Otto Baltzer

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Vortrag von Pfarrer Otto Baltzer
(1892 - 1971) aus Jahnsdorf im Erzgebirge

Liebe verehrte Zuhörer!
Wer unter uns bedrückend schmerzliche Zeiten durchzustehen hat, dem wird sich bald der Mund verschließen. Katastrophen wecken normalerweise nicht unsere Redseligkeit. Betroffene suchen vielmehr das Schweigen. Zwar steht vor ihnen unvergesslich und eindrücklich das Erlebte, aber es war so bitter, so ernst und hart, dass man am liebsten darüber schweigt.

Ich war der Todesgrenze bedenklich nahe. Ich wusste als Gefangener nicht, ob ich den nächsten Tag noch erleben werde. Man hatte mich bereits zur Hinrichtung am Erschießungspfahl bestimmt. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen... In solcher Lage fällt alles angeblich Wichtige aus dem bisherigen Leben als völlig unwesentlich von einem ab - und anderes, das man in der Vergangenheit zurückgedrängt hatte, steht schlagartig als entscheidend wichtig vor einem. Plötzlich ist auch bohrend die Gottesfrage da. Man fragt sich: Was ist es um mein ärmliches Leben vor ihm? Ich habe es mit vielen meiner Mitgefangenen erlebt, wie sehr dieses Erleben einen Tag und Nacht ruhelos umtreiben kann. Die Sinnfrage wurde uns oft zum geheimen Rätsel. Doch es gab stets neu tröstliche Durchblicke. Wer das erfahren hat, der sollte nicht mehr im Schweigen verharren.

Wenn ich also hier vom Erlittenen und von erfahrener Durchhilfe berichte, dann vollziehe ich das nicht um meinetwillen, - dann will ich auch nicht mit meinen Erlebnissen vor anderen renommieren.  Ich hätte kein Recht dazu, habe ich doch viel zu viel Tiefen der eigenen Schwäche und des Versagens erleben müssen. Damit kann man nicht blenden wollen.

Ich will vielmehr mit diesem Bericht Gott allein die Ehre geben, denn er ist mir wie nie zuvor in meinem Leben begegnet und auch nahegeblieben. Er hat mich gerettet, wo ich verloren war. Und ich sehe mich als überlebender besonders dazu verpflichtet, durch mein Zeugnis andere Menschen zum Aufhorchen und ernsthaftem Nachdenken über sich selbst zu bringen, sodass sie alsbald auch die Frage für sich beantworten müssen: Wie steht es eigentlich um meinen Glauben? Wenn mein Leben dahin sinkt und verlöscht, kann ich dann verantwortlich vor dem Ewigen bestehen? Habe ich nach seinem Willen gefragt und gehandelt? Habe ich versucht, ihn in Taten zu verwirklichen? Vielleicht kann ich auf diese Weise helfen, dass mein Mitmensch bewusster und dankbarer lebt. Dann wäre mein Bemühen nicht vergeblich.

Dazu kommt der Umstand, dass ich um diesen Vortrag in der Öffentlichkeit ausdrücklich gebeten worden bin. In drei Gemeinden des Kreises Stollberg/Sachsen bin ich eingeladen worden. Mein Wunsch ist, dass ich die Herzen und Gewissen vieler Hörer erreichen kann. Denn in diesem schicksalsträchtigen Jahr 1945 sind wir doch durch das Erleben des Kriegsendes besonders innerlich bewegt worden von Fragen des Versagens und der Schuld, wo doch erst recht äußerlich so unendlich viele Verluste an kostbaren Menschenleben und an Besitz, auch an Heimat, zu beklagen sind. Da gilt es, sich neu zu orientieren. Da sollten wir die rechten Schlussfolgerungen aus den weltanschaulichen Irrtümern ziehen. Ein Aufbau in unserem zerstörten und fehlgeleiteten Vaterland wird nur dann gelingen, wenn wir uns auf die wahrhaft tragenden Werte der Wahrheit, Gerechtigkeit und des bleibenden Friedens gründen. Durch Umkehr zu Gott und durch neue Glaubensbindung an ihn und sein gültiges Wort kann unser Volk nur gesunden. Im Buche des Propheten Amos 4,12 steht das, was jetzt uns allen gilt: "So schicke dich - Volk -und begegne deinem Gott." Ich möchte zu Ihnen über Gottesbegegnungen in unserer Zeit sprechen. Ich habe sie selbst erlebt. Mitten in den heutigen Zeitereignissen um uns her leuchten Aussagen aus der Bibel aus der Vergangenheit für uns auf. Den scheinbar fernen Gott haben wir gegenwärtig. Denn dank eines  vorbildlichen Gefangenenpfarrers Schwan aus Dresden-Plauen, der in Berlin tätig war, besaß ich in meiner Zelle ein Neues Testament. Wie hat uns die Botschaft des Evangeliums gestärkt und aufgerichtet. Oft sprachen wir darüber in der Zelle, denn ich war glücklicherweise nicht in Einzelhaft. Später lag ich in einem völlig überbelegten Wehrmachtsgefängnis. Wie haben wir manchmal das spärliche Licht, das durchs Gitterfenster fiel, genutzt, um in Gottes Wort zu lesen. Im Blick auf uns selbst und auf unser Volk wurde uns die Gestalt des sogenannten "Verlorenen Sohnes" aus Jesu Gleichnis ganz wesentlich. Bei Lukas 15,11-32 ist davon berichtet. Nach allen durchgestanden Irrungen und Wirrungen drängte sich aus dessen Herz der Entschluss an die Oberfläche: "Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen." (Vers 18) Das gilt erst recht uns.

