An einem Frühlingsabend des Jahre 1880 waren alle Stockholmer
auf den Beinen. Sie wollten einen Landsmann empfangen, der eines der großen
Probleme der Entdeckungsgeschichte gelöst hatte: die Bezwingung der
Nordostpassage, des Seeweges vom europäischen Eismeer entlang der Nordküste
Asiens zum Stillen Ozean. Erik von Nordenskiöld war der Mann, der mit seinem
Dreimaster "Vega" diese Tat vollbracht hatte. Unter den mehr als hunderttausend
Menschen, die den mit einem Schlag in aller Welt berühmt gewordenen Schweden
begrüßen wollten, war auch ein Junge von fünfzehn Jahren, der mit heißem Herzen
alle Bilder dieses Abends in sich aufnahm. Sein Name war Sven Hedin.
Zehn Uhr abends erdröhnen von den Batterien auf dem
Kastelholm die ersten Kanonenschüsse. Bündel von Raketen steigen in die Luft.
Bald lässt ein strahlendes Feuerwerk die Festbeleuchtung der Häuserfronten
erblassen. Brausend pflanzt sich ein Chor von Jubelrufen am Ufer fort, und dann
erscheint das Märchenschiff, die "Vega". Langsam und feierlich gleitet es
Stockholms Ström hinauf und wirft vor dem Königsschloss Anker. Hier endet die
Fahrt des kühnen Forschungsreisenden, der als erster Mensch ganz Asien und
Europa umfahren hatte.
Für den jungen Sven Hedin wird dieser Tag zum entscheidenden Wendepunkt: "Von
wunderbaren Gedanken erfüllt legte ich mich nieder. Ich hatte ein unerhört
Großes erlebt und eine Erfahrung gesammelt, die mein ganzes Leben bestimmen
sollte. Wenn Nordenskiöld nur durch das Vordringen in unbekannte Teile der
Erdoberfläche sich weltumspannenden Ruhm erworben hatte, so stand auch mir die
gleiche Bahn offen." Seit diesem Tag hat er sein Lebensziel klar vor Augen: er
beschließt, Polarforscher zu werden.
Sven Hedin wurde am 19. Februar 1865 in Stockholm geboren, wo
sein Vater Stadtarchitekt war. Sein Elternhaus, in dem schlichte Frömmigkeit,
Gastlichkeit und der Sinn für Gelehrsamkeit herrschten, blieb ihm bis ins Alter
der Inbegriff von Heimat und Geborgensein. In der Schule wollte es anfangs nicht
recht gehen. Aber nach einigen Jahren packte ihn der Ehrgeiz. Vor allem reizte
ihn das Kartenzeichnen. Allein aus seiner Schulzeit sind sieben dicke Bände mit
selbstgezeichneten Karten erhalten.
Als er zwanzig Jahre alt war und kurz vorm Abitur stand,
fragte ihn der Rektor seines Gymnasiums, ob er Lust hätte, auf kurze Zeit nach
Baku am Kaspischen Meer zu gehen. Er sollte dort einen Knaben unterrichten,
dessen Vater Ingenieur auf den Naphthafeldem der Brüder Nobel war. Ohne Zögern
sagte Hedin zu. Gewiss war das nicht gerade der kürzeste Weg, um Polarforscher
zu werden. Aber instinktiv fühlte er, dass sich ihm hier die große Chance bot,
um irgendwie die Träume seiner Jugendjahre zu verwirklichen.
Der Abschied von der Heimat, von Eltern und Geschwistern fiel
ihm bitterschwer, diesmal wie auch bei jeder späteren Reise. Aber schon am
ersten Tage siegte sein fröhlicher Optimismus und die Neugier auf die funkelnde
Ferne. Mit seinem Schüler und dessen Mutter fuhr er über Petersburg und Moskau
der Grenze Asiens entgegen. Durch die Nadelwälder und die Steppen Russlands
saust der Zug. Ohne zu ermüden nimmt er all die neuen, fremdartigen Bilder in
sich auf: Kleine weiße Kirchen mit grünen Zwiebeltürmen, freundliche Dörfer,
Bauern in roten Kitteln und hohen Stiefeln bei der Feldarbeit, endlose
Landstraßen, auf denen die Troika dahinjagt.
Hedins Tätigkeit als Hauslehrer war von vornherein auf ein
halbes Jahr befristet. Sie ließ ihm hinreichend Zeit, um sich mit Land und
Leuten seiner neuen Umgebung bekannt zu machen. Die langen Winterabende benutzte
er, um Russisch, Tatarisch und Persisch zu lernen. Schon nach wenigen Monaten
konnte er alle drei Sprachen ziemlich fließend sprechen. Er war entschlossen,
keineswegs sogleich wieder nach Hause zurückzukehren. Jetzt lockte ihn die
märchenhafte Romantik des Orients. Eine Reise quer durch Persien sollte ihm
einen ersten Eindruck davon verschaffen. Doch die Frage der Finanzierung
bereitete ihm noch erhebliches Kopfzerbrechen. Eines Tages erschien Ludwig Nobel
plötzlich in Baku, um die Betriebsanlagen zu inspizieren. Zur allgemeinen
Überraschung nahm er auf die Fahrt über die Ölfelder den jungen Sven Hedin mit,
der sich ihm vor seiner Abreise von Stockholm schon flüchtig bekannt gemacht
hatte. Hedin ist beglückt über diese Ehre, und sogleich durchzuckt ihn der
Gedanke, hier könnte er einen Mäzen finden. Dem schwerreichen Manne müsste es
doch ein leichtes sein, ihm die Reise durch Persien zu ermöglichen. Mit
Begeisterung berichtet er ihm darum von seinen Plänen. Aber der schweigsame alte
Herr blieb kühl und verschlossen.
Diese Ablehnung hat Hedin tief getroffen. In dem Entschluss,
die Reise allen Schwierigkeiten zum Trotz doch zu wagen, konnte sie ihn nur
bestärken. "Als ich mich an jenem Abend zu Bett gelegt hatte", schrieb er
später, "dachte ich lange über die Ereignisse dieses Tages nach und gelobte mir
mit beinahe aufrührerischer Entschlossenheit: ich werde ihm zeigen, dass ich
Persien ohne Geld bezwingen kann. Ich habe einen mächtigen Helfer, und die
ewigen Sterne werden über meinen Wegen leuchten."
Zu Pferd durch Persien
So musste er sich mit einer sehr bescheidenen Reisekasse auf
den Weg machen. In Baku hatte er 180 Rubel gespart. Sein Vater, der anfangs mit
den persischen Reiseplänen gar nicht einverstanden war, schickte ihm noch einmal
die gleiche Summe. Das Geld wechselte Hedin sogleich in persische Silbermünzen
um und ließ es in einen Ledergürtel einnähen, den er stets um den Leib trug.
Seine Kleidung bestand aus einem einzigen Anzug und einem Wintermantel. "Zum
Schutz gegen die Wärme habe ich einen großen Korkhut, zum Schutz gegen Krankheit
eine kleine Apotheke, gegen körperliche Feinde einen scharf geladenen Revolver,
gegen geistige - die Bibel. Ich bin so ruhig, als gelte es eine Reise nach dem
Tiergarten."
Zum Reisebegleiter wählte er seinen jungen tatarischen
Sprachlehrer Baki Chanow. Ein Dampfer mit mächtigen Schaufelrädern brachte beide
von Baku zu der persischen Hafenstadt Rescht. Beim überschreiten des
Elburs-Gebirges hatten sie die ersten Strapazen zu überstehen. Ein wütender
Schneesturm hüllte das ganze Land ein. Die Kälte, auf die sie mit ihrer Kleidung
nicht vorbereitet waren, drang den beiden einsamen Reitern durch Mark und Bein.
Endlich war der letzte Kamm überschritten, und vor ihnen lag im Sonnenglanz der
Steppe die Stadt Kaswin, von der einst der Prophet Mohammed gesagt hatte: "Ehrt Kaswin, denn diese Stadt liegt auf der Schwelle einer der Pforten des
Paradieses."
Der Weg zu den paradiesischen Gefilden Persiens, von denen
Hedin träumte, war jedoch noch weit. Erst nach einem anstrengenden Ritt von
sieben Tagen trafen sie in Teheran ein. Hier hatte Hedin Empfehlungen an den
Schweden Dr. Hybennet, den Zahnarzt des Schah, der sich ein Vergnügen daraus
machte, den jungen Landsmann mit großartiger Gastfreiheit aufzunehmen und ihm
alle Sehenswürdigkeiten der persischen Hauptstadt zu zeigen.
Der Sommer stand unmittelbar bevor; so beschloss er, die
Reise nach Süden nicht länger aufzuschieben. Sein Begleiter war in Teheran an
einem heftigen Fieber erkrankt. Hedin bedauert, ihn zurücklassen zu müssen; aber
schon nach wenigen Tagen meint er, es sei doch eigentlich ein Vorteil, allein zu
reisen. Ende April verließ er die Stadt, von jugendlicher Abenteuerlust
berauscht: "Unendliche Weiten eines unbekannten Landes breiteten sich vor mir
aus, als ich mit meinem ersten Stallknecht zum südlichen Stadttor von Teheran
hinausritt. Ich fühlte mich glücklich über die asiatische Freiheit, die mich mit
offenen Armen aufnahm. Reiter, Karawanen, wandernde Derwische, alle Lebewesen,
die wir sahen, waren meine Freunde."
Die Reise führte ihn zu den denkwürdigen Stätten der
persischen Geschichte aus drei Jahrtausenden. In Isfahan bewundert er die
prächtige Fassade der Königsmoschee mit ihren kostbaren Fayencen. In Schiras,
seit alter Zeit berühmt durch seine Rosen, die Schönheit seiner Frauen und die
Güte seines Weines, gedenkt er des großen persischen Dichters Hafis, der einst
hier gelebt hat. - Die Ruinen von Persepolis sind das eindrucksvollste Denkmal
des Altertums, das in Persien erhalten geblieben ist. Sie liegen in einer
Gegend, die heute fast völlige Wüste ist. Eine Doppeltreppe, auf der zehn Reiter
nebeneinander die niedrigen Marmorstufen hinaufreiten konnten, führt zu einer
riesigen Plattform; hier stehen noch heute die Grundmauern und dreizehn der
sechsunddreißig Säulen, die einst die Dachbalken des Palastes von Xerxes trugen.
Sinnend steht der junge Hedin vor den Ruinen dieses Königsschlosses, das im
Jahre 331 v. Chr. in Trümmer fiel, als Alexander der Große nach einem tollen
Trinkgelage den Palast und die ganze Stadt in Flammen aufgehen ließ.
Nachdem er in vier Wochen 1.600 Kilometer zurückgelegt hatte,
erreichte er bei Buschehr die Küste. Noch im Alter schildert er diese Stadt als
den schrecklichsten Ort, der ihm je in Asien vorgekommen sei. über die Hitze am
Persischen Golf stöhnt er ebenso wie sechshundert Jahre früher Marco Polo. -
Sein nächstes Ziel ist Bagdad. Um Geld zu sparen nimmt er nur einen Deckplatz
auf dem englischen Dampfer, der ihn nach Basra bringt. Die Pracht und der
Reichtum der alten Kalifenstadt, von denen uns die Märchen aus Tausendundeiner
Nacht berichten, sind heute verschwunden. Fast alles fiel den mehrfachen
Mongolenstürmen zum Opfer. Trotzdem ist Bagdad auch heute noch eine interessante
Stadt mit engen, malerischen Straßen, in denen man alle Völkerschaften des
vorderen Orients trifft. In den Basaren bestaunte Hedin persische Teppiche,
seidene Gürtel, Brokate und andere Kostbarkeiten. Er hätte sich gern ein
Andenken an Bagdad gekauft, aber ein Blick auf seine Kasse sagte ihm, dass er
kaum noch, die Rückreise bis Teheran bestreiten konnte.
Er hat Gelegenheit, sich für diese Reise einer Karawane von
Kaufleuten und heimkehrenden Mekkapilgern anzuschließen. Doch bald geht ihm das
zu langsam; auch reist die Karawane nur nachts, so dass er von der Landschaft
nichts zu sehen bekommt. Er mietet darum ein arabisches Vollblutpferd, dessen
Besitzer, ein alter Araber, ihn begleitet. Das ist teuer, aber viel reizvoller.
Als Hedin in der westpersischen Stadt Kir-manschah den Araber abgelohnt hatte,
blieb ihm gerade noch Geld genug für ein bescheidenes Abendessen. Hier gab es
keinen Europäer, an den er sich wenden konnte. Selbst mitten in der Wüste hatte
er sich nicht so einsam gefühlt wie jetzt. "Ich setzte mich auf eine zerfallene
Lehmmauer, um zu überlegen, und betrachtete die Menschen, die vorübergingen. Sie
sahen mich an, als sei ich ein wildes Tier, und scharten sich in lebhaften
Gruppen um mich. Was in aller Welt sollte ich anfangen? Es waren nur noch einige
Stunden bis zur Dämmerung, und wo sollte ich die Nacht zubringen, um den
Schakalen zu entgehen?"
Da erinnerte er sich, dass man ihm in Bagdad von einem
reichen arabischen Kaufmann Aga Hassan erzählt hatte, der hier in Kirmanschah
lebte. Seine Karawanen durchzogen ganz Westasien von Herat bis Jerusalem und von
Samarkand bis Mekka. Das war der Mann, der ihm helfen konnte! - Hedin ließ sich
bei ihm melden. Als der Araber hörte, dass sein Besucher aus Schweden, dem Lande
König Karls XII. kam, der als "Eisenkopf" noch immer im Türkischen Reich gerühmt
wurde, bot er Hedin mit orientalischer Höflichkeit seine Gastfreundschaft an:
"Sie müssen mir versprechen, sechs Monate lang mein Gast zu sein. Was ich
besitze, gehört Ihnen, Sie haben nur zu befehlen."
Er blieb nicht sechs Monate, sondern wenige Tage, aber diese
Zeit war wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. "In einem großen Saal mit
persischen Teppichen und schwarzseidenen Diwans ließ ich mich häuslich nieder.
Zwei Sekretäre bildeten meinen Hofstaat, und Diener waren bei jedem Wunsch zur
Hand! Hatte ich Appetit, so brachte man mir auserlesene Stücke am Spieß
gebratenen Schaffleisches, Hähnchen mit Reis, saure Milch, Käse und Brot,
Aprikosen, Weintrauben und Melonen, und hinterdrein gab es Kaffee und eine
Wasserpfeife. Wollte ich trinken, so wurde mir ein süßes Getränk aus Dattelsaft
mit Eis serviert. Und wollte ich ausreiten, um mir Stadt und Umgegend zu
besehen, so warteten meiner auf dem Hof arabische Vollblutpferde!"
Es war wahrhaftig ein Reisemärchen, aber schließlich musste Hedin doch Aga
Hassan seine Lage offenbaren und ihn um Hilfe angehen. Zunächst vertraute er
sich einem der Sekretäre an. Der fand es zwar seltsam, dass ein Europäer ohne
Geld auf eine so weite Reise geht, gab ihm aber sogleich die tröstliche
Versicherung: "Geld können Sie von Aga Hassan so viel bekommen wie Sie wollen."
- Der Sekretär hatte nicht zuviel versprochen. Der alte Araber war in jeder
Weise um seinen Gast bemüht. Er warnte ihn vor den Räubern auf den
Gebirgsstraßen und sorgte dafür, dass Hedin sich dem Postreiter anschließen
durfte, der stets von drei Soldaten begleitet wurde. Beim Abschied ließ er ihm
diskret durch den Sekretär einen mit Silbermünzen gefüllten Lederbeutel
überreichen.
Die Entfernung bis Teheran betrug fünfhundert Kilometer.
Schon die erste Etappe war eine harte Probe. In sechzehn Stunden legten sie mehr
als hundertsechzig Kilometer zurück. Es ging vorüber an dem schneebedeckten
Gipfel des Elwend und an den Ruinen von Ekbatana. Als die Reiter schließlich
nach fünf Tagen in Teheran einritten, hatten sie in den letzten fünfundfünfzig
Stunden keinen Augenblick geschlafen. Um vier Uhr morgens klopfte Hedin an die
Tür seines Landsmannes Dr. Hybennet. Der war hocherfreut, seinen jungen Freund
zwar sehr abgemagert, aber sonst wohlbehalten wieder zu sehen.
