Im Juni 1781 verschwand aus Leipzig der achtzehnjährige
Student der Theologie Johann Gottfried Seume. Er hatte sich weder von seiner
Mutter verabschiedet, die als Witwe in dem nahen Dorfe Knautkleeberg lebte, noch
seinen Bekannten in Leipzig irgendeine Nachricht hinterlassen. Aber er hatte
noch kurz vorher alle seine kleinen Schulden bezahlt, und gerade dieser Umstand
ließ seine Freunde das Schlimmste befürchten. Im Juli erschien in der "Leipziger
Zeitung" ein Aufruf mit genauer Personalbeschreibung, doch alle Nachforschungen
blieben ohne Erfolg.
Seume hatte Leipzig verlassen, um nach Paris zu wandern. Was
er dort wollte, wusste er selbst nicht recht. Das Studium der Theologie, das er
nach einer gründlichen humanistischen Ausbildung an der Leipziger Nikolaischule
soeben begonnen hatte, befriedigte ihn nicht und brachte ihn in Zweifel und
innere Schwierigkeiten. All das glaubte er, weder seiner Mutter noch dem Grafen
von Hohenthal-Knauthain, der ihm das Studium ermöglichte, erklären zu können. So
beschloss er, heimlich aus Leipzig zu verschwinden und zunächst einmal nach
Paris zu gehen, um von dort aus später vielleicht in die Artillerieschule in
Metz eintreten zu können. Dieser Aufbruch war mehr als ein Jungenstreich, er war
der Ausdruck einer inneren Unrast, die ihn sein Leben lang nicht verlassen
sollte.
Soldat wider Willen
Mit neun Talern und dem Tacitus in der Tasche verließ er
Leipzig. Die erste Nacht schlief er in einem Dorf an der Unstrut, die zweite bei
Erfurt, in der dritten packte ihn sein Schicksal. In dem Dorfe Vacha fiel er
hessischen Werbern in die Hände. Als Arrestant wurde er in die Festung
Ziegenhain gebracht und mit Hunderten von Schicksalsgefährten vom Landgrafen von
Hessen-Kassel als Söldner für den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg an
England verkauft. "Ich ergab mich in mein Schicksal", schreibt er später in
seiner Selbstbiographie, "und suchte das Beste daraus zu machen, so schlecht es
auch war. Wir lagen lange in Ziegenhain, ehe die gehörige Anzahl der Rekruten
vom Pfluge und dem Heerwege und aus den Werbestädten zusammengebracht wurde. Die
Geschichte und Periode ist bekannt genug: Niemand war damals vor den Handlangern
des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man
fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art
wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriss man meine akademische
Inskription, als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte
ich mich weiter nicht; leben muss man überall: Wo so viele durchkommen, wirst du
auch; über den Ozean schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug, und zu
sehen gab es jenseits auch etwas."
Ein Jahr nach Seumes Abmarsch aus Leipzig trat der
Truppentransport von Bremerhaven aus die überfahrt nach Amerika an. "In den
englischen Transportschiff en wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie
die Heringe. Den Platz zu sparen, hatte man keine Hängematten, sondern
Verschlage in der Tabulatur des Verdecks, das schon niedrig genug war; und nun
lagen noch zwei Schichten übereinander. Im Verdeck konnte ein ausgewachsener
Mann nicht gerade stehen, und im Bettverschlage nicht gerade sitzen. Die
Bettkasten waren für sechs und sechs Mann. Wenn viere darin lagen, waren sie
voll, und die beiden letzten mussten hineingezwängt werden. Das war bei warmem
Wetter nicht kalt; es war für einen einzelnen gänzlich unmöglich, sich
umzuwenden, und ebenso unmöglich, auf dem Rücken zu liegen. Die geradeste
Richtung mit der schärfsten Kante war nötig. Wenn wir so auf einer Seite gehörig
geschwitzt und gebraten hatten, rief der rechte Flügelmann: Umgewendet! - und es
wurde umgeschichtet."
Zweiundzwanzig Wochen nach der Ausfahrt aus der Weser
landeten die Transportschiffe in Halifax in Neuschottland. Der
Unabhängigkeitskampf der nordamerikanischen Kolonien war jedoch damals schon so
gut wie entschieden. Die Söldner wurden darum in einem Lager bei Halifax
zusammengehalten und verbrachten ihre Zeit mit ewigem Exerzieren.
Einige Kameraden Seumes fassten den Plan, aus dem Lager zu
fliehen und zu den republikanischen Truppen überzulaufen. Seume, der zum
Sergeanten aufgerückt war, schloss sich ihnen jedoch nicht an, denn er hatte in
einem deutschen Offizier, dem Freiherrn Heino von Münchhausen, einen gleich ihm
der Poesie aufgeschlossenen Freund gefunden, mit dem er jede freie Stunde
verbrachte.
Vom Lande selbst bekam er freilich nicht viel zu sehen.
Trotzdem machte die in Neu-Schottland verbrachte Zeit, seine "huronische
Epoche", einen tiefen Eindruck auf ihn. Davon zeugt besonders das berühmt
gewordene, von Rousseau'scher Kulturfeindschaft diktierte Gedicht von dem "Kanadier, der noch Europens - übertünchte Höflichkeit nicht kannte, - Und ein
Herz, wie Gott es ihm gegeben, - Von Kultur noch frei im Busen fühlte" mit dem
für Seume charakteristischen lehrhaften Schluss: "Seht, ihr fremden, klugen,
weißen Leute, - Seht, wir Wilden sind doch bessre Menschen! - Und er schlug sich
seitwärts in die Büsche."
Nach dem Waffenstillstand wurde Seumes Truppenteil nach
Europa zurückgebracht. Im September 1783 kam er wieder in Bremen an. Seumes
erster Gedanke in der Heimat war Flucht aus dem verhassten Militärdienst. Am
hellen Tage entwich er aus Bremen und entkam glücklich auf oldenburgisches
Gebiet. Von dort aus wollte er den Heimweg nach Sachsen antreten. Er war aber so
unvorsichtig, noch immer seinen hessischen Uniformrock zu tragen. Daher griffen
ihn sogleich nach überschreiten der oldenburgischen Grenze preußische Werber auf
und brachten ihn als hessischen Deserteur nach Emden in Ostfriesland zum
preußischen Militärdienst.
Auch in Emden unternahm Seume zwei weitere Fluchtversuche,
wurde aber gleich wieder aufgegriffen. Beim ersten Male rettete ihn nur ein
Disput mit dem Kriegsgerichtsrat über den Bau eines Virgilschen Hexameters, den
er an die Tür seines Arrestlokals geschrieben hatte, vor ernster Bestrafung.
