saßen hinten, der Driver
neben mir. Die Damen unterhielten sich erst sehr schön, aber sie wurden
von der Romantik des Fahrens so ergriffen, dass sie schließlich ganz
verstummten und voll gespannter Aufmerksamkeit alle Vorgänge verfolgten.
Sie waren nachher ganz erschöpft; im Geiste hatten sie eben immer
mitgelenkt, und da sie ja beide nicht fahren können, kamen sie dabei in
1000 Schwierigkeiten, ich war da schon ein bisschen weitet und schon in
die Anfangsgründe eingedrungen; infolgedessen war ich dann auch nicht
ganz so erschöpft. - Leider empfindet es Lisa immer noch als
Angstpartie, wenn ich sie spazieren fahre, obwohl meine Fortschritte
rapide sind. Aber das wird sich schon noch geben. Zur Universität fahre
ich jetzt stets eigenhändig, wenn auch der Driver noch neben mir sitzt.
- Eines Abends bin ich sogar ohne Driver mit Lisa losgefahren; das war
vor gut acht Tagen, als der Driver wegen des Todes seiner Mutter Urlaub
hatte. Wir waren abends bei Dr. L. P. Larsen, dem Dänen, der die
Bibelrevision der Tamulischen Bibel ausführt, eingeladen; das ist mehr
als fünf Kilometer weit entfernt, und es waren nur noch 20 Minuten und
der Driver kam nicht.
Die Fahrt
ging auch tadellos. Erst abends um elf Uhr zerstreuten sich die Gäste,
und wir bestiegen auch unser Auto und wollten abfahren. Die anderen
waren schon längst fort, aber unser Fuhrwerk wollte sich partout nicht
in Bewegung setzen. Der Motor sprang wundervoll an, aber sobald ich die
Bewegungen ausführte, die den Wagen zum Losfahren hätten bewegen sollen,
schnappte der Motor japsend ab. Ich betrachtete kritisch die
Benzinzufuhr, aber nichts Bedenkliches war zu erspähen. Lisa rückte auf
dem Sitze herum, Herr und Frau Dr. Larsen schüttelten teilnahmsvoll ihre
Köpfe, und sie erbot sich sogar, den Wagen zunächst etwas zu schieben;
vielleicht hülfe das. Das war ja natürlich fast zu viel des
Helfenwollens. Rrrrrr -Tscha; Rrrrrr - Tscha. Hochinteressant! Aber es
war schließlich doch nur für wenige Minuten. Da durchzuckte mich eine
Erleuchtung - jawohl, die Bremse war noch angezogen. Larsens platzten
heraus, ein Ruck, und unser Wagen schoss davon, den heimatlichen
Gefilden zu. - Was man doch so alles erleben kann!
Anfang
voriger Woche fand die Hochzeit von Kanschatt statt. Er wohnte bei
Frölichs, sie bei Sandegrens. Beide waren sehr erfreut, dass sie bei
ihren vielen Besorgungen das Auto mit benutzen konnten. Auch an den
Strand fuhren sie gegen Abend zweimal; was sie dort eigentlich wollten,
weiß ich nicht; denn in dem Sand kriegt man bloß Sand in die Schuhe, und
das Wasser ist nass. Und die Betrachtung des Mondes überlässt man doch
als gebildeter Abendländer lieber den melancholischen Wauwaus. - An
einem Abend waren sie auch bei uns zum Abendessen. Nachher verbannten
wir beide auf die einsame obere Veranda. Denn Brautpaare haben eben
kurioser Weise eine besondere Vorliebe für einsame Örter. Wenn ich
scharf nachdenke, ist mir so, als hätte ich auch ähnliche Gefühle
gehabt, als ich noch jung und unverheiratet war, und, wenn ich mich
nicht irre, Lisa desselbigen gleichen. Nachdem sich die beiden zwei
Stunden dort aufgehalten hatten, warfen wir sie aus dem Hause.