Sie fragen mit Recht sicherlich schon seit langem, wie mein Weg in Haft und Todesurteil verlaufen ist: Mein Geburtsjahr war 1893. Mit fünf Geschwistern bin ich einem sächsischen Pfarrhaus in Belgersheim bei Leipzig aufgewachsen. Nach dem Abitur in Wurzen begann auch ich in Erlangen Theologie zu studieren. Ende 1914 war ich bereits Soldat des Ersten Weltkrieges, bestand schwerste Kämpfe an der Front in Nordfrankreich, wurde als Leutnant giftgasversehrt und gelangte dann sowohl ins Baltikum gen Osten als auch nach Serbien. Bei allen Einsätzen lernte ich Offiziersverantwortung. Nach meiner Heimkehr studierte ich an der Universität in Leipzig zu Ende, und wurde aus innerer Überzeugung Pfarrer. Zuerst war ich in einer kleinen Erzgebirgsgemeinde Carlsfeld tätig und ab 1927 in Jahnsdorf unweit von Chemnitz. Mit ganzem Einsatz widmete ich mich meinem Beruf, hatte längst geheiratet und inzwischen zwei Söhne. 1937 wurde ich als Offizier in die Wehrmacht übernommen und war Ende August 1939 sofort zum Kriegsdienst einberufen worden. In Polen fand ich in einem Landesschützen-Bataillon meine Aufgaben im besetzten Gebiet. Bald zum Hauptmann befördert ging es über Tätigkeiten in Rumänien Ende 1941 nach Russland ans Schwarze Meer bis zur Halbinsel Krim und auch in Richtung Kaukasus. Als Kompanieführer, oft auch als stellvertretender Bataillonskommandeur war ich mit meinen Soldaten für Nachschubtransporte verantwortlich. In der Einheit hatten wir untereinander ein gutes gegenseitiges Verhältnis.

Die Einkreisung von 250.000 deutschen Soldaten unter Feldmarschall Paulus durch die Russen in Stalingrad mit der Kapitulation am 31.Januar 1943 erlebte ich noch mit den mir Anvertrauten als entscheidende Kriegswende auf der Krim. Der Krieg war verloren. Der Weg zum Ende begann. 90.000 zogen in die Gefangenschaft und die meisten kamen um. Nur 6.000 Deutsche erlebten später ihre Heimkehr...

Ein halbes Jahr später überfiel mich eine gravierende Herz- und Kreislauf-Schwäche. Aus dem Lazarett wurde ich zur Ersatz-Einheit in Deutschland zurückversetzt. Bis zum Juli 1944 musste ich als "ostuntauglich" fern meiner Truppe in der Heimat bleiben - und wurde schließlich entlassen.

Aus begreiflicher menschlicher Sorge heraus hatte ich - von Emotionen getrieben und ganz unbedacht - zwei Briefe an zwei Soldaten meiner ehemaligen Kompanie auf der Krim geschrieben. Ich schrieb, mein größter Wunsch sei, dass die Briefempfänger doch hoffentlich bald aus dem gefährdeten Gebiet abgezogen würden. Meinem Offiziersburschen riet ich konkret, er solle (doch bald wegen seiner Knochenauswüchse die Operation in einem Lazarett außerhalb anstreben, um der Gefahr entfliehen zu können. Die folgende Schlussfolgerung hätte ich nicht auch noch schriftlich niederlegen sollen:

"Oder soll noch so lange gewartet werden, bis auch dort sich ein zweites Stalingrad vollzieht?"

Die Feldpost-Kontrolle machte diese Äußerungen beim Militärgericht anhängig und der verhängnisvolle "Stein kam ins Rollen".

In Berlin wurde ich beim Zentralkriegsgericht am 14. August 1944 in einer Hauptverhandlung wegen "Wehrkraftzersetzung" zu zwei Jahren Gefängnis, zur Degradierung und Ehrenrechtsverlust verurteilt. Der Haftantritt wurde ausgesetzt, bis Reichsminister Himmler den Urteilsspruch bestätigt hatte.

