J. G. Seume

Gaebler Info und Genealogie

Home neu • Genealogie • Christoph Gäbler • Hannelore  Schwedes • Indien • Ökumene • Politik • Bildung • Kunst • Was noch? • Privat • Kontakt • Suchen
 

Johannes Paul
Südwestafrika
Südafrika
Amboland
J. Paul - Essays
Georg Forster
Sven Hedin
A. v. Humboldt
Fridtjof Nansen
Marco Polo
Fürst Pückler
J. G. Seume
Missionare 1
Missionare 2
Missionare 3

Johann Gottfried Seume

Spaziergang nach Syrakus

Quelle: Johannes Paul: ''Abenteuerliche Lebensreise - Sieben biographische Essays'' (Seite 113 - 139: Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus) - Wilhelm Köhler Verlag Minden 1954

Johann Gottfried Seume

Nach einem Gemälde von Veit Schnorr von Darolsfeld

Spaziergang nach Syrakus

Titelblatt der Erstausgabe

Landschaft bei Taormina

Federzeichnung von Karl Friedrich Schinkel

Im Juni 1781 verschwand aus Leipzig der achtzehnjährige Student der Theologie Johann Gottfried Seume. Er hatte sich weder von seiner Mutter verabschiedet, die als Witwe in dem nahen Dorfe Knautkleeberg lebte, noch seinen Bekannten in Leipzig irgendeine Nachricht hinterlassen. Aber er hatte noch kurz vorher alle seine kleinen Schulden bezahlt, und gerade dieser Umstand ließ seine Freunde das Schlimmste befürchten. Im Juli erschien in der "Leipziger Zeitung" ein Aufruf mit genauer Personalbeschreibung, doch alle Nachforschungen blieben ohne Erfolg.

Seume hatte Leipzig verlassen, um nach Paris zu wandern. Was er dort wollte, wusste er selbst nicht recht. Das Studium der Theologie, das er nach einer gründlichen humanistischen Ausbildung an der Leipziger Nikolaischule soeben begonnen hatte, befriedigte ihn nicht und brachte ihn in Zweifel und innere Schwierigkeiten. All das glaubte er, weder seiner Mutter noch dem Grafen von Hohenthal-Knauthain, der ihm das Studium ermöglichte, erklären zu können. So beschloss er, heimlich aus Leipzig zu verschwinden und zunächst einmal nach Paris zu gehen, um von dort aus später vielleicht in die Artillerieschule in Metz eintreten zu können. Dieser Aufbruch war mehr als ein Jungenstreich, er war der Ausdruck einer inneren Unrast, die ihn sein Leben lang nicht verlassen sollte.


Soldat wider Willen

Mit neun Talern und dem Tacitus in der Tasche verließ er Leipzig. Die erste Nacht schlief er in einem Dorf an der Unstrut, die zweite bei Erfurt, in der dritten packte ihn sein Schicksal. In dem Dorfe Vacha fiel er hessischen Werbern in die Hände. Als Arrestant wurde er in die Festung Ziegenhain gebracht und mit Hunderten von Schicksalsgefährten vom Landgrafen von Hessen-Kassel als Söldner für den nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg an England verkauft. "Ich ergab mich in mein Schicksal", schreibt er später in seiner Selbstbiographie, "und suchte das Beste daraus zu machen, so schlecht es auch war. Wir lagen lange in Ziegenhain, ehe die gehörige Anzahl der Rekruten vom Pfluge und dem Heerwege und aus den Werbestädten zusammengebracht wurde. Die Geschichte und Periode ist bekannt genug: Niemand war damals vor den Handlangern des Seelenverkäufers sicher; Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt. Man fragte nicht nach den Mitteln zu dem verdammlichen Zwecke. Fremde aller Art wurden angehalten, eingesteckt, fortgeschickt. Mir zerriss man meine akademische Inskription, als das einzige Instrument meiner Legitimierung. Am Ende ärgerte ich mich weiter nicht; leben muss man überall: Wo so viele durchkommen, wirst du auch; über den Ozean schwimmen war für einen jungen Kerl einladend genug, und zu sehen gab es jenseits auch etwas."

Ein Jahr nach Seumes Abmarsch aus Leipzig trat der Truppentransport von Bremerhaven aus die überfahrt nach Amerika an. "In den englischen Transportschiff en wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe. Den Platz zu sparen, hatte man keine Hängematten, sondern Verschlage in der Tabulatur des Verdecks, das schon niedrig genug war; und nun lagen noch zwei Schichten übereinander. Im Verdeck konnte ein ausgewachsener Mann nicht gerade stehen, und im Bettverschlage nicht gerade sitzen. Die Bettkasten waren für sechs und sechs Mann. Wenn viere darin lagen, waren sie voll, und die beiden letzten mussten hineingezwängt werden. Das war bei warmem Wetter nicht kalt; es war für einen einzelnen gänzlich unmöglich, sich umzuwenden, und ebenso unmöglich, auf dem Rücken zu liegen. Die geradeste Richtung mit der schärfsten Kante war nötig. Wenn wir so auf einer Seite gehörig geschwitzt und gebraten hatten, rief der rechte Flügelmann: Umgewendet! - und es wurde umgeschichtet."

Zweiundzwanzig Wochen nach der Ausfahrt aus der Weser landeten die Transportschiffe in Halifax in Neuschottland. Der Unabhängigkeitskampf der nordamerikanischen Kolonien war jedoch damals schon so gut wie entschieden. Die Söldner wurden darum in einem Lager bei Halifax zusammengehalten und verbrachten ihre Zeit mit ewigem Exerzieren.

Einige Kameraden Seumes fassten den Plan, aus dem Lager zu fliehen und zu den republikanischen Truppen überzulaufen. Seume, der zum Sergeanten aufgerückt war, schloss sich ihnen jedoch nicht an, denn er hatte in einem deutschen Offizier, dem Freiherrn Heino von Münchhausen, einen gleich ihm der Poesie aufgeschlossenen Freund gefunden, mit dem er jede freie Stunde verbrachte.

