San Giovanni Chrisostomo war der Stadtteil von Venedig, wo im
späten Mittelalter viele der reichen Kaufleute wohnten. Im Jahre 1295 spielte
sich hier eine seltsame Szene ab, die sofort die Aufmerksamkeit der müßigen
Passanten erregte und rasch zum Stadtgespräch wurde.
Vor einem der Patrizierpaläste, der von Mitgliedern der
Familie Polo bewohnt wurde, kamen drei Reisende an, deren gesamte Erscheinung
selbst in einer Stadt wie Venedig, die Fremde aus vielen Ländern kommen und
gehen sah, auffallen musste. Ihre Kleidung aus grobem Stoff war abgetragen, fast
schäbig, dazu von hier kaum gesehenem Zuschnitt. Sie sprachen zwar venezianisch,
aber ungelenk und vermischt mit vielen fremdartigen Worten, als ob sie es im
Ausland erlernt hätten. Diese drei Männer verlangten Eintritt in das Haus mit
der höchst überraschenden Behauptung, dass sie die rechtmäßigen Besitzer des
Palazzo seien.
Wohl hatte es drei Angehörige der Familie Polo gegeben, die
Brüder Nicolo und Maffeo und des Nicolo Sohn Marco, die vor etwa einem
Menschenalter zu einer Reise nach Asien aufgebrochen waren. Aber man hatte nie
wieder etwas von ihnen vernommen; sie galten seit zwei Jahrzehnten für
verschollen, und ihr Besitz war schon längst unter die anderen Mitglieder der
Familie verteilt. War es denkbar, dass man in den drei Reisenden hier, die kaum
der heimischen Sprache mächtig waren, die längst Totgeglaubten vor sich hatte?
Niemand schenkte ihren Angaben Glauben, und so teilten sie jetzt das Schicksal
des Odysseus, als er nach zwei Jahrzehnten von seinen Irrfahrten in die Heimat
zurückkehrte: Keiner erkannte sie wieder, selbst der Eintritt in das eigene Haus
wurde ihnen verwehrt.
So waren die Polos gezwungen, zuerst eine andere Unterkunft
zu suchen. Hier veranstalteten sie ein glänzendes Fest, zu dem sie die
vornehmsten Familien Venedigs einluden. Alles war mit größter Sorgfalt
vorbereitet. Erst nachdem die Geladenen vollzählig beisammen waren, betraten die
drei Gastgeber die Festräume. Jetzt trugen sie nicht mehr ihre Reisekleider,
sondern lange Gewänder aus karmesinrotem Atlas. Während des Mahles verschwanden
sie und kamen wieder in Kleidern von rotem Damast und schließlich in noch
prächtigeren aus dunkelrotem Samt. Jedes Mal beim Wechseln wurden die abgelegten
Gewänder in Stücke zerschnitten und die kostbaren Stoffe unter die Dienerschaft
verteilt.
Nach Schluss des Mahles erschienen sie dann in der üblichen
Kleidung, wie sie auch die Gäste trugen. Jetzt erhob sich Marco als der Jüngste
von ihnen und holte die abgetragenen Kleider aus grobem Stoff herbei, von denen
sie während ihrer ganzen Reise nicht gelassen hatten. Mit einem scharfen Messer
begann er geschickt die Nähte und Säume aufzutrennen. Da rollten ganze Haufen
von edlen Steinen hervor, Saphire und Rubine, Diamanten und Smaragde, die so
geschickt darin verborgen waren, dass niemand sie dort vermuten konnte. Als die
Polos das Reich des Groß-Khans verließen, hatten sie alle ihre dort erworbenen
Reichtümer in Edelsteinen angelegt, weil sie glaubten, dass sie nur in dieser
Form ihren Besitz über die weite und gefährliche Reise glücklich bis nach Hause
bringen könnten.
Die ganze Szene wird uns von dem ersten Biographen Marco
Polos, Ramusio, mit breitem Behagen geschildert. Nun war mit einem Schlag der
Bann gebrochen. Vor dem Anblick solch unerhörten Reichtums schwand jeder Zweifel
dahin. Alle Gäste, auch die eigenen Verwandten, waren jetzt überzeugt, dass sie
in den Heimkehrern wirklich die ehrenwerten und edlen Herren aus dem Hause Polo
vor sich hatten. Mit Windeseile verbreitete sich die Nachricht in ganz Venedig.
Unaufhörlich strömten nun die Besucher bei ihnen ein und aus. Alle, besonders
die jungen Venezianer, denen selbst der Sinn nach ähnlichen Abenteuern stand,
bestürmten sie mit Fragen und wollten immer mehr Einzelheiten wissen. Marco mit
seinem einzigartigen Erzählertalent gab ihnen geduldig und immer freundlich jede
gewünschte Auskunft. Er wurde nicht müde, den Glanz und die Üppigkeit der
Hofhaltung des Groß-Khans zu schildern. Und ob er nun von den Steuereinnahmen
des Herrschers sprach oder vom Reichtum und der Bevölkerungszahl der großen
Städte und Provinzen, immer wusste er von Millionen und Abermillionen zu
berichten. Seitdem nannten ihn die Venezianer Messer Marco Milioni, und sein
Haus in San Giovanni Chrisostomo hieß fortan Corte del Milioni.
Der Weg nach Cathay
Die Brüder Nicolo und Maffeo Polo hatten sich im Jahre 1260
nach einem längeren Aufenthalt in Konstantinopel auf die Halbinsel Krim begeben.
Sie wollten dort ihre Faktorei in Soldaja aufsuchen und neue Handelsbeziehungen
anknüpfen. Zu diesem Zweck reisten sie in das Gebiet der unteren Wolga, das
schon unter tatarischer Oberherrschaft stand. Sie machten dort gute Geschäfte
und blieben etwa ein Jahr lang. Dann aber hinderten kriegerische Verwicklungen
sie an der Heimkehr und drängten sie immer weiter nach Osten bis Buchara.
Eines Tages erschien hier eine Gesandtschaft, die der
tatarische Herrscher von Persien an den Oberherrn aller Tataren-Khane,
Kublai
Khan, geschickt hatte. Der Gesandte, der zum ersten Male "Lateiner" zu Gesicht
bekam, erzählte ihnen, dass sie unter seinem Schutz die Reise nach Cathay (d. i.
China) in voller Sicherheit zurücklegen könnten und dass man sie am Hofe des
Groß-Khans höchst ehrenvoll aufnehmen würde. Da ihnen ohnehin die Rückkehr in
die Heimat auf unabsehbare Zeit verwehrt war, beschlossen die Brüder Polo, das
Angebot anzunehmen. Wohl war der Weg weit und beschwerlich, aber unter dem
Schutz der tatarischen Gesandtschaft kamen sie nach einer Reisezeit von einem
Jahr wohlbehalten am Hofe des Groß-Khans an.
Kublai Khan empfing sie mit freundlicher Herablassung. Er
erkundigte sich nach allen Herrschern des Abendlandes, nach der Größe ihrer
Länder, der Art ihrer Rechtspflege und Kriegführung. Vor allem aber wollte er
immer wieder vom Papst hören, von der christlichen Religion und der römischen
Kirche. Da die beiden Polos welterfahrene Männer waren, zudem durch jahrelangen
Umgang mit Tataren deren Sprache vollkommen beherrschten, war es ihnen leicht,
die Wissbegierde des Herrschers zu stillen.
Als der Groß-Khan sie in zahlreichen Unterredungen gründlich
ausgeforscht und alles, was er über das Abendland wissen wollte, erfahren hatte,
beschloss er, sie als seine Gesandten nach Rom zu schicken. Er gab ihnen ein in
tatarischer Sprache abgefasstes persönliches Schreiben an das Oberhaupt der
Christenheit mit, worin er bat, der Papst möge ihm hundert Priester senden. Sie
sollten vor allem die Kunst des Diskutierens beherrschen und in der Lage sein,
vor Buddhisten und anderen Leuten mit überzeugenden Argumenten klarzulegen, dass
die Lehre Christi die beste sei, alle anderen Religionen dagegen falsch und
nichtig. Wenn sie das beweisen könnten, dann würde er selbst, der Groß-Khan, mit
allen seinen Untertanen zum christlichen Glauben übertreten.
Über den Rückweg der Polos sind wir im einzelnen nicht
genauer unterrichtet. Wir wissen jedoch, dass sie trotz dieser bedeutenden
Erleichterungen volle drei Jahre für die Heimreise gebraucht haben. Gewaltige
Regenzeiten hinderten ihr Vorwärtskommen, reißende Ströme schwollen so an, dass
sie lange Zeit unpassierbar waren, und im Winter mussten sie wegen mächtiger
Schneefälle oft die Reise unterbrechen. - Sie erreichten schließlich das
langersehnte Mittelmeer bei Acre in Palästina. Hier fühlten sie sich schon fast
auf heimischem Boden, denn in dieser Stadt befand sich damals eine bedeutende
venezianische Niederlassung. Nun erfuhren sie erst, dass inzwischen Papst
Clemens IV. gestorben war. Sie berichteten dem in Acre amtierenden päpstlichen
Legaten Theobald von Piacenza, woher sie kamen und welchen Auftragt sie
auszuführen hatten. Der bestärkte sie in der Auffassung, dass ihre Mission für
die ganze Christenheit von höchster Bedeutung sei. Er riet ihnen, zunächst in
ihre Heimst zu reisen und dort die Wahl des neuen Papstes abzuwarten. Als sie in
Venedig ankamen, fand Nicolo, dass seine Frau inzwischen gestorben, sein Sohn
Marco aber, der im Jahre 1254 geboren war, zu einem stattlichen Knaben
herangewachsen war. Er beschloss daher, ihn bei der Rückkehrt zum Hofe des
Groß-Khans mit auf die Reise zu nehmen.
Ins Reich des Groß-Khans
Die Wahl eines Nachfolgers für Papst Clemens kam wegen
anhaltender Uneinigkeit im Kardinalskollegium fast drei Jahre lang nicht
zustande. Es war das längste päpstliche Interregnum, von dem man je gehört
hatte. Nachdem zwei Jahre vergangen waren, meinten die Polos, dass sie Kublai
Khan nicht länger ohne Nachricht lassen konnten. Sie beschlossen daher, auch
ohne ihre eigentliche Mission erfüllt zu haben, erneut die Reise in das
Tatarenreich anzutreten. Der siebzehnjährige Marco war jetzt mit ihnen. In Acre
betrat er zum ersten Mal den Boden Asiens, nicht ahnend, dass er ihn nun fast
ein Menschenalter lang nicht wieder verlassen sollte.
Zunächst reisten die Polos nach Jerusalem, da Kublai Khan sie
dringend gebeten hatte, ihm öl aus der Lampe des Heiligen Grabes mitzubringen.
In Acre gab der päpstliche Legt ihnen einen Brief an den Groß-Khan mit, in dem
er bezeugte, dass die Brüder sich ehrlich bemüht hatten, ihren Auftrag beim
Papst zu erfüllen, dass jedoch das neue Oberhaupt der christlichen Kirche noch
immer nicht gewählt sei. Als sie auf ihrer Weiterreise in der Hafenstadt
Theobald von Piacenza
in Anatolien angekommen waren, wo damals die Karawanenstraßen aus Innerasien das
Mittelmeer erreichten, da bekamen sie die Nachricht, dass eben ihr Freund, der
Legat Theobald von Piacenza, zum Papst gewählt worden war. Zugleich erhielten
sie ein Schreiben von ihm, worin er sie - jetzt im Namen des Heiligen Stuhles -
aufforderte, noch einmal nach Acre zurückzukommen. So konnte der neue Papst
ihnen doch noch seinen Segen für ihr Unternehmen erteilen. Zugleich gab er ihnen
zwei italienische Mönche mit, die sich gerade in Palästina aufhielten und als
gelehrte Männer und kenntnisreiche Theologen galten. Sie wurden feierlich mit
besonderen Vollmachten ausgestattet, Priester und Bischöfe zu ernennen, auch
alle sonstigen kirchlichen Funktionen auszuüben. Kaum waren sie aber mit den
Polos von Layas aus ins Innere aufgebrochen, da erfuhren sie, dass der Sultan
von Ägypten das armenische Land mit einem mächtigen Heer überfallen und auf
weite Strecken verwüstet hatte. Darüber erschraken die beiden Mönche gewaltig,
und für ihr Leben fürchtend beschlossen sie umzukehren. Sie übergaben den Polos
die Briefe und Geschenke, die der Papst auch ihnen anvertraut hatte, stellten
sich unter den Schutz des Meisters der Tempelherren und reisten mit diesem eilig
zur Küste zurück.
Die drei Polos begaben sich jetzt also ohne die vom Groß-Khan
so dringend erbetenen geistlichen Begleiter auf jene denkwürdige Karawanenreise
durch die weiten Landschaften Innerasiens; denkwürdig, weil zum ersten Male ein
kluger und für alles Neue brennend interessierter Reisender, der junge Marco,
die Fülle seiner Beobachtungen und Erkundungen sorgfältig sammelte und nach
seiner Rückkehr ein Buch schrieb, das dem Abendland eine völlig neue Welt
bildhaft lebendig machte.