Am Tage
vor der Hochzeit, am 26. November, hatte das Brautpaar eine große
Teegesellschaft; alle Gemeindeälteste samt Familien und die
theologischen Studenten waren eingeladen und wurden abgefüttert; wir
auch. Am Abend nach sechs Uhr ereignete sich etwas sehr Graziöses,
beinahe Feenhaftes: Da kamen unsere Kostschulmädels im Gänsemarsch an,
jedes in der Hand einen roten Lampion. Sie stellten sich vor dem Hause
auf in Gestalt eines A + W, und dann hörten sie mit ihrem tamulischen
Liede auf. Zwei Abgesandte traten vor und überreichten unter
Glückwünschen Kränze und Früchte, und alsbald setzten die beiden
Buchstaben in wunderbarer Harmonie ein: "Hoch sollen sie leben, hoch
sollen sie leben, dreimal hoch!", und jedes Mal wurden behutsam die
Lampions geschwenkt. Dann verwandelten sich die Buchstaben in einen
Halbkreis, vor dessen Öffnung einige Mädels, acht an Zahl, Singspiele
aufführten, dass die Zöpfchen sausten. Und flugs formte sich die
Geschichte wieder zu einer langen Schlange und zog singend von dannen.
Die Sache hat ganz famos geklappt; Lisa hatte aber auch tüchtig mit den
Blagen geübt, sogar am Tag vorher an Ort und Stelle alles durchgeprobt.
Am
nächsten Tage hatten wir Hochbetrieb, unser Auto erhielt eine schmucke
Girlande, und die Kirche wurde geschmückt. Die Trauung fand um halb fünf
statt. Leider waren von uns Deutschen außer dem Madrassern nur die
Hellers gekommen, mit Kind und Kegel, bei uns mächtigen Betrieb
verursachend; von den auswärtigen Schweden, waren nur noch drei Damen
erschienen. So war es eine verhältnismäßig kleine, schlichte Hochzeit
mit etwa einem Dutzend Teilnehmern. Sandegren hielt die Trauansprache,
leider recht allgemein und wenig besagend. Hinterher wurden wir
geknipst, und dann fuhr unser Auto die ganze Gesellschaft in vier Fuhren
zu Sandegrens. Das Abendessen war sehr schön, und auch die Reden fehlten
nicht, die aber nicht durchweg sehr auf der Höhe waren, erstens weil die
Redner alle sitzen blieben, und zweitens, weil der Inhalt manchmal etwas
schwach war. Dann wurde die Tafel aufgehoben, und das Brautpaar
wechselte Hals über Kopf seine Gewänder und stieg in das Auto und sauste
knatternd von dannen nach dem Egmore-Bahnhof. Dann saßen wir noch eine
Weile zusammen und knatterten dann mit Hellers nach unserem Wigwam.
Kanschatts (wie das klingt!) haben jetzt Urlaub und sind in Kodi.
Hoffentlich erkälten sie sich da nicht, wenn sie sich da wieder an
verborgene Örter setzen; denn es soll da jetzt ziemlich kühl sein.