Vom Lande selbst bekam er freilich nicht viel zu sehen. Trotzdem machte die in Neu-Schottland verbrachte Zeit, seine "huronische Epoche", einen tiefen Eindruck auf ihn. Davon zeugt besonders das berühmt gewordene, von Rousseau'scher Kulturfeindschaft diktierte Gedicht von dem "Kanadier, der noch Europens - übertünchte Höflichkeit nicht kannte, - Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, - Von Kultur noch frei im Busen fühlte" mit dem für Seume charakteristischen lehrhaften Schluss: "Seht, ihr fremden, klugen, weißen Leute, - Seht, wir Wilden sind doch bessre Menschen! - Und er schlug sich seitwärts in die Büsche."

Nach dem Waffenstillstand wurde Seumes Truppenteil nach Europa zurückgebracht. Im September 1783 kam er wieder in Bremen an. Seumes erster Gedanke in der Heimat war Flucht aus dem verhassten Militärdienst. Am hellen Tage entwich er aus Bremen und entkam glücklich auf oldenburgisches Gebiet. Von dort aus wollte er den Heimweg nach Sachsen antreten. Er war aber so unvorsichtig, noch immer seinen hessischen Uniformrock zu tragen. Daher griffen ihn sogleich nach überschreiten der oldenburgischen Grenze preußische Werber auf und brachten ihn als hessischen Deserteur nach Emden in Ostfriesland zum preußischen Militärdienst.

Auch in Emden unternahm Seume zwei weitere Fluchtversuche, wurde aber gleich wieder aufgegriffen. Beim ersten Male rettete ihn nur ein Disput mit dem Kriegsgerichtsrat über den Bau eines Virgilschen Hexameters, den er an die Tür seines Arrestlokals geschrieben hatte, vor ernster Bestrafung. Nach dem zweiten missglückten Versuch wurde er zu zwölfmaligem Spießrutenlaufen verurteilt, unmittelbar vor der Vollstreckung aber zu sechs Wochen Arrest bei Wasser und Brot begnadigt. Fast vier Jahre musste er die preußische Uniform tragen. Schließlich verhalf ihm ein Emdener Bürger zur Freiheit, indem er ihm achtzig Taler als Kaution für einen Heimaturlaub nach Sachsen vorstreckte, aus dem Seume nicht zurückkehrte.

 

Mit vierundzwanzig Jahren langte er endlich wieder in Leipzig an. Er beendete sein akademisches Studium und erhielt nach der Doktorpromotion das Recht, an der Universität Vorlesungen zu halten. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich durch Privatstunden. Aus dem Honorar für die Übersetzung eines englischen Romans, der bei Göschen in Leipzig erschien, zahlte er seinem Wohltäter in Emden den Vorschuss zurück, der ihm zur Freiheit verholfen hatte. Eine stille Gelehrtenlaufbahn lag aber nicht in seinem Sinn. Schon als Student war er Erzieher eines jungen baltischen Adligen gewesen, der an der Leipziger Universität studierte. Dessen Onkel, ein General von Igelström, war nach der zweiten Teilung Polens Generalgouverneur der an Russland gefallenen polnischen Provinzen geworden und berief Seume als seinen Sekretär. In dieser Eigenschaft erlebte er 1794 in Warschau den Freiheitskampf der Polen unter Kosciuszko. Er geriet dabei in mancherlei Gefahren. Auf den Trümmern Warschaus soll er während der Straßenkämpfe im Feuer gesessen und den Homer gelesen haben. Schließlich kam er in polnische Gefangenschaft und entging nur mit knapper Not dem Tode. Erst nach der Rückeroberung Warschaus durch die Truppen Suworows wurde er befreit und kehrte nach Leipzig zurück.

Auch jetzt mag er sich nicht zu einem seiner Vorbildung entsprechenden Amt oder überhaupt zu einem festen bürgerlichen Beruf entschließen. Er hat ein Liebeserlebnis mit einer Leipziger Bürgerstochter, aber der Vater will sein Kind nicht einem berufslosen Poeten geben. Auch das Mädchen zieht sich zurück, und Seume, seiner ganzen Natur nach kein Mann für Frauen, resigniert. Einige Liebesgedichte bleiben ihm als Reminiszenz an die Geliebte, dazu ein Medaillon, das er noch lange Zeit bei sich trägt.

Im Jahre 1797 bot ihm der Leipziger Verlagsbuchhändler Göschen eine Stelle als Korrektor in seiner Druckerei in Grimma an, und nach einigem Zögern sagte er zu. Viel zeitgenössische Poesie ging bei dieser Tätigkeit durch seine Hände. Es war eine beschwerliche Arbeit, die ihm selten Freude und wenig Dank einbrachte. Besonders Klopstock, dessen Oden und .Messias' er im Neudruck überwachte, stellte durch seine Nörgelei und ungerechte Kritik Seumes Verehrung zu ihm auf eine harte Probe. Aber in anderer Weise wurde die Grimmaer Zeit für ihn fruchtbar. Schon vorher hatte er einen Band seiner eigenen Gedichte herausgebracht, und jetzt entstanden zahlreiche neue Dichtungen und Abhandlungen. Durch diese Arbeiten wie durch seine merkwürdigen Lebensschicksale wurde er in den literarischen Kreisen Deutschlands rasch bekannt; sein Name erschien schon im Konversationslexikon. Besonders interessierte sich für ihn der Dichter Ludwig Gleim in Halberstadt, damals schon ein Achtzigjähriger, der bis zu seinem Tode Seume ein väterlicher Freund blieb. Eine enge Freundschaft verband ihn mit dem Leipziger Maler Veit Schnorr von Carolsfeld, dem Vater des bekannten Historienmalers.