Ich übte weiter meinen Zivilberuf als Pfarrer aus. Am 3. November 1944 wurde ich verhaftet und in das Militärgefängnis Lehrter Straße 64 in Berlin-Moabit eingewiesen. In meiner 2. dortigen Hauptverhandlung wurde ich am 28. November 1944 binnen zwei Stunden "zum Tode verurteilt". Mir wurde klar, dass Himmler als Oberbefehlshaber des Ersatzheeres meine Schuld bestätigt, aber den milden Strafausspruch aufgehoben hatte. Auf meine Akte soll er mit Rotstift ein "T" notiert haben. Zeitlichen Aufschub gewann ich, weil erneut die Bestätigung bei Himmler eingeholt werden musste.

Meine innere Zerrissenheit war entsetzlich. Ich wusste kaum, wie es noch weitergehen sollte. Meine Frau hatte die Ereignisse nicht mehr verkraften können und war nervenkrank und hilflos geworden. Beide Söhne waren im Krieg. Ich hatte schon vor meiner Verhaftung - doch nach dem ersten Prozess - einen Brief mit Erklärungen über meine Situation für die Meinen in der Heimat hinterlegt. Aber eines wusste ich genau, dass mein Leben in den Händen eines Höheren stand.

Als am 4. November die Zellentür des Gefängnisses hinter mir ins Schloss gefallen war, da hatte ich mich selbst gefragt: "Was hat Gott mit mir vor?" Mit fiel als Antwort ein Liedtext ein, den eine Frau Marion von Kloth (sie wurde als Christin von Bolschewisten 1919 zu Unrecht verfolgt und verurteilt im Gefängnis zu Riga abends mehrfach an ihrem Zellenfenster gesungen hat:

"Weiß ich den Weg auch nicht, Du weißt ihn wohl.
Das macht die Seele still und friedevoll.
Ist's doch umsonst, dass ich mich sorgend müh',
dass ängstlich schlägt mein Herz, sei's spät, sei's früh,
Du weißt den Weg ja doch, Du weißt die Zeit.
Dein Plan liegt fertig schon und liegt bereit.
Drum wart ich still, Dein Wort ist ohne Trug:
Du weißt den Weg für mich, - das ist genug.".

Ich hatte einen guten Rechtsanwalt Herrn Dr. Brägger in Berlin gewinnen können, der begründet auf Zeitgewinn hin arbeiten konnte. Es ging um eine fehlende Zeugenvernehmung. Was ist das für eine hohe Schule, wenn man in undurchschaubaren Situationen nur das Warten zu lernen hat! Biblisch könnte man da vom "glauben und hoffen reden, ohne zu sehen". Mancher könnte meinen, ich stünde auf poetischen Versen, die ihnen wie gekünstelt vorkommen. Nein: Letztlich stehe ich auf Gottes Wort. Liedverse sind nur eine durch Erfahrung umgewandelte biblische Aussage. Jemand hat formuliert: "Das Gesangbuch ist das Trostbuch des kleinen Mannes."

So habe ich auch am schlimmen Prozess-Morgen die Bibel in Form meines Losungsbuches aufgeschlagen. Mein Blick fiel auf eine Stelle mit Gottes unverbrüchlicher Zusage seiner Gegenwart: "Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch. Ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit." (Jesaja 41,10) Das sollte mir gelten! Ausgerechnet am allerschwersten Tag in meinem Leben - sogar vor der Richterschranke in Berlin. Als ich mein Vernichtungsurteil hörte, war mir, als ob mir der Boden unter den Füßen weggerissen würde... ich aber sagte mir selber das zu, was ich gelesen hatte: "Gott spricht: Ich bin mit dir... ich stärke dich und erhalte dich." Scheinbar gab es von der Wirklichkeit her einen schrecklichen Widerspruch. Mein Rechtsanwalt hatte aus meinem Heimatort vier Entlastungszeugen beschaffen können, darunter auch Parteigenossen, die mir helfen wollten - der eine war sogar der Kreisbauernführer Walther. Ihre Zeugnisse stellten mich in gutes Licht. Doch überwog das vernichtende Urteil des Partei-Kreisleiters der NSDAP aus Stollberg über mich. Ich war ihm nie im Leben persönlich begegnet. Er hat mich als erklärten Feind der NS-Partei hingestellt und als Begründung dafür die mangelnde Opferbereitschaft bei Sammlungen und meine angeblich versteckten Predigtäusserungen gegen den Hitler-Staat angeführt. Das schlug beim Bericht mehr durch.