Nach dem zweiten missglückten Versuch wurde er zu zwölfmaligem Spießrutenlaufen
verurteilt, unmittelbar vor der Vollstreckung aber zu sechs Wochen Arrest bei
Wasser und Brot begnadigt. Fast vier Jahre musste er die preußische Uniform
tragen. Schließlich verhalf ihm ein Emdener Bürger zur Freiheit, indem er ihm
achtzig Taler als Kaution für einen Heimaturlaub nach Sachsen vorstreckte, aus
dem Seume nicht zurückkehrte.
Mit vierundzwanzig Jahren langte er endlich wieder in Leipzig
an. Er beendete sein akademisches Studium und erhielt nach der Doktorpromotion
das Recht, an der Universität Vorlesungen zu halten. Seinen Lebensunterhalt
verdiente er sich durch Privatstunden. Aus dem Honorar für die Übersetzung eines
englischen Romans, der bei Göschen in Leipzig erschien, zahlte er seinem
Wohltäter in Emden den Vorschuss zurück, der ihm zur Freiheit verholfen hatte.
Eine stille Gelehrtenlaufbahn lag aber nicht in seinem Sinn. Schon als Student
war er Erzieher eines jungen baltischen Adligen gewesen, der an der Leipziger
Universität studierte. Dessen Onkel, ein General von Igelström, war nach der
zweiten Teilung Polens Generalgouverneur der an Russland gefallenen polnischen
Provinzen geworden und berief Seume als seinen Sekretär. In dieser Eigenschaft
erlebte er 1794 in Warschau den Freiheitskampf der Polen unter Kosciuszko. Er
geriet dabei in mancherlei Gefahren. Auf den Trümmern Warschaus soll er während
der Straßenkämpfe im Feuer gesessen und den Homer gelesen haben. Schließlich kam
er in polnische Gefangenschaft und entging nur mit knapper Not dem Tode. Erst
nach der Rückeroberung Warschaus durch die Truppen Suworows wurde er befreit und
kehrte nach Leipzig zurück.
Auch jetzt mag er sich nicht zu einem seiner Vorbildung
entsprechenden Amt oder überhaupt zu einem festen bürgerlichen Beruf
entschließen. Er hat ein Liebeserlebnis mit einer Leipziger Bürgerstochter, aber
der Vater will sein Kind nicht einem berufslosen Poeten geben. Auch das Mädchen
zieht sich zurück, und Seume, seiner ganzen Natur nach kein Mann für Frauen,
resigniert. Einige Liebesgedichte bleiben ihm als Reminiszenz an die Geliebte,
dazu ein Medaillon, das er noch lange Zeit bei sich trägt.
Im Jahre 1797 bot ihm der Leipziger Verlagsbuchhändler
Göschen eine Stelle als Korrektor in seiner Druckerei in Grimma an, und nach
einigem Zögern sagte er zu. Viel zeitgenössische Poesie ging bei dieser
Tätigkeit durch seine Hände. Es war eine beschwerliche Arbeit, die ihm selten
Freude und wenig Dank einbrachte. Besonders Klopstock, dessen Oden und .Messias'
er im Neudruck überwachte, stellte durch seine Nörgelei und ungerechte Kritik
Seumes Verehrung zu ihm auf eine harte Probe. Aber in anderer Weise wurde die
Grimmaer Zeit für ihn fruchtbar. Schon vorher hatte er einen Band seiner eigenen
Gedichte herausgebracht, und jetzt entstanden zahlreiche neue Dichtungen und
Abhandlungen. Durch diese Arbeiten wie durch seine merkwürdigen Lebensschicksale
wurde er in den literarischen Kreisen Deutschlands rasch bekannt; sein Name
erschien schon im Konversationslexikon. Besonders interessierte sich für ihn der
Dichter Ludwig Gleim in Halberstadt, damals schon ein Achtzigjähriger, der bis
zu seinem Tode Seume ein väterlicher Freund blieb. Eine enge Freundschaft
verband ihn mit dem Leipziger Maler Veit Schnorr von Carolsfeld, dem Vater des
bekannten Historienmalers.
Spaziergang nach Syrakus
In keiner ausgeglichenen Lebenslage hielt Seume es länger als
bestenfalls einige Jahre aus. Als er bei Göschen eintrat, sagte er: "Zwei Jahre
will ich bei Ihnen sitzen, dann muss ich mich aber wieder ein wenig auslaufen."
Die zwei Jahre waren noch nicht herum, da richtete er an Gleim den Stoßseufzer:
"Wenn ich so fort korrigiere, fürchte ich nur, mein ganzes Leben wird ein
Druckfehler werden." So war auch jetzt in seinem Leben wieder eine Veränderung
fällig. Diese Veränderungen entspringen bei ihm keinem vorgefassten Lebensplan,
sie dienen keinem bestimmten Ziel, erscheinen willkürlich und zufällig, und doch
fügen sie sich in seinem Leben zu einem schicksalhaften Ganzen.
Seume beschloss, nach
Italien zu reisen, und sein Freund
Schnorr wollte ihn begleiten. Auch für diese Reise vermag er keinen anderen
Zweck anzugeben als den, er möchte sich wieder ein wenig auslaufen und den Theokrit in dessen Heimst in der Ursprache lesen. Alle seine Freunde rieten ihm
von dem Plane ab, der Weg sei jetzt zu gefährlich. Auch Gleim warnte ihn mit dem
nachdenklichen Wort: "Wie viele Reisende meiner Bekanntschaft kamen unweiser,
als sie abreisten, aus Italien und Griechenland zurück", schickte ihm dann aber
doch zweihundert Taler in Gold als Zuschuss für die Reisekosten.
Reisen bedeutete für Seume zu Fuß marschieren, "tornistern",
wie sein Lieblingsausdruck lautet. "Wer geht", schreibt er später in der
Schilderung seiner nordischen Reise, "sieht im Durchschnitt anthropologisch und
kosmisch mehr, als wer fährt, überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen
darüber machen; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das
Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles
besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.
Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen
keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht
zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal
nicht lange mehr leben."
Seume war damals achtunddreißig Jahre alt, ebenso alt wie
Goethe zu Beginn seiner italienischen Reise. Ein Freund beschreibt ihn als einen
kleinen mageren Mann in bescheidenem Überrock, mit buschigem Backenbart,
schlichtem braunem Haar und einem Blick, dessen Bestimmtheit zu der hellen Bläue
seiner Augen nicht recht zu passen schien. Manche Leute stieß er vor den Kopf
durch barsches, soldatisches Auftreten, hinter dem er die zarten und sensiblen
Seiten seines Wesens zu verbergen suchte. Seumes äußere Lebenshaltung war
spartanisch einfach bis zur Primitivität. "Mir ist es einerlei, ob ich mit einem
Tambour eine Brotrinde von der Trommel oder sechzehn Gerichte von Silber esse;
ich habe beides getan und mich bei beiden gleich wohl gefühlt." Er verschmähte
für seine Person auch den bescheidensten Luxus und war stolz darauf, dass er bei
solcher Lebensart niemals Mangel leiden konnte.