Spaziergang nach Syrakus

In keiner ausgeglichenen Lebenslage hielt Seume es länger als bestenfalls einige Jahre aus. Als er bei Göschen eintrat, sagte er: "Zwei Jahre will ich bei Ihnen sitzen, dann muss ich mich aber wieder ein wenig auslaufen." Die zwei Jahre waren noch nicht herum, da richtete er an Gleim den Stoßseufzer: "Wenn ich so fort korrigiere, fürchte ich nur, mein ganzes Leben wird ein Druckfehler werden." So war auch jetzt in seinem Leben wieder eine Veränderung fällig. Diese Veränderungen entspringen bei ihm keinem vorgefassten Lebensplan, sie dienen keinem bestimmten Ziel, erscheinen willkürlich und zufällig, und doch fügen sie sich in seinem Leben zu einem schicksalhaften Ganzen.

Seume beschloss, nach Italien zu reisen, und sein Freund Schnorr wollte ihn begleiten. Auch für diese Reise vermag er keinen anderen Zweck anzugeben als den, er möchte sich wieder ein wenig auslaufen und den Theokrit in dessen Heimst in der Ursprache lesen. Alle seine Freunde rieten ihm von dem Plane ab, der Weg sei jetzt zu gefährlich. Auch Gleim warnte ihn mit dem nachdenklichen Wort: "Wie viele Reisende meiner Bekanntschaft kamen unweiser, als sie abreisten, aus Italien und Griechenland zurück", schickte ihm dann aber doch zweihundert Taler in Gold als Zuschuss für die Reisekosten.

Reisen bedeutete für Seume zu Fuß marschieren, "tornistern", wie sein Lieblingsausdruck lautet. "Wer geht", schreibt er später in der Schilderung seiner nordischen Reise, "sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt, überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht lange mehr leben."

Seume war damals achtunddreißig Jahre alt, ebenso alt wie Goethe zu Beginn seiner italienischen Reise. Ein Freund beschreibt ihn als einen kleinen mageren Mann in bescheidenem Überrock, mit buschigem Backenbart, schlichtem braunem Haar und einem Blick, dessen Bestimmtheit zu der hellen Bläue seiner Augen nicht recht zu passen schien. Manche Leute stieß er vor den Kopf durch barsches, soldatisches Auftreten, hinter dem er die zarten und sensiblen Seiten seines Wesens zu verbergen suchte. Seumes äußere Lebenshaltung war spartanisch einfach bis zur Primitivität. "Mir ist es einerlei, ob ich mit einem Tambour eine Brotrinde von der Trommel oder sechzehn Gerichte von Silber esse; ich habe beides getan und mich bei beiden gleich wohl gefühlt." Er verschmähte für seine Person auch den bescheidensten Luxus und war stolz darauf, dass er bei solcher Lebensart niemals Mangel leiden konnte.

Seine Reiseausrüstung war denkbar einfach. Ein Tornister aus Seehundsfell mit einem Dachsgesicht auf dem Rücken bildete sein einziges Gepäckstück. Als Inhalt einschließlich all dessen, was er auf dem Leib hatte, zählt er in einem Brief an Göschen auf: Einen blauen Frack, zwei Westen, zwei Hosen und Unterhosen, ein Paar wollene und ein Paar baumwollene Strümpfe, vier Halstücher, zwei Schnupftücher, ein Paar Schuhe und ein Paar Pantoffeln. Die Zahl der Hemden vergaß er anzugeben. Das Rasierzeug für beide trug Schnorr. So sehr er aber auch bei der Ausrüstung an Gewicht sparte, eine Reisebibliothek wollte er nicht entbehren. Sie bestand aus zwölf Büchern und enthielt von Homer bis Tacitus alle die klassischen Autoren, die er unterwegs immer zur Hand haben wollte.

Seume hatte den Wunsch, vor der Reise nach Italien noch einen Besuch in Weimar zu machen, um Goethe, Herder, Wieland und Schiller aufzusuchen. Schnorr und ein junger Engländer, Henry Crabb Robinson, der sich zum Studium in Deutschland aufhielt, begleiteten ihn. Über den Besuch bei Goethe schreibt Robinson in seinen Aufzeichnungen: "Bei unserm Eintritt erhob er sich und deutete etwas kalt und zurückhaltend an, uns zu setzen. Da er sein strahlendes Auge auf Seume richtete, der das Wort führte, so hatte ich sein Profil vor mir, und so blieb es die zwanzig Minuten lang, die wir verweilten. - Meine Begleiter sprachen von sich, Seume von seiner unglücklichen Jugend und seinen Abenteuern. Goethe lächelte, wie es mir schien, gütig und herablassend."

 

Am 6. Dezember 1801, einem Sonntag, verließen die beiden Wanderer Grimma. Die Sonne schien warm wie im Frühling. Vom Ufer der Mulde überblickte Seume noch einmal die heimatliche Landschaft und sprach sein Reisegebet: "Dass der Himmel mir geben möchte billige, freundliche Wirte und höfliche Torschreiber von Leipzig bis nach Syrakus; dass er mich behüten möchte vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker, die mit gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihr System in die Nase heften wie der Samojede seinen Tieren den Ring."

Nach zwei Tagen kamen sie in Dresden an. Seume war kein Freund von fürstlichen Residenzen. Schon in deren Nähe glaubte er, eine kalte und unfreundliche Luft zu spüren. Auch bei der Hauptstadt Sachsens erging es ihm so, und sogar die Physiognomie der Dresdener missfiel ihm. Die berühmten Sehenswürdigkeiten, die sonst der Reisende bestaunt, vermögen ihn nicht zu locken. "Du kennst meine Saumseligkeit und Sorglosigkeit in gelehrten Dingen und Sachen der Kunst Was soll ich Laie in einem Heiligtum? Die Galerie sah ich nicht, weil ich dazu noch einmal hätte Schuhe anziehen müssen; den Antikensaal sah ich nicht, weil ich den Inspektor das erste Mal nicht traf; und das übrige nicht, weil ich zu indolent war. Du verlierst nichts; ein anderer wird dir alles besser erzählen und beschreiben." Dagegen vermerkt er ausführlich und mit lebhaftem Missfallen, dass man in Dresden die Straßen und Gassein an den Ecken noch immer nicht mit Schildern bezeichnet hat. Einen solchen Polizeiartikel, schreibt er, gibt es schon seit zehn Jahren in kleinen Provinzialstädten, sogar in Polen.