Nun musste Hedin ernstlich an die Heimkehr denken. Auf allen
seinen späteren Unternehmungen betrachtet er es gleichsam als Ehrensache, für
die Rückreise niemals den gleichen Weg zu wählen wie auf der Ausfahrt, selbst
wenn das bequemer und billiger war. Schon jetzt folgt er diesem Grundsatz und
benutzt die Gelegenheit, auf dem Heimweg Konstantinopel, den Balkan und Wien
wenigstens flüchtig kennen zu lernen. Im September 1886 traf er wieder in
Stockholm ein, von Eltern und Geschwistern wie ein Triumphator empfangen.
Hedins erste asiatische Reise war alles andere als eine
wissenschaftliche Forschungsreise. Wie ein Landstreicher - ewig in Geldnöten,
was ihn aber wenig bekümmerte, - war er mit nur tausend Mark drei Monate lang
durch Persien und Mesopotamien gezogen. Aber er hat dabei ungeheuer viel
gelernt, Er hat sehen gelernt und in seinen Briefen und Tagebüchern ein
erstaunliches Talent entwickelt, all das Gesehene in lebendigen Bildern
wiederzugeben. Er weiß jetzt, wie man in Asien reist. Er hat bewiesen, dass er
mit den Angehörigen der verschiedensten Völkerschaften vortrefflich umzugehen
versteht. Der Zauber des Orients hat ihn unrettbar gepackt. Er fühlt es jetzt
mit schicksalhafter Gewissheit: Nicht in der Arktis wird er um Entdeckerruhm
kämpfen, sondern in Asien, nur in Asien!
Zunächst widmete er sich in Stockholm dem Studium der
Geologie. Nebenbei genügte er seiner Militärpflicht, was nur wenig mehr als
einen Monat in Anspruch nahm, und vor allem schrieb er ein Buch über seine
Persienreise. Zu seinem grenzenlosen Erstaunen bot ihm ein schwedischer Verleger
dafür dreitausend Kronen, weit mehr, als die ganze Reise gekostet hatte. - Im
Herbst 1889 ging er nach Berlin und ließ sich an der Universität
immatrikulieren. Hier lehrte der berühmte Geograph Freiherr von Richthofen, der
selbst jahrelang als Forschungsreisender in Asien gelebt hatte. Noch im Alter
bekennt Hedin, er habe zwar viele bedeutende Persönlichkeiten in seinem Leben
kennen gelernt: "aber keine machte auf mich einen tieferen, gewaltigeren und
nachhaltigeren Eindruck als Ferdinand von Richthofen, und in keines anderen
Menschen Nähe habe ich mich kleiner und unbedeutender gefühlt."
Richthofen fand Gefallen an dem jungen Studenten, der ihm von
Nordenskiöld empfohlen worden war und der so begeistert von seinen persischen
Reiseerlebnissen zu berichten wusste. Er legte ihm nahe, sich die Erforschung
Zentralasiens zum Lebensziel zu setzen, und sagte ihm eine große Zukunft voraus,
verlangte aber zunächst eine gründliche wissenschaftliche Vorbildung.
Doch schon nach wenigen Monaten bot sich für Hedin die
Gelegenheit zu einer neuen Reise nach Asien. Das war eine Versuchung, der er
nicht widerstehen konnte.
Gesandtschaftsreise zum Pfauenthron
Der König von Schweden hatte beschlossen, im Frühjahr 1890
eine außerordentliche Gesandtschaft zum Schah von Persien zu schicken. Hedin war
dazu ausersehen, sie als Dolmetscher und Landeskundiger zu begleiten. Er wurde
von König Oskar in Audienz empfangen und gewann in ihm einen
väterlich-freundlichen Gönner bis an dessen Lebensende. Für die Dauer dieser
Gesandtschaftsreise wurde Hedin zum Vizekonsul ernannt und bekam eine Art
Diplomatenuniform, um auf die Perser gehörigen Eindruck machen zu können.
Die Mitglieder der Gesandtschaft, die der Oberhofjägermeister Treschow leitete,
fuhren über Berlin und Wien nach Konstantinopel. Hier empfing sie Sultan Abdul
Hamid, der ihnen den Medschidije-Orden in verschiedenen Klassen verlieh. Für
Hedin war es der erste Orden seines Lebens, über den er sich knabenhaft freute.
- Als sie schließlich in Teheran ankamen, erwartete sie ein Empfang mit allem
orientalischen Prunk. Kavallerie in großer Paradeuniform kam ihnen zur Begrüßung
entgegen, Infanterieregimenter bildeten Spalier. Mehrere Militärkapellen
spielten die schwedische Nationalhymne; die ganze Bevölkerung von Teheran
strömte herbei, um das prachtvolle Schauspiel zu sehen.
Bald wurden sie vom Herrscher in Audienz empfangen. "An der
Stirnseite des Saales, zwischen dem einzigen bis zum Erdboden reichenden Fenster
und dem Pfauenthron, stand Schah Nasreddin. Der eigenartige Thron, der einem
großen Stuhl mit Rückenlehne und verlängertem Sitz und Stufen gleicht, war mit
dicken Goldplatten belegt und mit Edelsteinen besetzt. Er gehörte einst dem
Großmogul in Delhi; vor bald zweihundert Jahren hatte ihn Nadir Schah auf seinem
indischen Feldzug erobert. - Nasreddin Schah war schwarz gekleidet und trug auf
der Brust achtundvierzig riesige Diamanten und auf jedem Schulterstück drei
große Smaragde. An der schwarzen Mütze hatte er eine Diamantenagraffe und an der
Seite einen krummen Säbel, dessen Scheide mit Juwelen übersät war. Er
betrachtete uns unverwandt; seine Haltung war königlich, er stand da wie ein
echt asiatischer Despot, seiner Erhabenheit und Macht bewusst."
Nachdem sie ihren Auftrag erfüllt und durch Empfänge, Paraden
und Gastmähler gebührend gefeiert worden waren, bereiteten sich die Mitglieder
der Gesandtschaft auf die Rückreise vor. Nur einer zögerte: Hedin. Sollte er
sich mit all diesen Festen zufrieden geben, bei denen er doch nur die Rolle eines
Statisten spielte? Musste er nicht vielmehr diese Gelegenheit benutzen, um
tiefer in das Herz des Erdteils einzudringen, dem er sein Leben weihen wollte?
Zu eigener wissenschaftlicher Arbeit fühlte er sich noch immer nicht hinreichend
gerüstet. Aber als Vorbereitung für ein späteres Forschungsunternehmen konnte
ein solcher Vorstoß wohl dienen. Er bat darum telegraphisch König Oskar um die
Erlaubnis, sich von der Gesandtschaft trennen zu dürfen und auf eigene Faust die
Reise nach Osten fortzusetzen. Der König stimmte zu und erklärte sich sogar
bereit, die Kosten zu tragen.
Im September verließ Hedin Teheran auf der berühmten
Karawanenstraße nach Chorassan. "Schon Xerxes und Darius hatten auf dieser
Straße eine Postverbindung eingerichtet, und zu Tamerlans Zeiten waren die
Haltestellen, an denen die Kuriere des Großkönigs ihre Pferde wechselten,
ungefähr dieselben wie jetzt. Hier ist klassischer Boden der Geschichte. Hier
holte Alexander der Große den fliehenden Darius Kodomannus ein, hier zog
Harun-al-Raschid einher, hier verheerten, plünderten und mordeten die wilden
Horden der Mongolen, hier hallte die Wildnis wider vom Waffengeklirr Nadir
Schahs."
Hedin reist mit drei Pferden und einem Stallknecht, der
ebenso wie die Tiere an jeder Station gewechselt wird. In Mesched besucht er das
Grab Harun-al-Raschids und bewundert die herrliche Moschee mit blauer Kuppel,
die Tamerlans Lieblingsfrau hier bauen ließ. - An Tamerlan selbst, den
gewalttätigen tatarischen Welteroberer, erinnert in Samarkand ein nach seinen
eigenen Plänen errichtetes Grabmal, das Hedin als eines der schönsten Mausoleen
der Welt bezeichnet. An einer Wand der Grabhalle sind in arabischer Schrift die
Worte zu lesen: "Wenn ich noch lebte, würden die Menschen beben."
Feierlich ist ihm zumute, als er Anfang Dezember die Grenze
Ostturkestans überschreitet und damit zum ersten Male die gelbe Erde Chinas
betritt. In Kaschgar knüpfte er viele persönliche Beziehungen an, die ihm später
von Nutzen werden sollten. Am Weihnachtsabend trat er die Rückreise an. In der
öden Steppe am Fuße der schneebedeckten Bergriesen des Tien-Schan besuchte er
noch das Grab des großen russischen Reisenden Prschewalskij; dann ging es in
eiliger Fahrt über Buchara und die Wüste Karakum ans Kaspische Meer. Nach
einjähriger Abwesenheit traf er im März wieder in Stockholm ein.
Auch diese Reise brachte noch keine umfangreichen
wissenschaftlichen Ergebnisse. Aber sie gab ihm die Gewissheit, dass er jetzt
das wahrhaft lohnende Ziel für seine Lebensarbeit gefunden hatte. "Als ich im
Frühjahr 1891 nach Stockholm zurückkehrte, fühlte ich mich wie ein Eroberer
unermesslicher Gebiete. Kaukasien, Mesopotamien, Persien, Russisch-Turkestan und
Buchara hatte ich durchquert und war bis Chinesisch-Turkestan vorgedrungen. Ich
traute mir daher zu, nun eine große Schlacht schlagen und ganz Asien erobern zu
können, vom Westen bis zum Osten. Meine asiatischen Lehrjahre lagen jetzt hinter
mir; große und ernsthafte geographische Aufgaben erwarteten mich. Ich brannte
vor Sehnsucht, wieder hinauszukommen zu wilden Abenteuern. Schritt für Schritt
hatte ich mich immer weiter zum Herzen des größten Erdteils vorgearbeitet. Jetzt
kamen für mich nur noch Pfade in Betracht, die noch nie ein Europäer betreten
hatte."
Es kam ihm nun nur noch darauf an, sein Studium wenigstens
formal so schnell wie möglich abzuschließen. Im Frühjahr 1892 fuhr er nach
Berlin und besuchte wieder einige Wochen lang die Vorlesungen von Richthofen.
Aber schon im Juni ging er nach Halle, um an der dortigen Universität bei dem
Geographen Kirchhoff sein Doktorexamen zu machen. Offenbar waren dort die
Zulassungsbedingungen besonders günstig, denn schon sechs Wochen später kann er
jubelnd nach Hause berichten, dass er das Examen bestanden hat. Seine
Doktorarbeit trug den Titel "Der Demawend nach eigener Beobachtung."
Die zweite Reise hatte Hedin bis tief nach Innerasien
hineingeführt, aber doch nur bis an die Schwelle jener Gebiete, die bisher von
der geographischen Forschung wenig oder noch gar nicht berührt waren:
Ostturkestan mit dem Tarimbecken und der Takla-makan, die Wüste Gobi und Tibet.
Hier waren noch Gebiete vom mehrfachen Umfang europäischer Großstaaten, die auf
der Landkarte nur als weiße Flecke verzeichnet waren. Es war sein Ehrgeiz, auf
der neuen Reise, die er jetzt mit aller Energie vorbereitete, tief in diese
"Terra incognita" Innerasiens vorzustoßen.
Schwierig war auch diesmal wieder die Finanzierung. Hedin
hatte die Kosten auf zwanzigtausend Kronen veranschlagt. Erfahrene Freunde
suchten ihn zu überzeugen, dass dies viel zu wenig sei. Sie bemühten sich, in
ihrem Bekanntenkreise Gönner zu finden, die je einige hundert oder tausend
Kronen beisteuerten. Wesentlich war schließlich die Bereitschaft des Königs und
der Familie Nobel, die neue Reise großzügig zu unterstützen.
Die Todeskarawane
Es war Mitternacht, als der Dampfer "Von Döbeln" am 16.
Oktober 1893 mit Hedin an Bord sich vom Kai von Skeppsbron löste. Um keinen
Abschiedsschmerz aufkommen zu lassen, rief er Eltern und Geschwistern fröhlich
zu: "Ich komme bald wieder!" Aber seine Mutter wusste es besser. "Bald, nach
seiner Zeit!" flüsterte sie. Tatsächlich dauerte die Reise mehr als dreieinhalb
Jahre.
Um wieder einen neuen Weg nach Zentralasien
kennen zu lernen,
fuhr Hedin diesmal mit der Eisenbahn zum Südende des Ural nach Orenburg. Von
Taschkent aus geht er dann sein erstes Ziel an, das Hochplateau des Pamir.
Mehrmals versucht er, dessen gewaltigsten Gipfel, den 7.900 Meter hohen
Mustag-ata, den "Vater der Eisberge", zu bezwingen. Auch der dritte und letzte
Ansturm führte nicht zum Erfolg. In 6.300 Meter Höhe stellt Hedin bei sich wie
bei seinen kirgisischen Begleitern alle Symptome der Bergkrankheit fest:
schnellen Puls, Taubheit, geringe Körperwärme und Schlaflosigkeit. Auch die Yaks,
die das Gepäck tragen sollten, waren in dem tiefen Schnee nicht mehr vorwärts zu
bringen.
So musste Hedin sich schweren Herzens zur Umkehr
entschließen. Aber die Nacht, die er in diesem Höhenlager verbrachte, bot ihm
noch ein einzigartiges Erlebnis. "Die Sonne ging unter, und ihr Purpurschein
erlosch auf den Westhängen des Mustag-ata. Als der Vollmond über der Zinne der
Felswand an der Südseite des Gletschers aufstieg, trat ich in die Nacht hinaus,
um eines der großartigsten Schauspiele zu bewundern, die ich je in Asien gesehen
habe. Die ewigen Schneefelder auf der höchsten Kuppe des Berges, das Firnbecken,
das den Gletscher speist, und seine höchsten Regionen badeten im Silberschein
des Mondes, aber wo der Eisstrom in seiner tiefen Felsrinne lag, herrschte
nachtschwarzer unergründlicher Schatten, über die gewölbten Schneefelder zogen
weiße dünne Wolken, und man glaubte die Geister des Berges zu sehen, die im
Freien ihre Tänze aufführten. Ich stand so hoch wie der Gipfel des Chimborasso
oder des Mount Mac Kinley und höher als der Kilimandscharo, der Montblanc und
alle Bergspitzen dreier Erdteile; nur die höchsten Gipfel Asiens und der Anden
waren höher. Bis zur Spitze des höchsten Berges der Erde, des Mount Everest,
fehlten noch 2.600 Meter. Aber ich glaube dennoch, dass das Bild, das sich vor
mir entrollte, an wilder, phantastischer Schönheit alles übertraf, was ein
Sterblicher auf Erden erblicken kann. Mir war, als stünde ich an der Grenze des
unermesslichen Raumes, in dem rätselhafte Welten von Ewigkeit zu Ewigkeit
kreisen."
Nach der Rückkehr vom Pamir begab sich Hedin im Frühjahr 1895
von Kaschgar aus auf eine Expedition, die zur schwersten und verlustreichsten
unter allen seinen asiatischen Unternehmungen werden sollte. Sie galt der
Erforschung der Wüste Takla-makan, die das Innere jenes weiten Beckens ausfüllt,
das dem Hochland von Tibet im Norden vorgelagert ist. Die Gewässer der
Randgebirge sammeln sich in einem großen Strom, dem Tarim, der schließlich in
dem See Lop-nor sein Ende findet. Dem Tarim strömen von Süden einige wenige
Flüsse zu, die nur nach der Schneeschmelze in den Grenzgebirgen Tibets Wasser
führen. Hedin hatte sich vorgenommen, die Wüstenstrecke zwischen zweien dieser
Flüsse, dem Jarkent-darja und dem Chotan-darja, zu durchqueren.
Nur vier Eingeborene begleiteten ihn. Karawanenführer wurde
sein alter erprobter Diener Islam Bai, Kamelführer zwei andere Kirgisen, Kasim
und Mohammed. Schließlich wurde im letzten Augenblick noch ein Mann angeworben,
der vorgab, mit der Wüste wohl vertraut zu sein und immer einen Weg zu finden.
Er wurde daher Jolltschi, das heißt "Wegweiser", genannt. Der Proviant, das
Trinkwasser und alle sonstigen Gepäckstücke wurden von acht baktrischen Kamelen
getragen, starken und prächtigen Tieren, die Islam Bai für je 135 Mark in
Jarkent gekauft hatte.