Die folgende Wartezeit in meiner Zelle war bei aller bevorstehenden Ungewissheit mehr als bedrückend. Die belastenden Tatsachen zerrten an meinen Nerven.. Doch ich war nicht allein und anderen ging es ähnlich. Es fanden sich unter den Gefangenen auch Personen, die in Aktionen der Widerstandsgruppe gegen Hitler aktiv mit verwickelt waren. Ich erinnere mich sogar an schwedische Offiziere. Vermittelnd trat auch der erwähnte Gefangenenseelsorger für uns ein. Er sprach uns nicht nur Mut zu, sondern informierte uns über die Außenwelt und besonders den neusten Frontverlauf. Ja, er stellte sogar inoffiziell Kontakt zu meiner kranken Frau her. In ihrem Zustand konnte sie ja keinen Besuch bei mir durchführen, geschweige denn in juristischen Dingen Entscheidendes in der Heimat einleiten. Ich habe meiner Schwester Dorothea und.....meinem Schwager Herbert aus der Nähe von Leipzig unendlich viel zu danken. Bei Besuchen im Gefängnis geschah trotz Wachaufsicht so manches. Hilfsreiche. Mit einem nebenbei formulierten lateinischen Satz bat ich ihn um Geld. Beim Händedruck zum Besuchsende spürte ich bereits den Schein in meiner Handfläche und griff zu... 

Fort Zinna

Und dann kam die Frage: "Sind Sie bereit, sich für Deutschland an der Front zu bewähren?" Jeder von uns erahnte förmlich die sich abzeichnende Freiheit jenseits der sich bald öffnenden Gefängnismauern. Freilich waren wir - die wir alle mit "Ja" antworteten - nüchtern genug und erinnerten uns an die sogenannten "Strafkompanien". Eine davon trug hier den Namen "Bewährungstruppe 500". Diese Kameraden wurden in ausweglosen militärischen Frontsituationen als "Kanonenfutter" vorm Feind eingesetzt. Ob wir nun zu solch einem "Himmelfahrtskommando" vorgesehen waren? Rasch waren wir wieder in unsere Zellen eingesperrt. Dort saßen wir tagsüber in großer innerer Spannung und ratschlagten, was noch werden wird. Eines war uns klar: Jetzt oder nie! Wir mussten alles auf eine Karte setzen.

Erst um 17:00 Uhr wurden alle Zellentüren geöffnet. Wir standen davor im Gang und hörten: "Alle, die zum Abmarsch nach Zeithain abgestellt worden waren, sollen sich bereithalten." Es hieß, die Teilnehmerliste würde anschließend verlesen. Noch niemals hatte ich so nervenangespannt gewartet, wie in diesen Minuten. Wessen Name nicht verlesen wurde, der stand wohl spätestens morgen im Wallgraben, um erschossen zu werden. Ich höre noch heute die schneidende Stimme des Gerichtsoffiziers in meinem Inneren: "1. Zahlmeister Adler 2. Hauptmann Baltzer 3. General Becker..." usw. Wir bissen uns fest auf die Lippen, um nicht vor aufgestauter Freude aufzujubeln, dass die "Freiheit" nahte.

Als wir später im großen Gefangenensaal versammelt worden waren, hörten wir, es seien 3.200 Gefangene zur Bewährung an der Front gegen die Rote Armee vorgesehen. Doch hatte man gar nicht mehr so viel Bewachungspersonal, wie es nötig gewesen wäre. Drum sollten Gefangene ehemalige Regiments-, Bataillonsund Kompanie-Führer - unter Oberaufsicht von Bewaffneten mit eingeteilt werden. Bis abends 22:00 Uhr spielte sich auf dem Gefängnishof die Aufstellung von drei Regimentern ab. Mein ganz großes Glück und meine Chance zugleich war, dass ich als Zivilist verhaftet worden war. Ich war ja bereits aus dem Heeresdienst entlassen. Als Nicht-Uniformierter galt ich als eine Null. Freilich stand ich noch unter Militärgesetz. Als man den "Hauptmann Baltzer" zur vorgesehenen Einteilung aufrief, verleugnete ich mich im Dunklen durch Schweigen. Dieser paramilitärische Zug sollte in der Nacht an der Elbe entlang über Mühlberg - Riesa nach dem großen Truppenübungsplatz Zeithain geführt werden.

Ich kann es nicht mit gebührenden Worten umschreiben, was es für uns bedeutet hat, dass sich in dieser denkwürdigen Nacht nicht weniger als sieben eiserne Türen, Absperrungen und Tore geöffnet haben - und wir scheinbar selbstverständlich hindurchgehen konnten! Gott hatte tatsächlich dieses Wunder geschehen lassen. Die ersehnte Freiheit brach an. Unsere Füße fühlten die Pflastersteine auf der Zuführungsstraße zum Fort. Kaum einer drehte sich nach rückwärts um! Das Ziel lag vor uns. In der nächtlichen Dunkelheit hörte man nicht nur das Schlurfen der Füße von 3.000 wankenden Gestalten. Man hörte auch ab und zu verhaltene, aufschreiende Zwischenrufe. Manche wollten so ihrer Befreiungs-Euphorie Ausdruck geben - und keiner hinderte sie dabei. Die Riesenkolonne mündete bald in die Hauptstraße ein und bog nach links ab. Mitgefangene waren also nun unsere unbewaffneten Bewacher. Ich hielt mich scharf in der Nähe eines eingeteilten Kameraden aus meiner Zelle auf. Ich habe ihn und die anderen Verantwortlichen scharf beobachtet. So spannte ich auf den rechten Augenblick... Im Bruchteil von Sekunden war ich nach überschreiten der Bahnschienen seitwärts auf den Fußweg gehuscht und lief dort parallel zur Menge in gleicher Richtung mit - sozusagen wie ein ziviler Fußgänger, den der ganze Menschenhaufen überhaupt nichts angeht. Nach kurzer Zeit vollzog ich schlagartig einen Haken nach links in Richtung auf das deutlich hervortretende Bahnhofsgebäude. Schon war ich völlig für mich. Mit einem vielsagenden Blick sah ich bald den Gefangenenzug im nächtlichen Dunkel verschwinden. "Herrgott! - Danke, danke!", so schrie in mir mein Herz. 