über das verschneite Erzgebirge wandern sie nach Böhmen. Die Gegend wird flüchtig geschildert, ausführlicher die Wirtshäuser, ihre Speisezettel, sogar die Betten. Einmal muss er für einen bescheidenen Eierkuchen fünfzig Kreuzer bezahlen, "welches ich für einen Eierkuchen in Böhmen eine stattliche Handvoll Geld finde." Immer wieder kehrt er bei solchen Betrachtungen auf den Wert der Bedürfnislosigkeit zurück, "übrigens lasse ich die Qualität der Wirtshäuser mich wenig anfechten. Das beste ist mir nicht zu gut, und mit dem schlechtesten weiß ich noch fertig zu werden. Ich denke, es ist noch lange nicht so schlimm als auf einem englischen Truppentransportschiffe, wo man uns wie die schwedischen Heringe einpökelte."

Die Strecke von Budin nach Prag, sieben deutsche Meilen, legten sie in zehn Stunden zurück, und Tagesleistungen wie diese waren häufig. Seumes Art zu "tornistern" ist kein romantisches Wandern, nicht dem Tempo nach und nicht nach der Art des Sehens und Empfindens. Er betrachtet die Landschaft mit praktischen Augen; sie reißt ihn höchst selten zu Gefühlsüberschwang hin, oft dagegen zu moralisierenden Betrachtungen. "Der Boden mit den großen weitläufigen Weinfeldern", schreibt er in Mähren, "könnte, da er überall sehr gut zu sein scheint, doch wohl besser angewendet werden als zu Weinbau. Die Armen müssen billig eher Brot haben als die Reichen Wein, und Abte können in diesem Punkte weder Sinn noch Stimme haben."

Am zweiten Weihnachtsfeiertag trafen die Freunde in Wien ein. Beim Torschreiber, auf der Post und bei der Polizei wurden sie ungewöhnlich höflich abgefertigt, was für Seume ein wichtiges Kriterium bei der Beurteilung einer fremden Stadt ist. Er besucht den Maler Füger, dessen Zeichnungen zu Klopstocks ‚Messias' ihn begeistern. Das Wiener Nationaltheater auf der Burg und das Theater am Kärntnertor machten ihm keinen besonderen Eindruck, mehr interessiert ihn Schikaneders Vorstadttheater an der Wien. Die Freundlichkeit, mit der er als Fremder überall behandelt wird, empfindet er für eine Residenzstadt als erstaunlich. Aber das Großstadtgetriebe missfällt ihm in höchstem Grade. An den Lärm der großen Städte hat er sich weder in Warschau noch in Berlin gewöhnen können. Hier findet er ihn mehr als anderswo. Das Gerassel der Wagen dauert überall vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, und besonders abends in der Gegend der Burg ist man oft in Gefahr, unter die Räder zu kommen. "Ich pflege also auf allen Fall beständig meinen tüchtigen, schwerbezwingten Knotenstock zu tragen, um zur Not, wenn periculum in mora ist, meinen eigenen Polizeiknecht zu machen; denn ich begreife nicht die Verbindlichkeit, mich von dem Maschinenwerke des Reichtums radbrechen zu lassen, und sollte ich der vorgespannten Bestie oder dem Kutscher das Nasenbein zerschlagen, oder auch wohl der dicken Excellenz nach Rechtschaffenheit der Umstände durchs Wagenfenster einen Cirkumflex über den Magen geben, der durch Dunst und Krampf so viel Unheil anrichtet. Das würde ich nicht nur für mich, sondern für jeden anderen Leidenden tun; und Sie werden begreifen, dass dies nicht Sansculottisen sind, sondern wahrer Eifer für Humanität ist. Wer bei gewissen Dingen nicht seine Vernunft verliert, muss wenig haben, sagt Lessing."

Freunde in Prag und Wien hatten Schnorr, der verheiratet und Vater von fünf Kindern war, wegen der Unsicherheit des Weges dringend von der weiteren Fußreise nach Italien abgeraten. Seume konnte sich diesen Warnungen nicht verschließen. "Was ich als einzelnes isoliertes Menschenkind ganz ruhig wagen konnte, wäre für einen Familienvater Tollkühnheit gewesen. Komme ich um, so ist die Rechnung geschlossen; aber bei ihm wäre die Sache nicht so leicht abgetan." So begleitet ihn Schnorr nach vierzehntägigem Aufenthalt in Wien an einem schönen kalten Morgen noch eine Stunde weit hinaus vor die Stadt und lässt ihn allein nach Italien ziehen, über den tief verschneiten Semmering und Graz wandert er nach Süden und ist schon nach weniger als zwei Wochen in Triest. Hier wohnt er im gleichen Gasthause, in dem Winckelmann ein Menschenalter vor ihm ermordet wurde. Er sucht sein Grab, aber niemand vermag es ihm zu zeigen.

Nichts von den feierlich schicksalhaften Gefühlen, die Goethe beim ersten Blick auf Venedig empfand, bewegt Seume. Er nimmt einen Lohndiener, eine Ausgabe, die der sonst so Sparsame sich in fremden Städten öfters erlaubt, wenn auch nur zu dem Zweck, um so am schnellsten Anschluss an das Volk zu finden. Schon am ersten Morgen sah er mehr als zwanzig Kirchen, und damit waren sie für ihn erledigt. Wichtiger als alle Bauwerke sind ihm die menschlichen Dinge: "Das Traurigste ist in Venedig die Armut und Bettelei. Man kann nicht zehn Schritte gehen, ohne in den schneidendsten Ausdrücken um Mitleid angefleht zu werden, und der Anblick des Elends unterstützt das Notgeschrei des Jammers. Um alles in der Welt möchte ich jetzt nicht Beherrscher von Venedig sein, ich würde unter der Last meiner Gefühle erliegen. Wenn ich länger in Venedig bliebe, müsste ich notwendig mit meiner Börse oder mit meinem Empfinden bankrott machen."