Als die Karawane am 10. April das Dorf Merket am Ufer des
Jarkent-darja verließ, hatten sich alle Bewohner auf den Dächern ihrer Häuser
oder am Straßenrand versammelt. Sie machten bedenkliche Gesichter und sparten
nicht mit Ratschlägen und Prophezeiungen. "Die Kamele sind zu schwer beladen",
meinte ein Zuschauer. Und ein alter Mann murmelte vor sich hin: "Die kommen nie
wieder!"
Die Entfernung von Merket bis zum Chotan-darja beträgt etwa
dreihundert Kilometer. Hedin hoffte, die Strecke in weniger als einem Monat zu
bewältigen. Während der ersten zwölf Tage ging alles ausgezeichnet. Die Karawane
zog noch am Rande des eigentlichen Wüstengebietes nach Nordosten. Menschen und
Tiere waren frisch und ausgeruht, und fast jeden Tag konnte ein Brunnen gegraben
werden. Am Abend des 21. April trafen sie in der Nähe des Jarkent-darja sogar
einen kleinen Süßwassersee. Die Kamele konnten sich an dem üppigen Schilf seiner
Ufer noch einmal gütlich tun und sich satt trinken. Jetzt erst begann der
Vorstoß in den zentralen Teil der Wüste. Hedin befahl seinen Leuten, für zehn
Tage Wasser mitzunehmen und die Behälter mit Schilfbündeln zu umwickeln, um sie
gegen die Sonnenbestrahlung zu schützen. Das Plätschern des Wassers war das
Letzte, was er hörte, als er am Abend einschlief.
Schon am ersten Tag der eigentlichen Wüstenreise stieß man
auf Sanddünen, die zwanzig bis dreißig Meter hoch waren. Anfangs gab es zwischen
den Dünen noch ebene Flächen mit hartem Lehmboden, und hier und da stand eine
einsame Tamariske. Aber bald hörte auch das auf. Soweit der Blick reichte, sah
man nichts als die immer höher sich türmenden Ketten der Wanderdünen.
Am Abend des ersten Tages hatte die Karawane 26 Kilometer
zurückgelegt. Der Versuch, in einem Tal zwischen den Dünen Wasser zu graben,
schlug fehl. Als am Morgen des nächsten Tages die Wasserbehälter den Kamelen
aufgeladen werden sollten, klangen sie so hohl, dass Hedin den Inhalt
nachprüfte. "Zu meinem Erstaunen fand ich, dass er nur noch zwei Tage reichte.
Ich nahm die Leute ins Verhör und erinnerte sie an meinen Befehl, Wasser für
zehn Tage mitzunehmen. Jolltschi, der "Wegweiser" entgegnete, wir hätten nur
noch zwei Tage bis zum Chotan-darja. Ich konnte sie nicht schelten, denn ich
hätte selbst nachsehen sollen, wieviel Wasser wir vom See mitnahmen. Wir hatten
nur zwei Tagesmärsche zurückgelegt, und es wäre klüger gewesen, in den eigenen
Spuren zurückzugehen; dann wäre die Karawane gerettet worden und kein Leben
verloren gegangen. Aber ich konnte mich nicht zu einem Rückzug entschließen und
hatte allzu großes Vertrauen zu meinem Führer." Der Wasservorrat reichte nur
noch für einen Tag. Jetzt sollte er über drei Tage gestreckt werden. Das
bedeutete zwei Becher täglich für jeden Mann.
Am nächsten Tage zog sich die Karawane weit auseinander. Als
sie sich am Abend sammelte, fehlten zwei Kamele, der "Alte" und der "Große
Schwarze". Sie konnten nicht mehr weiter, berichtete der Karawanenführer
Mohammed, und hatten ihren davonziehenden Gefährten einen langen fragenden Blick
nachgesandt. Hedin war tief erschüttert und malte sich ihr Schicksal aus. "Wenn
ich nachts wach lag, dachte ich mit Entsetzen an die armen Tiere. Anfangs waren
sie vielleicht froh gewesen, dass sie ruhen durften. Dann war die Nacht mit
ihrer Kühle gekommen. Sie hatten sicher darauf gewartet, dass die Männer
zurückkehrten und sie holten. Das Blut strömte immer dicker durch ihre Adern.
Wahrscheinlich starb der "Alte" zuerst. Nun war der "Große Schwarze" allein.
Schließlich starb auch er in der majestätischen Stille der Wüste, und die
wandernden Dünenhügel würden im Laufe der Zeit die irdische Hülle der beiden
Märtyrer begraben."
Hedin beschloss nun, alles zurückzulassen, was nicht
unbedingt notwendig war: Proviant und Decken, Kochapparat und Geschirr. Alle
Konserven, die irgend etwas Flüssiges enthielten, wurden verteilt. Dazu gab es
zum letzten Male einen Becher Tee. Der ganze Wasservorrat bestand jetzt noch aus
zwei kleinen Kannen. Am nächsten Morgen war eine davon verschwunden. Alle hatten
Jolltschi in Verdacht. Mühsam schleppte sich die Karawane zwölfeinhalb Stunden
vorwärts. Als am 30. April bei Sonnenaufgang die Kamele beladen wurden, ertappte
man Jolltschi mit der letzten Wasserkanne am Munde. Islam und Kasim schlugen ihn
zu Boden und hätten ihn wohl getötet, wenn nicht Hedin dazwischengetreten wäre.
Am nächsten Vormittag blieb Hedin hinter der Karawane zurück.
Als er sie mittags an ihrem Lagerplatz erreichte, bot sich ihm ein schrecklicher
Anblick. Jolltschi lag wie tot am Boden. Mohammed lag auf dem Bauch und rief
tränenüberströmt Allah um Hilfe an. Islam starrte unausgesetzt nach Osten.
Plötzlich erwachte Jolltschi. Er kroch auf Hedin zu, ballte die Fäuste und
schrie: "Wasser! Gib uns Wasser, Herr! Nur einen Tropfen Wasser!"
Gab es denn gar nichts mehr zu trinken? Da war ja noch eines
der Schafe übrig, die man als lebenden Proviant mitgenommen hatte. Islam packte
es, drehte ihm den Kopf in die Richtung nach Mekka und schnitt die
Halsschlagader durch. Alle stürzten sich auf das dicke, braunrote, übelriechende
Blut. Auch Hedin versuchte es. Aber die Schleimhäute seines Mundes waren
vertrocknet, und der Ekel packte ihn so, dass er schon den ersten Schluck wieder
ausspucken musste. Doch Islam und Jolltschi tranken es, und sinnlos vor Durst
scheuten sie sich sogar nicht, Kamelurin aufzufangen; sie hielten sich die Nase
zu und tranken das Gefäß leer. Bald danach packte sie ein übles Erbrechen, und
schreiend wälzten sie sich im Sande.
Erst an diesem Lagerplatz scheint Hedin den ganzen Umfang der
Katastrophe erkannt zu haben. Noch einmal überprüfte er das Gepäck. Jetzt
mussten auch die photographischen Apparate geopfert werden mit tausend Platten,
davon hundert schon belichtete, ferner das Zelt, die Apotheke, Sättel und
Kleidungsstücke. Es war klar: Mohammed und Jolltschi konnten nicht mehr weiter
und mussten zurückbleiben. Beide hatten das Bewusstsein fast verloren. Die
Kamele waren viel zu schwach, um noch einen Menschen zu tragen. Hedin hoffte,
die beiden Männer würden vielleicht doch noch seiner Spur folgen können, oder er
würde später imstande sein, ihnen zu Hilfe zu kommen.
Als die Dämmerung hereingebrochen war, machte er sich mit
Islam und Kasim auf den Weg. Bald legte ein Kamel sich nieder und war nicht mehr
vorwärts zu bringen. Kurz danach erklärte Islam, er sei am Ende seiner Kräfte
und wolle hier sterben. Jetzt wird Hedin klar, dass der letzte Akt des
Wüstendramas begonnen hat. "Da ich jetzt einsah, dass das Spiel verloren war,
beschloss ich, alles im Stich zu lassen, um wenigstens mein Leben zu retten. Ich
opferte sogar die Tagebücher und wissenschaftlichen Journale und nahm nur mit,
was ich stets in meinen Taschen trug."
Hedin nahm Abschied von Islam und befahl ihm, seiner Spur zu
folgen, sobald er wieder bei Kräften wäre, erhielt aber keine Antwort mehr. Dann
wanderte er mit Kasim die ganze Nacht hindurch nach Osten. Als am nächsten
Vormittag die Sonne zu heiß brannte, zogen sie sich aus und gruben sich am
Nordabhang einer Steildüne bis zum Hals in den noch nachtkühlen Sand ein. — Auch
in der nächsten Nacht setzten sie ihre mühselige Wanderung fort, waren aber
schon so schwach, dass sie lange Ruhepausen einlegen mussten. Beim Sonnenaufgang
packte Kasim plötzlich Hedin an der Schulter und zeigte erregt nach Osten. "Eine
Tamariske!" rief er. Schon fühlte Hedin sich fast gerettet. "Also das erste
Zeichen organischen Lebens! Gott sei Lob und Dank! Die Hoffnung, die dem
Erlöschen nahe gewesen, flammte wieder auf. Drei Stunden lang wankten und
taumelten wir vorwärts, ehe wir diesen ersten Strauch erreichten, den Ölzweig,
der uns verkündete, dass das Wüstenmeer doch eine Küste hatte. Wir dankten Gott
für diese gesegnete Gabe und kauten die grünen bitteren Nadeln der Tamariske."
Nachdem sie am Abend mehrere Stunden lang weitergewandert
waren, stießen sie plötzlich im Dunkeln auf drei dicht nebeneinander stehende
Pappeln mit saftigem Laub. Zum Essen waren die Blätter zu bitter, aber auf der
Haut zerrieben erzeugten sie ein angenehm erfrischendes Gefühl. Unter den Bäumen
lag trockenes Astwerk. Das trugen sie auf den Kamm der nächsten Düne und
entzündeten dort ein loderndes Feuer, um Islam den Weg zu weisen, falls er noch
am Leben war.
Als Hedin bei Sonnenaufgang erwachte, zeigte sich am Horizont
im Osten nicht mehr die gezackte Linie der Dünen, sondern eine waagerechte,
dunkelgrüne Linie. Das konnte nur der Uferwald des Chotan-darja sein! Noch
einmal rafften sie ihre letzten Kräfte zusammen und schleppten sich vorwärts.
Nach einigen Stunden wurden die Dünen niedriger und hörten schließlich ganz auf.
Am Nachmittag erreichten sie die ersten Bäume. Da stand er vor ihnen, der Wald,
dicht und üppig, mit Blumen, Gras und Kräutern. Die Luft erklang vom Summen der
Insekten und Vogelgezwitscher. Am Boden sah man die Fährten von zahlreichen
wilden Tieren, bald auch einen Pfad mit deutlichen Spuren von Menschen und
Pferden.
Für die Schönheiten der Natur hatten sie jetzt freilich
keinen Sinn. Aufs äußerste erschöpft brachen beide im Schatten eines
Pappelhaines zusammen. Hedin kroch in die Wurzelhöhlung eines Baumes und lag
dort zehn Stunden lang. Erst am Abend war er imstande, sich zu erheben. Er
wusste: Wenn sie nicht innerhalb weniger Stunden Wasser fanden, dann waren alle
bisherigen Anstrengungen umsonst. Kasim lag regungslos am Boden. Er starrte in
den Himmel und flüsterte, er wolle hier unter diesen Pappeln sterben.
So musste Hedin sich allein auf den Weg machen. Mühsam
schleppte er sich von Baum zu Baum, durch Dickicht und Dornen. Plötzlich ging
der Wald an einer steilen Böschung zu Ende. Vor ihm lag das Flussbett des
Chotan-darja, aber es war trocken wie der Sand der Wüste! Hedin wusste, erst im
Sommer, wenn das Eis der hohen Berge im Süden geschmolzen war, würde sich der
Trockenfluss in einen reißenden Strom verwandeln. Er beschloss, das Flussbett,
das hier Nord-Südrichtung hat, zu durchqueren. Er musste also genau nach Osten
gehen. Im schwachen Schein des Mondes prüfte er am Kompass die Richtung. Aber
immer wieder kam er nach rechts ab. Eine unsichtbare Macht, so meinte er, wollte
ihn nach Südosten drängen. Schließlich gab er nach und folgte dieser Richtung. "Plötzlich fuhr ich zusammen und blieb stehen. Ein Wasservogel, eine Wildente
oder Wildgans, flog mit klatschendem Flügelschlag auf, und ich hörte den
plätschernden Laut von Wasser! Im nächsten Augenblick stand ich am Rand eines
Tümpels. Sein Wasser sah im Mondschein schwarz wie Tinte aus, und der
umgestürzte Pappelstamm spiegelte sich darin. In der stillen Nacht dankte ich
Gott für meine wunderbare Rettung. Wäre ich genau nach Osten weitergegangen,
dann wäre ich rettungslos verloren gewesen.
Ich setzte mich ruhig an den Rand des Tümpels und fühlte meinen Puls. Er war so
schwach, dass ich ihn kaum spürte, und zählte nur neunundvierzig Schläge. Dann
trank ich und trank und trank. Das Wasser war kalt, kristallklar und süß wie das
beste Quellwasser. Mein ausgedörrter Körper sog die Feuchtigkeit wie ein Schwamm
ein. Alle Gelenke wurden geschmeidig, die pergamentharte Haut wurde weich und
meine Stirn feucht. Der Puls nahm an Stärke zu und stieg nach einigen Minuten
auf sechsundfünfzig Schläge. Das Blut strömte leichter durch die Adern. Ich
fühlte mich erquickt und neubelebt. Dann trank ich wieder und streichelte das
Wasser dieses gesegneten Tümpels, den ich Choda-verdi-köll taufte, 'den von Gott
geschenkten See'."
Jetzt galt es, Kasim zu retten. Hedin zog seine hohen
Schaftstiefel aus und füllte beide bis zum Rand mit Wasser, dann ging er in den
eigenen Spuren zurück. Er fand seinen Diener noch in derselben Stellung, in der
er ihn am Abend verlassen hatte. "Ich sterbe", waren die einzigen Worte, die
Kasim flüsternd hervorbrachte. Aber er setzte sich auf, und Hedin konnte ihm den
Stiefel an die Lippen führen. Er trank ihn in einem Zuge aus, nach kurzer Pause
auch den anderen. Als Hedin ihn aber jetzt mit zum Chotan-darja nehmen wollte,
erklärte Kasim, dass er dazu noch zu schwach sei. "Folge dann meiner Spur,
sobald Du kannst", sagte Hedin. "Ich gehe erst an den Tümpel und dann im
Flussbett nach Süden."
Er kehrte also jetzt allein zurück, trank sich noch einmal
satt und ruhte einige Zeit. Dann ging er an der Uferböschung entlang nach Süden.
Plötzlich traf er in einer Lichtung auf eine weidende Schafherde. Der junge Hirt
starrte ihn entgeistert an. Als Hedin ihn mit "Salam aleikum!" begrüßte,
verschwand er eilends im Dickicht. Bald kam er mit einem älteren Manne zurück.
Beide hielten sich in respektvoller Entfernung. Hedin erzählte ihnen in kurzen
Worten von seinem Schicksal. Die Hirten schienen ihm anfangs nicht recht zu
trauen, führten ihn aber doch zu ihrer armseligen Hütte und gaben ihm zu essen:
Maisbrot und frische Schafmilch. Dann legte er sich erschöpft nieder und schlief
bis tief in den Morgen hinein.
Am nächsten Tag hört er plötzlich ein Kamel brüllen. Er trat
vor die Hütte. Da kam von einem der Hirten geführt das große weiße Kamel seiner
Karawane, und hinter ihm wankten Islam und Kasim! Islam fällt Hedin vor Rührung
zu Füßen. Dann erzählt er am Feuer seine Erlebnisse. Bei den Pappeln, an denen
auch Hedin und Kasim vorbeikamen, musste er zwei völlig erschöpfte Kamele
zurücklassen. Schließlich war es ihm gelungen, mit dem weißen Kamel aus der
Wüste zu entkommen. Die Last des Tieres enthielt Hedins Tagebücher und Karten,
dazu das chinesische Silbergeld, zwei Flinten und Tabak.