Ich hatte Mut genug, als Zivilist mit dem Geldschein meines Schwagers mir eine Fahrkarte zu lösen. Doch bekam ich keine bis Leipzig. Es hieß am Schalter: "Der Amerikaner hat Leipzig schon besetzt". Ich konnte bis Eilenburg lösen. Aber erst hieß es warten. Das hätte für mich als Flüchtling gefährlich werden können, falls man mich suchte. Da setzte Sirenengeheul ein - also: Fliegeralarm! Ich eilte zum nächsten Luftschutzbunker und saß dort im Dunkeln, wo niemand mich kannte. Außerhalb war sämtliches Licht gelöscht worden. Gegen Mitternacht hörte man einen Zug anrollen. Ich lief zügig, doch vorsichtig, ins Bahnhofs-Gebäude. Der Zug hielt. An der Sperre sagte jemand abwehrend: "Nur für Militär!" Ich machte kurzerhand kehrt, lief rasch ums Dienstgebäude herum und sprang an der Seite über den Absperrzaun. Da fuhr der Zug an! Ich erreichte ihn aber gerade noch und sprang aufs Trittbrett auf, öffnete die Tür und verkroch mich im finsteren Abteil. Meine Fahrt in die Freiheit begann. Ich wusste nicht, wie mir geschah. War es denn möglich? Ich war dem Chaos entronnen! Gottes Hand war über mir. Er wird mich auch weiterleiten. Ich konnte nur immer wieder in aller Stille meine Dankgebete zusammenstottern. In Eilenburg mussten alle den Zug verlassen. Vergeblich suchte ich nach der Kleinbahn in Richtung Wurzen. So schlug ich mich abenteuerlich bis Dahlen durch. Ich hatte ja nicht umsonst soldatisches Orientierungsvermögen gelernt. Meine Frau stammte aus Wurzen. Und von Dahlen aus mühte ich mich zu Fuß über den Ort Schmannewitz bis zum Dorf Kleinböhla. Ich wusste, die Frau meines jüngsten Bruders hatte dort bei einer Landwirtsfamilie T. als Flüchtling aus Stettin mit ihren zwei Kindern Zuflucht gesucht. Nun tauchte ich auch noch auf...

 
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Ich bin den Gastgebern noch heute überaus dankbar, trotz größten Risikos, mich als flüchtigen Todeskandidaten bei sich versteckt zu haben! Sie hätten dabei selber ihr Leben verwirken können. Denn die Denunzianten waren seinerzeit aufmerksam! Wo menschliche Hilfsbereitschaft echt gelebt wird, da kann das Vertrauen zueinander wieder wachsen. Noch eine wichtige Bemerkung als Ergänzung sei angefügt: Wie ich Monate später in Erfahrung bringen konnte, sollen von dem Gefangenentransport Torgau-Zeithain mit 3.200 Mann nur die geringe Anzahl von 250 Personen am Ziel angekommen sein. Wie viele meiner ehemaligen Kameraden werden geflohen, vor Entkräftung unterwegs zusammengebrochen, verendet oder erschossen worden sein? Der Zeitpunkt unseres Abmarsches aus Fort Zinna am 14./15. April 1945 war zugleich für das Reichskriegsgericht in Torgau der Zeitpunkt zur Verlegung in Richtung München. In den nächsten zwei Wochen hielt ich mich in meinem Versteck verborgen, griff aber auch gern bei praktischen Arbeiten zu, wo Hilfe gebraucht wurde.