Die alte Kunst Venedigs bleibt ihm fremd. Wie es oft Laien in Kunstdingen ergeht, wird er dagegen hier von einem zeitgenössischen Kunstwerk aufs tiefste erschüttert, das im Urteil der zünftigen Kunstkenner keinen sonderlichen Rang einnimmt. Es ist Canovas Marmorstatue der Hebe, die er im Hause Alberici sieht. "Ich will, ich darf keine Beschreibung wagen; aber ich weissage, dass sie die Angebetete der Künstler und ihre Wallfahrt werden wird. Diese einzige Viertelstunde hat mir meine Reise bezahlt. Es ist die reinste Schönheit, die ich in der Natur und in der Kunst gesehen habe."

Schon nach neun Tagen verließ er Venedig. Das Wetter wurde schlecht, und zwischen Ferrara und Bologna warnten ihn Einheimische vor einem gefährlichen Sumpfgebiet. So beschloss er, zum ersten Male auf kurze Strecke in einem Wagen zu fahren, dessen Kutscher sich ihm aufdrängte. Aber wenn Seume schon einmal einen Wagen benutzte, konnte es nicht gut gehen. Immer wieder fiel bald das eine, dann das andere Pferd, und schließlich wälzten sich beide im tiefsten Morast. Nur mit Mühe konnte er sich und seine beiden Reisegefährten, eine italienische Dame und einen cisalpinischen Kriegskommissar, in Sicherheit bringen. Reumütig kehrt er nach solchen Erfahrungen wieder zum Fußmarsch als der einzigen des Menschen würdigen Art des Reisens zurück.

Je mehr er sich Rom nähert, um so deutlicher wird ihm bewusst, dass er sich jetzt wirklich auf klassischem Boden befindet. "Wer nur ein Kerl wäre, der etwas Ordentliches gelernt hätte! Hier komme ich nun schon in das Land, wo kein Stein ohne Namen ist."

Anfang März, knapp drei Monate nach seiner Abreise von Grimma, kam Seume in Rom an. Goethe, mit Wagen und auf kürzerer Strecke reisend, brauchte von Karlsbad bis Rom 56 Tage. Er besucht den preußischen Ministerresidenten Uhden, den Kunstschriftsteller Fernow und Kardinal Borgia, an die er Einführungsschreiben hatte, auch suchte er den Bildhauer Canova in dessen Atelier auf. Alle empfangen ihn herzlich und wollen ihm bei seinem Romaufenthalt behilflich sein. Aber weder diese Freunde noch die klassischen und neueren Kunstschätze der Ewigen Stadt vermögen ihn zu halten. Schon nach dreitägigem Aufenthalt verlässt er Rom wieder, um noch vor Beginn der heißen Jahreszeit nach Sizilien zu kommen. Seume hat wenig Sinn für die Reize der reinen Naturlandschaft. Trotz aller Kulturkritik, die in jeder seiner Schriften zutage tritt, geht ihm das Herz in der Heimat wie in der Fremde nur auf in einer Landschaft, wo die Natur und die menschliche Tätigkeit sich zu einer höheren Harmonie vereinigen. Eine solche Kulturlandschaft mit den Zeugnissen menschlichen Wirkens aus mehr als zwei Jahrtausenden findet er auf seiner ganzen Reise nirgends vollkommener als in Kampanien, der Landschaft im Umkreis von Neapel: "Dieses ist also das schöne, reiche, selige Kampanien, das man, seitdem es so bekannt ist, zum Paradies erhoben hat, für das die römischen Soldaten ihr Kapitol vergessen wollten! Es ist wahr, das sogenannte Kampanertal ist von allem, was ich in der Alten und Neuen Welt bis jetzt noch gesehen habe, der schönste Platz, wo die Natur alle ihre Gaben bis zur höchsten Verschwendung ausgegossen hat. Jeder Fußtritt trieft von Segen. Du pflanzest einen Baum, und er wächst in kurzer Zeit schwelgerisch breit und hoch empor. Du hängst einen Weinstock daran, und er wird stark wie ein Stamm, und seine Reben laufen weit ausgreifend durch die Krone der Ulme; der Ölbaum steht mit bescheidener Schönheit an dem Abhang der schützenden Berge; die Feige schwillt üppig unter dem großen Blatt am gesegneten Ast; gegenüber glüht im sonnigen Tal die Orange, und unter dem Obstwalde wallt der Weizen, nickt die Bohne in reicher, lieblicher Mischung. Der Arbeiter erntet dreifach auf dem nämlichen Boden in Fülle Obst und Weizen und Wein; und alles ist üppige, ewig jugendliche Kraft."

Von Neapel und seiner Umgebung sah Seume zunächst nur wenig. Erst auf der Rückreise blieb er hier etwas länger, besuchte Salerno, Paestum, Pompeji und bestieg den Vesuv bis zum Kraterrand. Diese Ausflüge musste er meist ohne Führer machen, denn unter den Fremdenführern Neapels hatte es sich rasch herumgesprochen, dass er fast nie einen Wagen nahm, sondern für neapolitanische Begriffe unglaublich weit zu Fuß marschierte.