Was Hedin kaum mehr zu hoffen gewagt hatte, war eingetreten:
wenigstens zwei seiner Diener waren gerettet, und der Geldvorrat machte ihn
unabhängig von fremder Hilfe. Von einer vorüberziehenden Karawane kaufte er drei
Pferde und Proviant. Dann nahm er Abschied von den Hirten, die er für ihre Hilfe
überreichlich entlohnte, und kehrte mit seinen Begleitern unter Umgehung der
Wüste in einem fünfhundert Kilometer langen Ritt nach Kaschgar zurück.
Die ersten Monate des nächsten Jahres benutzt Hedin zu einer
Reise in das Mündungsgebiet des Tarim, zum Lop-nor. Immer wieder erzählen ihm
Eingeborene von einer sagenhaften alten Stadt, die unter dem Wüstensand begraben
liegen soll. Er geht allen diesen Hinweisen sorgfältig nach und dringt noch
einmal tief in die Wüste ein. Tatsächlich stieß er bald auf die Ruinen einer
alten Stadt. Die meisten Häuser waren völlig vom Sand bedeckt, aber an
zahlreichen Stellen ragten Pfosten und ganze Wände aus den Dünen empor. Hedin
fand kunstvolle Buddhastatuen und andere Plastiken buddhistischer Heiliger. Er
machte sich genaue Aufzeichnungen über die Lage der Stadt, ihre Gärten und
Anlagen, von denen er noch deutliche Spuren fand. Für eine gründliche Ausgrabung
fühlte er sich aber nicht gerüstet. Es genügte ihm als Geographen, den
Archäologen den Weg gewiesen zu haben. Spätere systematische Untersuchungen der
Funde haben das Alter der Stadt mit etwa zweitausend Jahren bestimmt.
Nach einer Ruhepause in der Stadt Chotan brach Hedin zu
seinem letzten Unternehmen auf. Er wollte über Nordtibet nach China reisen und
in Peking die große Expedition beenden. Sechs ständige Diener begleiteten ihn;
die Karawane bestand aus mehr als sechzig Tragtieren. Nach vierzehn Tagen waren
sie bereits mitten in den hohen Randgebirgen dieses gewaltigsten Hochlandes der
Erde. Obwohl es erst Mitte August war, sank die Temperatur schon auf zehn Grad
unter Null. Hier ist die Heimat der Wildesel und der wilden Yaks, die Hedin mit
leidenschaftlichem Interesse beobachtet, wie er schon in der Wüste die wilden
Kamele aufgespürt hatte. Er bringt es aber nicht über sich, selbst eines dieser
Tiere zu erlegen. "Ich bin kein Jäger und nie einer gewesen. Das hat nicht
seinen Grund im Gehorsam gegen das erste Gebot in Buddhas Gesetz, kein Leben zu
zerstören. Aber ich habe es nie über mich gewinnen können, ein Lebenslicht
auszulöschen, das aufs neue anzuzünden mir die Macht fehlt. Am allerwenigsten
würde ich ein so edles Tier töten können wie das wilde Kamel. Dagegen habe ich
stets Jäger mit mir gehabt, denn das ist sowohl des Proviants wie der
wissenschaftlichen Sammlungen wegen nötig."
In der eisigen Höhe Nordtibets wurde die Weide immer
spärlicher. Das mitgeführte Futter reichte nicht weit. Bald brach eines der
Lasttiere nach dem anderen zusammen. Nach zwei Monaten waren von der stolzen
Karawane nur noch siebzehn Tiere am Leben. Tungusische Räuber bedrohten in der
grenzenlosen Weite der Zaidam-Hochebene die Reisenden. Nur durch kluge Taktik
vermag Hedin ein Feuergefecht und einen Nachtangriff zu vermeiden. - Als er
schließlich den Oberlauf des Hoang-ho und damit die Grenze des eigentlichen
China erreicht hat, zählt er seine Barschaft und stellt fest, dass er nur noch
770 chinesische Tael besitzt, in seiner Lage eine äußerst geringe Summe, denn
allein bis Peking war es noch ein Weg von drei Monaten. Aber das macht ihm wenig
Sorge. Er hat ein erstaunliches Talent, wenn es nötig ist, auch ohne viel Geld
vorwärts zu kommen und im Notfall immer einen Menschen zu finden, der es sich
zur Ehre anrechnet, ihm behilflich zu sein.
Er entlässt jetzt alle Diener bis auf Islam Bai, gibt ihnen
das Doppelte des vereinbarten Lohnes und sorgt für ihre Heimkehr. Nach vielen
Strapazen kommt er endlich im März 1897 in Peking an. Da Schweden damals noch
keine Gesandtschaft in China unterhielt, begab er sich in die russische
Botschaft. Der Botschafter selbst war auf Urlaub in Europa, aber der
Geschäftsträger hatte von Petersburg den Auftrag bekommen, Hedin jede gewünschte
Hilfe zu gewähren. So zog er jetzt in die Privatwohnung des Botschafters ein.
Seine Kleidung war so abgerissen, dass er drei Tage brauchte, um sich völlig neu
auszustatten. Dann machte er seine offiziellen Besuche und stürzte sich in den
Trubel der Empfänge und Feste, die ihm zu Ehren von Chinesen und Europäern
gegeben wurden. Jedesmal, wenn er aus der Wildnis in den Bereich der
Zivilisation zurückkehrt, klagt er bewegt darüber, dass ihm nun das stille
Gleichmaß der Tage und die erhabene Ruhe Innerasiens verloren gehen. Aber im
Grunde ist es gerade dieser ständige Wechsel, der ihn immer von neuem reizt.
Zur Heimreise nach Europa benutzte Hedin die transsibirische
Bahn, die jedoch damals erst bis zum Jenissei fertiggestellt war. In Petersburg
hört er, dass Zar Nikolaus II. seinen Besuch in Zarskoje Selo erwartet. Hedin
berichtet ihm von seinen Unternehmungen in den letzten drei Jahren. Der
Herrscher verfolgt auf einer riesigen Asienkarte den Reiseweg und ist besonders
interessiert an Hedins Urteil über die Arbeit der russisch-englischen
Grenzkommission im Pamir. Als er hört, dass Hedin schon wieder eine neue Reise
nach Zentralasien plant, sagt er ihm seine Unterstützung zu, insbesondere
Zollfreiheit und freie Fahrt und Fracht auf allen russischen Eisenbahnen. Das
versprach für Hedins nächste Reise erhebliche finanzielle Vorteile. Die
Expedition, die er jetzt beendete, hatte ihn einschließlich der ganzen
Ausrüstung 39.000 Mark gekostet. Für eine Reise, die mehr als dreieinhalb Jahre
dauerte und ihn über 25.000 Kilometer führte, ist dies gewiss keine allzu große
Summe, aber es war doch mehr als das Doppelte seines Voranschlages.
Wie viele andere Weltreisende war Hedin ein emsiger
Briefschreiber. Selbst in den entlegensten Gegenden Asiens fand er irgendwie
Anschluss an die Post. Immer nahm er sich auf seinen Reisen Zeit zu geruhsamen
Pausen, in denen er oft nächtelang Briefe von unglaublichem Ausmaß schrieb. So
sandte er am Vorabend des Weihnachtsfestes 1894 aus Kaschgar 149 Seiten
Privatbriefe ab. Die meisten gingen an seine Eltern und Geschwister. Sie wurden
ebenso eifrig beantwortet. In Peking stellte Hedin fest, dass er von seinem
Vater auf dieser Reise 143 Briefe mit rund 3.000 Seiten bekommen hatte. Daneben
unterhielt er einen lebhaften Briefwechsel mit zahlreichen Männern der
Wissenschaft, vor allem seinem Lehrer von Richthofen. Auch dem König Oskar und
der Familie Nobel berichtete er schon von unterwegs.
Durch diesen Briefwechsel war von seinen Abenteuern und von
den Ergebnissen seiner Forschungen bereits viel in die Öffentlichkeit gedrungen.
Als er jetzt nach Hause kam, stellte er mit Erstaunen fest, dass er ein
berühmter Mann geworden war. Die bedeutendsten Stätten geographischer Forschung,
vor allem Berlin und London, Paris und Petersburg bemühten sich, ihn als Redner
zu gewinnen, überall wurde er mit Orden, Medaillen und anderen Ehrungen
überhäuft.
Die Vortragsreisen und die damit verbundenen Festlichkeiten
erforderten viel Zeit und Kraft. Hedin ist durchaus empfänglich für den Ruhm,
der ihm jetzt nach. Jahren der Entbehrungen und der Einsamkeit zuteil wird. Aber
zwischen diesen Reisen zieht er sich in Stockholm in den engsten Familienkreis
zurück, um seine wissenschaftlichen Ergebnisse auszuarbeiten und das große, für
breitere Kreise bestimmte Reisewerk zu schreiben. Es erscheint in Deutschland
bei dem Verleger Brockhaus unter dem Titel "Durch Asiens Wüsten" in zwei dicken
Bänden mit vielen Hunderten von Abbildungen.
Stromfahrt durch die Wüste
Schon bald nach seiner Heimkehr betrieb Hedin die
Vorbereitungen für seine neue Expedition. Die Finanzierung war diesmal
einfacher. Er machte die Erfahrung, dass ein berühmter Mann leichter Mäzene
findet als ein Unbekannter. Freunde und Gönner brachten insgesamt 40.000 Kronen
auf. Tatsächlich kostete die Reise schließlich das Doppelte dieser Summe, aber
die Differenz konnte er jetzt aus den Einkünften seines Buches bestreiten. -
"Schone dich, ich will dich nicht verlieren", sagte der König mit bewegter
Stimme, als Hedin sich von ihm verabschiedete.
Am Johannistag des Jahres 1899 verließ er Stockholm wieder
für mehr als drei Jahre. Das Gepäck war diesmal weit umfangreicher als auf der
vorigen Reise. Es enthielt unter anderem vier Bildkameras mit 2.500 Platten,
Waffen und Munition, Geschenke für Eingeborene und sogar ein Faltboot mit
Rudern, Mast und Segel. Der Zar, den er in Petersburg aufsuchte, wollte ihm
durchaus zwanzig Kosaken als ständige Begleitmannschaft mitgeben. Hedin hatte
alle Mühe, ihm klarzumachen, dass er höchstens vier Mann gebrauchen konnte.
Ausgangspunkt der neuen Reise war wieder Kaschgar. Hedin
wollte den Tarim in seiner ganzen Länge bis zum Lop-nor befahren und dabei eine
genaue Karte des bisher noch kaum bekannten Stromes aufnehmen. Er wechselte
11.500 Rubel in chinesisches Silbergeld um, was den Devisenmarkt Kaschgars
schwer erschütterte und eine Geldlast von dreihundert Kilogramm ergab.
Nahe dem Dorfe Merket am Yarkent-darja, wo im Jahre 1895 die
Todeskarawane ihren Ausgang genommen hatte, kaufte Hedin eine große Flussfähre.
Sie war elf Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Auf dem Vorderteil der Fähre
wurde Hedins Zelt aufgeschlagen. Es war in der Fahrtrichtung offen. Aus zwei
Kisten wurde hier ein großer Tisch errichtet. Das gab einen idealen
Arbeitsplatz. Er bot alle Annehmlichkeiten eines Studierzimmers und gewährte
doch unbehinderte Aussicht auf das ständig wechselnde Flusspanorama, das jetzt
Tag für Tag vor Hedin abrollte. Im Achterdeck war der Platz für die Diener,
unter ihnen wieder Hedins alter Gefährte Islam Bai. Um auch schmale Flussarme
befahren zu können, ließ Hedin noch eine zweite wesentlich kleinere Fähre bauen.
Sie führte den Proviant mit sich, darunter viele Hühner, Melonen und frisches
Gemüse. An Bord der großen Fähre befanden sich auch einige Schafe und zwei junge
Hunde, Dowlet und Yolldasch.
Das Reisen war für Hedin nicht nur ein Mittel, um ein
bestimmtes Forschungsziel zu erreichen, sondern durchaus auch Selbstzweck, ein
Stück seines Lebens, dem er sich mit Andacht und Leidenschaft hingab. Die
Schilderung, die er in seinem Reisewerk von der Tarimfahrt gibt, atmet noch das
Glück dieser Tage: "Ich sitze an meinem Schreibtisch und habe das erste Blatt
Papier, Kompass, Uhr, Feder, Blei und Fernglas vor mir und blicke auf den
prächtigen Strom hinaus, der sich in wilden Krümmungen durch die Wüste
hinschlängelt. Wie die Schnecke führen wir unser Haus mit uns und sind stets "zu
Hause". Ohne dass ich einen Schritt zu machen oder ein Pferd zu lenken brauche,
kommt die Landschaft still und langsam auf mich zu. Bei jeder Biegung entrollen
sich vor mir neue Bilder von bewaldeten Landzungen, dunklen Dickichten oder
wogenden Schilffeldern. Islam stellt ein Brett mit warmem Tee und Brot auf den
Tisch. Eine feierliche Stille umgibt uns. Nur von Zeit zu Zeit wird sie
unterbrochen, wenn das Wasser um einen Ast gurgelt, der an einer seichten Stelle
hängengeblieben ist, oder wenn wir dem Ufer gar zu nahe gekommen sind und die
Bootsleute uns mit langen Stangen abstoßen, oder wenn die Hunde sich jagen und
vom Vorderschiff aus einen Hirten anbellen, der, zur Bildsäule erstarrt, vor
seiner Hütte aus Reisig und Zweigen steht und der lautlos dahingleitenden Fähre
zusieht. Das Leben des Flusses wird mir vertraut, ich fühle die Schläge seines
Pulses. Jeder Tag lehrt mich seine Gewohnheiten besser kennen. Nie habe ich eine
idyllischere Reise gemacht, die Erinnerung daran ist mir unvergesslich."
Bei Einbruch der Dämmerung wird die Fähre am Ufer
festgemacht. Die Diener gehen an Land und bereiten die Abendmahlzeit, während
Hedin die Aufzeichnungen des Tages ordnet und abschließt. Dann wird das Essen
aufgetragen. Meist gibt es Tee und Reispudding, Brot, Eier und Gurken, manchmal
auch gebratene Wildenten oder Fasanen, die Islam im Uferwald erlegt, oder
Fische, die Kasim, der Führer der Ersatzfähre, mit einem kleinen Speer
harpuniert. Während die Mannschaft schon im Schlafe liegt, entwickelt Hedin in
der Dunkelkammer noch die photographischen Aufnahmen. Oft ist er erst nach
Mitternacht damit fertig.
Die Karte, die Hedin auf dieser Flussfahrt zeichnete, wurde
das Muster einer sorgfältigen Geländeaufnahme. Fast jeder Baum am Ufer, jede
Krümmung des Flussbettes und jede Düne ist eingezeichnet. Das erfordert während
der Fahrt ständig konzentrierteste Anspannung. "Den ganzen Tag hindurch muss ich
meine Aufmerksamkeit ununterbrochen dem Kompass, der Uhr, der Landschaft, der
Karte, dem Notizbuch und dem Strommesser widmen, der uns die Geschwindigkeit
angibt. Die Karte geht sehr ins einzelne, und ich wage zu sagen, sie ist das
Ideal einer Flusskarte. Nur wenn ich lange Peilungen vor mir habe, kann ich
einige Minuten hintereinander aufatmen und mich mit etwas anderem beschäftigen,
mit Lesen, Ablesen der meteorologischen Instrumente und dergleichen. Glaubt Ihr,
ich komme dazu, mich zu langweilen? Nein, dazu langt die Zeit nicht!"
Es war Mitte September, als Hedin die Tarimfahrt antrat. Zuerst war der Strom
meist von lichtem Uferwald begleitet, der sich manchmal zu einer majestätischen
Waldkulisse steigerte. Das anfangs blasse Grün des Laubes verwandelte sich rasch
in leuchtendes Gelb und Rot. Nach zwei Wochen hörte der Wald auf, und nun dehnte
sich ringsum die endlose Weite der Steppe, die schließlich in völlig
vegetationslose Wüste überging. An vielen Stellen drängten sich bis zu sechzig
Meter hohe Wanderdünen unmittelbar an das Flussbett heran.