Seine Reiseausrüstung war denkbar einfach. Ein Tornister aus
Seehundsfell mit einem Dachsgesicht auf dem Rücken bildete sein einziges
Gepäckstück. Als Inhalt einschließlich all dessen, was er auf dem Leib hatte,
zählt er in einem Brief an Göschen auf: Einen blauen Frack, zwei Westen, zwei
Hosen und Unterhosen, ein Paar wollene und ein Paar baumwollene Strümpfe, vier
Halstücher, zwei Schnupftücher, ein Paar Schuhe und ein Paar Pantoffeln. Die
Zahl der Hemden vergaß er anzugeben. Das Rasierzeug für beide trug Schnorr. So
sehr er aber auch bei der Ausrüstung an Gewicht sparte, eine Reisebibliothek
wollte er nicht entbehren. Sie bestand aus zwölf Büchern und enthielt von Homer
bis Tacitus alle die klassischen Autoren, die er unterwegs immer zur Hand haben
wollte.
Seume hatte den Wunsch, vor der Reise nach Italien noch einen
Besuch in Weimar zu machen, um Goethe, Herder, Wieland und Schiller aufzusuchen.
Schnorr und ein junger Engländer, Henry Crabb Robinson, der sich zum Studium in
Deutschland aufhielt, begleiteten ihn. Über den Besuch bei Goethe schreibt
Robinson in seinen Aufzeichnungen: "Bei unserm Eintritt erhob er sich und
deutete etwas kalt und zurückhaltend an, uns zu setzen. Da er sein strahlendes
Auge auf Seume richtete, der das Wort führte, so hatte ich sein Profil vor mir,
und so blieb es die zwanzig Minuten lang, die wir verweilten. - Meine Begleiter
sprachen von sich, Seume von seiner unglücklichen Jugend und seinen Abenteuern.
Goethe lächelte, wie es mir schien, gütig und herablassend."
Am 6. Dezember 1801, einem Sonntag, verließen die beiden
Wanderer Grimma. Die Sonne schien warm wie im Frühling. Vom Ufer der Mulde
überblickte Seume noch einmal die heimatliche Landschaft und sprach sein
Reisegebet: "Dass der Himmel mir geben möchte billige, freundliche Wirte und
höfliche Torschreiber von Leipzig bis nach Syrakus; dass er mich behüten möchte
vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker, die mit
gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihr System in die Nase heften wie der
Samojede seinen Tieren den Ring."
Nach zwei Tagen kamen sie in
Dresden an. Seume war kein
Freund von fürstlichen Residenzen. Schon in deren Nähe glaubte er, eine kalte
und unfreundliche Luft zu spüren. Auch bei der Hauptstadt Sachsens erging es ihm
so, und sogar die Physiognomie der Dresdener missfiel ihm. Die berühmten
Sehenswürdigkeiten, die sonst der Reisende bestaunt, vermögen ihn nicht zu
locken. "Du kennst meine Saumseligkeit und Sorglosigkeit in gelehrten Dingen und
Sachen der Kunst Was soll ich Laie in einem Heiligtum? Die Galerie sah ich
nicht, weil ich dazu noch einmal hätte Schuhe anziehen müssen; den Antikensaal
sah ich nicht, weil ich den Inspektor das erste Mal nicht traf; und das übrige
nicht, weil ich zu indolent war. Du verlierst nichts; ein anderer wird dir alles
besser erzählen und beschreiben." Dagegen vermerkt er ausführlich und mit
lebhaftem Missfallen, dass man in Dresden die Straßen und Gassein an den Ecken
noch immer nicht mit Schildern bezeichnet hat. Einen solchen Polizeiartikel,
schreibt er, gibt es schon seit zehn Jahren in kleinen Provinzialstädten, sogar
in Polen.
über das verschneite Erzgebirge wandern sie nach Böhmen. Die Gegend wird
flüchtig geschildert, ausführlicher die Wirtshäuser, ihre Speisezettel, sogar
die Betten. Einmal muss er für einen bescheidenen Eierkuchen fünfzig Kreuzer
bezahlen, "welches ich für einen Eierkuchen in Böhmen eine stattliche Handvoll
Geld finde." Immer wieder kehrt er bei solchen Betrachtungen auf den Wert der
Bedürfnislosigkeit zurück, "übrigens lasse ich die Qualität der Wirtshäuser mich
wenig anfechten. Das beste ist mir nicht zu gut, und mit dem schlechtesten weiß
ich noch fertig zu werden. Ich denke, es ist noch lange nicht so schlimm als auf
einem englischen Truppentransportschiffe, wo man uns wie die schwedischen
Heringe einpökelte."
Die Strecke von Budin nach
Prag, sieben deutsche Meilen,
legten sie in zehn Stunden zurück, und Tagesleistungen wie diese waren häufig.
Seumes Art zu "tornistern" ist kein romantisches Wandern, nicht dem Tempo nach
und nicht nach der Art des Sehens und Empfindens. Er betrachtet die Landschaft
mit praktischen Augen; sie reißt ihn höchst selten zu Gefühlsüberschwang hin,
oft dagegen zu moralisierenden Betrachtungen. "Der Boden mit den großen
weitläufigen Weinfeldern", schreibt er in Mähren, "könnte, da er überall sehr
gut zu sein scheint, doch wohl besser angewendet werden als zu Weinbau. Die
Armen müssen billig eher Brot haben als die Reichen Wein, und Abte können in
diesem Punkte weder Sinn noch Stimme haben."
Am zweiten Weihnachtsfeiertag trafen die Freunde in
Wien ein.
Beim Torschreiber, auf der Post und bei der Polizei wurden sie ungewöhnlich
höflich abgefertigt, was für Seume ein wichtiges Kriterium bei der Beurteilung
einer fremden Stadt ist. Er besucht den Maler Füger, dessen Zeichnungen zu
Klopstocks ‚Messias' ihn begeistern. Das Wiener Nationaltheater auf der Burg und
das Theater am Kärntnertor machten ihm keinen besonderen Eindruck, mehr
interessiert ihn Schikaneders Vorstadttheater an der Wien. Die Freundlichkeit,
mit der er als Fremder überall behandelt wird, empfindet er für eine
Residenzstadt als erstaunlich. Aber das Großstadtgetriebe missfällt ihm in
höchstem Grade. An den Lärm der großen Städte hat er sich weder in Warschau noch
in Berlin gewöhnen können. Hier findet er ihn mehr als anderswo. Das Gerassel
der Wagen dauert überall vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, und besonders
abends in der Gegend der Burg ist man oft in Gefahr, unter die Räder zu kommen.