Die erste Etappe der Reise führte durch die Länder Armenien, Mesopotamien und
Persien. Sie ziehen vorbei am Ararat, "einem großen und hohen Berg, auf dem, wie
man sagt, die Arche Noah nach der Sintflut stehen geblieben ist." Er ist so
gewaltig, dass man zwei Tagereisen braucht, um ihn am Fuße zu umgehen.
Hinaufsteigen kann man nicht wegen der ungeheuren Menge des Schnees, der oben
liegt und nie schmilzt, sondern nach jedem Schneefall noch zunimmt.
Mesopotamien durchziehen sie von Nord nach Süd entlang dem
Tigris. In Mossul begeistert sich Marco an den herrlichen Stoffen aus Gold und
Seide, die dort gewebt werden und unter der Bezeichnung Musselin in alle Welt
gehen. Bagdad ist die größte und prächtigste Stadt, die er bisher gesehen hat.
Ein großer Strom - der Tigris - fließt mitten hindurch; auf ihm führen die
Kaufleute ihre Waren in achtzehn Tagen bis zur Mündung in den Indischen Ozean.
Und was für kostbare Waren gibt es hier! Golddurchwirkte Seidengewebe, noch
schöner als die in Mossul, ferner Samt, Damast und Goldbrokate, in die Figuren
von Vögeln kunstvoll hineingewebt sind. Bagdad ist überhaupt der Umschlagplatz
für viele Kostbarkeiten der Welt. Alle Perlen, die von Indien nach Europa
kommen, werden hier durchstochen und gefasst. Aber auch der Gelehrte kommt in
dieser Stadt zu seinem Recht. Man kann hier ebenso das mohammedanische Gesetz
studieren wie Physik, Astronomie und sogar Magie.
Von Persien weiß Marco nicht viel Gutes zu berichten: "Es ist
ein großes Land, das in alten Zeiten sehr berühmt und mächtig war. Aber jetzt
haben die Tataren alles verwüstet und zerstört." Auch verknüpfen sich für ihn
mit diesem Lande böse persönliche Erinnerungen. "Dort gibt es Banditen, die
verstehen sich auf teuflische Zauberkünste, wodurch sie das Tageslicht
verdunkeln können, so dass man kaum seinen Reisegefährten neben sich erkennt.
Diese Dunkelheit können sie über eine Strecke von sieben Tagereisen erzeugen."
Offenbar handelte es sich um eine Verdunkelung des Himmels durch Staub oder
trockenen Nebel, worüber auch spätere Reisende aus diesen Gegenden berichten.
"Messer Marco wurde von diesen Banditen während einer solchen Verdunkelung
gefangen genommen. Aber es gefiel Gott, dass er gerade noch davonkam und sich in
eine benachbarte Ortschaft retten konnte. Er verlor dabei alle seine Begleiter
bis auf sieben; die anderen wurden gefangen und teils als Sklaven verkauft,
teils getötet." In der Hafenstadt Hormons hatten die Polos schwer unter der
Hitze zu leiden. "Im Sommer weht dort oft ein so unerträglich heißer Wind, dass
er jedermann töten würde, wenn die Leute nicht sofort bis an den Hals ins Wasser
gehen würden. Dort bleiben sie, bis der Wind nachgelassen hat."
Von Hormos aus durchqueren die Reisenden ganz Persien von Süd
nach Nord. Sie lernen dabei zum ersten Mal alle Beschwerden einer Wüstenreise
kennen: "Wenn man von der Stadt Kerman aufgebrochen ist, hat man sieben
Tagereisen weit einen höchst mühseligen Weg. Während der ersten drei Tage findet
man fast gar kein Wasser. Das wenige, das man trifft, ist bitteres grünes Zeug,
so salzig, dass kein Mensch es trinken kann. Wenn man auch nur einen Tropfen
davon zu sich nimmt, bekommt man üblen Durchfall, wenigstens zehnmal
hintereinander." - Kurz danach müssen sie noch einmal ein Gebiet von ganz
ähnlicher Beschaffenheit durchqueren, die berüchtigte persische Salzwüste. Audi
hier sind die wenigen Wasserstellen für Menschen ganz unbrauchbar. "Das vom
Durst gepeinigte Vieh trinkt freilich das Wasser so, wie es in der Wüste
vorkommt. Seine Herren machen es ihm so schmackhaft wie nur möglich, indem sie
es mit Blumen mischen."
Auf der Seidenstraße
Wir wissen nicht, was die Polos veranlasst hat, den weiten
Umweg über Mesopotamien und Südpersien zu machen. Von Armenien aus wäre der
direkte Weg nach der nordpersischen Provinz
Khorassan am Südufer des
Kaspisees
viel kürzer gewesen. War es lediglich der Wunsch, diese Länder kennen zu lernen,
von denen man sich märchenhafte Dinge erzählte? Haben sie unterwegs - wie aus
einigen Andeutungen hervorzugehen scheint - gewinnreiche Geschäfte betrieben?
Oder hatten sie ursprünglich gar die Absicht, wofür auch einige Anzeichen
sprechen, von Hormos, dem Ausgangspunkt der persischen Schifffahrt nach Indien,
die Reise nach dem fernen Osten zur See zu versuchen? Marco gibt uns in seinem
Buch keine klare Auskunft darüber.
Die Polos befanden sich jetzt in Khorassan auf der großen
Karawanenstraße, die im Westen in Layas am Mittelmeer und in
Trapezunt am
Schwarzen Meer begann, den Kaspisee südlich umging und dann durch West- und
Ost-Turkestan in nahezu gleich bleibender Richtung nach Osten führte. Die
Luftlinie hat ein Länge von rund 7.500 Kilometern, die tatsächliche Wegstrecke
mit allen Windungen beträgt 10.000 Kilometer, also ein Viertel des Erdumfangs!
Es war die berühmte "Seidenstraße" Asiens, auf der schon seit vielen
Jahrhunderten Waren aus China in das Abendland gebracht wurden. Mit der
Konsolidierung des Tatarenreiches unter den Nachfolgern von Dschingis Khan
entwickelte sich der Verkehr auf diesem Landweg zu solcher Blüte, dass er dem
Seehandel über Indien und Alexandrien erhebliche Konkurrenz machte.
Ungewöhnlich enthusiastisch wird die sonst so sachliche
Darstellung Marcos bei der Schilderung des Klimas in dem Bergland bei
Badakshan.
Er kommt dabei - was in dem ganzen Buch nur selten geschieht - sogar einmal auf
sich selbst zu sprechen, da er die Wirkung dieses heilkräftigen Klimas am
eigenen Leibe verspürt hat. "Die Luft in diesen Höhen ist so rein", berichtet
Marco, "und der Aufenthalt dort so gesund, dass die Menschen, die in den dumpfen
Städten der Täler und Ebenen unter bösem Fieber und allerlei Beschwerden leiden,
rasch einmal zur Erholung in diese Berge gehen. Kaum sind sie zwei oder drei
Tage dort, so bessern sie sich zusehends und werden wieder ganz gesund. Messer
Marco kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Denn als er in die Gegend kam,
war er schon etwa ein Jahr lang recht krank. Da riet man ihm, dieses Bergland
aufzusuchen, und kaum war er dort, wurde er sofort gesund."
Nicht immer folgten die Polos der großen Karawanenstraße. So
zogen sie nach der Durchquerung West-Turkestans den Oberlauf des
Amudarja - im
Altertum Oxus genannt - aufwärts und erreichten die westliche Abdachung jenes
mächtigen Gebirgsmassivs, in dem die Bergketten Zentralasiens wie in einem
Knoten zusammenlaufen. Marco Polo gibt diesem gewaltigen Hochland bereits den
Namen, den es noch heute führt: Pamir oder das Dach der Welt. Selbst die Pässe
liegen hier in einer Höhe von fast 5.000 Metern, und der Gipfel Mustag-Ata, der "Vater der Eisberge", gehört mit 7.800 Metern zu den höchsten Bergen der Erde.
Hier entdeckte Marco Polo das berühmte Wildschaf, das später nach ihm "Ovis Poli"
genannt wurde, und hier machte er auch die Beobachtung, dass Wasser in großer
Höhe schwerer als sonst zum Kochen zu bringen ist. "Wenn man weiter nach
Nordosten reitet, kommt man auf ein gewaltiges Hochland. Da gibt es wilde Tiere
in Menge. Unter anderem leben hier Wildschafe; die sind sehr groß, ihre Hörner
sind gut sechs Handbreit lang. Aus diesen Hörnern machen die Hirten große
Ess-Schüsseln. Messer Marco erfuhr auch, dass Wölfe hier sehr häufig sind und
viele dieser wilden Schafe töten. Daher kommen die Massen der Hörner und
Knochen, die man überall sieht. Sie werden am Wege zu großen Haufen
aufgeschichtet, damit die Reisenden auch im tiefen Schnee den Weg finden können.
Dieses Hochland wird Pamir genannt; man braucht zwölf Tagereisen, um es zu
überschreiten. Das ganze Gebiet ist so hoch und so kalt, dass man nicht einen
einzigen Vogel trifft. Wegen der großen Kälte brennt das Feuer sehr schlecht und
gibt nicht soviel Hitze wie gewöhnlich, so dass man hier nur schwer kochen
kann."
Vom Pamir-Hochland bis zum Ziel ihrer Reise war es noch ein
weiter Weg. Sie erreichen die große Karawanenstraße wieder bei Kaschgar und
folgen ihr über die Kette der berühmten Städte Ost-Turkestans wie Yarkand und
Khotan weiter nach Osten, das Tarimbecken mit der gefürchteten Wüste
Takla-Makan
im Süden streifend.
Für Marco Polo, der vor Antritt seiner großen Reise wohl kaum
über den engeren Umkreis seiner Vaterstadt hinausgekommen war, hat das Erlebnis
der Wüstenlandschaft einen unwiderstehlichen Reiz. Sorgfältig sammelt er seine
eigenen Erfahrungen und trägt alle Berichte zusammen, die ihm zu Ohren kommen.
In der Nähe des Lop Nor, jenem seltsamen wandernden See mitten im Herzen Asiens,
erlebt er mit seinen Begleitern noch einmal die bedrohliche Majestät der Wüste,
die den Reisenden mit magischer Gewalt in ihren Bann zieht:
-
"Eine höchst merkwürdige Sache wird von dieser
Wüste
berichtet. Wenn von einer Reisegesellschaft, die nachts unterwegs ist, ein
Mann zurückbleibt oder einschläft und dann versucht, seine Leute wieder zu
erreichen, so hört er Geisterstimmen, die ihn beim Namen rufen. Im Glauben,
dass es seine Kameraden sind, wird er in die Irre geführt, so dass er die
Karawane niemals wieder findet und elend zugrunde geht. Auch das Getrappel
großer Reiterscharen hört ein verirrter Reisender manchmal abseits vom Wege.
Das hält er dann für das Geräusch seiner Gefährten; er folgt dem Klang, und
erst bei Tagesanbruch merkt er, dass er genarrt wurde. Daher ist es üblich,
dass sich die Reisenden auf dieser Strecke dicht beisammen halten. Auch
haben alle Tiere große Glocken um den Hals, damit sie sich nicht so leicht
verirren können. Nur auf diese Weise kann man die Große Wüste durchqueren."
Kublai Khan - der Herr der Erde
Das Tatarenreich war entstanden aus der Vereinigung
zahlreicher Stämme in der Mongolei unter dem so gewalttätigen wie genialen
Herrscher Dschingis Khan. Diese junge Staatenbildung, die auf streng
militärischer Grundlage beruhte, zeigte von Anfang an eine außerordentliche
Expansionskraft. Noch zu Lebzeiten ihres Begründers wurde 1215 Peking erobert
und Turkestan unterworfen. Die Russen, die sich dem Ansturm entgegenstellen
wollten, wurden bei Mariupol am Asowschen Meer geschlagen. Erst die Schlacht bei
Liegnitz verhinderte 1241 das weitere Vordringen der Tataren nach Europa.
Kublai Khan, der Enkel Dschingis Khans, begründete dann die
mongolische Dynastie Chinas und machte Peking zu seiner Residenz. Das
Mongolenreich hatte damals eine ungeheuere Ausdehnung. Es erstreckte sich von
Sibirien bis Südchina und von Korea bis tief hinein nach Europa an die Grenzen
Ungarns und Polens. Damit hatte es Anteil an drei grundverschiedenen großen
Kulturkreisen: dem chinesischen, dem mohammedanischen und dem
christlich-abendländischen.
Der Groß-Khan hatte die Stadt Kemenfu nördlich der großen
chinesischen Mauer am Rande der Mongolensteppe zu seiner Sommerresidenz gemacht.