Mitte Oktober sank die Temperatur zum ersten Mal auf den
Nullpunkt. Drei Wochen später wurden nachts neun Grad Kälte gemessen. Gerade in
diesen Tagen kam eine Flussstrecke mit reißender Strömung. Pfeilschnell schössen
die beiden Fahrzeuge dahin. Plötzlich tauchte im Fahrwasser eine breite Insel
aus Reisig und Treibholz auf, die sich um einen auf Grund geratenen Baumstamm
gebildet hatte. Wenn die große Fähre in ihrer rasenden Fahrt dagegen stieß,
musste sie unfehlbar kentern. Da sprang der Fährmann Alim mit einem Seil um den
Leib in das eiskalte Wasser, und es gelang ihm, vom Ufer das Fahrzeug aus der
tosenden Strömung zu ziehen.
Eines Morgens war die ganze Landschaft ringsum weiß bereift.
Winterkleider und Pelze wurden hervorgeholt. Hedin ließ ein eisernes Becken mit
glühenden Kohlen in sein Zelt bringen, um seine Hände vor dem Erfrieren zu
schützen. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Tinte am Feuer flüssig zu erhalten. In
geschützten Buchten bildete sich schon eine Eisdecke. Bald danach waren beide
Fähren zum ersten Mal am Ufer festgefroren und mussten mit Äxten losgehauen
werden. Sie wurden daher nachts nur noch an solchen Stellen festgemacht, wo die
Strömung die Eisbildung verhinderte. Vierzehn Tage später kamen nachts die
ersten Eisschollen. Am nächsten Morgen war der ganze Fluss von Treibeis bedeckt,
das im Schein der aufgehenden Sonne wie Millionen von Diamanten funkelte. Jetzt
bildeten sich auch am Ufer feste Eisränder, die von Tag zu Tag breiter wurden.
Am dritten Dezember forderten Reiter am Ufer die Fähre zum
Landen auf. Es waren Boten der beiden Kosaken, die Hedin mit fünfzehn Kamelen
vorausgeschickt hatte. Sie sollten ihm melden, dass die Karawane einige
Tagereisen flussabwärts ein Lager bezogen hatte und dass der Fluss unterhalb
dieser Stelle ganz zugefroren war. Vier Tage später erreichten sie diesen Platz.
- Sein eigentliches Ziel, den Lop-nor, hat Hedin nicht erreicht. Aber er besitzt
die glückliche Gabe, aus jeder neuen Situation stets das Beste herauszuholen.
Und er hat ja viel Zeit. Die Fahrt auf dem unteren Tarim wird auch im nächsten
Frühjahr eine reizvolle Sache sein. Und die Lage des Winterquartiers erschien
ihm geradezu ideal. Nur drei Tagereisen weit, so stellte er mit Befriedigung
fest, war es bis zur nächsten Ortschaft, wo man allerlei kaufen konnte. Und nach
Süden und Westen breitete sich die große Wüste aus, die er in diesem Winter noch
einmal bezwingen wollte.
Das Winterlager wuchs rasch zu einer ansehnlichen Siedlung.
Auf einem großen Platz wurde Hedins Zelt aufgeschlagen. Eine feste Hütte diente
zur Aufbewahrung des Gepäcks. Für die Pferde der Karawane wurde ein Stall aus
Schilf errichtet. In der Mitte des freien Raumes zwischen dem Zelt und den
Behausungen seiner Diener stand ein einsamer Baum. Darunter wurde Tag und Nacht
ein Feuer unterhalten. Ringsherum lagen Teppiche, auf denen man Gäste empfangen
und Tee trinken konnte. Später kam sogar ein Kaufmann aus Russisch-Turkestan
hinzu und eröffnete einen Laden mit vielen schönen Dingen.
Kurz vor Weihnachten brach Hedin erneut zu einem Zug durch
die Wüste auf. Die Karawane war diesmal nur klein: Vier Diener, sieben Kamele
und ein Pferd. Das Gepäck war so gering wie möglich. Drei Kamele trugen nur
Brennholz und große Eisblöcke, die in Säcken verpackt waren. Auch auf ein Zelt
verzichtete Hedin diesmal. Drei Wochen lang schliefen sie alle auf dem nackten
Wüstenboden. Es war seine Absicht, die Takla-makan in südwestlicher Richtung
schnurgerade zu durchqueren. Die Strecke war weit länger als der Weg der
Todeskarawane vor fünf Jahren, und die Sanddünen stellenweise noch höher. Aber
jetzt war es Winter, und Hedin hatte aus seinen früheren Erfahrungen gelernt. -
Der Hauptfeind war diesmal die Kälte. Oft zeigte das Thermometer dreißig Grad
unter Null. Besonders die nächtlichen astronomischen Beobachtungen wurden dabei
zur Qual. Er musste dann immer ein kleines Feuer in der Nähe haben, um zu
verhindern, dass seine Finger an den Schrauben des Instrumentes festfroren.
Nach zwei Monaten ist Hedin wieder im Lager am Tarim. Aber
nur vierzehn Tage lang gönnt er sich Ruhe; dann unternimmt er einen Vorstoß in
das östliche Wüstengebiet. Er findet das ausgetrocknete Seebecken des alten
Lop-nor und erkennt die Tendenz des unteren Tarimlaufes und des Sees, nach Osten
zu wandern. Mitten in der Wüste entdeckt er auch hier die Ruinen einer alten
Stadt, darunter einen Buddhatempel mit kunstvollen Holzschnitzereien. Da der
Wasservorrat der Karawane zu Ende ging, musste eine genauere Untersuchung der
Ruinen auf später verschoben werden.
Nun war es Zeit, das Winterlager aufzulösen. In sechs Wochen
wird der Unterlauf des Tarim befahren und kartographisch aufgenommen. Die große
Fähre, mit der er mehr als zweitausend Kilometer auf dem Wüstenstrom
zurückgelegt hatte, schenkt Hedin den Bewohnern eines Fischerdorfes. Nur schwer
kann er sich von dem Fahrzeug trennen, das ihm so lange Zeit eine schwimmende
Heimat war. Aber der Schmerz geht nicht tief. Auch hier erkennt er in dem ewigen
Wechsel das Reizvolle seiner Existenz. In einem Brief, den er in diesen Tagen
nach Hause schreibt, bekennt er sich zu der Herrlichkeit dieses Lebens: "Ich
sitze hier in meiner ruhigen Hütte und denke keinen Augenblick an die
Vergänglichkeit der Welt, sondern an das Schöne und Glückliche eines Loses wie
des meinen, in so wechselnden Verhältnissen leben zu können, aus dem, was meine
Tage mir erzählen, ganze Geschichten formen zu können, meine Lebensbahn in
großen, scharfen, kräftigen Linien zu ziehen, statt auf einem Fleck oder einem
Katheder zu sitzen und jeden Tag dem anderen gleichen zu lassen. Hier geschieht
etwas, und jeder Tag, der dahingeht, lässt eine in grellen Farben gemalte
Erinnerung zurück, die man nicht vergisst."
Hedins nächstes Ziel ist Tibet. Vor allem möchte er nach
Lhasa, dem Sitz des Dalai Lama. Aber auch seine Verkleidung als tibetanischer
Pilger hilft ihm nichts. Er wird erkannt und nur wenige Tagereisen vor dem
ersehnten Ziel zur Umkehr gezwungen. - Sogleich ändert er seine Pläne und
beschließt, durch Westtibet bis zum Himalaja vorzustoßen. Den Anstrengungen
dieser Reise erliegen zwei seiner Diener und zwei Drittel aller Karawanentiere.
Kurz vor Weihnachten ist er in Leh am Oberlauf des Indus. Hier erreichte ihn
eine Einladung des Vizekönigs von Indien, Lord Curzon, der ihn bat, nach
Kalkutta zu kommen. Natürlich konnte Hedin einem solchen Angebot nicht
widerstehen. Nur von dem Kosaken Schagdur begleitet, der jetzt die Rolle eines
Kammerdieners übernahm, reist er nach Süden und ist hingerissen von der
Großartigkeit der Landschaft an den Hängen des Himalaja. Dann kommt er durch die
berühmten Städte des Gangeslandes. Den tiefsten Eindruck macht auf ihn Agra mit
der Grabmoschee Tadsch Mahal. Nichts, was er bisher in Asien und Europa gesehen
hat, meint er, kommt der einzigartigen Schönheit dieses Bauwerkes gleich.
Hedin, der in Curzon nicht nur den Staatsmann sah, sondern
ihn zugleich als einen der besten Kenner Asiens schätzte, war sichtlich
beeindruckt von dem glänzenden Empfang und von der Wärme, mit der er fast wie
ein Familienmitglied aufgenommen wurde. "Lady Curzon ist die schönste Frau, die
ich je gesehen habe", erklärt er kategorisch. Nach vierzehn festlichen Tagen
unternimmt er noch eine Reise nach Heidarabad und Bombay. Dann ist er ernstlich
zur Heimkehr entschlossen. Es kommt ihm aber nicht in den Sinn, dafür den Seeweg
zu wählen. Eine Landreise erscheint ihm stets verlockender als die bequemste
Seefahrt. Mitte Mai war er wieder in Kaschgar. Hier wurde die Karawane
aufgelöst. Fünf Wochen später empfing ihn der Zar in Petersburg. Er war erfreut
über das hohe Lob, das Hedin den Kosaken zollte. Jeder von ihnen erhielt einen
Orden und ein Geldgeschenk, und sie wurden in einem kaiserlichen Tagesbefehl
allen Garnisonen in Sibirien als Vorbild gerühmt.
Es folgt nun eine Zeit geruhsamer Arbeit in der Heimat.
Eltern, Geschwister und Verwandte hatten ihn wieder am Kai von Skeppsbron
empfangen, und in einem Landhaus nahe Stockholm wurde bis tief in die Nacht
seine Heimkehr gefeiert. Aber nachdem alle anderen sich zur Ruhe begeben hatten,
setzte Hedin sich noch an den Schreibtisch und begann mit der Niederschrift
seiner Reiseerlebnisse. Das Werk erschien in Deutschland gleichzeitig mit der
schwedischen Ausgabe unter dem Titel "Im Herzen von Asien". Bald folgten
Übersetzungen in zehn anderen Sprachen. - Im Frühjahr 1905 wurde Hedin in die
Schwedische Akademie der Wissenschaften gewählt. Er war jetzt vierzig Jahre alt,
aber noch keinesfalls gewillt, nun ein stilles Gelehrtenleben in der Heimat zu
führen. "In den Stunden der Arbeit brausten wilde Pläne von neuen
Eroberungszügen nach unbekannten Teilen Asiens durch meinen Kopf, und
Wüstenwinde riefen mich: Komm heim!"
Transhimalaja
Diesmal war es das südliche Tibet, das ihn lockte. Im Norden
des Himalaja erstreckte sich, wie man wusste, die breite Talfurche des Tsangpo,
des oberen Brahmaputra, dessen Quelle freilich noch niemand kannte. Was aber lag
jenseits davon? Einige Reisende hatten dort von ferne zahlreiche sehr hohe Berge
gesehen; aber wie sich das alles zu einem Gesamtbild ordnete, war völlig
unbekannt. Darum sollte diese Region, die zugleich das Quellgebiet der größten
Ströme Indiens umfasste, der Schauplatz seiner dritten großen Expedition werden.
Hedin wollte diesmal sein Ziel von Indien aus angehen. Lord Curzon hatte ihm
dazu mit warmen Worten seine Unterstützung angeboten. Natürlich verschmähte
Hedin auch jetzt für die Anreise den viel bequemeren und rascheren Seeweg,
sondern zog durch die berüchtigte Salzwüste Persiens, die schon Marco Polo
durchquert hatte, und durch das wilde Gebirgsland Belutschistan. In dem
zweibändigen Werk "Zu Land nach Indien" hat er diese Reise geschildert.
In Indien fand er eine ganz neue Lage vor. Curzon war
inzwischen durch Lord Minto abgelöst worden, den Hedin sogleich in seiner
Sommerresidenz in Simla aufsuchte. Auch der neue Vizekönig war voller Sympathie
für Hedins Pläne. Aber die politische Situation hatte sich in den letzten Jahren
erheblich gewandelt. Im Jahre 1904 hatte die britische Regierung ein
Expeditionskorps nach Lhasa geschickt. Schon kurz jenseits der Grenze kam es zu
einem Gefecht, bei dem die angreifenden britischen Truppen kaum ein Dutzend, die
Verteidiger aber siebenhundert Mann verloren. Hedin war entrüstet, dass seine
geliebten Tibeter in dem Kräftespiel zwischen Großbritannien und Russland
geopfert werden sollten. In einem Artikel hatte er damals öffentlich zu diesen
Vorgängen Stellung genommen: "Der Weg, der unter solchen Verhältnissen nach
Lhasa führt, ist keine Via triumphalis, sondern eine Via dolorosa, ein Weg, auf
dem das Blut der Niedergemetzelten nach Rache schreit und in den Spuren des
Heeres nur Hass und Trauer aufwachsen. Ich wiederhole, meine Sympathien sind
ungeteilt auf der Seite der Tibeter."
Gleich nach seiner Ankunft in Simla wurde Hedin eröffnet,
dass ihm die Londoner Regierung die Genehmigung verweigert habe, über die
indische Grenze nach Tibet einzureisen. Hedin ist empört und sieht in der
Entscheidung eine persönliche Schikane des Staatssekretärs für Indien, Lord
Morley. Er telegraphiert an den Premierminister, - vergeblich. Lord Minto
intervenierte zu seinen Gunsten im Auswärtigen Amt; auch das war umsonst. Sogar
im Parlament kommt die Sache zur Sprache. Aber Morley bleibt hart: "Die
kaiserliche Regierung hat beschlossen, Tibet von Indien isoliert zu halten."
Hedin ist wütend. Der ganze Ansatz seiner neuen Expedition
ist ihm damit verdorben. Aber er beschließt, den Kampf aufzunehmen und durch
eine Hintertür in Tibet einzudringen, wenn ihm der direkte Weg verboten wird. Er
reist nach Kaschmir und stellt eine große Karawane von über hundert Tragtieren
zusammen. Beim Abmarsch gibt er Ostturkestan als Ziel an. Viele Tagereisen geht
es jetzt nordwärts, immer höher in die wilde Gebirgswelt hinauf. Bald ist er in
einem Gebiet, wo auf der Karte alle Namen fehlen. Der letzte bekannte Punkt war
ein fast sechstausend Meter hoher Pass. Nur mit schwerer Mühe bezwingt ihn die
Karawane. "Welche Aussicht bot sich dort oben! Am Rande des Horizonts erhob der
Himalaja seine weißen Gipfel im hellen Sonnenglanz-, die ewigen Schneefelder
schimmerten in blauen Tönen, und der Eispanzer der Gletscher warf die
Sonnenstrahlen in blendenden Glanzlichtern zurück. Lange stand ich wie im Traum.
Vor mir die höchste Bergkette der Erde. Im Norden das Kwenlun-Gebirge, der
Grenzwall gegen das Becken von Ost-Turkestan. Im Osten und Südosten aber
breitete sich das öde Tibet aus, dessen letzte Geheimnisse ich zu entschleiern
hoffte."
Nun konnte er unbesorgt seinen Kurs ändern und unmittelbar
nach Osten vordringen. Tagelang musste die Karawane durch Gegenden ziehen, wo
die Tiere kaum einen Grashalm fanden. Hedin widmete sich hier besonders der
Vermessung einiger Seen, die er mit seinem Faltboot in abenteuerlichen Fahrten
erforschte, solange sie noch nicht von Eis bedeckt waren. Aber der Winter
beginnt in diesen Höhen frühzeitig. Schon Mitte Oktober herrschte bittere Kälte.
Die Karawanentiere fielen jetzt in Scharen dem Futtermangel und den
Schneestürmen zum Opfer. Schließlich blieben von der ganzen Karawane nur noch
zwölf Tiere übrig.
Hedins Ziel ist jetzt nicht mehr Lhasa, das er auf seiner
vorigen Reise vergeblich zu erreichen versuchte. Nachdem mit dem britischen
Expeditionskorps zahlreiche Europäer dahin vorgedrungen waren, hat die heilige
Stadt für ihn den verführerischen Reiz des Unbekannten verloren. Dagegen lockt
ihn jetzt Schigatse mit seinem berühmten Kloster, und Mitte Januar glaubte er,
dass der Weg dahin nun offen vor ihm liege. Aber das war ein Irrtum. "Hier
erlebte ich die größte Überraschung und machte auf dieser Reise die bedeutsamste
Entdeckung, denn bald ergab sich, dass uns vom Tal des Tsangpo oder obern
Brahmaputra, an dem Schigatse liegt, noch eine ungeheure Gebirgsmauer trennte,
ein ganzes verwickeltes System von Bergen, von denen bisher nur vereinzelte
Punkte bekannt waren und deren Zusammenhang nachgewiesen zu haben das wichtigste
Ergebnis meiner ganzen Reise wurde."