"Ich pflege also auf allen Fall beständig meinen tüchtigen, schwerbezwingten
Knotenstock zu tragen, um zur Not, wenn periculum in mora ist, meinen eigenen
Polizeiknecht zu machen; denn ich begreife nicht die Verbindlichkeit, mich von
dem Maschinenwerke des Reichtums radbrechen zu lassen, und sollte ich der
vorgespannten Bestie oder dem Kutscher das Nasenbein zerschlagen, oder auch wohl
der dicken Excellenz nach Rechtschaffenheit der Umstände durchs Wagenfenster
einen Cirkumflex über den Magen geben, der durch Dunst und Krampf so viel Unheil
anrichtet. Das würde ich nicht nur für mich, sondern für jeden anderen Leidenden
tun; und Sie werden begreifen, dass dies nicht Sansculottisen sind, sondern
wahrer Eifer für Humanität ist. Wer bei gewissen Dingen nicht seine Vernunft
verliert, muss wenig haben, sagt Lessing."
Freunde in Prag und Wien hatten Schnorr, der verheiratet und
Vater von fünf Kindern war, wegen der Unsicherheit des Weges dringend von der
weiteren Fußreise nach Italien abgeraten. Seume konnte sich diesen Warnungen
nicht verschließen. "Was ich als einzelnes isoliertes Menschenkind ganz ruhig
wagen konnte, wäre für einen Familienvater Tollkühnheit gewesen. Komme ich um,
so ist die Rechnung geschlossen; aber bei ihm wäre die Sache nicht so leicht
abgetan." So begleitet ihn Schnorr nach vierzehntägigem Aufenthalt in Wien an
einem schönen kalten Morgen noch eine Stunde weit hinaus vor die Stadt und lässt
ihn allein nach Italien ziehen, über den tief verschneiten Semmering und
Graz wandert er nach Süden und ist schon nach weniger als zwei Wochen in
Triest. Hier
wohnt er im gleichen Gasthause, in dem Winckelmann ein Menschenalter vor ihm
ermordet wurde. Er sucht sein Grab, aber niemand vermag es ihm zu zeigen.
Nichts von den feierlich schicksalhaften Gefühlen, die Goethe
beim ersten Blick auf Venedig empfand, bewegt Seume. Er nimmt einen Lohndiener,
eine Ausgabe, die der sonst so Sparsame sich in fremden Städten öfters erlaubt,
wenn auch nur zu dem Zweck, um so am schnellsten Anschluss an das Volk zu
finden. Schon am ersten Morgen sah er mehr als zwanzig Kirchen, und damit waren
sie für ihn erledigt. Wichtiger als alle Bauwerke sind ihm die menschlichen
Dinge: "Das Traurigste ist in Venedig die Armut und Bettelei. Man kann nicht
zehn Schritte gehen, ohne in den schneidendsten Ausdrücken um Mitleid angefleht
zu werden, und der Anblick des Elends unterstützt das Notgeschrei des Jammers.
Um alles in der Welt möchte ich jetzt nicht Beherrscher von Venedig sein, ich
würde unter der Last meiner Gefühle erliegen. Wenn ich länger in Venedig bliebe,
müsste ich notwendig mit meiner Börse oder mit meinem Empfinden bankrott
machen."
Die alte Kunst Venedigs bleibt ihm fremd. Wie es oft Laien in
Kunstdingen ergeht, wird er dagegen hier von einem zeitgenössischen Kunstwerk
aufs tiefste erschüttert, das im Urteil der zünftigen Kunstkenner keinen
sonderlichen Rang einnimmt. Es ist Canovas Marmorstatue der Hebe, die er im
Hause Alberici sieht. "Ich will, ich darf keine Beschreibung wagen; aber ich
weissage, dass sie die Angebetete der Künstler und ihre Wallfahrt werden wird.
Diese einzige Viertelstunde hat mir meine Reise bezahlt. Es ist die reinste
Schönheit, die ich in der Natur und in der Kunst gesehen habe."
Schon nach neun Tagen verließ er Venedig. Das Wetter wurde
schlecht, und zwischen Ferrara und
Bologna warnten ihn Einheimische vor einem
gefährlichen Sumpfgebiet. So beschloss er, zum ersten Male auf kurze Strecke in
einem Wagen zu fahren, dessen Kutscher sich ihm aufdrängte. Aber wenn Seume
schon einmal einen Wagen benutzte, konnte es nicht gut gehen. Immer wieder fiel
bald das eine, dann das andere Pferd, und schließlich wälzten sich beide im
tiefsten Morast. Nur mit Mühe konnte er sich und seine beiden Reisegefährten,
eine italienische Dame und einen cisalpinischen Kriegskommissar, in Sicherheit
bringen. Reumütig kehrt er nach solchen Erfahrungen wieder zum Fußmarsch als der
einzigen des Menschen würdigen Art des Reisens zurück.
Je mehr er sich Rom nähert, um so deutlicher wird ihm
bewusst, dass er sich jetzt wirklich auf klassischem Boden befindet. "Wer nur
ein Kerl wäre, der etwas Ordentliches gelernt hätte! Hier komme ich nun schon in
das Land, wo kein Stein ohne Namen ist."
Anfang März, knapp drei Monate nach seiner Abreise von Grimma,
kam Seume in Rom an. Goethe, mit Wagen und auf kürzerer Strecke reisend,
brauchte von Karlsbad bis Rom 56 Tage. Er besucht den preußischen
Ministerresidenten Uhden, den Kunstschriftsteller Fernow und Kardinal Borgia, an
die er Einführungsschreiben hatte, auch suchte er den Bildhauer Canova in dessen
Atelier auf. Alle empfangen ihn herzlich und wollen ihm bei seinem Romaufenthalt
behilflich sein. Aber weder diese Freunde noch die klassischen und neueren
Kunstschätze der Ewigen Stadt vermögen ihn zu halten. Schon nach dreitägigem
Aufenthalt verlässt er Rom wieder, um noch vor Beginn der heißen Jahreszeit nach
Sizilien zu kommen. Seume hat wenig Sinn für die Reize der reinen
Naturlandschaft. Trotz aller Kulturkritik, die in jeder seiner Schriften zutage
tritt, geht ihm das Herz in der Heimat wie in der Fremde nur auf in einer
Landschaft, wo die Natur und die menschliche Tätigkeit sich zu einer höheren
Harmonie vereinigen. Eine solche Kulturlandschaft mit den Zeugnissen
menschlichen Wirkens aus mehr als zwei Jahrtausenden findet er auf seiner ganzen
Reise nirgends vollkommener als in Kampanien, der Landschaft im Umkreis von
Neapel: "Dieses ist also das schöne, reiche, selige Kampanien, das man, seitdem
es so bekannt ist, zum Paradies erhoben hat, für das die römischen Soldaten ihr
Kapitol vergessen wollten! Es ist wahr, das sogenannte Kampanertal ist von
allem, was ich in der Alten und Neuen Welt bis jetzt noch gesehen habe, der
schönste Platz, wo die Natur alle ihre Gaben bis zur höchsten Verschwendung
ausgegossen hat. Jeder Fußtritt trieft von Segen. Du pflanzest einen Baum, und
er wächst in kurzer Zeit schwelgerisch breit und hoch empor. Du hängst einen
Weinstock daran, und er wird stark wie ein Stamm, und seine Reben laufen weit
ausgreifend durch die Krone der Ulme; der Ölbaum steht mit bescheidener
Schönheit an dem Abhang der schützenden Berge; die Feige schwillt üppig unter
dem großen Blatt am gesegneten Ast; gegenüber glüht im sonnigen Tal die Orange,
und unter dem Obstwalde wallt der Weizen, nickt die Bohne in reicher, lieblicher
Mischung. Der Arbeiter erntet dreifach auf dem nämlichen Boden in Fülle Obst und
Weizen und Wein; und alles ist üppige, ewig jugendliche Kraft."