Sizilien

Zur überfahrt nach Sizilien benutzte Seume ein Kauffahrteischiff, weil er auf das Paketboot nicht warten wollte. Er hatte mit einer langen Seereise gerechnet und sich darum auf acht Tage mit Proviant versehen, da der Kapitän wegen der Fastenzeit sich nicht mit seiner Verpflegung befassen wollte. Aber schon nach sechsunddreißig Stunden landeten sie in Palermo. Hier hatte Goethe fünfzehn Jahre vor ihm zwei glückliche und fruchtbare Wochen verbracht; hier hatte er im öffentlichen Garten der Stadt den Plan zur Nausikaa entworfen und die Idee der Urpflanze entwickelt. Seumes Interessen waren nicht so hochfliegend. Sein erster Weg führte ihn zur königlichen Bibliothek, wo ihn die Fülle wertvoller Klassikerausgaben und ein kostbarer chinesischer Konfuzius mit lateinischer Übersetzung entzückten. Er ging im Hafen spazieren und bestieg den Monte Pelegrino. Oben auf dem Berg zog er das Medaillon mit dem Bild seiner einstigen Geliebten aus Leipzig hervor, das er als Amulett am Halse trug. Dabei zerbrach es, und er warf die Stücke in den Abgrund. "Ehemals wäre ich dem Bildchen nachgesprungen; auch jetzt noch dem Original. Aber ich stieg nun ruhiger den Schneckengang nach der Königstadt hinab; die rötlichen Wölkchen vom Aetna her flockten lieblich mir vor den Augen. Ich vergaß das Gemälde; möge es dem Original wohlgehen!"

Damit war Palermo für ihn erledigt. Um sich auf die Reise durch Sizilien zu rüsten, ließ er seine Stiefel - zum zweiten Male auf der Reise - neu besohlen. "Da ich barfuss nicht wohl ausgehen kann und doch etwas anderes zu schreiben eben nicht aufgelegt bin, habe ich mich hingesetzt und in Sizilien einen Sizilier, nämlich den Theokritos, gelesen."

Nur von einem Maultiertreiber begleitet, durchquert er die Insel von Palermo nach Girgenti. Der Verfall der Landwirtschaft, den er überall beobachtet, empört ihn tief. In einer Herberge muss er noch seinen Wirtsleuten von dem Brot abgeben, das er vorsorglich aus Palermo mitgenommen hat. "Die Leutchen im Hause, unter denen ein Kranker war, segneten die fremde Hilfe; denn das wenige Brot, das sie selbst hatten, war sehr schlecht. Ist das nicht eine Blasphemie in Sizilien, das ehemals eine Brotkammer für die Stadt Rom war? Ich konnte meinen Unwillen kaum bergen. Die Insel sieht im Innern furchtbar aus. Hier und da sind einige Stellen bebaut; aber das Ganze ist eine Wüste, die ich in Amerika kaum so schrecklich gesehen habe. Zu Mittag war im Wirtshause durchaus kein Stückchen Brot zu haben. Ich blickte fluchend rund um mich her über den reichen Boden und hätte in diesem Augenblick alle sizilianischen Barone und Abte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können. Es ist heillos."

Zwischen Girgenti und Syrakus hat er endlich die schon längst prophezeite Begegnung mit Straßenräubern. Drei bewaffnete Männer halten ihn an, einer packt ihn am Kragen und zerrt ihn so heftig, dass der Rock entzweigeht. Seume hatte den größten Teil seines bescheidenen Gepäcks in Palermo zurückgelassen, denn man hatte ihn dort gewarnt, er könnte unterwegs allein schon seines prächtigen Tornisters wegen totgeschlagen werden. Seine Uhr hatte er tief im Anzug versteckt und sein Reisegeld - 27 Unzen in Gold - in einer besonderen Tasche unter dem linken Ärmel aufbewahrt, so dass beides nicht entdeckt wurde. Die Räuber durchsuchten nun seinen Reisesack, fanden darin aber nur ein Hemd, ein Stück hartes Brot und ein Stückchen Käse. Vor solcher Armseligkeit waren selbst sie erschüttert und behandelten ihn nun wie einen Kollegen. Sie gaben ihm von ihrem Wein zu trinken und versuchten wenigstens noch herauszubekommen, ob er etwas vom Lottospiel verstünde. Als Fremder und gescheiter Kerl, meinten sie, müsse er sich doch irgendwie ausrechnen oder auszaubern können, welche Nummer gewinnt. Als er auch darin versagte, wünschten sie ihm gute Reise und ritten davon.

Am 30. März kam er in Syrakus an. Hier fand er eine gleichgestimmte Seele, den gelehrten Ritter Landolina, der in der wissenschaftlichen Welt durch seine Versuche zur Wiedererfindung des altägyptischen Papiers aus der sizilianischen Papyruspflanze Aufsehen erregt hatte und ihn mit der Liebe des Lokalhistorikers fürs Detail überall umherführte. Von der alten Festung aus überblickten sie die Fläche der ungeheuren Ruinenstadt. Seume hatte sein Leben lang die antiken Autoren, voran die Historiker, geliebt und immer wieder von neuem studiert. Aber erst hier in dieser geschichtsgesättigten Landschaft gewinnen Ereignisse und Gestalten der antiken Geschichte für ihn ein unheimliches Leben: "Dort unten rechts an der alten Mauer, welche die Herren von Athen umsonst angriffen, stand das Haus des Timoleon, wo man bei der kleinen Mühle noch die Trümmer zeigt. Links hier unten brach Marcellus herein, drang dort hervor bis in die Gegend des kleinen Hafens, wo der schöpferische Geist Archimeds mit dem Feuer des Himmels seine Schiffe verzehrte; dort stand er im Lager und wagte es lange nicht, weiter zu gehen, weil er sich hier vor der starken Besatzung der Außenwerke in Epipolä fürchtete. Dort weiter links hinunter auf der Ebene liegt der Acker, den der Verräter erhielt, welcher die Römer führte. Weiter hinab lag Thapsus und in der Ferne Augusta, jenseits eines andern Meerbusens. Hier hätte ich tagelang sitzen mögen, mit dem Thukydides und Diodor in der Hand." Augenblicke wie diese sind es, die ihn für alle Mühen seiner Wanderung belohnen. "Ich halte dieses halbe Stündchen für eines der schönsten, die ich genossen habe, wenn ich nur die Melancholie herauswischen könnte, die für die Menschheit darin war."