Schmannewitz

Dahlen

Großböhla

Brachte der 28. April uns allen Unheil? Denn ein Kradfahrer der Wehrmacht fuhr mit einem schweren Motorrad auf den Hof. Bange Ahnungen befielen uns. Der fremde Soldat hatte Hunger. Er bat um Essen und um Übernachtung. Als er seine Oberbekleidung abgelegt hatte, fuhr uns der Schreck in die Glieder. Er gehörte zur gefürchteten Waffen-SS! Ob man mich hier schon suchte? Musste ich fliehen, ehe er mich ergriff? Aber ich setzte mich beim Essen bewusst neben ihn. Ich wollte möglichst unbefangen vor ihm erscheinen, was auch gelang Er war auf einer Dienstfahrt zum Wehrbezirkskommando nach Annaberg und wollte am nächsten Tag dorthin starten. Da setzte ich in großer Verwegenheit alles auf eine Karte: Ich bot mich als Mitfahrer an, um ihm den Weg zu weisen. Er stimmte zu, ohne zu wissen, worauf er sich einließ. Über Döbeln und Hainichen kamen wir voran. Wir wollten weiter nach Frankenberg und - plötzlich spielten die Bremsen verrückt. Wir schlingerten seitwärts und - im hohen Bogen flog ich vom Krad in den Straßengraben! Zerschrammt und verdreckt rappelten wir uns hoch. Mühsam krochen wir ohne sichtbaren Leibesschaden auf die Straße zurück. Es war noch einmal gut abgegangen! Erst viel später wurden bei mir daheim Schmerzen im Brustbereich als "angebrochene Rippen" diagnostiziert. Ich wusste dankbar darum, dass Gott seine Hand im Spiel gehabt hatte. Das Motorrad sprang an und weiter ging es. Am Stadtrand hielt uns eine Straßenkontrolle des Volkssturms an. Wir erhielten den Befehl, uns umgehend in der örtlichen Kaserne zur Neueinteilung zu melden. Es folgte eine Stadtrundfahrt unter meiner Anleitung. Ich wollte - es war fingiert - erst noch "meine guten Bekannten hier aufsuchen". In irgendeinem mir völlig unbekannten Haus klingelte ich fremde Bewohner heraus, die mir in meiner Übelkeit zu trinken gaben. Der Kradfahrer wartete auf er Straße. Nach kurzer Zeit rief ich ihm durch die Haustüre zu, er sollte allein zur Kaserne fahren, ich würde zu Fuß nachkommen, denn die "Bekannten" wären so nett zu mir. Und schon startete er mit seinem Krad, während ich ihm dankend nachwinkte. Ich hatte bisher nicht gewusst, dass "Engel" auch in solcher Dienstkleidung von Gott benutzt werden!

Ich schwor nun bei mir selber: Jetzt geht es nur noch zu Fuß und allein weiter. Ich wählte den Weg in Richtung Flöha bis zum gleichnamigen Fluss und weiter nach Chemnitz. Freilich war ich das anstrengende Laufen nicht mehr gewohnt nach so langer Haftzeit. Ich hatte mir mehrere Blasen gelaufen, wie ich merkte. Die schmerzten immer mehr. Ich schleppte mich mühsam vorwärts.

Und dann sah ich die Folgen der Bombenangriffe auf die Stadt Chemnitz. Aus den Ruinen der Innenstadtgebäude stiegen überall noch Rauch und Qualm auf. Durch massenhaft anzutreffende Trümmer bahnte ich mir auf schmalem Pfad meinen Weg. Ich war immer wieder aufs tiefste beim Anblick der mir bekannten Stadt im zerstörten Zustand erschüttert. Auf scheinbar endlosen Straßen erreichte ich über Neukirchen meinen Heimatort Jahnsdorf. Ich konnte kaum noch laufen; die Blasen hatten sich geöffnet und nässten.... es war schlimm. Die letzten vier Kilometer vor Jahnsdorf schleppte ich mich nur noch mit letzter Kraft voran. Auf der vom Vollmond hell erleuchteten Hauptstraße stieß ich auf die patrouillierende Ortswache des dortigen Volkssturmes. Die Männer blieben stehen und musterten mich durchdringenden Blickes. Plötzlich wich der eine von ihnen einen Schritt rückwärts und rief entsetzt: "Mensch! Der Pfarrer! - Sie sind doch tot!!" Sie sahen beinahe in mir ein wandelndes Gespenst. Dann griffen sie mir unter die Arme und geleiteten mich bis zur Gartenpforte des Pfarrgrundstückes.

Vom Hof aus rief ich meine Frau aus dem Schlaf. Sie war von meiner überraschenden Heimkehr über die Maßen überwältigt, dass sie die Tatsache kaum fassen konnte. Sie hatte das nicht zu hoffen gewagt und konnte ja damit gar nicht rechnen. Und dann war ich noch vor dem Kriegsende zurück! Was für eine gnadenvolle Stunde der Heimkehr war das...

Dieser Höhepunkt meines Lebens ist mit Worten eigentlich nicht zu beschreiben. Er vollzog sich am Montag. den 30. April 1945. Unendlicher Dank stand über allem. Wir dankten gemeinsam dem Allerhöchsten, dessen Vollmacht über aller Menschenmacht steht Zur Kennzeichnung der angespannten politischen Lage auch in der Heimat sei angemerkt, dass ein Nationalsozialist über mich gesagt haben soll, als er von meiner Heimkehr gehört hatte: "Und wenn unser Pastor dem Totengräber in Torgau noch von der Schaufel gesprungen ist, dann können wir ihn immer noch hier totschlagen..."