Von Neapel und seiner Umgebung sah Seume zunächst nur wenig.
Erst auf der Rückreise blieb er hier etwas länger, besuchte Salerno, Paestum,
Pompeji und bestieg den Vesuv bis zum Kraterrand. Diese Ausflüge musste er meist
ohne Führer machen, denn unter den Fremdenführern Neapels hatte es sich rasch
herumgesprochen, dass er fast nie einen Wagen nahm, sondern für neapolitanische
Begriffe unglaublich weit zu Fuß marschierte.
Sizilien
Zur überfahrt nach Sizilien benutzte Seume ein
Kauffahrteischiff, weil er auf das Paketboot nicht warten wollte. Er hatte mit
einer langen Seereise gerechnet und sich darum auf acht Tage mit Proviant
versehen, da der Kapitän wegen der Fastenzeit sich nicht mit seiner Verpflegung
befassen wollte. Aber schon nach sechsunddreißig Stunden landeten sie in
Palermo. Hier hatte Goethe fünfzehn Jahre vor ihm zwei glückliche und fruchtbare
Wochen verbracht; hier hatte er im öffentlichen Garten der Stadt den Plan zur Nausikaa entworfen und die Idee der Urpflanze entwickelt. Seumes Interessen
waren nicht so hochfliegend. Sein erster Weg führte ihn zur königlichen
Bibliothek, wo ihn die Fülle wertvoller Klassikerausgaben und ein kostbarer
chinesischer Konfuzius mit lateinischer Übersetzung entzückten. Er ging im Hafen
spazieren und bestieg den Monte Pelegrino. Oben auf dem Berg zog er das
Medaillon mit dem Bild seiner einstigen Geliebten aus Leipzig hervor, das er als
Amulett am Halse trug. Dabei zerbrach es, und er warf die Stücke in den Abgrund.
"Ehemals wäre ich dem Bildchen nachgesprungen; auch jetzt noch dem Original.
Aber ich stieg nun ruhiger den Schneckengang nach der Königstadt hinab; die
rötlichen Wölkchen vom Aetna her flockten lieblich mir vor den Augen. Ich vergaß
das Gemälde; möge es dem Original wohlgehen!"
Damit war Palermo für ihn erledigt. Um sich auf die Reise
durch Sizilien zu rüsten, ließ er seine Stiefel - zum zweiten Male auf der Reise
- neu besohlen. "Da ich barfuss nicht wohl ausgehen kann und doch etwas anderes
zu schreiben eben nicht aufgelegt bin, habe ich mich hingesetzt und in Sizilien
einen Sizilier, nämlich den Theokritos, gelesen."
Nur von einem Maultiertreiber begleitet, durchquert er die
Insel von Palermo nach Girgenti. Der Verfall der Landwirtschaft, den er überall
beobachtet, empört ihn tief. In einer Herberge muss er noch seinen Wirtsleuten
von dem Brot abgeben, das er vorsorglich aus Palermo mitgenommen hat. "Die
Leutchen im Hause, unter denen ein Kranker war, segneten die fremde Hilfe; denn
das wenige Brot, das sie selbst hatten, war sehr schlecht. Ist das nicht eine
Blasphemie in Sizilien, das ehemals eine Brotkammer für die Stadt Rom war? Ich
konnte meinen Unwillen kaum bergen. Die Insel sieht im Innern furchtbar aus.
Hier und da sind einige Stellen bebaut; aber das Ganze ist eine Wüste, die ich
in Amerika kaum so schrecklich gesehen habe. Zu Mittag war im Wirtshause
durchaus kein Stückchen Brot zu haben. Ich blickte fluchend rund um mich her
über den reichen Boden und hätte in diesem Augenblick alle sizilianischen Barone
und Abte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die
Kartätsche stellen können. Es ist heillos."
Zwischen Girgenti und Syrakus hat er endlich die schon längst
prophezeite Begegnung mit Straßenräubern. Drei bewaffnete Männer halten ihn an,
einer packt ihn am Kragen und zerrt ihn so heftig, dass der Rock entzweigeht.
Seume hatte den größten Teil seines bescheidenen Gepäcks in Palermo
zurückgelassen, denn man hatte ihn dort gewarnt, er könnte unterwegs allein
schon seines prächtigen Tornisters wegen totgeschlagen werden. Seine Uhr hatte
er tief im Anzug versteckt und sein Reisegeld - 27 Unzen in Gold - in einer
besonderen Tasche unter dem linken Ärmel aufbewahrt, so dass beides nicht
entdeckt wurde. Die Räuber durchsuchten nun seinen Reisesack, fanden darin aber
nur ein Hemd, ein Stück hartes Brot und ein Stückchen Käse. Vor solcher
Armseligkeit waren selbst sie erschüttert und behandelten ihn nun wie einen
Kollegen. Sie gaben ihm von ihrem Wein zu trinken und versuchten wenigstens noch
herauszubekommen, ob er etwas vom Lottospiel verstünde. Als Fremder und
gescheiter Kerl, meinten sie, müsse er sich doch irgendwie ausrechnen oder
auszaubern können, welche Nummer gewinnt. Als er auch darin versagte, wünschten
sie ihm gute Reise und ritten davon.