Heimweg

Seume ist jetzt am Ziel seiner Reise, jedenfalls an dem Punkt, den er sich selbst und den Freunden daheim als solches gesetzt hatte. War aber Syrakus für ihn wirklich das Ziel, um dessentwillen er alle Beschwerden der Wanderung auf sich genommen hatte? Wie für alle Reisenden aus Leidenschaft gilt auch für ihn das Wort: Es gibt kein Ziel, der Weg ist das Ziel. Nach seiner Besteigung des Ätna weiß er in Sizilien nichts Rechtes mehr anzufangen. "Dieses ist also das Ziel meines Spazierganges, und nun gehe ich mit einigen kleinen Umschweifen wieder nach Hause." Diese Umschweife führten ihn über Neapel und Rom nach Florenz und Mailand, an den Lago Maggiore und über den Gotthard. Die Rückreise vermehrt wohl die Fülle der Eindrücke und Erlebnisse, aber sie vertieft sie nicht wesentlich. Er benutzt jetzt öfter den Postwagen, denn nach der Umkehr in Sizilien hat ihn die Unrast des Heimkehrens gepackt. Aber je näher er der Heimat kommt, umso mehr fürchtet er wieder das eintönige bürgerliche Leben, das ihn zu Hause erwartet, und er entschließt sich noch zu einigen weiteren "Umschweifen", zum Weg über die Schweiz nach Paris.

Vor den Toren von Basel fordern ihn Werber auf, in spanische Kriegsdienste zu treten. Aber er ist nicht mehr wie damals vor zwanzig Jahre ein Knabe, der auf jeden Trick hereinfällt. Er lehnt energisch ab, fühlt sich aber doch sichtlich geschmeichelt, dass man ihn noch für kriegstauglich hält.

In Paris ist sein erster Weg zur Antikensammlung im Louvre, wo er vor dem Laokoon sogleich in gelehrte Betrachtungen über die richtige Restaurierung der Gruppe verfällt. Merkwürdigerweise wird sein sonst so empfindliches Gerechtigkeitsgefühl nicht sonderlich beeindruckt durch die Tatsche, dass die Franzosen mit den Kriegskontributionen auch große Mengen von Kunstschätzen aus Italien nach Paris gebracht haben. Es beruhigt ihn, dass nur öffentliche Sammlungen wie die vatikanische und die kapitolinische davon betroffen wurden, die Privatsammlungen dagegen nicht gelitten haben. Er ist rasch bei der Hand mit dem merkwürdigen Trost, dass man die eigentliche Wiege der italienischen Kunst, die Landschaft um Rom, nicht wegtragen könne. Ja er kommt zu dem Schluss: Die Schätze schlafen in Italien, und es ist vielleicht kein Unglück, dass sie etwas geweckt und zu wandern gezwungen worden sind.

 

"Gestern habe ich ihn auch endlich gesehen, den Korsen, der der großen Nation mit zehnfachem Wucher zurückgibt, was die große Nation seine kleine seit langer Zeit hat empfinden lassen." Die Begegnung mit Napoleon musste in einem Menschen wie Seume einen Sturm widerstreitender Gefühle wachrufen. Als Verehrer männlicher Größe in der Antike fand er vieles an ihm bewundernswert, seinen Mut, seinen Scharfblick, sein militärisches und politisches Genie. Aber als Fanatiker für Freiheit und Gerechtigkeit musste er seine spätere Entwicklung immer mehr ablehnen. "Ein Mann, der zehn Jahre lang fast grenzenlose Gewalt in den Händen gehabt hat, müsste ein Blödsinniger oder schon ein öffentlicher, verächtlicher Bösewicht sein, wenn er nicht Mittel finden sollte, sich wieder wählen zu lassen und sodann nicht Mittel, die Wahl zum Vorteil seiner Kreaturen zu beherrschen. - Das Schicksal hatte ihm die Macht in die Hände gelegt, der größte Mann der Weltgeschichte zu werden; er hatte aber dazu nicht Erhabenheit genug und setzte sich herab. Ich könnte weinen, es ist mir, als ob mir ein böser Geist meinen Himmel verdorben hätte. Ich wollte so gern einmal einen wahrhaft großen Mann rein verehren; das kann ich nun hier nicht."

Für Paris als Stadt des Glanzes und des Lebensgenusses, für den Zauber des ganzen Stadtbildes hat Seume kein Organ. Auch bei dem Vergleich zwischen Paris und Rom, den er am Ende seines Aufenthaltes anstellt, fallen diese Dinge nicht entscheidend ins Gewicht. "Der Gelehrte gehe nach Paris; der Künstler wird zur Vollendung immer noch nach Rom gehen, wenn er gleich für sein Fach auch hier an der Seine jetzt zehnmal mehr findet als vorher. Sobald die Franzosen Raffaele und Buonarottis haben werden, sind sie die Koryphäen der Kunst, und man wird zu ihnen wallfahrten wie in den Vatikan." Es sind weniger die lebendigen Kräfte als die musealen Schätze und die Institutionen, die für sein Urteil maßgebend sind, wenn darin auch schon eine Vorahnung von dem anklingt, was Paris im Verlauf des Jahrhunderts für die europäische Kunst bedeuten sollte.