Dreieinhalb Jahre waren die Polos auf ihrer beschwerlichen Reise unterwegs
gewesen, als sie sich dieser Stadt näherten. Durch den hervorragenden
Nachrichtendienst seines Reiches hatte Kublai Khan die Kunde von ihrem Kommen
schon lange vorher erhalten. Vierzig Tagereisen weit schickte er ihnen Boten zur
Begrüßung entgegen und gab Befehl, dass ihnen an allen Orten, die sie noch
durchreisen mussten, jede Bequemlichkeit zuteil werde. - Kaum waren sie in der
Residenzstadt angekommen, begaben sie sich sogleich zum Kaiserpalast. Dort
fanden sie den Groß-Khan umgeben von vielen Würdenträgern. Sie erwiesen ihm die
übliche Reverenz, den Kotau, indem sie auf die Knie fielen und sich bis zum
Boden verneigten. Aber der Khan bat sie aufzustehen und begrüßte sie
freundschaftlich. Er zeigte große Freude über ihre Ankunft und stellte viele
Fragen nach dem Verlauf der Reise. Nun überreichten sie ihm die Schreiben und
Geschenkte des Papstes und das Öl vom Heiligen Grabe, über alles war er hoch
erfreut. Schließlich bemerkte er den jungen Marco und fragte, wer er sei. Nicolo
antwortete, es sei sein Sohn und er habe den Wunsch, ein Diener und Lehnsmann
Seiner Majestät zu werden. Da nahm der Groß-Khan ihn unter besonderen Schutz und
ernannte ihn zu einem seiner Ehrenbegleiter.
Zwischen dem damals schon sechzigjährigen Herrscher dieses Weltreiches und dem
zwanzigjährigen Venezianer entspann sich jetzt eine wirkliche Freundschaft. Denn
es war von Seiten Kublai Khans mehr als nur Interesse an einem klugen und
begabten Höfling, wenn er den jungen Ausländer unter Nichtachtung des Hof
Zeremoniells und. Übergehung zahlreicher anderer Anwärter zu seinem vertrauten
Privatsekretär, Mitglied des Geheimen Staatsrats und Sonderbeauftragten in
wichtigen Reichsangelegenheiten machte. Ebenso ist es bei Marco Polo
offensichtlich nicht Byzantinismus, sondern Ausdruck seiner ehrlichen
Überzeugung, wenn er den Groß-Khan nicht nur als den reichsten und mächtigsten
Herrscher des Erdkreises schildert, sondern auch als den wahrhaft weisen und
hervorragenden Menschen, dem kraft seiner Persönlichkeit das Recht zukommt, über
ungezählte Millionen zu herrschen.
Fast feierlich wird Marco, als er zum ersten Male von ihm
spricht: "Nun komme ich zu dem Teil unseres Buches, in dem über die Größe und
Herrlichkeit des jetzt regierenden Groß-Khans berichtet werden soll. Sein Name
ist Kublai Khan. Khan ist sein Titel, der bedeutet .Herr über alle Herrscher'
oder auch .Kaiser". Er hat gewisslich ein Recht auf diesen Titel, denn wie
jedermann weiß, ist er nach Zahl der Menschen und Länder, die er beherrscht, wie
auch durch seine Schätze der mächtigste Herrscher, der in der Welt lebt oder
seit Adams Zeiten gelebt hat. Wenn man alle Christen der Welt mit ihren Kaisern
und Königen zusammen nimmt und dann zu der gesamten Christenheit noch alle
Sarazenen hinzufügt, so haben sie insgesamt noch nicht soviel Macht wie dieser
einzige Kublai Khan."
Marco nahm begierig alles in sich auf, was er von den
Gewohnheiten des Herrschers, den Sitten der Tataren und anderen Einwohnern des
Reiches, den Verwaltungs- und Regierungsgeschäften in Erfahrung bringen konnte.
In kurzer Zeit beherrschte er mehrere Sprachen, die am Hofe gesprochen wurden,
vier davon auch schriftlich. - Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte er gemerkt,
dass der Herrscher über die Berichte seiner Gesandten und Beauftragten, die aus
den verschiedensten Teilen des Reiches oder den angrenzenden Ländern
zurückkamen, oft sehr ärgerlich wurde. Er nannte sie Narren und Tölpel; sie
verstünden immer nur von ihren trockenen Dienstgeschäften zu berichten, schienen
aber nichts von den Merkwürdigkeiten und Gewohnheiten all der Völker und
Menschen zu sehen, denen sie auf ihren Reisen begegnet waren. Für Marco, der
einen stets wachen Instinkt, geradezu eine Witterung für solche Dinge hatte, war
es ein leichtes, nach seiner ersten Reise in der gewünschten Weise zu berichten.
Der Herrscher war darüber sehr erfreut und sagte ihm eine große Zukunft voraus.
Siebzehn Jahre lang blieb Marco nun im Dienste des
Groß-Khans. Meist war er auf Reisen in dessen Auftrag, manchmal auch in privaten
Geschäften. Er gewann die Zuneigung, ja Liebe Kublai Khans immer mehr und wurde
öfter mit höchst gewichtigen Missionen betraut. Wenn er in der Residenz war,
behielt ihn der Khan stets in seiner engsten Umgebung; es konnte nicht
ausbleiben, dass er dadurch Neid und Eifersucht zahlreicher Würdenträger am Hofe
erregte. "So kam es," schließt Marco das Kapitel, "dass Messer Marco Polo mehr
Länder der Welt zu sehen bekam als irgendein anderer Mensch."
Über die äußere Erscheinung Kublai Khans macht Marco nur
wenige Angaben. Die Charakterisierung menschlicher Individualitäten - sei es nun
die eigene oder die von Fremden - ist nicht seine Stärke. "Der Groß-Khan ist gut
gewachsen, von mittlerer Größe, mäßigem Leibesumfang und wohlgestaltet an allen
Gliedern. Er hat eine helle Gesichtsfarbe, von leichtem Rot überzogen wie der
liebliche Schein der Rose, was seinem Wesen viel Anmut verleiht. Seine Augen
sind dunkel und klar, die Nase wohlgeformt."
Weit ausführlicher, viele Seiten seines Buches füllend,
schildert Marco das Privatleben des Herrschers und das Leben am Hofe. Kublai
Khan hatte vier legitime Frauen. Sie führten alle den Titel Kaiserin, jede hatte
ihre eigene kostspielige Hofhaltung. Daneben hat er aber auch eine große Anzahl
von Konkubinen. Der Tatarenstamm Ungrat ist bekannt für die Schönheit seiner
Frauen. Jedes Jahr werden hier hundert der schönsten Mädchen ausgesucht.
Zunächst übergibt man sie einigen älteren Damen im Kaiserpalast zur Betreuung.
Die Mädchen müssen nun in den Räumen dieser Palastdamen schlafen; dabei wird
festgestellt, ob sie einen reinen Atem haben, nicht schnarchen und gesund an
allen Gliedern sind. Dann erst werden diejenigen, die alle Proben überstanden
haben, zur Bedienung des Kaisers bestimmt. "Jeweils sechs von ihnen übernehmen
den Dienst für drei Tage und drei Nächte. Sie warten ihm in seinen
Privatgemächern auf, und wenn er zu Bett geht, stehen sie ihm jederzeit und in
jeder Weise zur Verfügung."
Der Herrscher scheint sich jedoch keineswegs mit den
Schönheiten dieses Stammes begnügt zu haben. Wie Marco an anderer Stelle
berichtet, schickt er Beamte in verschiedene Provinzen, die bei der Auswahl der
Mädchen eine regelrechte Schönheitskonkurrenz veranstalten. Die Beauftragten
versammeln bei ihrer Ankunft alle Mädchen der Provinz um sich, und zwar in
Anwesenheit von besonders für diesen Zweck bestimmten Taxatoren. "Die legen sehr
sorgfältig die Punktzahl fest, die jedes Mädchen für sein Haar, die
Gesichtsfarbe, Augenbrauen und Mund, die Lippen und das Verhältnis aller Glieder
zueinander bekommt. Sie setzen die Gesamtwertung der einen mit sechzehn, anderer
mit siebzehn, achtzehn oder zwanzig Punkten fest, jeweils entsprechend der
Gesamtsumme ihrer Vorzüge oder Nachteile."
Die großen Feste am Hof des Kaisers werden von Marco mit nie
ermüdender Ausführlichkeit geschildert. Die Tafel des Herrschers bei einer
solchen Festlichkeit sieht so aus: Der Tisch des Groß-Khans ist ein gutes Stück
über alle übrigen erhaben. Er selbst sitzt am Nordrand der Halle und blickt nach
Süden. Links von ihm sitzen seine Gemahlinnen, rechts seine Söhne und Neffen und
wer sonst königliches Blut hat, aber viel tiefer, so dass ihre Köpfe in einer
Höhe mit des Kaisers Füßen sind. An noch tieferen Tischen sitzen dann die
sonstigen Großen des Hofes. Alle Tische sind so aufgestellt, dass der Kaiser sie
vom einen Ende der Halle bis zum anderen übersehen kann, so viele es auch sind.
Mehrere hohe Hofbeamte bedienen den Groß-Khan bei Tisch. Sie
haben Mund und Nase mit einer seidenen Serviette verbunden, damit ihr Atem nicht
mit den Speisen und Getränken in Berührung kommen kann. Wenn der Herrscher
trinken will, schlagen die Harfenspieler und andere Musikanten, die in großer
Zahl zugegen sind, ihre Instrumente an. Auf dieses Zeichen fallen die Hofherren
und alle sonstigen Anwesenden auf die Knie und machen eine tiefe Verbeugung.
Dann erst trinkt der Kaiser. Das ganze Zeremoniell wird wiederholt, so oft er
zum Becher greift.
Die besondere Leidenschaft des Groß-Khans gilt der Jagd. Er
hat dazu zahlreiche wilde Tiere wie Luchse, Leoparden und angeblich sogar Tiger
dressieren lassen. Ferner besitzt er Tausende von Falken, Sperbern und
Habichten, die zur Beize abgerichtet sind. Bei der Schilderung einer Jagdszene
entschlüpft Marco die fast schüchtern vorgebrachte Bemerkung, dass der Hohe Herr
erheblich an Gicht leidet. Der Kaiser sitzt oder liegt auf der Jagd in einem aus
Holz geschnitzten zierlichen Pavillon, der manchmal auf dem Rücken von nur
einem, mitunter aber auch auf vier zusammengeketteten Elefanten ruht. "Das
Innere ist mit goldenem Tuch ausgeschlagen, die Außenseite ist mit Tigerfellen
bedeckt. Diese bequeme Einrichtung ist aber für den Kaiser auf seinen Jagdzügen
auch sehr nötig, denn er wird übel von der Gicht geplagt."
Die Frage der Stellung Kublai Khans zur Religion und
besonders zum Christentum hat Marco Polo immer wieder beschäftigt. Einmal, so
berichtet er, blieb der Kaiser in seiner Residenz Cambaluc bis zur Feier des
christlichen Osterfestes.
Es gab damals in seiner Umgebung schon eine beträchtliche
Anzahl nestorianischer Christen. Aus Anlass dieses Festes befahl er ihnen, vor
ihm zu erscheinen und das Evangelienbuch mitzubringen. Er ließ es feierlich mit
Weihrauch beräuchern, küsste es ehrfürchtig und verlangte dasselbe von allen
Großen seines Gefolges. "So macht er es immer bei unseren großen Feiertagen wie
Ostern und Weihnachten," erzählt Marco; das Gleiche tut er freilich auch bei den
großen Posten der Mohammedaner, Juden und Buddhisten. Als man ihn nach dem
Grunde fragte, antwortete er: "Es gibt vier große Propheten, die in aller Welt
verehrt und angebetet werden. Die Christen betrachten Jesus Christus als ihren
Gott, die Sarazenen Mohammed, die Juden Moses und die Heiden Sogomombarkhan
(Buddha). Ich achte und verehre sie alle vier und bitte, dass derjenige, der in
Wahrheit der Größte unter ihnen ist, mir beistehen möge." Aber der Groß-Khan
ließ dabei wohl erkennen, meint Marco, dass er den christlichen Glauben für den
wahren und besten hielt, denn er verlange nichts, - so sagte der Khan, - was
nicht gut und heilig sei. Auch wollte der Kaiser auf keinen Fall erlauben, dass
die Christen bei ihren Prozessionen das Kreuz vorantragen ließen, weil ein so
großer und erhabener Mensch wie Jesus Christus daran gekreuzigt worden sei.
Man hat oft gefragt, warum Kublai Khan bei so weitgehender
religiöser Toleranz und deutlicher Zuneigung zum Christentum nicht selbst den
christlichen Glauben angenommen hat. Marco ist der Ansicht, dass daran allein
der Papst schuld sei. Hätte dieser damals bei der Ausreise der Polos die vom
Kaiser erbetene Anzahl christlicher Missionare mitgeschickt, so würde der
Herrscher mit seinen Untertanen zweifellos zum Christentum übergetreten sein, da
er das Verlangen danach oft und deutlich gezeigt habe.
Ein nüchterner Beobachter wird heute freilich zu der
Überzeugung kommen, dass die religiöse Toleranz des Kaisers wie auch seine
Einstellung zum Christentum im wesentlichen eine politische Angelegenheit war.