Am 30. März kam er in
Syrakus an. Hier fand er eine gleichgestimmte Seele, den gelehrten Ritter Landolina, der in der
wissenschaftlichen Welt durch seine Versuche zur Wiedererfindung des
altägyptischen Papiers aus der sizilianischen Papyruspflanze Aufsehen erregt
hatte und ihn mit der Liebe des Lokalhistorikers fürs Detail überall
umherführte. Von der alten Festung aus überblickten sie die Fläche der
ungeheuren Ruinenstadt. Seume hatte sein Leben lang die antiken Autoren, voran
die Historiker, geliebt und immer wieder von neuem studiert. Aber erst hier in
dieser geschichtsgesättigten Landschaft gewinnen Ereignisse und Gestalten der
antiken Geschichte für ihn ein unheimliches Leben: "Dort unten rechts an der
alten Mauer, welche die Herren von Athen umsonst angriffen, stand das Haus des
Timoleon, wo man bei der kleinen Mühle noch die Trümmer zeigt. Links hier unten
brach Marcellus herein, drang dort hervor bis in die Gegend des kleinen Hafens,
wo der schöpferische Geist Archimeds mit dem Feuer des Himmels seine Schiffe
verzehrte; dort stand er im Lager und wagte es lange nicht, weiter zu gehen,
weil er sich hier vor der starken Besatzung der Außenwerke in Epipolä fürchtete.
Dort weiter links hinunter auf der Ebene liegt der Acker, den der Verräter
erhielt, welcher die Römer führte. Weiter hinab lag Thapsus und in der Ferne
Augusta, jenseits eines andern Meerbusens. Hier hätte ich tagelang sitzen mögen,
mit dem Thukydides und Diodor in der Hand." Augenblicke wie diese sind es, die
ihn für alle Mühen seiner Wanderung belohnen. "Ich halte dieses halbe Stündchen
für eines der schönsten, die ich genossen habe, wenn ich nur die Melancholie
herauswischen könnte, die für die Menschheit darin war."
Heimweg
Seume ist jetzt am Ziel seiner Reise, jedenfalls an dem
Punkt, den er sich selbst und den Freunden daheim als solches gesetzt hatte. War
aber Syrakus für ihn wirklich das Ziel, um dessentwillen er alle Beschwerden der
Wanderung auf sich genommen hatte? Wie für alle Reisenden aus Leidenschaft gilt
auch für ihn das Wort: Es gibt kein Ziel, der Weg ist das Ziel. Nach seiner
Besteigung des Ätna weiß er in Sizilien nichts Rechtes mehr anzufangen. "Dieses
ist also das Ziel meines Spazierganges, und nun gehe ich mit einigen kleinen
Umschweifen wieder nach Hause." Diese Umschweife führten ihn über Neapel und Rom
nach Florenz und Mailand, an den Lago Maggiore und über den Gotthard. Die
Rückreise vermehrt wohl die Fülle der Eindrücke und Erlebnisse, aber sie
vertieft sie nicht wesentlich. Er benutzt jetzt öfter den Postwagen, denn nach
der Umkehr in Sizilien hat ihn die Unrast des Heimkehrens gepackt. Aber je näher
er der Heimat kommt, umso mehr fürchtet er wieder das eintönige bürgerliche
Leben, das ihn zu Hause erwartet, und er entschließt sich noch zu einigen
weiteren "Umschweifen", zum Weg über die Schweiz nach Paris.
Vor den Toren von Basel fordern ihn Werber auf, in spanische
Kriegsdienste zu treten. Aber er ist nicht mehr wie damals vor zwanzig Jahre ein
Knabe, der auf jeden Trick hereinfällt. Er lehnt energisch ab, fühlt sich aber
doch sichtlich geschmeichelt, dass man ihn noch für kriegstauglich hält.
In Paris ist sein erster Weg zur Antikensammlung im Louvre,
wo er vor dem Laokoon sogleich in gelehrte Betrachtungen über die richtige
Restaurierung der Gruppe verfällt. Merkwürdigerweise wird sein sonst so
empfindliches Gerechtigkeitsgefühl nicht sonderlich beeindruckt durch die
Tatsche, dass die Franzosen mit den Kriegskontributionen auch große Mengen von
Kunstschätzen aus Italien nach Paris gebracht haben. Es beruhigt ihn, dass nur
öffentliche Sammlungen wie die vatikanische und die kapitolinische davon
betroffen wurden, die Privatsammlungen dagegen nicht gelitten haben. Er ist
rasch bei der Hand mit dem merkwürdigen Trost, dass man die eigentliche Wiege
der italienischen Kunst, die Landschaft um Rom, nicht wegtragen könne. Ja er
kommt zu dem Schluss: Die Schätze schlafen in Italien, und es ist vielleicht
kein Unglück, dass sie etwas geweckt und zu wandern gezwungen worden sind.
"Gestern habe ich ihn auch endlich gesehen, den Korsen, der
der großen Nation mit zehnfachem Wucher zurückgibt, was die große Nation seine
kleine seit langer Zeit hat empfinden lassen." Die Begegnung mit Napoleon musste
in einem Menschen wie Seume einen Sturm widerstreitender Gefühle wachrufen. Als
Verehrer männlicher Größe in der Antike fand er vieles an ihm bewundernswert,
seinen Mut, seinen Scharfblick, sein militärisches und politisches Genie. Aber
als Fanatiker für Freiheit und Gerechtigkeit musste er seine spätere Entwicklung
immer mehr ablehnen. "Ein Mann, der zehn Jahre lang fast grenzenlose Gewalt in
den Händen gehabt hat, müsste ein Blödsinniger oder schon ein öffentlicher,
verächtlicher Bösewicht sein, wenn er nicht Mittel finden sollte, sich wieder
wählen zu lassen und sodann nicht Mittel, die Wahl zum Vorteil seiner Kreaturen
zu beherrschen. - Das Schicksal hatte ihm die Macht in die Hände gelegt, der
größte Mann der Weltgeschichte zu werden; er hatte aber dazu nicht Erhabenheit
genug und setzte sich herab. Ich könnte weinen, es ist mir, als ob mir ein böser
Geist meinen Himmel verdorben hätte. Ich wollte so gern einmal einen wahrhaft
großen Mann rein verehren; das kann ich nun hier nicht."
Für Paris als Stadt des Glanzes und des Lebensgenusses, für
den Zauber des ganzen Stadtbildes hat Seume kein Organ. Auch bei dem Vergleich
zwischen Paris und Rom, den er am Ende seines Aufenthaltes anstellt, fallen
diese Dinge nicht entscheidend ins Gewicht. "Der Gelehrte gehe nach Paris; der
Künstler wird zur Vollendung immer noch nach Rom gehen, wenn er gleich für sein
Fach auch hier an der Seine jetzt zehnmal mehr findet als vorher. Sobald die
Franzosen Raffaele und Buonarottis haben werden, sind sie die Koryphäen der
Kunst, und man wird zu ihnen wallfahrten wie in den Vatikan." Es sind weniger
die lebendigen Kräfte als die musealen Schätze und die Institutionen, die für
sein Urteil maßgebend sind, wenn darin auch schon eine Vorahnung von dem
anklingt, was Paris im Verlauf des Jahrhunderts für die europäische Kunst
bedeuten sollte.