Anfang Februar überschritt Hedin den letzten Pass dieses
mächtigen Gebirgszuges, dem er den Namen "Transhimalaja" gab. Dann sah er vor
sich ein breites Tal und in dessen Tiefe als schmales silbernes Band den
Brahmaputra. Aus der eisigen Höhe Tibets stieg er jetzt durch Pappelhaine hinab
in eine fruchtbare Kulturlandschaft mit wohl angebauten Feldern, Gärten und
Gehöften. Das Land erschien ihm als ein wahres Paradies, und er hatte nur die
eine Befürchtung, vor seinem Ziel noch aufgehalten zu werden. Aber diese Sorge
war unbegründet. Denn er geriet jetzt in einen immer mehr anschwellenden Strom
von Pilgern, die nach Schigatse zogen, um dort das tibetanische Neujahrsfest zu
feiern.
Das Kloster Taschi-Lunpo ist der Sitz des Taschi Lama.
Während der Dalai Lama in Lhasa die weltliche Spitze des Lamaismus verkörpert,
ist der Taschi Lama das geistliche Oberhaupt. Beide gelten als Inkarnation
göttlicher Wesen, als lebende Buddhas. Hedin hatte seinen Besuch beim Taschi
Lama schon vor längerer Zeit angekündigt und konnte eines freundlichen Empfanges
sicher sein, wenn er erst einmal bis zu ihm vorgedrungen war. Als er gleich nach
seiner Ankunft in Schigatse den Wunsch äußerte, dem Neujahrsfest beiwohnen zu
dürfen, wurde ihm zwar erklärt, das sei bisher noch keinem Europäer gestattet
worden; aber schließlich gelang es ihm doch, den Widerstand der Lamas zu
überwinden.
Am Morgen des Festtages holt ihn ein Kammerherr des Taschi
Lama ab und geleitet ihn nach Taschi-Lunpo hinauf. Der Klosterhof, umgeben von
Gebäuden mit zahllosen Galerien, Baikonen und Dächern, auf denen sich eine
ungeheure Menschenmenge drängt, ist der Festplatz. Ein Chor von Knaben- und
Männerstimmen begrüßt mit einer brausenden Hymne das Ende der Winternacht und
den Einzug des Frühlings. Posaunenstöße verkünden die Ankunft des Taschi Lama.
Als er auf seiner Galerie erscheint, erhebt sich die Menge und begrüßt ihn mit
tiefer Verneigung. Nun beginnt die Zeremonie. Zwei Tänzer führen einen Zug von
fahnentragenden Mönchen. Dann kommen weißgekleidete Lamas mit Tempelgeräten und
Weihrauchfässern. Musikanten erscheinen, Trompeter mit drei Meter langen
Posaunen, Flötenbläser und Trommler. Den Schluss bilden Schauspieler in
unheimlichen Tiermasken. Sie führen einen wilden Tanz an, der die bösen Geiser
beschwören soll. Dann wird in der Mitte des Hofes ein Feuer angezündet. Ein
großes Stück Papier, auf dem alle üblen Dinge des vergangenen Jahres
aufgezeichnet sind, die man im neuen vermeiden will, geht unter dem Jubel der
Menge in Flammen auf. Damit ist die Macht der bösen Dämonen gebrochen. Nun kann
man dem neuen Jahr ohne Sorge entgegensehen.
Am Abend dieses Tages ließ der Taschi Lama Hedin bitten, ihn am nächsten Morgen
zu besuchen. Der Weg im Palast führte über zahllose Treppen durch verwinkelte
Gänge und Hallen, vorbei an Buddhastatuen, vor denen in flachen Schalen die
Flammen der Opferlichter flackerten, überall standen Scharen von Mönchen, die
mit monotonem Gesang und dem unermüdlich wiederholten Gebet "Om mani padme hum"
die bösen Geister beschwören. Endlich stand Hedin vor dem heiligen Mann, dem zu
begegnen er sich schon lange gewünscht hatte. "In einer roten Toga, barhäuptig
und mit bloßen Armen sitzt er auf einer Bank und schaut träumenden Auges hinaus
auf die vergoldeten Kuppeldächer, auf die Stadt im Tal und auf die fernen Berge.
Er reicht mir seine beiden Hände, bittet mich, neben ihm Platz zu nehmen, und
heißt mich mit weicher, fast schüchterner Stimme willkommen."
Die Audienz dauerte drei Stunden. Hedin musste von seinen
Reisen berichten und von den Ländern und Herrschern Europas. Dann erzählte der
Taschi Lama von seinen Wanderungen zu den denkwürdigen Stätten des Buddhismus.
Zum Schluss kam man auf die politische Stellung Tibets in Zentralasien zu
sprechen. Hier stießen die Interessen dreier Großmächte - Russland,
Großbritannien und China - zusammen, was Anlass zu ständigen Konflikten und
Intrigen gab. Offenbar sah der Taschi Lama in dem ihm persönlich sympathischen
Schweden einen neutralen, also ungefährlichen Gast, dem er gern gefällig sein
wollte. So gab er ihm volle Freiheit, alles in der Klosterstadt anzusehen, zu
zeichnen und zu photographieren. "Zum Abschied reichte der Taschi Lama mir beide
Hände und sagte mir mit dem gleichen freundlichen Lächeln Lebewohl. Ob er sich
selbst für eine Gottheit hielt, ich weiß es nicht; das eine ist jedoch gewiss,
dass es ein edler und liebenswürdiger Mensch war, der mich nun mit seinem Blick
verfolgte, bis sich die Tür hinter mir schloss."
Hedin machte von der Erlaubnis zur Besichtigung aller
Sehenswürdigkeiten reichlich Gebrauch. Täglich ging er im Kloster umher,
zeichnete und photographierte. Er mischte sich unter die Pilger, die im
Klosterhof den Segen des Taschi Lama erwarteten, und besuchte im großen
Göttersaal die Novizen. Sogar in die Küche drang er ein, wo in einem riesigen
Kupferkessel der Tee für die fast viertausend Mönche des Klosters bereitet wird.
Wie Hedin vermutet hatte, waren bald Emissäre aus Lhasa und
chinesische Beamte am Werke, um ihn aus Schigatse zu vertreiben. Die herzliche
Gastfreundschaft der ersten Wochen erkaltete langsam. Auch der Taschi Lama wurde
unter Druck gesetzt und bat ihn, das Kloster nicht mehr zu besuchen. Da Hedin
alles gesehen hatte, was ihn interessierte, war er durchaus bereit abzureisen.
Aber er wollte keineswegs direkt nach Indien gehen, wie die Tibeter und Chinesen
von ihm verlangten, sondern nach Westen, zur Quelle des Tsangpo, um noch einmal
in die unbekannte Gebirgsregion einzudringen.
Nachdem er dem Taschi Lama seinen Dank und einen
Abschiedsgruß gesandt hatte, verließ er Ende März Schigatse und zog über die
Quelle des Brahmaputra zu dem heiligen See Manasarovar. Schon uralte religiöse
Schriften der Inder berichten von ihm als dem "See der Götter", und noch jetzt
kommen jedes Jahr Tausende von Pilgern aus Indien, um an seinen Ufern zu baden
und dadurch Vergebung ihrer Sünden zu erlangen. Er ist fast kreisrund; sein
Durchmesser beträgt etwa 25 Kilometer. Im Süden erhebt sich der Doppelgipfel des
Gurla Mandatta zu 7.700 Metern, über dem Nordufer thront der Kailas, der
"Heilige Berg". Auf ihm soll der Gott Siva in seinem Paradies wohnen. Von Zeit
zu Zeit kommt er herunter und schwimmt dann als weißer Schwan über den See.
Hedin wollte eine genaue Karte des Seeufers aufnehmen und
seine Tiefe messen. Zu diesem Zweck ließ er das Boot, das er mit sich führte,
klarmachen. Doch die Tibeter warnten ihn dringend. Ein so frevelhaftes Vorhaben
müsse unfehlbar den Zorn des Seegottes erregen. Aber Hedin ließ sich nicht
zurückhalten. Mit zwei Dienern machte er sich eines Abends auf die Fahrt. Nach
sechzehn Stunden landeten sie am gegenüberliegenden Ufer. In kurzen Abständen
nahm er Lotungen vor und gewann so ein genaues Profil des Seebodens. Statt des
Zornes der Götter erlebte er beim Anbruch des Tages über dem heiligen See ein
wundervolles Schauspiel: "Langsam verstreichen die Stunden der Nacht. Es dämmert
schwach im Osten. Die Herolde des neuen Tages schauen über die Berge.
Federleichte Wolken färben sich rosarot, und ihre Spiegelbilder auf dem See
lassen uns glauben, dass wir über lauter Rosengärten dahingleiten. Dann treffen
die ersten Sonnenstrahlen den Gipfel des Gurla Mandatta, er leuchtet in Purpur
und Gold auf. Wie ein Mantel aus Licht gleitet der Widerschein an der Ostseite
des Berges herab. Ein Wolkengürtel, der tiefer unten den Gurla Mandatta
umschwebt, wirft seinen Schatten auf den Hang. - Jetzt geht die Sonne auf,
funkelnd wie ein Diamant, und die ganze wunderbare Landschaft erhält Leben und
Farbe. Millionen von Pilgern haben den Siegeszug des Morgens über den heiligen
See erblickt, aber kein Sterblicher hat vor uns dies Schauspiel von der Mitte
des Manasarovar aus gesehen."
Einen Monat lang hielt sich Hedin am Ufer des heiligen Sees
auf, um ein genaues geographisches Bild seiner Umgebung zu gewinnen. Aber in der
Nähe lockte noch ein anderes Problem: die Quelle des Indus. Schon Alexander der
Große hatte ihn auf seinem Zug nach Indien kennengelernt. Er hielt ihn zunächst
für den Oberlauf des Nil, da er vom Indischen Ozean nichts wusste und weil es
hier Krokodile gab, die er nur aus Ägypten kannte. "Aber bald wurde ihm klar",
schreibt Hedin, "dass die beiden Erdteile durch ein Weltmeer getrennt wurden und
dass der Indus seine Fluten in dieses Meer ergoss ... Es war nicht die Quelle
des Nil, die er entdeckt hatte, sondern die des Indus. Aber auch dies war ein
Irrtum, denn Alexander wusste nichts von dem Hunderte von Kilometer langen
Oberlauf des Flusses, und es sollte mehr als 2.200 Jahre dauern, ehe die
wirkliche Quelle des Indus entdeckt wurde!" - "Den Mund, aus dem der Löwenfluss
kommt" nennen die Tibeter den Ort, wo unter einer flachen Felsplatte vier
Quelladern hervortreten und sich zu einem Bach vereinigen. Hedin war der erste
Europäer, der an der wirklichen Quelle des Indus stand, und er fühlte sich in
diesem Augenblick durchaus als legitimer Nachfahre des großen Königs, dessen
Spuren er auf seinen früheren Reisen schon oft gefolgt war.
Noch einmal wandte er sich jetzt in das Bergmassiv des
Transhimalaja. Im September hatte er den Gebirgszug zum fünften Male
überschritten, dessen Verlauf und innere Struktur sich ihm mehr und mehr
entschleierte. Wieder wollten die Tibeter ihn aufhalten. Hedin verkleidete sich
als Schafhirt und übte sich eifrig in der tibetanischen Hirtensprache.
Mehrere Wochen lang ging es gut, aber dann wurde er erkannt
und gefangen. Doch jetzt war er bereit, über Schigatse nach Indien abzureisen.
"Dieser Weg war mir noch unbekannt. Im übrigen war ich reisemüde, ich glaubte,
jetzt von Tibet genug zu haben, und sehnte mich danach, auf dem kürzesten Weg
nach Hause zu kommen."
Die Engländer in Indien hatten mit sportlichem Interesse
verfolgt, wie er allen Verboten Lord Morleys zum Trotz seine Pläne durchgeführt
hatte. Als er jetzt in Simla ankam, empfingen sie ihn wie einen Triumphator. -
Hier fand er auch eine Einladung der Geographischen Gesellschaft in Tokio vor,
die ihn bat, auf der Heimreise noch Japan zu besuchen. In Kobe, Yokohama und
Tokio musste er Vorträge halten; an allen Orten wurde ihm ein großartiger
Empfang zuteil, über Korea erreichte er die sibirische Bahn. Im Februar 1909
traf er nach einer Abwesenheit von drei Jahren und drei Monaten in Stockholm
ein.
Wiederum ergießt sich eine Flut von Einladungen zu
Vortragsreisen über Hedin. Er stöhnt manchmal darüber und meint, die Reden,
Festlichkeiten und Reisen seien anstrengender als die schlimmsten Strapazen in
Asien. Aber im Grunde ist er auch hierbei durchaus in seinem Element, denn er
hat jetzt das errungen, wovon er als Knabe träumte: den weltweiten Ruhm. Er gilt
jetzt unbestritten als der berühmteste Entdeckungsreisende seiner Zeit und als
bester Kenner Innerasiens. In Berlin sprach er vor einer glänzenden Gesellschaft
in der Königlichen Oper; unter den Anwesenden waren Kaiser Wilhelm und die
Kaiserin, der Reichskanzler und Generalstabschef Moltke. In Wien empfing ihn der
alte Kaiser Franz Joseph, in Rom Papst Pius X. In London, wo er vor der
Geographischen Gesellschaft einen Vortrag hielt, schloss er unter dem brausenden
Beifall der Zuhörer Freundschaft mit seinem alten Gegner, dem Staatssekretär für
Indien Lord Morley.
Der wachsende Ruhm brachte ihm auch Kritiker und Neider.
Manche warfen ihm Eitelkeit vor. Gewiss hat er in seinen Büchern manchmal
kräftige Worte gebraucht, um die Bedeutung seiner Entdeckungen ins richtige
Licht zu setzen. Aber das ist das Recht jedes Forschungsreisenden. Für Hedin
gehört nun einmal - ähnlich wie für Alexander von Humboldt - die Entschleierung
des Antlitzes der Erde zu den großen Angelegenheiten der Menschheit, von denen
man nicht eindringlich genug reden kann. Hedins Landsmann Kjellen meint dazu:
"Man spricht nicht leise, wenn man gewohnt ist, Tibet zum Hörsaal zu haben und
den Himalaja und seinesgleichen als Zuhörer."
Ein Volk in Waffen
Für Tagesfragen der Politik hatte Hedin sich bisher nicht
sonderlich interessiert. Aber seine ständige Beschäftigung mit den Problemen
Asiens führte ihn immer wieder auf die Frage der Beziehungen dieses Kontinentes
zu Europa. Da versetzten ihn besonders die wachsenden Rüstungen Russlands in
Sorge. Unter dem Titel "Ein Warnungsruf" ließ er eine Schrift erscheinen, die
bald in einer Million Exemplaren in Schweden verbreitet war. Er gab darin eine
Analyse der politischen Lage in Europa und zeigte die akute Gefahr für sein
Heimatland auf, wenn es keine kraftvolle Verteidigung besitzt. "Ist Schweden in
starker und kluger Weise gerüstet", schrieb er, "so zaudert jeder Feind vor
einem Angriff, der ihm vielleicht mehr Kosten als Freude machen würde. Daher ist
das Verteidigungswesen eine Schutzwehr dauernden Friedens, während Abrüstung zum
Kriege herausfordert."