Kürzlich
haben wir die fatale Entdeckung gemacht, dass Diebe bei uns gewesen sind
und uns Sachen geklammert haben; das ist ein scheußliches Gefühl. Als
wir am Sonntag aus dem Abendmahlsgottesdienst kamen, sagte uns der Boy,
ein Junge sei die Treppe heruntergekommen, die von hinten zu unserem
Obergeschoß führt. Er habe gesagt, er hätte nach einem Drachen
gefahndet, der sich dort verheddert hätte. Damit verschwand er. Nachher
stellte sich jedoch heraus, dass der freche Kerl unsere Schubfächer
durchwühlt hatte. Aber er hatte glücklicher Weise nichts mitgenommen
außer einigen Annas, die in meinem Schreibtischauszug steckten. Und dann
schliefen wir Dienstag Mittag oben in unserem Zimmer für eine kleine
Weile, und während dieser Zeit schlich sich wieder jemand, vielleicht
der gleiche Jüngling bei uns ins Haus; die eine der Türen war wohl nur
angelehnt, er ging ins Treppenhaus und stahl mir aus meiner Rocktasche
Rs. 7/7/6. So ein Haderlump! Aus dem gleichen Tischauszug entschwand
wieder etwas Kleingeld samt Marken. Das war uns denn doch schließlich
etwas gegen den Spaß. Wir halten jetzt künftig das Haus sehr unter
Verschluss, und das Geld darf sich nie außerhalb des eisernen
Geldsehrankes herumtreiben. Das Geld, das man so nötig hat, auf solch
alberne Weise zu verlieren, kann einen wirklich ärgern; dabei sind wir
sogar noch vorsichtiger gewesen als Fräulein Karlmark. dass nicht immer
alles mit richtigen Dingen zuging, war uns schon öfter aufgefallen, aber
wir konnten es nie richtig herauskriegen; bloß dies Mal hatten wir
gerade vorher abgerechnet und wussten deshalb genau Bescheid. Über unsere
Dienerschaft können wir glücklicher Weise sicher sein, denn sie sind
alle zuverlässig. Wo wir eben so dicht an der Basarstrasse wohnen, ist
man nie sicher, wer alles sich in das Haus hineinstiehlt und einem etwas
maust.
Lisa
sitzt jetzt stets sehr über dem Tamulisch, seit sie den neuen Munschi
hat, macht ihr die Sache auch etwas Freude; der Trouble ist bloß, dass
es für sie schwer ist, die Zeit herauszuschlagen; wenn es nach dem
Munschi ginge, könnte Lisa den ganzen Tag hinter den Büchern sitzen. Wo
wir jedoch so oft Gäste haben, ist es nicht leicht. Und dazu kommt die
Fürsorge für die Boarding, den Haushalt und so Manches andere. Für die
Auswärtigen müssen wir ja auch öfter Besorgungen machen. So ist es oft
nicht anders möglich, als dass Lisa sich abends nach dem Abendessen über
das Tamulisch macht, wo man eigentlich gern noch etwas gemütlich
zusammen sitzen würde. Aber die Arbeit geht ja natürlich vor. Die
Hauptsache ist ja dann bloß, dass es abends nicht gar so spät wird. Es
ist nicht leicht für Lisa, dass sie dies alles um die Ohren hat, und man
möchte ihr wirklich oft etwas mehr Frieden gönnen. Aber das ist
schwierig in einem Missionshaushalt.
Bei all
diesen Sachen kommt es natürlich noch mehr, dass man nicht viel von der
Weihnachtszeit merkt. Aber auf der anderen Seite kommt einem dadurch
immer mehr zum Bewusstsein, dass es sich ja zu Weihnachten eigentlich um
andere Dinge handelt als gerade um schöne Stimmung und dergl., so sehr
man sich auch darnach sehnt.
In der
Boarding haben wir jetzt nicht mehr ganz so viel Krankheit gehabt wie im
vorhergehenden Vierteljahr. Aber dafür herrschen jetzt umso mehr
Erkältungskrankheiten. Wir mussten dort jetzt für etwa 15 Mark
Reparaturen ausführen lassen, weil sich Ratten ganze Gänge unter dem
Krankenzimmer ausgebuddelt hatten und an einer anderen Stelle der Regen
durchkam. Die Mädels waren eine Zeitlang recht unbändig, da die eine der
beiden Lehrerinnen verheiratet ist und die übrig Gebliebene ein etwas
unvollkommenes Wesen ist. Auch die Hausmutter, die Matrin, kommt nicht
durch. So haben wir jetzt das Familienwesen, alias Riegensystem
eingeführt, wie es ja beispielsweise in Marienberg im Kloster existiert.