Wie die Menschen Gott verehren, ist ihm gleichgültig, solange sie nur dem
Groß-Khan gehorsam sind. Das war schon die Religionspolitik seiner Vorfahren.
Freilich scheint Kublai Khan der erste in dieser Herrscherreihe gewesen zu sein,
dem die primitive Religion der Tataren nicht mehr genug war. Wahrscheinlich
hielt er anfangs eine weitere Ausbreitung des Buddhismus in der tibetanischen
Form für das geeignetste Mittel, um seine Völkerschaften stärker der
Zivilisation zuzuführen. Später mag er dann auch ganz ehrlich zu der Überzeugung
gekommen sein, dass diese Aufgabe ebenso gut oder besser vom Christentum
durchgeführt werden könnte, denen Überlegenheit in vieler Beziehung er
anerkannte. Seine Toleranz war nicht Gleichgültigkeit, aber sie entsprang wohl
auch nicht einer tieferen religiösen Überzeugung. Sie war «In Stück seiner
Politik.
Das Wunderland Cathay
Marco Polo kennt keinen einheitlichen geographischen oder
politischen Begriff China, auch keinen zusammenfassenden Namen für die Chinesen.
Wenn er den Namen Cathay gebraucht, so meint er damit das für ihn weitaus
wichtigere Nordchina, während das Land südlich des Gelben Flusses Manzi genannt
wurde. Wir wissen, dass Marco mindestens zweimal das riesige Reich durchquert
hat. Die eine Reise führte ihn von der Hauptstadt Cambaluc - das ist das heutige
Peking - tief ins Innere bis Szechuan, Jünnan, Tibet und Ober-Burma, die andere
durch die Küstenprovinzen Nord- und Südchinas bis zum südchinesischen Meer. Dazu
kommt eine nicht zu übersehende Zahl von kleineren Reisen in Cathay und Manzi,
deren Verlauf im einzelnen wir nur noch teilweise feststellen können. So konnte
er sich mit Recht rühmen, besser als alle anderen hohen Beamten des Kaisers das
wunderbare Reich der Mitte zu kennen, von dessen Existenz bisher nur ganz
unklare Kunde bis nach Europa gedrungen war.
Im Winter, von Dezember bis Februar, residiert der Groß-Khan
in der Hauptstadt Cambaluc. Dort steht ein großer Palast; Marco nennt ihn eine
Sehenswürdigkeit, wie es auf der Welt keine zweite gibt. Die Wände der großen
Halle und der zahllosen Zimmer schmücken Drachen in vergoldetem Schnitzwerk,
Figuren von Kriegern, Vögeln und allerlei Tieren sowie Darstellungen von
Schlachten. Die Fensterscheiben sind durchsichtig wie Kristall.
In der großen Halle, die für Gastmähler und Feste bestimmt
ist, finden ohne Schwierigkeit sechstausend Personen Platz. Das hohe Dach
leuchtet in den verschiedensten Farbtönen wie Zinnober und gelb, grün und blau.
Die Falben sind mit einem kostbaren Lack aufgetragen; dadurch erhalten sie
besondere Leuchtkraft und verleihen dem Palast, wenn man ihn von weitem sieht,
einen schimmernden Glanz. - Der hintere Teil des Hauptpalastes umfasst große
Gebäude mit vielen Zimmern, in denen der persönliche Besitz des Kaisers
untergebracht ist. Hier liegen auch die Räume der Kaiserinnen und der Konkubinen
sowie die privaten Gemächer des Herrschers, wo er in stiller Zurückgezogenheit,
vor jeder Störung geschützt, seine Geschäfte erledigen kann.
Zwischen der äußeren und der inneren Mauer, die den Palast
umgeben, liegt ein Park, dessen Bäume köstliche Früchte tragen. In einem
Tiergehege findet man weiße Hirsche und Damwild, Gazellen und Rehböcke, auch
Eichhörnchen und Moschustiere. Die Wege sind gut gepflastert und etwas erhöht;
so können sie niemals schmutzig werden, und das Regenwasser fließt sogleich von
ihnen ab. - Nicht weit von dem Palast ist ein künstlicher Berg angelegt, gut
hundert Schritte hoch und vollkommen mit Bäumen bepflanzt, die das ganze Jahr
über grün bleiben und niemals ihre Blätter verlieren. Wenn der Kaiser erfährt,
dass irgendwo ein besonders schöner oder seltener Baum wächst, lässt er ihn mit
dem ganzen Wurzelballen ausgraben und durch seine Elefanten zu diesem Berg
schaffen, der überall als der Grüne Berg bekannt ist, denn selbst der Erdboden
ist noch mit grünem Mineralgestein bestreut, und oben auf dem Gipfelt steht ein
zierlicher grüner Pavillon. Der Zusammenklang von Berg, Bäumen und Gebäude sowie
die Abstimmung der Farben ist ganz wunderbar, sagt Marco, und jeder Beschauer
ist entzückt.
Die Residenzstadt Cambaluc ist die erste chinesische
Großstadt, die Marco zu sehen bekommt. Kostbare Waren und seltene Dinge,
überhaupt alles, was gut und teuer ist, findet man in keiner Stadt der Welt
häufiger und besser als hier. Sie macht einen gewaltigen Eindruck auf ihn, und
er wird nicht müde, sie aufs genaueste zu schildern.
Die Innenstadt ist ein vollkommenes Viereck von sechs Meilen
Seitenlänge. Sie ist mit Erdwällen umgeben, die unten zehn Schritt breit und
ebenso hoch sind. Breite Straßen durchziehen sie schnurgerade, so dass man trotz
der großen Entfernung von einem Ende bis zum anderen sehen kann. Alle
Grundstücke sind rechteckig und von hübschen Seitenstraßen begrenzt. Die Zahl
der Häuser und erst recht die der Einwohner - erklärt Marco - ist so gewaltig,
dass man es einfach nicht für möglich hält. Es gibt zwölf Stadttore, und vor
jedem liegt eine besondere Vorstadt. Sie sind so ausgedehnt, dass in ihnen
zusammen mehr Menschen leben als in der eigentlichen Innenstadt. In den
Vorstädten befinden sich auch viele schöne Gasthöfe. Besucher aus dem Ausland
müssen in dem jeweils für ihr Land bestimmten Gasthaus Wohnung nehmen; so ist
der Fremdenpolizei die Arbeit sehr erleichtert.
Von allen Merkwürdigkeiten, die Marco in Cathay zu sehen
bekommt, beschäftigt ihn am meisten das Papiergeld, das dort schon seit
Jahrhunderten in Gebrauch war. Der Groß-Khan ist wahrhaft im Besitz des Steines
der Weisen, meint er, da er die Kunst versteht, auf solche Weise Geld zu machen.
Zur Herstellung gebraucht man den feinen Bast, der sich zwischen der rauen Borke
und dem eigentlichen Holz des Maulbeerbaumes befindet. Das daraus gewonnene
Papier ist ganz schwarz. Es wird in Stücke von verschiedener Größe zerschnitten,
meist quadratisch, zuweilen etwas länger als breit. Das kleinste gilt einen
Pfennig, das nächstgrößere einen venezianischen Silbergroschen, und so geht es
weiter bis zu Scheinen im Werte von zehn Goldbyzantinen. Auf jedes einzelne
Stück schreiben mehrere Beamte, die besonders dazu angestellt sind, ihren Namen
und drucken ihren Stempel darauf. Schließlich taucht der oberste Münzmeister das
allein ihm anvertraute Siegel in Zinnober und drückt es auf das Papierstück.
Damit ist der Geldschein gültig. Jeder, der einen solchen Schein nachzumachen
versucht, wird mit dem Tode bestraft.
Mit diesem Papiergeld werden alle Zahlungen für den Kaiser
geleistet. Er verschafft ihm allgemeine Gültigkeit, soweit seine Macht reicht.
Niemand wagt es - bei Gefahr für sein Leben - diese Scheine abzulehnen. Man kann
darum mit ihnen alle Geldgeschäfte ebenso gut abwickeln, als ob es Münzen aus
reinem Gold wären. Dabei sind sie so leicht, dass die Scheine im Wert von vielen
Goldbyzantinen noch nicht einmal das Gewicht einer einzigen kleinen Goldmünze
haben.
Zur Aufrechterhaltung des Wertes dieser Papierwährung wird
vom Khan eine strenge Außenhandelskontrolle durchgeführt. Kaufleute aus Indien
und anderen fremden Ländern, die Gold und Silber, Edelsteine oder Perlen
bringen, dürfen all dies nur unmittelbar an den Groß-Khan verkaufen, der dafür
zwölf erfahrene Sachverständige hat. Die taxieren die verschiedenen Waren, und
der Kaiser zahlt dann einen reichlichen Preis dafür in Papiergeld. Die fremden
Kaufleute nehmen dies auch bereitwillig an, denn von niemand anderem würden sie
so viel bekommen, und sie können mit den Scheinen nun im ganzen Reiche alles
kaufen, was sie wollen. Wenn einer dieser Geldscheine beschädigt ist, - sie sind
übrigens keineswegs besonders empfindlich - dann bringt sie der Besitzer zur
Münze und bekommt dort gegen Zahlung eines Betrages von drei Prozent einen neuen
Schein ausgehändigt.
Ein großartig organisiertes Verkehrswesen verbindet die
entlegensten Teile des Reiches miteinander und ermöglicht Reisegeschwindigkeiten
über große Entfernungen, wie sie damals im Abendland kaum bekannt waren. An
allen großen Hauptstraßen findet man in Abständen von etwa dreißig Meilen
Rasthäuser mit vielen Zimmern und allen Bequemlichkeiten. Auf jeder dieser
Stationen wird stets eine Anzahl Pferde in Bereitschaft gehalten, so dass die
Kuriere des Kaisers ihre müden Tiere sofort durch frische ersetzen können.
Zwischen diesen Rasthäusern gibt es in weit kürzeren Abständen kleinere
Stationen, die sind für die Laufkuriere des Herrschers bestimmt. Diese Eilboten
tragen einen mit Schellen besetzten Gürtel, damit man auf der nächsten Station
ihr Kommen schon von weitem hören kann. Durch diese Schnell-Läufer erhält der
Kaiser Neuigkeiten von einem hundert Tagereisen entfernten Ort in nur zehn
Tagen, und oft geschieht es, dass in der Erntezeit Früchte, die am frühen Morgen
in Cambaluc gepflückt wurden, schon am Abend des folgenden Tages an der Tafel
des Groß-Khans in Ciandu gereicht werden, obwohl die Entfernung zwischen beiden
Orten allgemein als zehn Tagereisen angegeben wird.
Ein so leistungsfähiges Verkehrswesen erfordert in dem
riesigen Reich naturgemäß den Aufwand von enormen Mitteln. Mehr als zehntausend
Poststationen mit allen Einrichtungen sind zu unterhalten, auf denen insgesamt
rund dreihunderttausend Pferde jederzeit zur Verfügung stehen. Die Menge der
Menschen, die direkt oder mittelbar für das Verkehrswesen nötig sind, ist kaum
abzuschätzen, und Marco grübelt lange darüber nach, woher diese ungeheuren
Menschenmengen kommen, die der Staat für den Postdienst wie für alle anderen
Verwaltungszweige braucht: "Wenn man fragt, wie es möglich ist, dass die
Bevölkerung des Landes die genügende Menge Menschen für diesen Dienst stellen
und ernähren kann, so ist zu erwidern, dass alle Götzendiener, aber auch die
Sarazenen, je nach ihren Verhältnissen sechs, acht oder zehn Weiber haben, von
denen sie viele Kinder bekommen, einige von ihnen wohl dreißig Söhne. Bei uns
dagegen hat ein Mann nur eine Frau, und wenn sie unfruchtbar ist, muss er doch
mit ihr sein Leben zubringen und ist dann des Glückes beraubt, eine Familie
aufzuziehen. Daher kommt es, dass unsere Bevölkerung so viel geringer ist als
die ihrige."
Kinsay - die Stadt des Himmels
Nirgends tritt uns das farbige Leben des fernen Ostens
eindringlicher entgegen als in den Schilderungen, die Marco Polo von dem
Gewimmel der Schiffe auf den großen Strömen und dem ameisenhaften Getriebe in
den zahllosen Städten Chinas gibt. Fast mehr noch als Cambaluc, die Hauptstadt
von Cathay, begeistert ihn die Stadt Kinsay, heute Hang-Tschou, die damals eine
der größten Städte der Welt war. Sie liegt südlich der Mündung des
Jang-tse-kiang und war früher die Residenz der Herrscher von Südchina (Manzi),
bis Kublai Khan das Land eroberte. Marco betont, dass er die Stadt oftmals
besucht und alles Sehenswerte sorgsam notiert habe. Diese Aufzeichnungen
benutzte er später bei der Schilderung der Stadt, übrigens eines der
glänzendsten Kapitel des ganzen Buches.