Von unserem älteren Sohn Dieter (geb.1925) war ein letzter Brief Anfang April 1945 von einem Hauptverbandsplatz bei Danzig mit der Verwundetenmeldung eingetroffen. Zugleich wurde ...


Anmerkungen

Geburtsjahr war 1893. Mit fünf Geschwistern bin ich einem sächsischen Pfarrhaus in Belgersheim bei Leipzig aufgewachsen. Nach dem Abitur in Wurzen begann auch ich in Erlangen Theologie zu studieren. Ende 1914 war ich bereits Soldat des Ersten Weltkrieges, bestand schwerste Kämpfe an der Front in Nordfrankreich, wurde als Leutnant giftgasversehrt und gelangte dann sowohl ins Baltikum gen Osten als auch nach Serbien. Bei allen Einsätzen lernte ich Offiziersverantwortung. Nach meiner Heimkehr studierte ich an der Universität in Leipzig zu Ende, und wurde aus innerer Überzeugung Pfarrer. Zuerst war ich in einer kleinen Erzgebirgsgemeinde Carlsfeld tätig und ab 1927 in Jahnsdorf unweit von Chemnitz. Mit ganzem Einsatz widmete ich mich meinem Beruf, hatte längst geheiratet und inzwischen zwei Söhne. 1937 wurde ich als Offizier in die Wehrmacht übernommen und war Ende August 1939 sofort zum Kriegsdienst einberufen worden. In Polen fand ich in einem Landesschützen-Bataillon meine Aufgaben im besetzten Gebiet. Bald zum Hauptmann befördert ging es über Tätigkeiten in Rumänien Ende 1941 nach Russland ans Schwarze Meer


Lebensdaten von Otto Baltzer

Geboren 1893, Abitur in Wurzen, Ende 1914 Soldat, nach dem Krieg Uni Leipzig, Pfarrer in Carlsfeld im Erzgebirge, ab 1927 in Jahnsdorf bei Chemnitz, ab 1939 im Kriegsdienst in Polen, Rumänien und Russland, zuletzt als Hauptmann.

03.11.1944:
Verhaftung und Überstellung ins Militärgefängnis Lehrter Straße in Berlin-Moabit.

28.11.1944
Zweite Hauptverhandlung, da Schuldspruch bestätigt, aber Strafausspruch aufgehoben worden waren. Es wurde das Todesurteil verhängt .

05.02.1945
Mit ca. 1.000 Gefangenen nach dem Fort Zinna/Torqau verlegt worden.

06.02.1945
Im Schnellverfahren nochmalige Verurteilung zum Tod durch Erschießen

14.04.1945
Sonderkommando verfügt Frontbewährung, mit 3.200 Gefangenen Abtransport Richtung Zeithain, dabei unbemerkte nächtliche Flucht aus der Kolonne in Bahnhofsnähe Torgau.

30.04.1945
Heimkehr nach Jahnsdorf unter abenteuerlichen Umständen

21.03.1971
als Ruheständler in Jahnsdorf verstorben und dort bestattet.


Zur Militär-Gerichtsbarkeit

Auszüge aus dem Buch von Norbert Haase / Brigitte Oleschinski "Das Torgau-Tabu", Forumverlag Leipzig 2. Aufl. 1998

über das Wehrmachtsstrafsystem Seite 46: Die Weimarer Reichsverfassung hatte die Militärgerichtbarkeit 1919 außen Kraft gesetzt. Die Nationalsozialisten führten sie im Mai 1933 - als eine ihrer ersten gesetzgeberischen Maßnahmen - wieder ein. Die Nazi-Juristen waren voll des Lobes über dieses "Geschenk des Führers".

1936 wurde das Reichskriegsgericht in Berlin ins Leben gerufen. Im Zuge der Kriegsvorbereitungen auf den 2. Weltkrieg wurden die Kriegsgesetze, insbesondere das militärische Strafrecht, erheblich verschärft, Tatbestandsmerkmale ausgeweitet, die Strafandrohung oftmals mit der Todesstrafe verbunden. Während das Militärstrafgesetzbuch in der alten Form von 1872 weitgehend in Kraft blieb, hatten die Militärjuristen 1938 das Verfahrensrecht durch die Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) allen möglichen "Kriegsnotwendigkeiten" angepasst und zugleich das militärische Strafrecht durch die sogenannte Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) mit einer scharfen justiziellen Waffe ausgestattet. Durch diese VO gerieten jegliche Rechtsmittel im Militärstrafverfahren in Wegfall! (Kein Gnadengesuch und keine Berufungsmöglichkeit).

Die Wehrmacht vollzog damit die Politisierung des Strafrechts im NS-Staat für den wehrrechtlichen Bereich nach, ins -besondere durch den § 5 KSSVO, den "Wehrkraftzersetzungsparagraphen", der gleichsam jede Form der Opposition gegen Krieg und Kriegsführung mit der Androhung der Todesstrafe sanktionierte.