Das sind bis jetzt erst zwei Wochen, und man kann noch nichts über das
Resultat sagen. Aber der Anfang ist verheißungsvoll.
Der
Reading-Room ist noch nicht eröffnet, weil sich allerlei Schwierigkeiten
ergaben, die aber hoffentlich bald behoben sein werden.
Zu
Weihnachten bleiben wir hier. Wir erwarten dann zwei bis drei der
deutschen Delegierten als unsere Gäste zur Maisur-Studentenweltkonferenz.
Die Leipziger Missionarskonferenz, die für den 8. Januar vorgesehen war,
wird wahrscheinlich noch etwas herausgeschoben. - Beim Deutschunterricht
haben wir jetzt Storms "Immensee" gut halb durchschwommen.
Lisa und
ich senden Euch allen, die Ihr diese Zeilen in die Hand bekommt, unsere
herzlichsten Grüße. Nehmt dies als handschriftlichen Gruß. Wir haben
noch arg viel zu tun.

Ich kam nach Tritchy am Freitag und packte meine Sachen, weil es schien, dass Krieg ausbrechen würde. Fräulein Langloh hat Euch wahrscheinlich erzählt, dass jetzt Krieg ist zwischen England und Deutschland. Heute
muss ich nach Thomasmount, wo ich interniert werde. Es war eine so schöne Zeit, welche wir in Kodaikanal zusammen hatten und ich werde lange daran denken. Ich weiß nicht, wann und wo wir uns wieder treffen werden. Seid liebe Kinder und betet, dass wir bald wieder Frieden haben werden. Euer Euch liebender Vati

Nachdem Dir Lisa am 21. September einen Geburtstagsbrief geschrieben hat, möchte ich es nun auch tun und Dir von ganzem Herzen Glückwünsche zu diesem Tage senden. 80 Jahre alt! Wie oft sprechen wir von Dir und suchen uns vorzustellen, wie Du lebst und wie es Dir geht. Dass Du nicht mehr sehen kannst, muss eine rechte Heimsuchung für Dich sein, und der Gedanke daran schmerzt uns sehr. Aber wir wissen auch, mit wie viel Liebe Dich Dora und Maria und nicht zuletzt auch Martha umgeben. Nun wünschen wir Dir, dass Gott Dir gute Gesundheit und auch manche Freude schenken möchte. Wie schön wäre es, wenn er uns auch ein Wiedersehen mit Dir und allen anderen Lieben schenken würde! Wir sind des Lagerlebens müde; zumal für uns Männer ist es alles andere als befriedigend, und wir sehnen uns nach richtiger Berufsarbeit. In den Zeitungen steht jetzt öfter vom Austausch von Internierten, auch Geistlichen. Aber ob wir darauf rechnen können? Dass wir auf unsere Stationen zurückkehren können, scheint hoffnungslos. Aber wir stehen ja in Gottes Hand und wollen seiner Führung trauen.