Nun ist er endgültig zur Rückkehr nach Deutschland bereit,
über Straßburg und Frankfurt wandert er der Heimat entgegen. Wieder kommt er
durch Vacha, wo ihn vor zwanzig Jahren der Landgraf aufgreifen und nach Amerika
verkaufen ließ. "Jetzt sollen dergleichen Gewalttätigkeiten abgestellt sein.
Doch möchte ich den fürstlichen Bekehrungen nicht zu viel trauen; sie sind nicht
sicherer als die demagogischen." Erst im Thüringischen fühlt er sich richtig zu
Hause. Er meint, auf seiner ganzen Reise keinen höheren Grad von Wohlstand
angetroffen zu haben, und findet unter den Bewohnern "eine gewisse alte Bonhomie
des Charakters", so dass er den meisten ohne weitere Bekanntschaft seine Börse
anvertrauen würde. Ganz ohne Kritik geht es aber auch da nicht ab. Wie ihn zu
Beginn seiner Reise in Böhmen die Verwendung guten Ackerlandes für den Weinbau
ärgerte, so hier die Tabakpflanzungen: "Dieses Giftkraut, das sicher zum
Verderben der Menschheit gehört, beweist vielleicht mehr als irgendein anderes
Beispiel, dass der Mensch ein Tier der Gewohnheit ist. In Amerika, wo man noch
auf fünfhundert Jahre Land genug hat, mag man die Pflanze auf Kosten der
Nachbarn immer pflegen; aber bei uns ist es schlimm, wenn man durchaus die
Ökonomie mehr merkantilisch als patriotisch berechnet." Zu etwas mehr Sinn für
die Dinge des Lebensgenusses hat ihm auch der Spaziergang nach Syrakus nicht
verholfen.
Ohne Anmeldung erschien er eines Tages bei seiner alten
Mutter in dem Dorfe Poserna bei Weißenfels. Man hatte ihr von den Abenteuern
ihres Sohnes mit italienischen Banditen erzählt, und sie schien zu fürchten,
dass ihm etwas Ähnliches auch noch zwischen Weißenfels und Leipzig zustoßen
könnte. Jedenfalls bestand sie beim Abschied darauf, dass er sorgsam in eine
Kutsche verpackt wurde, und so musste der Spaziergänger seine letzte Tagereise
im Wagen zurücklegen.
Am 24. August 1802 kam Seume in Leipzig an. In achteinhalb Monaten hatte er über
800 Meilen zu Fuß zurückgelegt, ungerechnet die Strecken, die er zur See oder im
Wagen gefahren war. "Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten
Heerdegen in Leipzig, muss ich Dir noch sagen, dass ich in den nämlichen
Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu
lassen, und dass diese noch das Ansehen haben, in baulichem Wesen noch eine
solche Wanderung mitzumachen."
Wieder erwarteten Seumes Freunde, er würde sich nun endlich
um eine gesicherte Lebensstellung bemühen, aber wieder enttäuschte er sie. Wohl
fehlte es ihm nicht an Angeboten. Es wurden ihm günstige Stellungen als
literarischer Mitarbeiter bei Zeitschriften in Wien und Berlin angetragen. Am
ehesten interessierte ihn noch ein Ruf auf eine Bibliothekarstelle in Galizien
aber schließlich zog er es doch vor, als Privatlehrer für Sprachen in Leipzig zu
bleiben. Mit mimosenhafter Empfindlichkeit fürchtete er bei jeder festen
beruflichen Bindung, sie könnte das entscheidende Ideal seiner Lebensführung,
ein unabhängiger, freier Mann zu bleiben, gefährden, und seine unendliche
Bedürfnislosigkeit gestattete es ihm, alle materiellen Rücksichten dabei außer
acht zu lassen.
Nicht viel länger als zwei Jahre hielt er diesmal das
geruhsame Leben aus. Mit fast fünfundvierzig Jahren verliebte er sich noch
einmal heftig in ein kaum zwanzigjähriges Leipziger Bürgermädchen, die Tochter
eines seiner Freunde, der er italienischen Sprachunterricht gab. Aber auch
diesmal wurde seine Neigung nicht erwidert. Um über die Enttäuschung
hinwegzukommen, beschloss er - es konnte bei Seume nicht anders sein - wiederum
auf eine Reise zu gehen, diesmal nach Russland, wo er vom Zaren eine Pension für
seine dem russischen Staat geleisteten Dienste zu erlangen hoffte.
Die Pension bekam er nicht; denn als er die Gelegenheit
hatte, seine Wünsche persönlich vorzutragen, hielt er es für seiner nicht
würdig, den Zaren in einer Zeit wichtiger politischer Geschäfte mit persönlichen
Angelegenheiten zu behelligen. Die Reise führte ihn über Dorpat nach Petersburg
und Moskau, weiter nach Finnland, Schweden und über Kopenhagen in die Heimat
zurück. In Hamburg musste er seinen Pass vom dortigen französischen Konsul
visieren lassen, denn die Franzosen hielten damals schon Braunschweig-Lüneburg
und Hannover besetzt. Die Frucht dieser Reise war das Buch "Mein Sommer 1805",
das wegen seiner vielfachen Anspielungen auf politische Ereignisse der Zeit
sogleich in Süddeutschland und auch in Russland verboten wurde.
Die letzten Lebensjahre Seumes wurden verdüstert durch seine
Sorge um das Schicksal Deutschlands unter der Herrschaft Napoleons. 1808
erfasste ihn ein schmerzhaftes Nierenleiden, das seine robuste Lebenskraft in
kurzer Zeit verzehrte. Seume, der bisher nie ernstlich krank gewesen war und für
den ein Leben ohne Bewegung in freier Natur und unter Menschen nicht lebenswert
war, blieb von da an ein gebrochener Mann. Auf Drängen seiner Freunde zwang er
sich noch zur Arbeit an seiner Selbstbiographie,, Mein Leben", die unvollendet
blieb. Er starb 1810 in Bad Teplitz, wo er Milderung seines Leidens suchte,
wiederum auf einer Reise.