Kinsay, dessen Name nach Marco "Stadt des Himmels" bedeuten
soll, hat einen Umfang von hundert chinesischen Meilen. Es gibt darin etwa zwölf
tausend Brücken; viele davon sind so hoch, dass selbst große Schiffe mit ihren
mächtigen Masten darunter durchfahren können. Die große Zahl ist begreiflich,
wenn man sieht, dass fast die ganze Stadt — ähnlich wie Venedig — im Wasser
steht, so dass zahllose Brücken nötig sind. Am Rande der Stadt liegt ein See,
der hat etwa dreißig Meilen Umfang. An seinen Ufern findet man schöne
Herrschaftssitze, auch viele buddhistische Klöster und Tempel. Die größte
Sehenswürdigkeit ist ein prächtiger Palast, in dem der frühere König von Manzi
Hof zu halten pflegte. Hier lebte er mit der Königin und tausend jungen Frauen,
die zum Hofstaat gehörten. Oftmals besuchte er mit einigen dieser Frauen den See
oder die herrlichen Gärten am Ufer, in denen er Gehege mit Antilopen, Hirschen,
Hasen und anderen Jagdtieren hielt. Keine männliche Person außer dem König
durfte bei diesen Lustpartien zugegen sein. Die Damen, die teils im Wagen
fuhren, teils zu Pferde ritten, waren wohl geübt, mit Jagdhunden die Tiere in
den Wildgehegen zu hetzen. Wenn sie ermüdet waren, zogen sie in den Hainen am
Ufer ihre Kleider aus, sprangen ins Wasser und planschten ausgelassen darin
herum; der König sah amüsiert zu. Aber dies Leben führte für ihn zu keinem guten
Ende, wie Marco berichtet: "So brachte er seine Zeit hin unter den entnervenden
Reizen seiner Frauen und in völliger Unkenntnis des Kriegshandwerks. Die Folge
davon war, dass seine Weichlichkeit und seine Feigheit dem Groß-Khan erlaubten,
ihn seiner glänzenden Herrschaft zu berauben und ihn schmachvoll vom Throne zu
jagen."
Man zählt in der Stadt zehn große Marktplätze außer den
zahllosen Geschäften. Dort versammeln sich dreimal in der Woche vierzig- bis
fünfzigtausend Menschen, die am Markte teilnehmen und ihn mit allen möglichen
Waren versehen. Da gibt es Überfluss an Wild jeder Art, Rehböcke, Hirsche,
Hasen, Kaninchen, dazu Rebhühner, Fasane, Haselhühner, Schnepfen, Kapaune und
eine unvorstellbare Menge von Enten und Gänsen; denn die sind am See so leicht
zu erlegen, dass man für einen venezianischen Silbergroschen ein Paar Gänse und
zwei Paar Enten kaufen kann. Vom Ozean, der fünfzehn Meilen entfernt ist, kommen
täglich große Mengen frische Fische, desgleichen aus dem See. Wer die riesige
Zufuhr von Fischen sieht, hält es für unmöglich, dass derartige Mengen verkauft
werden können, und doch sind sie im Verlauf weniger Stunden abgesetzt. So groß
ist die Zahl der Einwohner und besonders der Leute, die sich solchen Luxus
leisten können, denn Fisch und Fleisch werden bei jeder Mahlzeit gegessen.
In gewissen Straßen leben die öffentlichen Kurtisanen. Deren
Zahl ist so groß, sagt Marco, dass er sie gar nicht anzugeben wagt. Sie zeigen
sich stets prächtig gekleidet, sind stark parfümiert und wohnen in schön
eingerichteten Häusern, umgeben von zahlreichen Dienerinnen. "Diese Frauenzimmer
sind außerordentlich erfahren in allen Raffinements der Verführung. Fremde, die
einmal ihre Reize genossen haben, werden davon geradezu verhext und so gefangen
von ihren buhlerischen Künsten, dass sie den Eindruck nie vergessen können. In
ihrer Heimat erzählen sie dann, sie seien in Kinsay tatsächlich in der Stadt des
Himmels gewesen, und sie wünschen nichts sehnlicher, als so bald wie möglich
wieder in dieses Paradies zurückzukehren."
Es sind jedoch keineswegs nur die großen Städte, die Marco
Polo interessieren, überall auf seinen Reisen, ganz besonders auf der großen
Expedition, die ihn bis in die Provinz Yünnan und sogar nach Tibet führte,
findet er zahllose bemerkenswerte Dinge zu berichten.
So haben die Einwohner von Zardandan in West-Yünnan die
Gewohnheit, ihre Zähne mit einem goldenen Überzug zu versehen, der für jeden
passend angefertigt wird. Die Männer pflegen ferner ihre Arme und Beine mit
schwarzpunktierten Bändern und Streifen zu verzieren. Dazu binden sie fünf
Nadeln zusammen und drücken sie ins Fleisch, bis das Blut herausquillt. Dann
reiben sie in die punktierten Stellen schwarzen Farbstoff hinein, der nun nie
mehr auszulöschen ist. Sie betrachten diese schwarzen Streifen als eleganten
Schmuck und ein Zeichen von Vornehmheit, überhaupt geben sich die Männer in
diesem Lande alle als feine Herren. Sie haben nichts anderes im Sinn als Reiten,
Jagen und kriegerische Übungen. Die Frauen dagegen und die Sklaven müssen alle
wirklichen Arbeiten verrichten.
Noch einen anderen höchst eigentümlichen Brauch findet Marco
bei den Leuten in der Provinz Zardandan: das Männerkindbett (Couvade). "Wenn
dort eine Frau von einem Kind entbunden worden ist, wird der Säugling gewaschen
und gewickelt, und dann geht die Mutter sogleich wieder ihrer gewohnten Arbeit
im Haushalt nach. Der Mann dagegen legt sich mit dem Kinde ins Bett; das tut er
vierzig Tage lang. In dieser Zelt besuchen ihn alle seine Freunde und
Verwandten, um ihn zu beglückwünschen. Das macht man dort so, weil die Frau -
wie sie sagen - mit der Geburt eine schwere Zeit hinter sich hat, so dass es nur
gerecht sei, dass nun auch der Mann seinen Anteil am Leiden habe."
In Tibet schließlich lernt Marco absonderliche Gebräuche
kennen, von denen er unbedingt berichten muss: "Die Leute in diesem Lande mögen
kein Mädchen heiraten, das noch Jungfrau ist, sondern sie verlangen, dass es
vorher Umgang mit anderen Männern gehabt hat. Das - so versichern sie - sei den
Göttern wohlgefällig. Sobald eine Karawane mit Kaufleuten angekommen ist und die
Zelte für die Nacht aufgeschlagen sind, kommen die Mütter mit ihren
heiratsfähigen Töchtern an diesen Platz. Sie streiten untereinander um den
Vorzug und bitten die Fremden, ihre Tochter zu nehmen und sich ihrer
Gesellschaft zu erfreuen, solange sie in der Gegend sind. Natürlich werden die
Mädchen gewählt, die sich durch ihre Schönheit auszeichnen, und die anderen
gehen unzufrieden und ärgerlich nach Hause." Von dem Mann wird erwartet, dass er
dem Mädchen, mit dem er sich vergnügt hat, einen Ring oder ein anderes kleines
Geschenk zurücklässt, irgendetwas, das es später als Andenken an den Liebhaber
zeigen kann, wenn es zum Heiraten kommt. Das Mädchen, das die meisten vorzeigen
und damit beweisen kann, dass die Männer besonders hinter ihm her waren, wird
vor allen anderen zur Heirat begehrt. Aber nach der Hochzeit halten die Männer
ihre Frauen dort sehr streng und in Ehren, und sie betrachten es als eine große
Schande, wenn ein Mann sich mit der Frau eines anderen abgibt.
Das Reisebuch Marco Polos ist uns in einer großen Zahl von
Manuskripten überliefert, die in manchen Einzelheiten voneinander abweichen. So
bringt der italienische Text, der auf die noch zu Lebzeiten Marcos von dem
Dominikanermönch Pipino von Bologna angefertigte lateinische Übersetzung
zurückgeht, die obige Geschichte mit den Worten: "Eine schmähliche Gewohnheit,
die nur aus der Verblendung des Götzendienstes hervorgehen konnte, herrscht
unter dem Volke dieses Landstriches ..." Im Text des berühmten französischen
Manuskriptes, das sich in der Pariser Nationalbibliothek befindet und das
höchstwahrscheinlich dem wirklichen Diktat Marcos am nächsten steht, fehlen
diese Eingangsworte. Dagegen findet sich hier am Ende der Geschickte die
Bemerkung: "Damit habe ich alles über diese Heiratssitte berichtet. Es ist eine
nette Geschichte, die zeigt, wie angenehm es sich für einen jungen Mann in
diesem Lande reisen lässt." Wie ist dieser Widerspruch in der moralischen
Beurteilung zu erklären? Wollte Marco Polo im Alter — als er selbst Vater von
drei Töchtern war - von der frivolen Schlussbemerkung abrücken? Oder hielt es
der fromme Pater Pipino für zweckmäßig, sich von dem Inhalt der Geschichte etwas
zu distanzieren, indem er diese Sitte als den Ausfluss finstersten Heidentums
hinstellte? Wir wissen es nicht. Die Frage ist mehr amüsant als gewichtig.
Andere Abweichungen der Manuskripte sind freilich weit bedeutungsvoller, und es
bedurfte streng methodischer philologischer Untersuchungen, um den Text
herauszufinden, der vermutlich dem ursprünglichen Diktat am nächsten steht.
Marco Polo war der erste Abendländer, der Kunde von der
Existenz des japanischen Inselreiches erhalten hat. Er nennt es Zipangu. Nach
seiner Beschreibung ist es eine sehr große Insel, die im Osten weit draußen im
Ozean liegt, 1.500 Meilen vom Festland entfernt. Die Menschen dort sollen weiß,
zivilisiert und wohlgestaltet, der Reichtum der Insel an Gold und Perlen
ungeheuer sein.
Da Marco sich lediglich auf chinesische Quellen von
zweifelhaftem Wert stützen konnte, sind seine Nachrichten über Zipangu dürftig
und farblos. Wichtig ist, dass er auf Grund dieser Informationen die Entfernung
Japans vom Festland ungeheuer überschätzt hat, weil dadurch in Europa
jahrhunderte lang völlig falsche Vorstellungen über die Lage der Inseln im
großen Ozean entstanden sind. Ausführlich schildert er die Bemühungen Kublai
Khans, Japan zu erobern oder wenigstens tributpflichtig zu machen, wie es der
Kaiser so gern bei den seinem Reiche benachbarten Ländern tat. Nach der
Darstellung Marcos scheiterte der entscheidende Invasionsversuch an der
Eifersucht der beiden rivalisierenden Armeeführer, denen der Khan die
Oberleitung übertragen hatte. Dafür ließ der Kaiser dem einen den Kopf
abschlagen, den anderen bestrafte er auf eine Weise, die auch sonst in China
üblich war: Man wickelte ihm den Leib und beide Arme in eine frisch abgezogene
Büffelhaut, die fest zugenäht wurde. Sobald diese trocknet, presst sie den
Körper so grausam zusammen, dass der Gefangene sich nicht rühren und helfen kann
und elendiglich umkommt.
Dieser Bericht wie auch manche Bemerkung in den späteren
Kapiteln des Buches werfen ein etwas anderes Licht auf die Person des
Groß-Khans, als wir es bisher bei Marco fanden. Das Motiv für den völlig
unprovozierten Angriff auf Japan gibt dieser unumwunden in dem schlichten Satz
an: "Als der große Khan Kublai hörte, dass die Insel Zipangu so reich sei,
dachte er daran, sie in seine Gewalt zu bringen und seinem Reiche
einzuverleiben." Er war offensichtlich persönlicher Grausamkeiten ebenso fähig
wie sein Ahne Dschingis Khan und in der Politik ebenso skrupellos, scheint also
doch nicht ganz dem von Marco entworfenen Bild eines stets milden, gütigen und
toleranten Herrschers zu entsprechen.
Der Weg zurück
Die drei Venezianer waren nun schon ein halbes Menschenalter
lang am Hofe des Groß-Khans. Sie hatten in dieser Zeit unendlich viel gesehen
und erlebt, auch große Reichtümer gesammelt, und der Herrscher hatte sie stets
in Ehren gehalten. Trotzdem wuchs von Jahr zu Jahr die Sehnsucht nach ihrem
Vaterlande. Dieses Gefühl wurde zur Sorge, wenn sie an das Alter des Khans
dachten. Er war jetzt ein Greis von fast achtzig Jahren. Sollte er vor ihrer
Abreise sterben, so würden sie kaum die zahllosen Schwierigkeiten der Rückreise
überwinden können. Ja, es war fraglich, ob man ihnen dann überhaupt erlauben
würde, das Land zu verlassen.