Das Reichskriegsgericht (RKG) hatte innerhalb der Wehrmachtgerichtsbarkeit eine staatspolitisch und militärisch herausragende Rolle. An der Spitze stand beim RKG der Präsident, der zugleich Gerichtsherr war, demnach das Recht der Bestätigung und Aufhebung von Urteilen ausübte, sofern Hitler dies - wie bei Todesurteilen gegen Offiziere sich nicht selbst vorbehielt. Vom September 1939 bis November 1944 war Admiral Max Bastian Präsident des RKG. Ihm folgte General der Infanterie Hans-Karl von Scheele. Zwischen dem 26. August 1939 und dem 7. Februar 1945 verhängte das RKG 1.189 Todesurteile, von denen 1.049 vollstreckt wurden. Der größte Anteil war bei Landesverrat (313), der Spionage (340) und der Zersetzung der Wehrkraft (251) zu verzeichnen.

Seite 50: Augenscheinlich musste das RKG aus Platzgründen und um der Schnelligkeit willen Verhandlungen auch im großen Kreuzbau des Wehrmachtsgefängnisses Fort Zinna vornehmen, wo die Untersuchungshäftlinge des RKG innerhalb der 7. Kompanie untergebracht waren. Normalerweise wurden die RKG-Prozesse in der Zieten-Kaserne durchgeführt, wohin die örtlichen Polizeikräfte die Angeklagten zu überführen hatten.

Seit dem 3. August 1944 hatte der Reichsführer der SS Himmler sich als Oberbefehlshaber des Ersatzheeres eingesetzt als zuständig für Urteilsanerkennung oder -verwerfung (nach dem Attentat auf Hitler!). Das hatte schärfere Maßnahmen zur Folge, weil man sich bereits in der letzten Phase des Krieges befand. (Seite 51)

Das RKG wurde eine der zentralen justiziellen Verfolgungsinstanzen nationalsozialistischer Prägung. Seine Richter und Offiziere hielten dem "Dritten Reich" bis zuletzt die Treue. Sie sorgten auf ihre Weise für die Verlängerung der NS-Herrschaft in Deutschland und Europa. Da gibt es nichts zu beschönigen, obwohl das immer wieder versucht worden ist. Die Tätigkeit des RKB endete in Torgau mit den] 14./15. April 1945. Die Absatzbewegung in in Richtung Süden (wohl Freising setzte ein.

Seite 56/57: Der § 5 der KSSVO lautet wörtlich:

(1) Wegen Zersetzung der Wehrkraft wird mit dem Tode bestraft

  1.  wer öffentlich dazu auffordert oder anreizt, die Erfüllung der Dienstpflicht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder sonst öffentlich den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen sucht.

  2. wer es unternimmt, einen Soldaten oder Wehrpflichtigen des Beurlaubtenstandes zum Ungehorsam, zur Widersetzung oder zur Tätlichkeit gegen einen Vorgesetzten oder zur Fahnenflucht oder unerlaubten Entfernung zu verleiten oder sonst die Manneszucht in der deutschen oder verbündeten Wehrmacht zu untergraben.

  3. wer es unternimmt, sich oder einen anderen durch Selbstverstümmelung, durch ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf andere Weise der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen.

(2) In minder schweren Fällen kann auf Zuchthaus oder Gefängnis erkannt werden.

    3.   Neben der Todes- oder der Zuchthausstrafe ist die Einziehung des Vermögens zulässig.

Seite 57 Mitte: In seiner Entscheidungspraxis in Bezug auf den sogenannten "Öffentlichkeitsbegriff" bei der Anwendung des § 5 Absatz 1 Ziffer 1 KSSVO hatte das Reichskriegsgericht erheblichen Einfluss auf die Spruchpraxis der anderen Kriegsge -richte und auch der zivilen Justiz, öffentliche Äußerungen "defaitistischer" oder kritischer Art konnten schon mit dem Tode bedroht werden. Um ein "tatkräftiges" Durchgreifen des Staates gegen wehrkraftzersetzende Äußerungen innerhalb der Bevölkerung auch auf den privaten Alltag ausdehnen zu können, wurde der Begriff "Öffentlichkeit" unter völliger Verkennung seines Inhalts auf jegliche geschlossene Gemeinschaft, Familie und Ehepaar usw. angewendet.

Seite 60: Namhafte Vertreter dieser Wehrmachtsjustiz waren nach 1945 sehr erfolgreich darum bemüht, nachträglich von der NS-Militärjustiz das Bild einer rechtsstaatlichen Bastion im Unrechtsstaat zu zeichnen. Dies sollte der Rechtfertigung dienen, "dass nach dem Kriege eine verhältnismäßig große Zahl von ehemaligen Wehrmachtsrichtern wieder in angesehene und verantwortliche Stellen gelangt sind, nicht nur innerhalb der Justiz. 

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