Wir haben ja sonst manchen
Anlass dankbar zu sein. Nicht nur, dass wir als Familie nicht getrennt sind, sondern auch, dass wir an einem so gesunden Fleck sein können, ist viel wert. Jetzt hat allerdings die unangenehmste Jahreszeit begonnen, wo es oft tagelang gießt und man buchstäblich in den Wolken sitzt. Da ist es schwierig, die Wäsche trocken zu kriegen, und im Hause herrscht ein ziemlicher Betrieb, weil die Kindergesellschaft nicht ins Freie hinaus kann. Lore und Ulrike traten Mitte August wieder in die Missourieschule ein und waren glückselig, dass sie wieder unter gleichaltrigen Spielgefährten sein konnten; über das Wochenende kamen sie immer zu uns zurück. Aber die Herrlichkeit dauerte nur 5 Wochen; da brach dort der Keuchhusten aus, so dass die Schule zumachte. So sind die Mädels seit 14 Tagen wieder daheim bei uns, und heute habe ich wieder mit ihrem Unterricht angefangen. Wie es nächstes Jahr mit ihrem Unterricht wird, wissen wir noch nicht ganz; da die Missourier absolut keinen Platz haben werden, denken wir jetzt an High Clerc, die Schule, in der Lore ihr erstes Schuljahr verbracht hat. Nur sind da die Kosten ziemlich hoch, so dass wir da die Hilfe des lutherischen Kirchenbundes in Anspruch nehmen
müssten. Lore ist ein großes, breit gebautes und jetzt manchmal ziemlich ungelenkes Mädchen, hat Lisas Größe. Ulrike ist immer noch dünn, trotz Lebertrans u. a. Kräftigungsmittel. Ihr Haar ist etwas wüst, da es noch nicht ganz zu Zöpfen langt. Christoph ist nach wie vor voll Tatendrang, etwas derb, aber dabei gutmütig, Michel dagegen ein Schlauberger und manchmal geradezu listig; die beiden fangen langsam an, sich zu einem Zweigespann zu entwickeln, und da Michel dem Christoph nichts schuldig bleibt, wird es wahrscheinlich einmal zwischen den beiden ein gutes Einvernehmen geben.
Wir freuen uns über das erste Echo von Euch, dass unsere Interniertenpost Euch erreicht hat, wenn sie auch hinüber viel länger zu brauchen scheint als herüber. Wir freuten uns jetzt sehr über Marias Karte vom 11. Aug. und Doras Brief vom 17. Aug., beides an Ulrike gerichtet und am 2. bzw. 3. Okt. hier eingetroffen. Vor allem dankt Ulrike sehr herzlich dafür. - Und nun nochmals sehr, sehr herzliche Grüße, liebe Mutter, von uns allen, Euch allen.

23. Oktober 1947 an
Lore aus Oesselse
Many thanks for your letter in which you describe so graphically your camp
experiences and your friendship with your group leader. I am really glad that
you found somebody with whom You could talk freely and to whom you could open
your heart. I think that you will have sometimes the feeling that 4 years is a
pretty long time to be away from home, and that you will feel home-sick and
that is certainly nothing to be ashamed of. Is there no possibility that You
go to Auntie Eve in Cambridge at least for the Christmas Holidays? Though it
is a rather long trip, I should be so glad if you could have a Christmas in
the German way and in with relatives. I am sure they would be delighted to
have you with them, and I guess you could also get a good piece of advise from
them. It would be interesting, too, if you could get an idea of a different
type of College. Well, it is still a long way off till Xmas, but in things
like that it is not bad to make plans early and to write well in advance so
that they can keep a place free nueing to be extremly busy people. This week I
paid with the Selb-relativeb (uncle Johannes etc) and the boys a visit to the
Export-Fair in Hannover which showed many beautiful things - unobtainable for
us poor Germans, but inten¬ded for export only so that Germany may get food at
least. Vroni is beginning to feel better after her jaundice.

Der Tod von
Mahatma Gandhi hat im Westen, aber auch hier in Deutschland, einen tiefen Schock ausgelöst. Die Zeitungen haben in großen Typen die traurige Nachricht gebracht. Viele Menschen haben zuhause, in den Straßenbahnen und Zügen darüber gesprochen. Viele Menschen haben mit mir gesprochen. Sie wollten wissen, ob ich Gandhi selbst gesehen habe. Ich werde seinen Besuch in Madras in den frühen dreißiger Jahren nicht vergessen. Ich sehe noch die große Menschenmenge, die sich nach Sonnenuntergang am Strand versammelte. Der seltene Gast saß auf einer hohen Plattform umgeben von den
Kongresshoheiten in dem gleißenden weißen Gaslicht. Als er anfing zu sprechen konnte man nur wenig aus den Lautsprechern hören, die nicht richtig funktionierten. Die ganze Welt trauert über den Tod einer großen Seele. In vielen Reden und Artikeln wurde Tribut gezahlt an einen, dessen vergeistigtes Leben durch den Tod einen Siegel erhielt. Ich hoffe, dass das tragische Ende seiner Lebensreise und die Erinnerung an sein Leben das nationale Leben in Indien reinigen und die Mutter Indien zu einer höheren Stufe der nationalen Selbsterkenntnis führen möge...