Hedin wusste, dass seine Stimme mehr Gewicht hatte als die
eines beliebigen Privatmannes. Es war ihm klar, dass dieser Schritt ihn die
Freundschaft des Zaren und vieler seiner russischen Freunde kosten würde. Schon
wenige Monate nach dem Erscheinen der Schrift strich ihn die Russische
Geographische Gesellschaft aus der Liste ihrer Mitglieder. - Auch in zahlreichen
öffentlichen Vorträgen trat Hedin für seine Überzeugung ein. Eine Flut von
Briefen war die Folge. Viele waren zustimmend, einige aber auch erbittert
ablehnend. Ein Anonymus schrieb: "Ich wünschte, der Russe erwischte Sie und
machte Hackfleisch aus Ihnen, denn das haben Sie nachgerade durch Ihre
vaterlandsverräterische Tat verdient. Sie sind ein Lump, der uns in jeder Weise
Krieg mit Russland auf den Hals ziehen will." Ein zweideutiges Telegramm
lautete: "Fahr nach Asien. Ein Bewunderer." Aber all das konnte Hedin nicht
abschrecken. Er hielt es für seine Pflicht, den Wehrwillen seines Landes zu
stärken.
Der Sommer des Jahres 1914 brachte die Katastrophe, die Hedin
schon lange hatte herannahen sehen. "Als der Weltkrieg ausbrach, gebot mir mein
Gewissen und mein Zugehörigkeitsgefühl zum Stamm der Germanen, mich unbedingt
auf die Seite Deutschlands zu stellen." An anderer Stelle fährt er fort: "Es war
klar, dass die ganze politische und wirtschaftliche Entwicklung für viele
Jahrzehnte durch den Ausgang dieses Weltkrieges bestimmt werden würde. Mich
ergriff daher ein unbezwingliches Verlangen, den Krieg aus der Nähe zu sehen, in
der Feuerlinie. Den modernen Krieg auf dem Schlachtfeld kennenzulernen ist eine
wertvolle Erfahrung. Man lernt wenigstens, den Krieg als solchen zu
verabscheuen."
Von der deutschen Obersten Heeresleitung erhielt Hedin die
Genehmigung, von September bis November die Westfront zu besuchen. Er berichtet
darüber in dem Buch "Ein Volk in Waffen", das durch den Verlag Brockhaus rasch
in einer Riesenauflage verbreitet wurde. Das Honorar für die Volksausgabe
stellte Hedin dem deutschen Roten Kreuz zur Verfügung. - Im nächsten Jahr reiste
er an die Ostfront und schrieb darüber das Buch "Nach Osten". 1916 besuchte er
die asiatischen Kriegsschauplätze: Mesopotamien, Syrien und Palästina. Doch
waren es hier weniger die kriegerischen Unternehmungen, die ihn interessierten,
als vielmehr die Länder, Völker und Altertümer des vorderen Orients. In den
Büchern "Bagdad - Babylon - Ninive" und "Jerusalem" hat er von diesen Fahrten
berichtet.
Durch sein Eintreten für Deutschland verlor er nun auch alle
seine Freunde in England und Frankreich. Im März 1915 wurde sein Name aus der
Ehrenliste der Geographischen Gesellschaft in London gestrichen. Hedin bemerkt
dazu: "Wenn ich in dem Augenblick, als man mich zum Ehrenmitglied der berühmten
Gesellschaft wählte, gewusst hätte, dass der Titel Verpflichtungen enthält, in
einem Krieg stets an Englands Seite zu stehen, dann hätte ich die Auszeichnung
höflich, aber bestimmt abgelehnt."
Auch im eigenen Lande fand Hedin während der Kriegszeit
manche neue Gegner. Man kramte wieder die alten Vorwürfe gegen ihn aus, den Adel
und die vielen Orden, und als neuesten die Behauptung seiner angeblich jüdischen
Abstammung. Hedins Schwester Alma bemerkt dazu: "Der schlimmste Vorwurf, den sie
ihm zu machen glauben, ist der: er sei ein Jude. Sven ist zu 15/16 Germane. Das
jüdische Erbe, das er von dem Urgroßvater seiner Mutter empfangen hat, ist
sicher nichts Tadelnswertes."
Der Zusammenbruch der Mittelmächte im Jahre 1918 erschütterte
Hedin so tief, als hätte er sein eigenes Vaterland betroffen. Er war ein
aufrichtiger Freund Deutschlands, und sein konservativer Sinn ließ ihn von dem
Sturz vieler Fürstenthrone und der grundlegenden Umgestaltung des europäischen
Staatengefüges nichts Gutes erwarten. Auch schien ihm der Weg zu einer neuen
Forschungsreise nach Innerasien nun auf lange Zeit versperrt. So verbrachte er
die folgenden Jahre meist zu Hause in stiller Arbeit an dem großen Werk über
seine letzte Expedition.
Mehr zur Ablenkung als aus Forscherdrang reiste er Anfang
1923 in die Vereinigten Staaten, über Europa lagen damals die dunklen Schatten
der Ruhrbesetzung. Hedin suchte eine freiere Atmosphäre und neue Eindrücke. In
eine eigentliche Vortragstournee ließ er sich nicht einspannen, aber an vielen
Orten musste er doch über seine Reisen und sein Leben berichten. Als Geographen
interessierten ihn die großartigen Bildungen der Natur wie der Gran Cañon im
Staate Colorado und die Landschaft Kaliforniens, über Japan und die Sowjetunion
kehrte er in die Heimat zurück. In dem Buch "Von Peking nach Moskau" hat er
seine Eindrücke geschildert. Manche Kreise versuchten jetzt, ihn als
Bolschewistenfreund zu verdächtigen. Hedin hatte vom zaristischen Russland viel
Förderung erfahren, an die er mit Dankbarkeit zurückdachte. Das russische Volk
behielt auch weiterhin seine Sympathie. Den neuen Herrschern stand er sehr
skeptisch gegenüber, aber er verschwieg nicht, dass ihm vieles, was er jetzt in
Russland gesehen hatte, auf einen neuen Aufstieg zu deuten schien: "Ob unter
Großfürsten, Zaren oder Kommissaren, dieses gewaltige Reich ändert seinen
Charakter nicht; denn dieser ist bedingt durch die geographische Lage, durch die
Volksseele, die trotz allem unveränderlich bleibt, durch die Hilfsquellen und
Bedürfnisse des Landes ... Das Russland der Zukunft wird auf dem Grund aufgebaut
werden, den die blutigen Umwälzungen der letzten Jahre gelegt haben. Dem
slawischen Boden entsprießt die neue Entwicklung, und auf dem Wege der Evolution
schreitet Russland vorwärts zu neuer Macht und Größe."
Auf allen früheren Expeditionen war Hedin allein gereist, das
heißt als einziger Europäer mit einer wechselnden Zahl von eingeborenen Dienern.
Diese Art zu reisen entsprach zutiefst seinem Temperament. Hier war er allein
der Herr, der über alles zu bestimmen hatte, der niemandem Rechenschaft schuldig
war, wenn er seinen Reiseplan änderte oder ganz umstieß. Auf diese Weise erlebte
er all die großen und kleinen persönlichen Abenteuer, die dann seinen
Reisebeschreibungen Leben und Farbe gaben. In späteren Jahren wurde er sich aber
klar darüber, dass diese Reisetechnik für ernsthafte wissenschaftliche Forschung
eigentlich schon überholt war. Einem so universalen Geist wie Alexander von
Humboldt war es hundert Jahre früher noch möglich gewesen, alle
wissenschaftlichen Disziplinen zu überschauen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts
hatte sich aber die Wissenschaft immer mehr spezialisiert. Der einzelne Forscher
war jetzt kaum imstande, sein eigenes Fachgebiet restlos zu beherrschen. Immer
häufiger wurden darum Expeditionen, an denen mehrere Fachgelehrte teilnahmen.
Auch Hedin hatte den Ehrgeiz, noch einmal an der Spitze eines solchen
Unternehmens zu stehen. Es gelang ihm, mit Unterstützung der chinesischen
Regierung eine große Expedition auszurüsten, die ihn in den Jahren 1929 bis 1935
wieder in sein altes Arbeitsgebiet Ostturkestan führte. Mehr als zwanzig
Mitarbeiter, Schweden, Deutsche und Chinesen, begleiteten ihn, darunter
Vertreter aller wichtigen Einzelgebiete der geographischen Forschung. Die
kartographische Aufnahme des Reiseweges der Hauptkarawane übernahm Hedin selbst.
Der große Stab der Mitarbeiter wurde in Gruppen aufgeteilt, die eigene Wege
gingen. So konnte vor allem die Kenntnis von der Topographie der Wüste Gobi
wesentlich erweitert werden. Die Prähistoriker entdeckten mehr als hundert
Wohnplätze aus der jüngeren Steinzeit mit 17.000 Fundgegenständen. Der deutsche
Meteorologe Dr. Hauge ließ Pilotballons bis in die Stratosphäre steigen und
gewann wertvolle Erkenntnisse über die Luftzirkulation Innerasiens. - Im
Anschluss an diese Expedition übernahm Hedin noch den Auftrag der chinesischen
Regierung, zwei Autostraßen abzustecken, die das eigentliche China mit
Ost-Turkestan verbinden und auf dem Weg der alten Seidenstraße schließlich
Anschluss bis nach Europa finden sollten.
Die Expedition der Jahre 1928 bis 1935 war das letzte große
Unternehmen Hedins, bevor durch den zweiten Weltkrieg und die
Nachkriegsereignisse Innerasien für die internationale Forschung gänzlich
verschlossen wurde. Er hat auf ihr mit seinen Mitarbeitern ein ungleich größeres
Beobachtungsmaterial zusammengetragen als auf seinen früheren Reisen. Diese
größte von allen Expeditionen war ein würdiger Abschluss seiner
Forschertätigkeit in Asien. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit wird Hedins Name
aber mehr mit seinen früheren Reisen verbunden bleiben, in denen er allein auf
abenteuerlichen Fahrten die letzten unbekannten Gebiete Innerasiens durchzog.
Auch im zweiten Weltkrieg waren Hedins Sympathien eindeutig
auf deutscher Seite. Er hatte den militärischen Wiederaufstieg Deutschlands
begrüßt, weil er darin ein Bollwerk für Europa gegen die Gefahr aus dem Osten
sah, das auch seinem Lande Schutz bieten konnte. Schon 1935 und im folgenden
Jahr kam er nach Berlin, um das neue Deutschland kennenzulernen und Material für
ein Buch zu sammeln. Manches in der Anfangszeit der nationalsozialistischen
Herrschaft fand seinen Beifall. Er scheute sich jedoch nicht, Kritik zu üben, wo
ihm dies notwendig erschien, so besonders in der Frage der Judenverfolgungen,
des Kampfes gegen die Kirchen und der Unterbindung der freien Wissenschaft. Das
Manuskript seines Buches wurde bei Brockhaus Kapitel für Kapitel ins Deutsche
übersetzt und sollte bald erscheinen. Da schaltete sich plötzlich das
Propagandaministerium ein und bemühte sich, Hedin klarzumachen, dass solche
kritischen Ausführungen auch von einem befreundeten Ausländer nicht geduldet
werden könnten. Man legte ihm nahe, die beanstandeten Stellen zu streichen oder
auf die Veröffentlichung zu verzichten. Hedins Antwort war eindeutig: "Vor
meinem Gewissen habe ich bis jetzt niemals kapituliert und werde es auch diesmal
nicht tun. Deshalb wird nichts gestrichen... Ich akzeptiere also die zweite
Alternative: das Buch wird in Deutschland nicht erscheinen." Unter dem Titel
"Deutschland und der Weltfrieden" kam es jedoch im Jahre 1937 in Schweden
heraus.
Der letzte Entdeckungsreisende
Hedin starb am 26. November 1952 im Alter von
siebenundachtzig Jahren in Stockholm. Mit ihm ging einer der letzten von den
alten großen Männern Europas dahin, deren Lebensarbeit noch tief im neunzehnten
Jahrhundert wurzelte und doch bis in unsere Gegenwart lebendig blieb.
Als er geboren wurde, war der größte Teil von Innerafrika noch gar nicht
entdeckt. In Zentral- und Nordasien waren Gebiete von fast gleichem Umfang der
europäischen Forschung verschlossen. Die Arktis hatte man nur am Rande berührt,
im Inneren Australiens und im tropischen Südamerika waren weite Strecken noch
ganz unbekannt.
Jetzt sind diese weißen Flecken mit wenigen Ausnahmen von der
Landkarte verschwunden. Gewiss wird die Detailforschung auch in Zukunft noch
manche Überraschungen bringen. Aber in den wesentlichen Zügen ist das Antlitz
der Erde heute entschleiert, bedeutsame geographische Entdeckungen alten Stils
sind nicht mehr zu erwarten. Damit ist eine entscheidende Epoche in der
Geschichte unseres Planeten beendet: das Zeitalter der Entdeckungen. In der
Liste der großen Forscher, deren Namen mit diesen ruhmvollen Eroberungen für
immer verbunden sind, ist Sven Hedin der letzte.
Es ist für den Menschen unserer Tage nicht leicht, sich das
geographische Raumgefühl vergangener Jahrhunderte zu vergegenwärtigen, als große
Teile der Erdoberfläche noch unerforscht waren. Eine magische Anziehungskraft
ging von solchen Gebieten aus. Was lag wohl jenseits dieser Grenzen der
bekannten Welt? Gab es dort Gebirge und Ströme von ungeahnten Ausmaßen,
Wüsteneien oder fruchtbare Landschaften? Gab es dort Menschen, wie man sie noch
nicht kannte? Waren es Wilde oder Kulturvölker mit fremdartigen Sitten,
Gewohnheiten und Künsten? Zahllose Menschen setzten Vermögen, Gesundheit und ihr
Leben aufs Spiel, um den Schleier zu lüften. Das Bild der Erde und das Bild des
Menschen, beide mussten unvollständig bleiben, solange diese Rätsel nicht gelöst
waren.
Hedin war diesem Zauber der Terra incognita schon in seinen
Jugendtagen verfallen. Seitdem er sich die Erforschung Innerasiens zum
Lebensziel gesetzt hatte, kannte er keine Ruhe. Er besaß eine gute Portion
Ehrgeiz. Kein anderer sollte ihm zuvorkommen. Zum wirklichen wissenschaftlichen
Forschungsreisenden freilich, das hatte er auf seiner ersten Asienfahrt deutlich
empfunden, fehlte ihm damals noch so gut wie alles. Richthofen hatte ihm
nahegelegt, nicht nur ein flüchtiges Studium zu absolvieren, sondern sich
gründlich mit allen Zweigen der erdkundlichen Wissenschaft und den Methoden der
Forschungsarbeit vertraut zu machen. In ganz ähnlicher Lage hatte einst der
junge Alexander von Humboldt ein volles Jahrzehnt darangesetzt, sich bis ins
letzte für seine Lebensarbeit wissenschaftlich vorzubereiten. Hedin aber konnte
diese entsagungsvolle Geduld nicht aufbringen. So sehr er seinen großen Lehrer
Richthofen verehrte, der ihn nicht nur auf die Bahn des Entdeckers, sondern des
wissenschaftlichen Forschers führen wollte, sein ungestümer Drang in die Ferne
war stärker. "Ich war dieser Forderung nicht gewachsen", schreibt er im Alter.
"Ich war zu früh auf die wilden Wege Asiens hinausgekommen, ich hatte zuviel von
der Pracht und Herrlichkeit des Orients, von der Stille der Wüsten und der
Einsamkeit der langen Wege verspürt. Ich konnte mich mit dem Gedanken nicht
befreunden, wieder für längere Zeit auf der Schulbank zu sitzen."
Man wird heute im Blick auf Hedins ganzen Lebensweg kaum
bezweifeln können, dass diese Entscheidung richtig und fruchtbar war, sowohl für
ihn selbst wie für die Wissenschaft. Er war seinem Temperament und seiner
Veranlagung nach prädestiniert zum Pionier und Entdecker, nicht zum
wissenschaftlichen Forscher am Schreibtisch oder auf dem Lehrstuhl einer
Universität. Als man ihm nach seiner dritten großen Asienexpedition eine
Professur für Geographie in Stockholm anbot, empfand er das als eine tolle
Zumutung und lehnte entsetzt ab: "Danke schön, ich würde vor Ausgang des ersten
Jahres vor Langeweile sterben! Nein, unsere Jahre und unsere Freiheit können wir
besser verwenden."
Der freien Feldforschung galt seine Liebe. Ihr hat er sich in
den fünf Jahrzehnten, über die sich seine Asienreisen erstrecken, mit
leidenschaftlicher Hingabe gewidmet und dabei Unvergleichliches geleistet.