Nur bei Lebzeiten des Khans konnten sie also hoffen, ihre
Heimat in Sicherheit zu erreichen. Nicolo Polo benutzte daher eines Tages die
Gelegenheit, als er den Herrscher in besonders guter Laune fand. Er warf sich zu
seinen Füßen und bat darum, dass ihm und den Seinen die Heimreise gestattet
werden möge. Doch der Groß-Khan wurde höchst unwillig. Es sei Unsinn, meinte er,
sich den Gefahren einer Reise auszusetzen, auf der sie leicht ihr Leben
verlieren könnten. Strebten sie nach größerem Gewinn? Dann wollte er ihnen gern
alle Reichtümer, die sie bereits erworben hatten, verdoppeln! Auch an äußeren
Ehren wollte er ihnen verleihen, was sie nur wünschen könnten. Die Abreise aber
müsse er verweigern, gerade um der Liebe willen, die er zu ihnen hege.
Sie machten noch mehrere Versuche, den Khan umzustimmen, aber
alles war vergeblich. Schließlich kam ihnen ein Zufall zu Hilfe, auf den sie
kaum hatten hoffen können. Um diese Zeit war es, dass in Persien die Gemahlin
des Königs Argon starb, die aus Cathay stammte. In ihrem Testament hatte sie den
König beschworen, nur eine Frau aus ihrem eigenen Geschlecht zu wählen, wenn er
sich wieder verheiraten wollte. Argon, der ein Großneffe Kublai Khans war,
wollte dieser Bitte nachkommen und schickte darum drei Edelleute als Gesandte zu
seinem Oheim mit der Bitte, man möge ihm eine Jungfrau aus dem Geschlecht der
verstorbenen Königin zur Gemahlin geben. Der Groß-Khan selbst wählte eine junge
Dame von siebzehn Jahren mit Namen Kogatin; sie war schön und wohlgebildet und
gefiel den Gesandten außerordentlich.
Nachdem ein zahlreiches Gefolge bestimmt war, das der
künftigen Königin dienen sollte, wurden die Gesandten vom Kaiser huldvoll
entlassen. Sie begaben sich mit der Prinzessin auf demselben Wege, den sie
gekommen waren, wieder heimwärts. Schon waren sie acht Monate unterwegs, da
wurde ihre Weiterreise durch kriegerische Verwicklungen gehemmt, die zwischen
einigen tatarischen Fürsten Innerasien ausgebrochen waren. Sie mussten darum
wieder an den Hof des Groß-Khans zurückkehren und berichteten dort von ihrem
Misserfolg.
Gerade um diese Zeit kam Marco Polo von einer See-Expedition
aus Hinterindien zurück, die er im Auftrag des Herrschers mit einigen Schiffen
unternommen hatte. Er erstattete dem Kaiser Bericht über seine Erlebnisse und
betonte, dass solche Seereisen auch über weite Strecken leicht und sicher
auszuführen seien. Dies kam den Gesandten zu Ohren, die ebenso wie die drei
Venezianer die Rückkehr in ihre Heimat ersehnten. Zusammen mit der Prinzessin
Kogatin erbaten sie sogleich eine neue Audienz beim Herrscher und bemühten sich,
ihn zu überzeugen, dass auch für sie eine bequeme und sichere Reise nur auf dem
Seeweg möglich sei. Dazu aber benötigten sie die seemännischen Erfahrungen Marco
Polos. Der Khan solle daher gestatten, dass dieser sowie Nicolo und Maffeo die
Gesandtschaft bis in die Länder des Königs Argon begleite.
Auch jetzt zeigte sich der Khan zunächst höchst ungehalten
über den Vorschlag, weil er die Polos durchaus nicht gehen lassen wollte. Aber
schließlich gab er nach. Er ließ sie rufen und nahm ihnen das Versprechen ab,
dass sie wieder nach Cathay zurückkehren würden, wenn sie erst einige Zeit in
ihrer Heimat verbracht hätten. Zum Abschied schenkte er ihnen noch eine Menge
von Rubinen und anderen wertvollen Edelsteinen; dann schifften sie sich zusammen
mit der Prinzessin Kogatin und den drei persischen Gesandten ein. Die ganze
Flotte bestand aus vierzehn Schiffen, die auf Befehl des Kaisers mit Vorräten
für zwei Jahre versehen waren.
Nach einer Seefahrt von drei Monaten erreichten Marco und
seine Begleiter Java, das sie jedoch - wenn überhaupt - nur flüchtig besucht zu
haben scheinen, um alsbald nach Sumatra weiterzufahren. Dort verhinderte der
Monsun die Weiterreise, so dass sie fünf Monate auf der Insel bleiben mussten. "Da es nötig war, so lange Zeit zu verweilen, ließ Marco sich mit seiner
Begleitung, die aus ungefähr zweitausend Personen bestand, an der Küste nieder.
Um sich gegen die Feindseligkeiten der Wilden zu schützen, die einzeln
Umherirrende ergreifen, schlachten und fressen, ließ er rings auf der Landseite
einen großen und tiefen Graben ausstechen, der auf beiden Seiten in den Hafen
auslief, wo die Schiffe lagen. An dem Graben ließ er mehrere Blockhäuser
errichten. Durch diese Festungsanlage erhielt er die Reisegesellschaft während
der fünf Monate ihres Aufenthaltes in vollkommener Sicherheit."
Viele der tropischen Pflanzen und Früchte sind ihm neu, und
alles findet er erzählenswert. "Die Leute verstehen es übrigens, Wein aus einem
gewissen Baum zu bereiten, der dort vorkommt. Wenn sie welchen brauchen,
schneiden sie einen Ast ab und befestigen einen großen Topf an der
Schnittstelle. Am nächsten Tag finden sie dann den Topf gefüllt. Dieser Wein ist
ein ausgezeichnetes Getränk; man gewinnt sowohl roten wie weißen. Er ist von so
heilsamer Wirkung, dass er gegen Wassersucht wie auch bei Lungen- und
Leberleiden hilft. Auch wachsen hier indische Nüsse (Kokosnüsse), so groß wie
ein Mannskopf. Sie enthalten eine Substanz, die süß und angenehm schmeckt und
weiß wie Milch ist. Die Höhlung dieses Fleisches ist mit einer Flüssigkeit
gefüllt. Die ist klar und kühl wie Wasser, dabei duftiger und schmackhafter als
Wein oder irgend ein anderes Getränk."
Sumatra liegt unter dem Äquator. Marco Polo war sich bewusst,
dass er hier den südlichsten Punkt seiner Reise erreicht hatte: "Noch etwas sehr
Bemerkenswertes muss ich berichten: Diese Insel liegt so weit im Süden, dass der
Polarsten hier überhaupt nicht mehr zu sehen ist."
Auf die ausführliche Schilderung von Sumatra folgen in Marcos
Buch kurze Bemerkungen über die Nikobaren und
Andamanen; wir wissen aber nicht,
ob er diese Inselgruppen im Indischen Ozean selbst besucht hat. Aber schon bei
der Beschreibung der Insel Ceylon bekommt sein Bericht wieder die gewohnte
Lebendigkeit und Farbe. Hier interessiert ihn vornehmlich zweierlei: Der
Adams-Pik und die Perlenfischerei: "Auf dieser Insel gibt es einen hohen Berg,
der hat wilde Schluchten und Abgründe, und sein Gipfel ist so zerrissen, dass
man ihn nur besteigen kann mit Hilfe von eisernen Ketten, die an dem Felsen
befestigt sind. Auf diesem Gipfel soll sich das Grab unseres Urvaters Adam
befinden, so sagen die Sarazenen. Aber die Götzenanbeter sind der Meinung, dass
das Grab den Leib Sagamoniborcans (Buddha) enthalte. Das war der erste Mensch,
der die Götzen erfunden hat, und sie verehren ihn als einen Heiligen." Nun
erzählt Marco die berühmte Geschichte, wie Gautama als junger Mann das
Königreich seines Vaters verließ und allen weltlichen Genüssen entsagte, um sich
ganz dem Studium der Religion und der Philosophie hinzugeben.
Lustiger freilich ist es ihm, von der Perlenfischerei zu
berichten, die in dem flachen Meer zwischen Ceylon und dem Festland betrieben
wird: Die vielen Kaufleute, die sich daran beteiligen, bilden Genossenschaften.
Jede von ihnen stellt eine große Anzahl von erfahrenen Perlentauchern gegen Lohn
an. Von dem Gewinn müssen sie zunächst ein Zehntel dem König abliefern. Ein
Zwanzigstel steht den Leuten zu, die die Fische bezaubern. Sie gehören zur Kaste
der Brahmanen und verstehen es, durch Magie die großen Raubfische abzuhalten,
die sonst den Perlentauchern bei ihrer Arbeit gefährlich werden. Weil nun die
Taucher der einzelnen Genossenschaften nur bei Tage arbeiten, lösen die
Brahmanen den Zauber am Abend, damit unehrliche Leute, die etwa nachts ohne
Berechtigung tauchen und Muscheln stehlen wollen, durch die Furcht vor den
raubgierigen Fischen abgehalten werden.
An verschiedenen Punkten der
Malabar-Küste lernt Marco Polo
schließlich auch noch den Kulturkreis Indiens kennen. Wir wissen, er ist kein
Gelehrter; tiefsinnige vergleichende Kulturbetrachtungen liegen ihm gar nicht,
aber er erkennt doch, dass dies für ihn eine völlig neue Welt ist. Alles geht in
seiner Erzählung bunt durcheinander: Es gibt da Fledermäuse so groß wie Geier,
und Geier, die schwarz wie Raben sind. Er erzählt von Tempeln mit unglaublich
vielen Göttern, männlichen und weiblichen, und von jungen Tempeltänzerinnen, die
nackt - nur mit einem Tuch umgürtet - ihre Hymnen singen und tanzen. Er
verschmäht es nicht, eine so nützliche Erfindung wie das Moskitonetz zu preisen;
"solche Bequemlichkeiten genießen freilich nur Personen von Rang und Vermögen."
Höchst merkwürdig findet er es, dass die Hindus den Ochsen wie einen Gott
verehren und dass Witwen sich auf den Scheiterhaufen ihres verstorbenen Mannes
stürzen, um mit ihm zu verbrennen. Und Sekten gibt es hier, deren Angehörige
haben eigenartige Gewohnheiten: "Sie berauben keine Kreatur ihres Lebens, nicht
einmal eine Fliege, einen Floh oder eine Laus; auch essen sie kein Tier, denn
sie würden sonst Sünde begehen." Für den, der fast zwei Jahrzehnte lang in den
ganz andersartigen Lebensformen Chinas zugebracht hat, ist das eine seltsam
ferne Welt. Nicht alles, was Marco sieht, deutet er richtig, aber er sieht
unglaublich viel und erzählt es munter und lebendig mit einem erstaunlichen Sinn
für die Spannweite alles Menschlichen und ohne den Hochmut des Europäers, der
später so viele Reisebeschreibungen schwer erträglich macht.
Sechsundzwanzig Monate nach der Abfahrt von China langten die
Polos mit ihrer Begleitung in der persischen Hafenstadt Hormos an, die ihnen
schon von der Ausreise her bekannt war. Freilich erreichten keineswegs alle
Mitreisenden das Ziel. Von der Schiffsbesatzung und den Passagieren fanden
unterwegs rund sechshundert Personen den Tod, darunter zwei von den drei
Gesandten, während von den Damen und Dienerinnen der Prinzessin nur eine
gestorben war.
Bei der Landung in Hormos erfuhren die Polos zu ihrer
Bestürzung, dass der König Argon schon vor ihrer Abreise von China gestorben
war. Für seinen noch sehr jungen Sohn führte der Bruder des verstorbenen Königs,
Quiacatu, die Regentschaft. An diesen wandten sie sich und baten um Auskunft,
was nun mit der Prinzessin Kogatin geschehen solle. Der Regent gab den Auftrag,
die junge Dame dem Sohn Argons zuzuführen, der damals in der persischen
Nordprovinz Khorassan unter der Vormundschaft eines Gouverneurs das
Waffenhandwerk erlernte. So bekam Kogatin statt des alten Königs einen jungen
Prinzen zum Gemahl. Marco vergisst nicht zu erwähnen, dass sie in Tränen
ausbrach, als die Polos sich endgültig von ihr verabschiedeten, so innig hatte
sie sich auf der langen Reise mit ihnen angefreundet.
In der Residenz des Regenten Quiacatu, die wahrscheinlich in
Täbris lag, ruhten sie sich neun Monate von den Strapazen der Seereise aus; dann
machten sie sich endgültig auf den Heimweg. Unterwegs erreichte sie die
Nachricht, dass Kublai Khan inzwischen gestorben war. Da wurde ihnen klar, dass
sie die Heimfahrt gerade noch rechtzeitig angetreten hatten. "Endlich erreichten
sie die Stadt Trapezunt, von wo sie nach Konstantinopel gingen, dann nach
Negropont und zuletzt nach Venedig, an welchem Ort sie frisch und gesund im
Jahre 1295 ankamen. Bei dieser Gelegenheit brachten sie Gott, der sie aus so
viel Mühsalen und unzähligen Gefahren errettet und zum Ziele geführt hatte,
ihren Dank dar."