...Ihr befindet Euch, ohne Euch dessen wahrscheinlich
bewusst geworden zu sein, in einer Periode, in der eigentlich jeder nachdenklicher Missionar in eine Krise hineingerät. Wir haben das an uns selbst und noch viele Male an den Missionsgeschwistern in Indien erlebt, das just im dritten und vierten Indienjahr die Zweifel. und die Kritik einsetzen, ob nicht in der Mission und bei den Eingeborenen, wie wir damals zu sagen pflegten, sehr viel, wenn nicht alles falsch ist einschließlich der Einstellung der eigenen Missionare. Das erscheint eine Art Naturgesetz zu sein und hat in seiner Art - natürlich in ganz anderer Weise - Wirkungen wie etwa die Wechseljahre der Frau oder die sogenannte falsche zweite Jugend des Mannes um die Fünfzig. Die älteren Missionsleute kennen meist diesen Zustand und setzen ihn mit in Anrechnung, wenn sie besonnen sind. Nichtmissionsleute wissen meist nicht davon und werden dadurch leicht irregeleitet Ihr werdet fragen, worin denn eigentlich das Besondere dieser Stufe der Entwicklung des Missionars besteht. Das
lässt sich kurz etwa so sagen. Man fängt an, die Dinge und Menschen, nachdem man sich etwas eingelebt hat, ohne Maske zu sehen und das noch frische Idealbild, mit dem man herausgekommen ist, damit kritisch zu vergleichen. Das Ergebnis des Vergleiches ist gewöhnlich vernichtend, Aber man überzieht dabei leicht, dass einem etwas sehr Wichtiges nicht zu Gebote steht (bzw. noch nicht), nämlich die nur durch langjährige Arbeit zu gewinnende Einsicht, dass man in den Tropen mehr als anderswo mit retardierenden Faktoren rechnen
muss, die sowohl bei den Farbigen wie auch bei uns Weißen (bei und schon allein wegen der größeren Freiheit und der sich dadurch ergebenden größeren Möglichkeit zu Fehlsamkeit) in der Mentalität vie auch in den sehr andersartigen Verhältnissen liegen. Nicht als ob damit alles zu entschuldigen wäre! Aber wer diese Dinge im Auge behält, wird sich beständig prüfen, ob er bei seinem Urteil nicht einseitig ist und ob er bei den sich ihm ergebenden Konsequenzen nicht zu radikal ist.
Ich habe mich oft gefragt, welche Eigenschaft wohl die für draußen Wichtigste ist (ich rede jetzt nicht davon, dass die wichtigste Voraussetzung die ist, das man in der
bewussten Nachfolge Christi stehen muss)! Ich bin zu dem Schluss gekommen, des Kontaktfähigkeit gepaart mit der Bereitschaft und Fähigkeit zu Teamarbeit, also zu Kooperation, mit die unerlässigsten sind. Nach Euren Briefen scheint es fast, dass Pastor Hellmund bei aller guten Arbeit, die er offensichtlich sonst getan hat, besonders in seelsorgerlicher Hinsicht, nicht bei seinen Mitarbeitern Verständnis und auch Mitarbeit für seine besonderen Anliegen geweckt hat. Es mag einer eine noch so gute Schau von der besonders wichtig zu erscheinenden Arbeit haben! Aber wenn er sie praktisch als Einzelgänger tut, steht er in der Gefahr, als Außenseiter betrachtet zu werden und in die Isolierung zu geraten. Es ist um der Sache willen wichtig, dass man zuerst Himmel und Erde in Bewegung setzt, um allen Mitarbeitern, den Eingeborenen wie den Weißen, klar zu machen, um was es einem geht, und sie zu einem ähnlichen Kurs zu gewinnen. Das schuldet man der Gemeinschaft als solcher wie auch der Sache. Wenn man nicht eine Kursänderung für die ganze Arbeit erreichen kann, sollte man das Verständnis und Einverständnis der anderen gewinnen, für seine eigene Person mit dem Goodwill der anderen sozusagen als Experiment die eigenen Vorschläge durchzuführen. Nur so kann man erreichen, dass man nicht in die Isolierung gerät.