Allein in den Routenaufnahmen, die viele Tausende von Kilometern seiner
Karawanenwege mit den Details eines Messtischblattes kartographisch festlegten
und durch zahllose Höhenmessungen und astronomische Ortsbestimmungen ergänzt
wurden, steckt eine unvorstellbare Arbeitsleistung. Dazu kommen seine
systematischen Untersuchungen der Seen Innerasiens, sorgfältige klimatologische
Beobachtungen durch viele Jahre sowie umfassende Sammlungen von Gesteinen,
Pflanzen, Tieren und Altertümern.
über die eigentlichen Forschungsergebnisse seiner großen
Expeditionen gab Hedin jedesmal ein wissenschaftliches Werk heraus. Zur
Auswertung des Beobachtungsmaterials zog er einen Stab von Fachgelehrten in der
Heimat heran. Der Umfang dieser Veröffentlichungen stieg von Reise zu Reise
gewaltig an. Sein erster Forschungsbericht fand noch im Ergänzungsheft einer
deutschen Fachzeitschrift Raum. Aber schon das Werk über die zweite Reise "Scientific
Results of a Journey in Central Asia", wuchs auf sechs Text- und zwei Atlasbände
an. - "Southern Tibet" ist der Titel der dritten großen wissenschaftlichen
Veröffentlichung, die insgesamt zwölf Bände umfasst, davon drei Atlanten. Seit
1936 schließlich erscheint das gewaltige Sammelwerk über die
Gemeinschaftsexpedition der Jahre 1928 bis 1935, das rund fünfzig Bände umfassen
soll, aber auch heute noch nicht vollständig vorliegt.
Neben diesen der Wissenschaft dienenden Werken stehen die
erzählenden Reiseberichte, die sich an ein breiteres Publikum wenden. Sie sind
bei Hedin keineswegs - wie bei vielen anderen Reisenden - eine Volksausgabe
seiner wissenschaftlichen Werke, auch nicht eine bloße Nebenfrucht seiner
eigentlichen Forschungen. Er verfolgt mit ihnen ein durchaus eigenes Ziel, das
ihm wohl ebenso wichtig ist wie seine wissenschaftlichen Bemühungen. Den
Menschen zu Hause, die nicht das Glück hatten, gleich ihm Asien aus eigener
Anschauung zu erleben, will er ein eindringliches Bild dieser bunten und
vielgestaltigen Welt geben. Sein Ehrgeiz ist die große Reisebeschreibung
klassischen Stils, das Epos des letzten Entdeckungsreisenden, das den Leser
unmittelbar die Entschleierung der Terra incognita miterleben lässt.
Seine Schilderungen sind lebendig und farbig. Alle
Erscheinungen der Natur und des Menschen werden mit gleicher Liebe und
Darstellungskraft behandelt. Wir erleben mit ihm den Aufruhr der Natur bei einem
Sandsturm in der Wüste oder die furchtbare Gewalt eines Schneesturms auf dem
tibetanischen Hochland. Er lässt uns teilnehmen an den Freuden und Strapazen des
Karawanenlebens und an seinen Abenteuern mit freundlichen und feindlichen
Asiaten. Hedin ist ein Meister in der Behandlung der Eingeborenen. Stets achtet
er ihre Sitten und religiösen Gefühle. Auch in scheinbar aussichtslosen
Situationen entwickelt er erstaunliche diplomatische Fähigkeiten, und es gelingt
ihm fast stets, sein Ziel zu erreichen. Von seinen Dienern verlangt er viel,
aber immer ist er ihnen ein wohlwollender patriarchalischer Herr. Jede Arroganz
des Europäers ist ihm fremd. Oft gibt er ihnen als Anerkennung für besondere
Leistungen ein Fest oder einen Schmaus, und immer entlohnt er sie weit über das
vereinbarte Maß hinaus. Dafür setzen sie sich auch bis zum Äußersten für ihn
ein, und wenn am Ende einer Reise die Karawane aufgelöst werden muss, gibt es
für beide Teile ein wehmütiges Abschiednehmen.
Die gleiche Anhänglichkeit empfindet Hedin gegenüber den Tieren, die ihn auf
seinen Reisen begleiten. Mit einem Kamel, das ihn monatelang durch die Wüste
getragen hat, kann er sich befreunden wie mit einem Menschen. Der Tod seines
kleinen Ladakischimmels, mit dem er lange Zeit über die eisigen Hochflächen
Tibets gezogen war, erschüttert ihn wie der Verlust eines guten Kameraden.
Hedin nimmt die Welt vor allem durch das Auge auf. Seine
Naturbeschreibungen wirken oft wie buntfarbige Aquarelle, wenn er die Linien und
Stimmungen einer Landschaft im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten malt oder die
Pracht eines Sonnenuntergangs in der Wüste schildert. Aber das Wort allein ist
ihm nicht genug. Schon auf seinem ersten Streifzug durch Persien hielt er seine
Eindrücke in einer großen Anzahl von Skizzen fest, und auf den späteren Reisen
hat er sein Zeichentalent weiter entwickelt. Auch brachte er stets viele
Hunderte von Photos mit nach Hause. Beim Erscheinen seiner ersten Bücher vor
fünfzig Jahren waren sie als dokumentarisches Anschauungsmaterial aus einer
bisher verschlossenen Welt eine Sensation. Heute, da wir aus Bildbüchern und
Filmen technisch und künstlerisch weit Vollkommeneres kennen, erscheinen sie
matt und blass. Umso mehr wirken auf uns die Bilder von Hedins eigener Hand, die
Zeichnungen von Karawanenszenen, Volkstypen, und Bauwerken, dazu seine
Aquarelle, auf denen die Landschaften Innerasiens und der Zauber orientalischer
Stadtbilder mit leuchtenden Farben lebendig werden.
Im Jahre 1898 bot Hedin das Manuskript zu seinem Buch "Durch
Asiens Wüsten" dem Verlag Brockhaus in Leipzig an. Albert Brockhaus, der Chef
dieses damals schon berühmten Verlagshauses, war bereit, das Werk
herauszubringen und bot ein Honorar von siebentausend Mark. Hedin, der nach dem
triumphalen Empfang in den Hauptstädten Europas den Wert seines Namens jetzt
nicht gering ansetzte, verlangte zehntausend. Brockhaus schlug ein mit der
Bemerkung: "Ihrer persönlichen Liebenswürdigkeit wegen."
Damit begann eine freundschaftliche Verbindung, die bis zum
Tode von Albert Brockhaus währte und beiden Partnern reichen menschlichen und
geschäftlichen Gewinn brachte. Das von Susanne Brockhaus herausgegebene Buch
"Sven Hedin und Albert Brockhaus. Eine Freundschaft in Briefen zwischen Autor
und Verleger" ist ein schönes Dokument dieser Verbindung zweier bedeutender
Männer. Brockhaus sah von Jahr zu Jahr deutlicher, dass er in dem Schweden den
erfolgreichsten Reiseschriftsteller seiner Epoche gewonnen hatte. Und Hedin
erkannte, dass er unter der freundschaftlichen Fürsorge des großen Verlegers für
seine Bücher eine Heimat gefunden hatte, wie er sie sich nicht besser wünschen
konnte.
Hedin war auch als Schriftsteller ein emsiger Arbeiter.
Nachdem er den "Transhimalaja" beendet hatte, schrieb er triumphierend an
Brockhaus: "Ich habe ja das Unmögliche geleistet, ein Buch von zwei dicken
Bänden in einhundertundsieben Tagen zu schreiben, und es ist gut geschrieben." -
Gelegentlich stöhnt er in seinen Briefen an Brockhaus über die viele Arbeit am
Schreibtisch, aber im Grunde war ihm das Berichten über seine Expeditionen
ebenso Lebensbedürfnis wie das Reisen selbst; und zugleich war es neben den
Vortragsreisen seine einzige Einnahmequelle. Er gesteht selbst im Alter:
"Während fast fünfzig Jahren war meine persönliche Ökonomie wesentlich auf den
Honoraren von Brockhaus aufgebaut." In den Jahren 1899 bis 1940 erschienen von
ihm in deutscher Übersetzung bei Brockhaus achtundzwanzig Werke mit insgesamt
sechsunddreißig Bänden, also fast jedes Jahr ein Band, wobei die gekürzten
Ausgaben noch nicht einmal mitgezählt sind. Schon frühzeitig legte Hedin auch
die Vermittlung der Verlagsrechte für andere fremdsprachige Ausgaben in die Hand
von Albert Brockhaus, der seine weitreichenden Verbindungen spielen ließ und
erstaunliche Erfolge brachte. So konnte er von dem Transhimalaja-Werk noch vor
dem Erscheinen der deutschen Ausgabe zehn Übersetzungen in anderen Sprachen
sichern. Ähnlich war es bei dem Buch "Von Pol zu Pol". Noch bevor das Werk in
Leipzig fertig war, hatte er Verträge für elf Übersetzungen abgeschlossen, und
fünfzehn weitere standen in Aussicht.
Viele von Hedins Büchern erzielten hohe Auflageziffern und
brachten ihm bedeutende Honorare. Trotzdem versichert er uns glaubhaft, dass er
sich während der Zeit der großen Reisen aus seinen Einkünften als Schriftsteller
niemals ein Vermögen hat ansammeln können. Jede neue Expedition wurde
kostspieliger als die vorhergehende, und vor allem verschlangen die
wissenschaftlichen Veröffentlichungen riesige Summen, die in einzelnen Fällen
höher waren als die eigentlichen Reisekosten. Sie mussten kostbar ausgestattet
sein, und der Preis wurde dadurch so hoch, dass nur wenige Bibliotheken und
Institute sie kaufen konnten. Wohl bewilligte ihm der schwedische Reichstag
meist eine Beihilfe für die Drucklegung, aber einen großen Teil der Kosten
musste er selbst tragen. Klagend schreibt er einmal an Brockhaus: "Mein Werk
,Southern Tibet' ruiniert mich gänzlich. Bis jetzt belaufen sich die Kosten auf
dreihundertsiebenundsechzigtausend schwedische Kronen! Bezahlt sind
einhundertachtzigtausend Kronen. Ich muss also zweihunderttausend Kronen haben,
bevor das Resultat x = o ist. Den Preis haben wir schon auf siebenhundertfünfzig
Kronen erhöht und steigen vielleicht nochmals, bevor alles vorliegt. Nur hundert
Exemplare sind verkauft. Ich muss noch dreihundert Exemplare verkaufen, um
gerettet zu sein. Was soll ich machen, um sie loszuwerden?"
Um solche und ähnliche Verpflichtungen abzudecken, hatte
Hedin neben seinen Buchhonoraren nur noch eine Möglichkeit: die Vortragsreisen.
In einer Zeit, in der der Film noch gar nicht und die illustrierten Zeitungen
noch wenig über die entlegensten Länder berichteten, fanden die Vorträge
berühmter Forscher eine viel breitere Resonanz als heute. Kein anderer Reisender
übertraf Hedin an Popularität. In den großen geographischen Gesellschaften
Europas war er durch Jahrzehnte der gesuchteste Redner, vor allem in
Deutschland. Da er in seinen Vorträgen keineswegs nur abstrakte Wissenschaft
bot, sondern immer wieder die großen Wunder der Natur und die Abenteuer des
Entdeckers anschaulich zu machen verstand, zog er auch weit über den Kreis der
Fachwissenschaft hinaus ein interessiertes Publikum an. Schon 1903 erhielt er
ein Angebot, das ihm für fünfzig Vorträge in Amerika und zwanzig in England ein
Honorar von hunderttausend Kronen zusicherte. Doch damals lehnte er stolz ab:
"Geld verdient jeder reiche Spießbürger, aber kein anderer als ich kann meine
wissenschaftliche Arbeit zu Ende führen, und es ist meine Pflicht sowohl gegen
mich wie gegen mein Land, sie so gründlich und so gut wie möglich auszuführen.
Sie wird immer bestehen bleiben, während das Geld zerrinnt."
Später freilich war er nicht mehr so ablehnend, denn es wurde ihm klar, dass er
die würdige Herausgabe seiner wissenschaftlichen Werke nur auf diesem Wege
finanzieren konnte. 1909 schreibt er von einer Vortragsreise durch Deutschland
aus Stuttgart: "Heute Abend habe ich den ersten öffentlichen Vortrag gehalten,
vollgepfropft; er bringt sicher dreitausend Mark ein, denn die Eintrittspreise
gingen bis zu sechs Mark hinauf. Ich halte es fast für eine Gaunerei, so viel
Geld an sich zu raffen, nur damit man dasteht und sieben Viertelstunden etwas
Auswendiggelerntes hersagt. Aber im übrigen mache ich mir kein Gewissen daraus,
denn wenn die Menschen so verrückt sind, sechs Mark zu bezahlen, um mich eine
Zeitlang angucken zu können, meinetwegen!" - Sogar noch als Siebzigjähriger
entschloss sich Hedin im Jahre 1935 zu einer großen Vortragsreise, um Schulden
aus seiner letzten Asienexpedition abzudecken. Es wurde eine tolle Jagd.
Einhundertelf Vorträge hielt er in einundneunzig deutschen Städten, dazu
neunzehn in den Nachbarländern. "In fünf Monaten legten wir eine Strecke von der
Länge des Äquators zurück, dreiundzwanzigtausend Kilometer mit der Bahn und
siebzehntausend Kilometer mit dem Auto."
Als die glücklichste Zeit seines Lebens bezeichnet Hedin
immer wieder die vielen Jahre, die er in der Einsamkeit Innerasiens zugebracht
hat. Das rauschende Leben der großen Gesellschaft brauchte er nicht und vertrug
es nie lange. Wenn er doch gelegentlich daran teilnahm, so nur, um seine
eigentlichen Ziele zu fördern. Trotzdem gewann er eine Popularität und einen
weltweiten Ruhm, wie er unter den geographischen Forschern wohl nur Alexander
von Humboldt hundert Jahre früher zuteil wurde. Das Leben beider Männer weist
bei recht verschiedenartigen Anlagen manche Parallelen auf. Beiden war ein
ungewöhnlich langer und vom Schicksal begünstigter Lebenstag beschieden, den sie
mit Leidenschaft der Erforschung der Erde widmeten. Frauenliebe spielte in ihrem
Leben nie eine Rolle; Asien sei ihm durch Jahrzehnte Braut und Gattin gewesen,
schreibt Hedin im Vorwort zu "Von Pol zu Pol". Beide opferten ohne Zögern
Vermögen oder Einkommen, um ihre Reisen durchzuführen und ihre
wissenschaftlichen Werke in würdiger Form herauszubringen. Beide wollten nicht
als Fachgelehrte totes Wissen anhäufen, sondern ein lebendiges Bild von den
Wundern unseres Planeten geben. Wohl ist Humboldt der universalere und tiefere
Geist. Jede einzelne Beobachtung und Erkenntnis ist ihm nur ein Baustein zu dem
großen Gesamtbild der Natur, dem Kosmos.
Hedins Ziele sind vordergründiger und begrenzter. Er will als
Erforscher der letzten großen Geheimnisse Innerasiens in die Geschichte eingehen
und er will am Ende dieser Epoche noch einmal das gewaltige Epos der Terra
incognita schreiben. Beide Ziele hat er erreicht. Millionen von Lesern in den
vergangenen fünfzig Jahren verdanken seinen Büchern ihr Bild von den Wundern
einer fernen Welt, von Not und Sorge, Glück und Triumph des
Entdeckungsreisenden. Für sie alle verbindet sich mit dem Namen Hedin das
großartige Bild von Land und Leben Innerasiens. "Es ist diese ganze seltsame und
gewaltige Welt jener Wüsten, Steppen und Hochgebirge", schreibt einer seiner
deutschen Freunde, Georg Wegener, "die Sven Hedins eigenster Lebenshintergrund
geworden sind, die ihm eine so großartige Entfaltung seiner Persönlichkeit
gestattet, ihm so außerordentliches äußeres und inneres Leben gespendet haben.
Diese Welt der endlosen Horizonte, der himmelragenden Gipfel, der erhabenen
Einsamkeiten, der schimmernden Seen und Gletscher, mit ihrem fremdartigen,
wilden und freien Leben, ihren rasenden Stürmen und schweigenden Sternnächten,
ihren ursprünglichen Tieren und Vögeln, ihren rauhen Jägern und Räubern, ihren
Hirten und psalmodierenden Mönchen, ihren verlockenden Rätseln und ihren
stählenden Gefahren. Man fühlt aus jedem Wort, wie all das in seiner Seele lebt
mit der Kraft einer leidenschaftlichen Liebe." |