Im Kerker zu Genua
Wir kennen die Szene, die sich bei der Heimkehr der Polos vor
ihrem Palazzo in Venedig abspielte, und wir wissen, wie sie nach der Schilderung
des Ramusio sich ihren Angehörigen und den maßgebenden Familien der Stadt bei
einem prächtigen Festmahl zu erkennen gaben. Mag sein, dass der Erzähler diese
Szene etwas im Stil einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht ausgeschmückt
hat. Unwahrscheinlich ist sie keineswegs, denn sie passt vortrefflich zum Wesen
dieses Mannes Marco, seiner Freude am bunten Getriebe des Lebens, den Kontrasten
zwischen barbarischer Üppigkeit und bitterer Not, seiner Lust am Absonderlichen
und Skurrilen.
Vierundzwanzig Jahre waren die Polos fern von der Heimat
gewesen, siebzehn davon in China, dreieinhalb auf der Ausreise und mehr als drei
auf der Rückreise. Sie lebten nun in Venedig als reiche Kaufherren, berühmt
wegen ihrer seltsamen Abenteuer und angesehen in Staat und Gesellschaft. Den
beiden Alten, Nicolo und Maffeo, mag das genügt haben. Aber Marco war erst gut
vierzig Jahre alt. Wie war ihm zumute, als der erste Jubel über die glückhafte
Heimkehr vorüber war? Lernte auch er jenes seltsame Gefühlt kennen, unter dem
fast alle Weltfahrer nach Vollendung ihrer großen Reise wie unter einer
Berufskrankheit leiden: das Gefühl der Leere, des Unausgefülltseins, des
Beiseitetretens, wenn sie sich nach Jahren aufregenden Erlebens wieder in die
fest gefügten Lebensformen der Heimat einordnen sollen? Wir wissen es nicht. Wir
wissen nur, dass er sich drei Jahre nach der Heimkehr nicht weigerte, das
Kommando über eine der venezianischen Galeeren zu übernehmen, als die alte
Rivalität Venedigs mit den Handelsrepubliken Genua und Pisa wieder einmal einen
Höhepunkt erreichte.
Im Jahre 1298 rüstete Genua zu einem großen Schlag gegen die
venezianischen Besitzungen an der Küste von Dalmatien. Der Genueser Admiral
Lamba Doria sammelte Anfang September eine Flotte von hundert Galeeren in den
dalmatinischen Gewässern. Bei der Insel Curzola traf sie mit der etwa gleich
starken der Venezianer zusammen. Es gelang den Genuesen, am Nachmittag des
Kampftages im entscheidenden Augenblick eine für die Venezianer bisher noch
nicht sichtbare Reserve von fünfzehn Galeeren in den Kampf zu werfen, und damit
wurde das Treffen zu einem entscheidenden Sieg für Genua. Mit wenigen Ausnahmen
wurden alle venezianischen Galeeren - einschließlich des Admirals-Flaggschiffs -
vom Feinde genommen. Siebentausend Gefangene wurden, in Ketten gefesselt, unter
dem Jubel der Bevölkerung in Genua eingebracht. Einer von ihnen war Marco Polo.
Welch ironische Fügung des Schicksals: Der Mann, der ein
Menschenalter lang allen Gefahren Asiens getrotzt hatte, muss jetzt das harte
Los seiner Landsleute in den Kerkern von Genua teilen. Die Nachrichten über die
Behandlung der Gefangenen gehen weit auseinander. Die Genuesen behaupten, sie
sei den Umständen entsprechend durchaus anständig gewesen, während nach
venezianischen Quellen die meisten der Siebentausend an Hunger gestorben sind.
Marco Polo scheint im Laufe der Zeit gewisse Erleichterungen erfahren zu haben.
Die Genuesen merkten bald, wen sie da gefangen hatten. Auch bei ihnen erregten
seine Reiseschicksale begreiflicherweise lebhaftes Interesse, wohl nicht so sehr
aus Mitleid als um der handelspolitischen Informationen willen, die für ihren
Orienthandel bedeutsam werden konnten. Täglich bedrängten ihn im Gefängnis
neugierige Besucher, bis zum Überdruss musste er ihre Fragen beantworten.
Marcos Angehörige machten von Venedig aus auf verschiedenen
Wegen den Versuch, ihn freizukaufen, aber alle ihre Bemühungen waren vergeblich.
So verging ein Jahr und noch eines, ohne dass sich die geringste Aussicht auf
Befreiung zeigte. Was ihm höchstwahrscheinlich bevorstand, konnte Marco an einer
Schar von Gefangenen aus Pisa ersehen, die er im Gefängnis antraf. Sie waren der
klägliche Rest von neuntausend Gefangenen, die im Jahre 1284, also vierzehn
Jahre vor seiner eigenen Gefangennahme, in der Seeschlacht von Meloria den
Genuesen in die Hände gefallen waren, ein Schlag, von dem sich Pisa nie wieder
erholt hat. Es verlor damals die Blüte seiner jungen Mannschaft. Viele vornehme
Pisanerinnen zogen in Scharen zu Fuß nach Genua, um ihre Männer oder
Anverwandten wenigstens noch einmal zu sehen. "Und als sie dann an den Pforten
der Gefängnisse nachforschten," berichtet ein Zeitgenosse, "bekamen sie von den
Wärtern die Antwort: Gestern sind dreißig von ihnen gestorben, heute waren es
vierzig. Wir werfen sie alle ins Meer; und so geht es Tag für Tag."
In den drei Jahren nach der Rückkehr aus Asien bis zur
Gefangennahme war Marco nicht daran gegangen, seine Reiseerlebnisse schriftlich
aufzuzeichnen. Erst jetzt, nach diesem Schicksalsschlag, da er nicht wusste, ob
er jemals lebendig dem Kerker entkommen würde, scheint ihm die Erkenntnis dafür
aufgegangen zu sein, welchen Wert dieser einzigartige Schatz von Erfahrungen für
die Mit- und Nachwelt haben musste. Es gelang ihm, aus dem Gefängnis einen Brief
an seinen Vater in Venedig zu schicken und sich von dort seine Reisenotizen
kommen zu lassen. In einem Mitgegangenen, dem literarisch gebildeten Rusticiano
aus Pisa, fand er einen treuen Gehilfen, der nach seinem Diktat das umfangreiche
Buch seiner Reiseerlebnisse niederschrieb.
So ist das Werk entstanden, dem Marco Polo seinen Ruhm durch
die Jahrhunderte verdankt. Denn es besteht durchaus Grund zu der Annahme, dass
nicht nur alle seine Beobachtungen und Erkenntnisse im einzelnen ohne diese
Niederschrift im Gefängnis zu Genua niemals der Nachwelt erhalten worden wären,
sondern überhaupt die Tatsache seiner Reisen, ja sogar seiner Existenz bis auf
wenige ohne Zusammenhang mit diesem Buch nichts sagende Dokumente in einigen
italienischen und chinesischen Archiven uns kaum überliefert worden wäre.
Eine Wendung seines Schicksals konnte Marco jetzt nur noch
erhoffen von der Beendigung des Kriegszustandes zwischen Genua und Venedig.
Papst Bonifatius, der früher zwischen den beiden Republiken vermittelt hatte,
scheint diesmal den Versuch für aussichtslos gehalten zu haben. Aber andere
italienische Staaten, die an der Wiederherstellung des Friedens interessiert
waren, schalteten sich ein, und schließlich trafen sich auf Veranlassung von
Mailand Gesandte der beiden streitenden Parteien in dieser Stadt. Sie bereiteten
einen Friedensvertrag vor, der im Mai 1299 unterzeichnet wurde und beide Seiten
zur Entlassung der Gefangenen verpflichtete. Ende August dieses Jahres, genau
vier Jahre nach seiner Gefangennahme, wurde Marco Polo mit seinen
Schicksalsgefährten, soweit sie die Haft lebend überstanden hatten, aus dem
Gefängnis entlassen und kehrte sogleich nach Venedig zurück.
Über Marcos weitere Schicksale sind uns nur ganz wenige
Nachrichten erhalten. Ob er bei der Rückkehr aus der Gefangenschaft seinen Vater
noch am Leben angetroffen hat, ist ungewiss, doch steht fest, dass Nicolo Polo
im August 1300 bereits gestorben war. Er hatte unmittelbar nach Marcos
Gefangennahme noch einmal geheiratet, da er befürchtete, dass sein ganzer so
mühsam erworbener Reichtum nun vielleicht keinem leiblichen Erben zufallen
würde. Der gewünschte Erfolg blieb trotz seines Alters nicht aus: Im Verlaufe
der vier Jahre, die Marco im Kerker saß, wurde Nicolo Polo Vater von drei
weiteren Söhnen.
Erst aus dem Jahre 1324, als Marco schon ein schwerkranker
Mann war, ist uns wieder ein Dokument von ihm erhalten: sein Testament. Aus ihm
erfahren wir, dass er bald nach seiner Rückkehr aus Genua geheiratet hat und
Vater von drei Töchtern mit Namen Fantina, Bellela und Moreta wurde, von denen
die beiden ersten im Jahre 1324 schon verheiratet waren. Bald danach starb er
und wurde in der Kirche San Lorenzo beigesetzt. - Der Dominikaner Jacopo de
Aqui, ein Zeitgenosse Marcos, berichtet in seiner Chronik: Als Marco Polo auf
dem Sterbebett von seinen Freunden ermahnt wurde, die Teile seines Reisewerkes
zu widerrufen, die unglaubwürdig seien, habe er diesen Rat unwillig
zurückgewiesen und erklärt, dass er an keiner Stelle übertrieben, ja nicht
einmal die Hälfte der von ihm wirklich beobachteten seltsamen Dinge erzählt
habe.
Der Weltreisende und sein Buch
Marco Polos erster Biograph, der Italiener Ramusio (geboren
1485 in Treviso, gestorben 1557), war ein Kind, als Columbus seine erste
denkwürdige Fahrt nach Westindien ausführte; er lebte lange genug, um die
Auswirkung dieses Ereignisses durch zwei Menschenalter verfolgen zu können. Es
lag darum für ihn nahe, die Reisen der Polos mit dem Unternehmen des Columbus zu
vergleichen. In der Vorrede zu seiner Ausgabe von Marcos Buch, die er in Venedig
im Jahre 1553 schrieb, führt er aus: "Oft habe ich die Landreise unserer
Venezianer mit der Seefahrt des genannten Signor Don Christopher verglichen und
mich dabei gefragt, welche von beiden die bedeutendere sei. Wenn mich nun nicht
ein patriotisches Vorurteil parteiisch macht, so glaube ich doch gute Gründe
dafür zu haben, die Landreise über die Seefahrt zu stellen. Man bedenke nur, was
für ein Mut dazu gehörte, ein so schwieriges Unternehmen zu beginnen und
erfolgreich durchzuführen. Man denke an die unvorstellbare Länge des Reiseweges
mit allen seinen Mühsalen, wobei es oft nötig war, die Nahrung für Menschen und
Tiere nicht nur für Tage, sondern für mehrere Monate mitzuführen. Columbus
dagegen hatte auf seiner Seereise den nötigen Proviant stets zur Hand, und auf
einer Fahrt von nur dreißig bis vierzig Tagen ließ er sich vom Wind zum Ziel
seiner Wünsche führen, während die Venezianer ein ganzes Jahr brauchten, um
allein die großen Wüsten und gewaltigen Ströme zu durchqueren. Dass der Weg nach
Cathay so viel schwieriger, weiter und gefährlicher war als die Fahrt in die
Neue Welt, geht auch daraus hervor, dass kein Europäer es bisher gewagt hat, die
Reise zu wiederholen, die von den Polos zweimal durchgeführt wurde. Dagegen
haben schon im ersten Jahr, das der Entdeckung Westindiens folgte, viele Schiffe
die Fahrt dorthin unternommen, und bis zum heutigen Tage finden sie zahllose
Nachfolger. Tatsächlich sind diese Gebiete jetzt so gut bekannt und dem Handel
erschlossen, dass selbst der Seeverkehr zwischen Italien, Spanien und England
nicht größer ist."
Zweifellos wird dieser Vergleich, der nur die Schwierigkeiten der Reisetechnik
berücksichtigt, der Tat des Columbus nicht gerecht. Er lässt völlig außer acht
das Genie, mit dem der große Genuese das Unternehmen seines Lebens plante und
durchführte; er sieht nicht die Energie, den Fanatismus und die Klugheit, mit
denen Columbus alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumte. - Marco Polos Ruhm
beruht weniger auf seinem Charakter oder besonderen Fähigkeiten als vielmehr der
Romantik seiner persönlichen Schicksale, der geographischen wie menschlichen
Weite seiner Erfahrungen, besonders aber auf der Tatsache, dass er über alles
das ein faszinierendes Buch geschrieben hat, ein Buch zudem, das der Nachwelt
eine ganze Reihe von Rätseln aufgegeben hat, die teils erst nach Jahrhunderten
gelöst wurden, zum Teil aber auch heute noch nicht ganz geklärt sind.