Denen von Ihnen, die nichts von den naheren Umständen des plötzlichen Heimganges meiner Frau wissen, und / oder denen, die wahrscheinlich gern an der Trauerfeier teilgenommen hätten, aber dazu nicht in der Lage waren, möchte ich aus Dank für Ihre herzliche Anteilnahme das Folgende mitteilen.
Mit der Reise nach Tansania ist ein langgehegter Wunsch meiner Frau in Erfüllung gegangen. Sowohl ein Göttinger Internist, der sie auf unseren Wunsch vorher gründlich untersucht hat, wie auch unser Hausarzt hatten nicht die geringsten gesundheitlichen Bedenken gegen diese Reise. Sie flog am 15. März nach Nairobi und wurde dort von unseren Kindern, nach Moshi abgeholt. Der Plan war, dass sie am 13. April zurückfliegen wollte. Unsere Lore und ihr Mann schrieben uns von ihrer Freude über die Vitalität und Unternehmungslust meiner Frau. Am 26. März, Gründonnerstag, kollidierte Lore in ihrem Wagen mit meiner Frau an ihrer Seite und den Kindern auf den Rücksitzen im Dunkeln auf der Heimfahrt von Arusha. nach Moshi mit einem unbeleuchteten Trecker, der mitten auf der Straße abgestellt war. Den Kindern geschah nichts, aber Lore und meine Frau trugen Schnittwunden davon und wurden von einem Inder gleich ins Missionskrankenhaus Machame gefahren, wo sie vom dortigen Chirurgen Dr. Schmidt versorgt wurden. Am Osterdienstag wurden sie nach Moshi als geheilt entlassen, sollten sich aber noch schonen. Am folgenden Tage, dem 1, April, hatten meine Frau, Lore, Christian und Frl. Dreßler von der deutschen Schule in Kibosho noch eine lebhafte Unterhaltung mit nachfolgendem Kaffeetrinken. Frl. Dreßler war im Begriff, sich zu verabschieden, als meine Frau plötzlich einen derartigen Schwächeanfall erlitt, dass Christian davonstürzte, um den ganz in der Nähe wohnenden guten Freund Prof. Dr. Walther (Leiter des vor allem mit Unterstützung von "Brot für die Welt" errichtete Kilimanjaro Medical Center) zu holen. Nach wenigen Minuten stürzte auch Lore davon, um im Nachbarhaus nach einem indischen Arzt zu telefonieren. Sofort anschließend kam sie zurück, gleichzeitig mit Christian und Dr. Walther. Letzterer konnte nur noch den bereits eingetretenen Tod feststellen. Das Ganze hatte kaum 20 Minuten gedauert. Diagnose: Embolie. Ob diese eine Folge des Unfalles war oder ganz unabhängig davon aufgetreten ist, wird von den Ärzten verschieden beurteilt; das Letztere wird von manchen für das Wahrscheinlichere gehalten, weil meine Frau einen allmählichen Herzstillstand. und damit eine langsam einsetzende
Bewusstlosigkeit - wie es scheint, ohne Schmerzen - erlitten hat. Gott hat es gut gemeint, dass er sie so gelinde aus einem frohen, erfüllten Leben heimgerufen hat, ehe sie den uns gegen Jahresende bevorstehenden Abschied von Niedernjesa und ihrem geliebten Garten erleben musste. Wir beide haben gerade in den letzten Jahren oft Gott gedankt, dass er uns trotz vielem Schweren, das er uns in einem langen Leben gemeinsam durchstehen. ließ, unsagbar viel Gutes hat erfahren lassen. Jeder neue Tag und jedes neue Jahr der Gemeinsamkeit war uns ein Gottesgeschenk. Wegen der tropischen Verhältnisse fand bereits am nächsten Tage, dem 2. April, eine Trauerfeier statt, zu der sich viele Missionare und ihre Frauen und andere Freunde einfanden, und anschließend erfolgte die Einäscherung.