Das Zeitalter Goethes hat bedeutendere Dichter und tiefere
Denker hervorgebracht, als Seume es war. Aber kaum einer von ihnen hat das reale
Leben seiner Zeit, den Despotismus des Staates und der Fürsten unmittelbarer und
härter am eigenen Leibe gespürt und keiner in seinem Leben und in seinem Werk
entschlossener für Freiheit und Gerechtigkeit, für praktische, das heißt tätige
Humanität gekämpft als er. "Nicht das Predigen der Humanität, sondern das Tun
hat Wert. Desto schlimmer, wenn man viel spricht und wenig tut." Seumes
Dichtungen sind heute bis auf wenige vergessen. Lebendig geblieben sind seine
autobiographischen Schriften, allen voran der "Spaziergang nach Syrakus im Jahre
1802". Das Werk erschien 1803 bei dem Verleger Hartknoch in Leipzig und machte
ihn mit einem Schlage zum berühmten Manne.
Äußerlich gesehen ist das Buch eine Folge von Briefen, die
gleichsam an den Leser gerichtet sind. Diese lockere Form ist ihm besonders
gemäß, denn sie gestattet es, ungezwungen an irgendeine persönliche und
zufällige Situation anzuknüpfen. Dabei kann er respektlos bis zur Ketzerei gegen
alle anerkannten Werte und Urteile sein. Wann hätte je ein Italienfahrer jener
Zeit in seinem Buche Worte wie diese gewagt: "Es ist ein großes, altes, dunkles,
hässliches, jämmerliches Loch, das Spoleto; ich möchte lieber Küster Klimm zu
Bergen in Norwegen sein als Erzbischof zu Spoleto. Die Leute hier, denen ich ins
Auge guckte, sahen alle aus wie das böse Gewissen, und nur mein Wirt mit seiner
Familie schien eine Ausnahme zu machen. Deswegen habe ich mich auch keinen Deut
um ihre Altertümer bekümmert, deren hier noch eine ziemliche Menge sein sollen.
Aber alles ist Trümmer, Trümmer überhaupt, und zumal in Spoleto, und überdies in
so entsetzlichem Nebelwetter, geben eben keine schöne Unterhaltung." So wird das
Werk alles andere als eines der üblichen Italienreisebücher. Seine Darstellung
ist völlig frei von Pathos, ohne jede Phrase und ganz und gar unromantisch. Er
kümmert sich wenig um die berühmten und oft beschriebenen Sehenswürdigkeiten,
wenn sie ihm nicht aus irgendeiner persönlichen Beziehung wichtig werden. "Ich
lief eine Stunde in Pompeji herum und sah, was die anderen auch gesehen hatten."
Er kennt sehr wohl die Grenzen seines Talents, weiß, dass weder tiefsinnige
historische Betrachtungen noch künstlerisches Nachempfinden seine Stärke sind.
Also lässt er es bleiben, denn nichts ist ihm so verhasst wie innere
Unwahrhaftigkeit. Es ist nicht auszudenken, was alles von der Reiseliteratur
über Italien umgeschrieben geblieben wäre, wenn alle Autoren sich zu solcher
Selbstbeschränkung verstanden hätten. Er weiß es selbst ganz genau: "Städte und
Gegenden und Menschen und ihre Pracht anzustaunen ist eben nicht meine Sache.
Bis zur Bewunderung steigt meine Seele nur selten." Trotz seiner Liebe zu den
klassischen Autoren bedeuten ihm die Reste der Antike im Grunde nur wenig, und
für die Kunstschätze der Renaissance hat er vollends keinen Sinn.
Es geht ihm nicht um die Vergangenheit und ihre Ruinen,
sondern um die lebendige Gegenwart. Ein Gespräch mit einem Landstreicher ist ihm
dafür ebenso aufschlussreich wie das mit einem gelehrten Manne oder einem hohen
Würdenträger. Immer beschäftigten ihn die Menschen, ihre soziale Lage und ihre
politische Verfassung. So wird sein Werk zu einem politischen Reisebuch und
damit in der Italienliteratur seiner Zeit zu einem unvergleichlichen
kulturhistorischen Dokument. Aber auch das zu geben ist nicht eigentlich seine
letzte Absicht, es geht ihm um mehr. Er will nicht nur schildern, sondern
erziehen und bessern, denn im Grunde ist er ein Pädagoge und ein eifernder
Moralist. Ein wohlangebauter Garten, ein wogendes Weizenfeld oder ein schöner
Olivenhain sind ihm ein Heiligtum, und er möchte gleich jeden "vor die
Kartätsche stellen", der solche Werke des Friedens zerstört. In
Rimini findet er
ein Monument, das man einem Papst Paul errichtet hat für eine Wasserleitung, die
er den Bürgern der Stadt bauen ließ. "Eine Wasserleitung halte ich überall für
eins der wichtigsten Werke und für eine der größten Wohltaten, und hier in
Italien ist es doppelt so. Wenn ein Papst eine recht schöne, wohltätige
Wasserleitung baut, kann man ihm fast vergeben, dass er ein Papst ist."
Der zweiten Ausgabe seiner Gedichte stellte er den Satz
voran: "Ich habe nun einmal die Krankheit, dass mich alles, was Bedrückung,
Ungerechtigkeit und Inhumanität ist, empört, und ich werde wohl schwerlich davon
genesen." Mit idealistischer Philosophie allein ist noch nichts gewonnen.
Sokrates brachte die Philosophie vom Himmel herab, sagt Seume, aber die neueren
Philosophen arbeiten mit vereinten Kräften daran, sie wieder hinaufzutragen und
nichts zurückzulassen. "Man ist mit seiner Seele so gern in höheren Sphären,
weil man nicht den Mut hat, hier auf der Erde menschlich vernünftig zu sein."
Für diesen Kampf steht ihm eine Fülle von Ausdrucksmitteln zur Verfügung: eine
mehr bissige als liebenswürdige Ironie, stachliger Witz und immer zum Angriff
bereite sarkastische Kritik. Er kämpft nicht gegen die Religion, aber gegen
deren Missbrauch durch den Klerus, nicht gegen den Staat, aber gegen dessen
Despotismus, nicht gegen die Fürsten, aber gegen deren unbeschränkte Willkür. Er
ist auf keine bestimmte politische Verfassung eingeschworen, bekennt aber doch
von sich, dass er "eine kleine Liebschaft gegen die Republiken habe, wenn sie
nur leidlich vernünftig sind."
Ein Mann, der solche Ansichten nicht nur im stillen
Studierzimmer aufs Papier brachte oder sich in allegorischen Dichtungen dazu
bekannte, sondern jederzeit im praktischen Leben dafür eintrat, hatte wenig
Aussicht auf Amt und Würden. Ja er tat gut daran, gar nicht erst danach zu
streben. Nur durch diesen Verzicht konnte er sich die Unabhängigkeit sichern,
sein selbstgewähltes Richteramt wahrzunehmen. So wird sein Bild lebendig bleiben
als das eines aufrechten Mannes und unsteten Wanderers durch seine Zeit, der die
äußeren Dinge des Lebens gering, die Würde des Menschen aber hoch achtete. |