Das erste dieser Rätsel betrifft die Sprache, in der das Buch
von Marco Polo ursprünglich niedergeschrieben wurde. Das Werk ist uns in einer
großen Anzahl von Manuskripten erhalten. Der Engländer Henry Yule, der die
Polo-Forschung mehr als andere gefördert hat und dem auch unsere Darstellung in
vielen Einzelheiten zu Dank verpflichtet ist, konnte achtundsiebzig Manuskripte
nachweisen, davon einundvierzig in Lateinisch, einundzwanzig in Italienisch,
zehn in Französisch und vier in Deutsch. Ramusio nahm an, dass die lateinische
Version die ursprüngliche sei. Später hielt man eines der italienischen
Manuskripte in venezianischem Dialekt für den Originaltext. Erst im Laufe des
neunzehnten Jahrhunderts, als man mit den inzwischen entwickelten Methoden
philologischer Textkritik der Frage nachging, stellte sich heraus, dass beide
Auffassungen kaum zutreffen können. In sorgfältiger Kleinarbeit wurden vier
wesentlich von einander verschiedene Texttypen ermittelt. Dabei zeigte es sich,
dass die Manuskripte in einer der genannten Sprache keineswegs alle einem
bestimmten Texttyp zugeordnet werden können. Vielmehr ergab sich, dass offenbar
schon sehr frühzeitig ein wildes Hin- und Herübersetzen stattfand. So hatte
Andreas Müller aus Greifenhagen, der im Jahre 1671 eine Ausgabe des Buches von
Marco Polo veröffentlichte, das Pech, an ein Manuskript zu geraten, das bereits
eine Übersetzung aus fünfter Hand war. Auch die französischen Ausgaben, die um
die Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen, sind eine Rückübersetzung um mehrere
Ecken: Französisch - Italienisch - Pipinos Latein - Portugiesisch? - Grynacus'
Latein - Französisch! Alle diese Forschungen, die wir im einzelnen nicht
verfolgen können, führten zu dem höchst überraschenden Ergebnis, dass
offensichtlich eines der Manuskripte in altfranzösischer Sprache das Original
ist, das Marco Polo in Genua im Gefängnis diktiert hat, oder dass es doch von
allen existierenden Manuskripten der Urfassung am nächsten steht. Es ist das
französische Manuskript, das die Geographische Gesellschaft zu Paris im Jahre
1824 in einer sorgsamen Ausgabe veröffentlichte und das seitdem als der "Geographische Text" bezeichnet wird.
Dies verblüffende Ergebnis warf manche neue Fragen auf. Ist
es denkbar, dass der Venezianer Marco Polo sich im Gefängnis dem Toskaner
Rusticiano in seiner eigenen Muttersprache nicht verständlich machen konnte? Hat
Marco sein Werk selbst in Französisch diktiert? Wenn ja, wann und wo kann er es
gelernt haben? - Oder geht die französische Fassung des Urmanuskriptes allein
auf eine Übersetzung durch Rusticiano zurück, der als literarisch gebildeter
Mann diese Sprache nachweislich beherrschte? Wir haben keinen Anlass, die
Ergebnisse der Philologen in Zweifel zu ziehen. Das Gefühl, dass hier noch immer
eines der Rätsel um Marco Polo liegt, bleibt bestehen.
Im Druck erschien Marcos Buch zum ersten Male in deutscher
Sprache in Nürnberg im Jahre 1477, ein Nachdruck 1481 in Augsburg. Diese Ausgabe
zeigt auf einem schönen Holzschnitt die Gestalt Marco Polos mit der
Unterschrift:
-
"Das ist der edel Ritter Marcho polo von Venedig der
grost landtfarer
der uns beschreibt die großen wunder der welt die er
selber gesehenn hat
Von dem auffgang pis zu dem undergang der sunnen
der gleychen vor nicht meer gehort seyn."
Es erschienen Ausgaben in Lateinisch, im Venezianischen
Dialekt, in Portugiesisch (1502) und in Spanisch (1520 und 1529). 1556 kam der
erste Druck in französischer Sprache heraus.
Durch die emsige Tätigkeit der Übersetzer im 14. und 15.
Jahrhundert sind in viele Texte der Manuskripte und damit später auch der Drucke
zahlreiche Fehler und Zusätze eingedrungen, die gewiss nicht allein auf
sprachliche Missverständnisse zurückgehen, sondern oft auch Zeugnisse einer
blühenden Fabulierkunst sind. Diese Zusätze in vielen Manuskripten waren es vor
allem, die Marcos Buch gelegentlich den Ruf einbrachten, es sei nur eine
erfundene Geschichte, ein "Roman um den Groß-Khan" im Stile der zahlreichen
Reiseromane des späten Mittelalters. Schon zu seinen Lebzeiten, als bereits
mehrere Versionen im Umlauf waren, tauchte dieser Vorwurf auf, wie die oben nach
Jacopo de Aqui berichtete Szene am Sterbebette Marcos zeigt.
Die Kritik, die später mitunter an der Glaubwürdigkeit Marco
Polos geübt worden ist, stützt sich auf die Tatsache, dass er eine Anzahl sehr
charakteristischer Einzelheiten des chinesischen Lebens ganz mit Stillschweigen
übergeht. So erzählt er nichts von der großen chinesischen Mauer, nichts von den
Krüppelfüßen der Chinesinnen, nichts vom Teegenuss und der Buchdruckerkunst,
alles Dinge, für die man bei seinem nimmermüden Interesse für Neues und
Absonderliches besondere Aufmerksamkeit erwarten sollte. Nun hat freilich schon
Alexander von Humboldt hierzu bemerkt, dass man solchen Beweisen "ex silentio"
kein allzu großes Gewicht beimessen dürfe: In den Archiven von Barcelona, sagt
Humboldt, findet sich keinerlei Hinweis auf den triumphalen Einzug des Columbus
in diese Stadt, bei Marco Polo keine Bemerkung über die chinesische Mauer und in
den Archiven von Portugal nichts über die Reisen, die Amerigo Vespucci in
portugiesischen Diensten ausführte.
Wahrscheinlich erklären sich diese Auslassungen höchst
einfach aus der Entstehungsgeschichte der ersten Niederschrift. Marco war kein
Gelehrter, und Systematik lag ihm ganz und gar nicht. Wohl hatte er, wie wir
wissen, bei seinem Diktat im Gefängnis einige Reisenotizen vor sich, aber gewiss
kein lückenloses Tagebuch. Der Stil und die ganze Diktion des Werkes zeigen
deutlich das gesprochene Wort: Er spricht von sich selbst gelegentlich in der
ersten, meist aber in der dritten Person, erzählt manchmal nur in knappen
Stichworten, dann wieder in behaglicher Breite, wiederholt sich und gebraucht
anknüpfende rhetorische Wendungen. All das deutet hin auf ein lebendig und
impulsiv vorgetragenes Diktat, bei dem wohl auch wichtige Einzelheiten einfach
vergessen worden sind.
Aber diese Einwände können seinen Ruhm nicht schmälern. Die
erd- und völkerkundlichen Forschungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts,
insbesondere die Arbeiten von Ferdinand von Richthofen und Sven Hedin, haben die
überzeugenden Beweise erbracht, dass Marco Polos Angaben zur Länder- und
Völkerkunde der Gebiete, die er durchreiste, überhaupt nahezu alles, was er
selbst beobachtet hat, in erstaunlicher Weise den zum größten Teil erst im
Verlauf der letzten hundert Jahre nachprüfbaren Tatsachen entsprechen. Er war
wirklich der König unter den Reisenden des Mittelalters. Als erster hat er den
größten Erdteil, Asien, in seiner ganzen Weite von West nach Ost durchquert und
sorgsam beschrieben, was er dort sah: Die Wüsten Persiens, die blumenreichen
Hochebenen und die wilden Gebirgsschluchten von
Badakshan, märchenhafte Städte
der Seidenstraße, die Steppenländer der Mongolei und den Hof des Groß-Khans. Als
erster zieht er den Schleier von China, schildert das Gewimmel seiner Menschen,
die riesenhaften Städte, das Leben auf den großen Flüssen, die Reichtümer aller
Art, die hier gewonnen werden oder aus anderen Ländern zusammenströmen. Er
bringt die erste verlässliche Kunde von Tibet und Burma, erweitert entscheidend
die dürftige Kenntnis, die man zu seiner Zeit in Europa vom Malayischen
Archipel, Ceylon und Vorderindien hatte. Auch von dem, was er nicht selbst sah,
sammelt er Berichte, - wobei natürlich die Verlässlichkeit dieser Kapitel
mitunter fragwürdig ist, - so von Japan, über dessen Existenz man zum ersten
Male durch ihn etwas hörte, von Abessinien, Sansibar und Madagaskar, ja sogar
von Sibirien und dem nördlichen Eismeer.
Es bedarf nicht des etwas missglückten Vergleiches mit
Columbus, wie ihn Ramusio anstellte, um Marco Polo zu den Großen unter den
Weltreisenden aller Jahrhunderte zu zählen. Aber eine eigenartige Verbindung
besteht doch zwischen dem Venezianer und dem Genuesen, der zweihundert Jahre
später lebte. Als Columbus seine Idee der Westfahrt nach Asien entwickelte, war
Marcos Buch im Druck nur in deutscher Sprache erschienen. Auch haben wir keinen
überzeugenden Beweis dafür, dass Columbus selbst eines der Manuskripte gelesen
hat. Aber mittelbar, vor allem durch die Briefe des Florentiners Toscanelli,
ging vieles von Marco Polos Weltbild in die Pläne des Columbus ein. So besteht
kein Zweifel, dass es vor allem Marcos Berichte von der zauberhaften Pracht und
dem Reichtum der Länder Asiens waren, die dem jungen Columbus den entscheidenden
Anstoß gaben. Dabei zeigt sich wieder eine seltsame Verkettung der historischen
Ereignisse: Der Genuese wurde zu seiner Tat, die das Gesicht der Welt von Grund
auf gewandelt hat, angespornt von einem Venezianer, der selbst kummervolle Jahre
im Kerker von Genua zugebracht hatte. Die jahrhundertealte Feindschaft der
beiden rivalisierenden Handelsrepubliken des Mittelmeers erscheint in dieser
seltsamen Verbindung ihrer berühmtesten Söhne gleichsam aufgehoben und neuen
Zielen zugewandt, von denen beide nichts ahnten. - Und eine weitere Ironie der
Geschichte: Das unerschütterliche Vertrauen des Columbus, dass sein Plan einer
Westfahrt von Europa nach Asien nicht nur theoretisch möglich, sondern auch bei
dem damaligen Stand der Seefahrt praktisch ohne große Schwierigkeiten
durchführbar sei, beruhte auf einem großen Irrtum. Mit
Toscanelli glaubte er,
dass der Seeweg von Westeuropa bis Ostasien nur ein Drittel des Erdumfanges
betrage. Tatsächlich sind es jedoch zwei Drittel. Dieser Irrtum, der sich
übrigens auch schon bei antiken Autoren findet, wurde für die Zeitgenossen des
Columbus zweifellos erhärtet durch die Schilderung, die Marco Polo gegeben hat.
Zwar enthält sein Buch keine genauen Entfernungsangaben. Aber allein die
Tatsache, dass er über drei Jahre unterwegs war, die große Zahl der Länder, die
er durchqueren musste, und schließlich die irrtümliche Angabe, dass Japan, das
märchenhafte Zipangu, noch 1.500 Meilen von der Ostküste Asiens entfernt liege,
schien diese Auffassung zu bestätigen. Hätte Columbus seinen Plan mit der
gleichen Energie verfolgt, wäre es ihm gelungen, Ferdinand und Isabella von
Spanien für sein Unternehmen zu gewinnen, wenn sie die wirkliche Länge des Weges
gekannt hätten? Es gibt einen schicksalhaften Irrtum, der fruchtbarer ist als
eine lähmende Wahrheit; er stößt den Weltfahrer in unbekannte Fernen, aber er
führt ihn schließlich auch zu neuen Ufern.
So steht die Gestalt Marco Polos auch hinter der Tat des
Columbus, der einer der großen Verwandler der Menschheitsgeschichte wurde. Das
war Marco nicht. Aber er hat uns etwas hinterlassen, was der Genuese und die
anderen Großen des Zeitalters der Entdeckungen nicht geben konnten oder wollten,
wohl auch nicht geben durften, weil die nun mit ungeheuerer Wucht anbrechende
Epoche der nationalen Machtkämpfe auf lange Zeit die Geheimhaltung aller neuen
Entdeckungen forderte: sein Buch. Ein Buch, das auch heute noch erstaunlich
modern wirkt, denn aus ihm spricht in einer Zeit der strengen Scholastik schon
durchaus der weltoffene Geist des Humanismus. Wie auf einem bunten persischen
Teppich sich Farben und Formen zu zeitlosen, aber seltsam erregenden Gebilden
durchdringen, so lässt dies Buch die funkelnde Fülle des Lebens in seinen
tausenderlei Gestaltungen aufleuchten und hat den Ruhm Marco Polos durch die
Jahrhunderte lebendig erhalten bis auf unsere Tage. |