Die hiesige Trauerfeier
mussten wir um 14 Tage hinausschieben, weil wir hofften, dass uns die Urne bis dahin erreichen würde. Das war dann auch der Fall. Der 18. April brachte. uns einen warmen Frühlingstag. Die Kirche war bis auf wenige Plätze auf einer der Emporen voll besetzt. Es müssen über 200 Personen gewesen sein; darunter waren eine Reihe von Verwandten und Bekannten, die von weither kamen. Die Urne stand inmitten von Kerzen und. Blumen vor dem Altar. Superintendent Achilles aus Göttingen, dem der hiesige Kirchenkreis seit einem Jahrzehnt untersteht, ein persönlicher Freund unserer Familie, hielt auf meine Bitte die Trauerfeier. Er ließ die Gemeinde die gleichen Gesänge singen, die auch bei der Trauerfeier in Moshi angestimmt worden sind: "Bis hierher hat mich Gott gebracht", "Christ ist erstanden" und "Befiehl du deine Wege" V.1 - 6. Seiner Ansprache legte er Psalm 84,12 zu Grunde, den Trauspruch, den meine Frau und ich für unsere grüne Hochzeit am 10.2.1923 in Mayavaram (jetzt: Mayuram) in Südindien ausgesucht hatten: "Gott der Herr ist Sonne und. Schild; der Herr gibt Gnade und. Ehre. Er wird. kein Gutes mangeln lassen den Frommen," Superintendent Achilles zeichnete mit großem Einfühlungsvermögen das Lebensbild meiner Frau und. entfaltete dann eindringlich die Botschaft des Bibeltextes, und das alles mit großer Herzenswärme. Er
schloss im Blick auf die große Freude, die meine Frau u.a. für den Garten und alles, was lebt und blüht und. reift, hatte, mit den Worten aus Paul Gerhardt's "Geh aus mein Herz": "Welch hohe Lust, welch heller Schein wird. wohl in Christi Garten sein! Wie
muss es da wohl klingen...", "Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd. ein guter Baum und lass mich Wurzel treiben. Verleihe, dass zu deinem Ruhm ich deines Gartens schönste Blum und. Pflanze möge bleiben..." - Dann setzte sich ein langer Zug in Bewegung. Auf dem Friedhof, auf dem ich selbst seit 20 Jahren so oft an den Gräbern gestanden mit den Trauernden Gottes Wort gesagt habe, in dem Teil, wo die Doppelgräber liegen und von wo der Blick weit über die Fluren des schönen Leinetals und bis nach Göttingen schweift, wurde die Urne beigesetzt; daneben ist der Fleck, wo, so Gott will, auch ich meine letzte Ruhestätte finden werde. Einige wenige Kränze mit aus Laub geflochtene, mit Blumen besteckte Kreuze und. dazu mehrere immer noch frische Sträuße mit leuchtend blauen Iris und weißen Lilien schmücken den kleinen Hügel. Mir ist, als stünde über allem das tröstliche und mahnende Wort: "Ewigkeit, in die Zeit leuchte hell hinein, dass uns werde klein des Kleine und das Große groß erscheine. Sel'ge Ewigkeit." |