Nun ist er endgültig zur Rückkehr nach Deutschland bereit, über Straßburg und Frankfurt wandert er der Heimat entgegen. Wieder kommt er durch Vacha, wo ihn vor zwanzig Jahren der Landgraf aufgreifen und nach Amerika verkaufen ließ. "Jetzt sollen dergleichen Gewalttätigkeiten abgestellt sein. Doch möchte ich den fürstlichen Bekehrungen nicht zu viel trauen; sie sind nicht sicherer als die demagogischen." Erst im Thüringischen fühlt er sich richtig zu Hause. Er meint, auf seiner ganzen Reise keinen höheren Grad von Wohlstand angetroffen zu haben, und findet unter den Bewohnern "eine gewisse alte Bonhomie des Charakters", so dass er den meisten ohne weitere Bekanntschaft seine Börse anvertrauen würde. Ganz ohne Kritik geht es aber auch da nicht ab. Wie ihn zu Beginn seiner Reise in Böhmen die Verwendung guten Ackerlandes für den Weinbau ärgerte, so hier die Tabakpflanzungen: "Dieses Giftkraut, das sicher zum Verderben der Menschheit gehört, beweist vielleicht mehr als irgendein anderes Beispiel, dass der Mensch ein Tier der Gewohnheit ist. In Amerika, wo man noch auf fünfhundert Jahre Land genug hat, mag man die Pflanze auf Kosten der Nachbarn immer pflegen; aber bei uns ist es schlimm, wenn man durchaus die Ökonomie mehr merkantilisch als patriotisch berechnet." Zu etwas mehr Sinn für die Dinge des Lebensgenusses hat ihm auch der Spaziergang nach Syrakus nicht verholfen.

Ohne Anmeldung erschien er eines Tages bei seiner alten Mutter in dem Dorfe Poserna bei Weißenfels. Man hatte ihr von den Abenteuern ihres Sohnes mit italienischen Banditen erzählt, und sie schien zu fürchten, dass ihm etwas Ähnliches auch noch zwischen Weißenfels und Leipzig zustoßen könnte. Jedenfalls bestand sie beim Abschied darauf, dass er sorgsam in eine Kutsche verpackt wurde, und so musste der Spaziergänger seine letzte Tagereise im Wagen zurücklegen.
Am 24. August 1802 kam Seume in Leipzig an. In achteinhalb Monaten hatte er über 800 Meilen zu Fuß zurückgelegt, ungerechnet die Strecken, die er zur See oder im Wagen gefahren war. "Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten Heerdegen in Leipzig, muss ich Dir noch sagen, dass ich in den nämlichen Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu lassen, und dass diese noch das Ansehen haben, in baulichem Wesen noch eine solche Wanderung mitzumachen."

 

Wieder erwarteten Seumes Freunde, er würde sich nun endlich um eine gesicherte Lebensstellung bemühen, aber wieder enttäuschte er sie. Wohl fehlte es ihm nicht an Angeboten. Es wurden ihm günstige Stellungen als literarischer Mitarbeiter bei Zeitschriften in Wien und Berlin angetragen. Am ehesten interessierte ihn noch ein Ruf auf eine Bibliothekarstelle in Galizien aber schließlich zog er es doch vor, als Privatlehrer für Sprachen in Leipzig zu bleiben. Mit mimosenhafter Empfindlichkeit fürchtete er bei jeder festen beruflichen Bindung, sie könnte das entscheidende Ideal seiner Lebensführung, ein unabhängiger, freier Mann zu bleiben, gefährden, und seine unendliche Bedürfnislosigkeit gestattete es ihm, alle materiellen Rücksichten dabei außer acht zu lassen.

Nicht viel länger als zwei Jahre hielt er diesmal das geruhsame Leben aus. Mit fast fünfundvierzig Jahren verliebte er sich noch einmal heftig in ein kaum zwanzigjähriges Leipziger Bürgermädchen, die Tochter eines seiner Freunde, der er italienischen Sprachunterricht gab. Aber auch diesmal wurde seine Neigung nicht erwidert. Um über die Enttäuschung hinwegzukommen, beschloss er - es konnte bei Seume nicht anders sein - wiederum auf eine Reise zu gehen, diesmal nach Russland, wo er vom Zaren eine Pension für seine dem russischen Staat geleisteten Dienste zu erlangen hoffte.

Die Pension bekam er nicht; denn als er die Gelegenheit hatte, seine Wünsche persönlich vorzutragen, hielt er es für seiner nicht würdig, den Zaren in einer Zeit wichtiger politischer Geschäfte mit persönlichen Angelegenheiten zu behelligen. Die Reise führte ihn über Dorpat nach Petersburg und Moskau, weiter nach Finnland, Schweden und über Kopenhagen in die Heimat zurück. In Hamburg musste er seinen Pass vom dortigen französischen Konsul visieren lassen, denn die Franzosen hielten damals schon Braunschweig-Lüneburg und Hannover besetzt. Die Frucht dieser Reise war das Buch "Mein Sommer 1805", das wegen seiner vielfachen Anspielungen auf politische Ereignisse der Zeit sogleich in Süddeutschland und auch in Russland verboten wurde.

Die letzten Lebensjahre Seumes wurden verdüstert durch seine Sorge um das Schicksal Deutschlands unter der Herrschaft Napoleons. 1808 erfasste ihn ein schmerzhaftes Nierenleiden, das seine robuste Lebenskraft in kurzer Zeit verzehrte. Seume, der bisher nie ernstlich krank gewesen war und für den ein Leben ohne Bewegung in freier Natur und unter Menschen nicht lebenswert war, blieb von da an ein gebrochener Mann. Auf Drängen seiner Freunde zwang er sich noch zur Arbeit an seiner Selbstbiographie,, Mein Leben", die unvollendet blieb. Er starb 1810 in Bad Teplitz, wo er Milderung seines Leidens suchte, wiederum auf einer Reise.

 

Das Zeitalter Goethes hat bedeutendere Dichter und tiefere Denker hervorgebracht, als Seume es war. Aber kaum einer von ihnen hat das reale Leben seiner Zeit, den Despotismus des Staates und der Fürsten unmittelbarer und härter am eigenen Leibe gespürt und keiner in seinem Leben und in seinem Werk entschlossener für Freiheit und Gerechtigkeit, für praktische, das heißt tätige Humanität gekämpft als er. "Nicht das Predigen der Humanität, sondern das Tun hat Wert. Desto schlimmer, wenn man viel spricht und wenig tut." Seumes Dichtungen sind heute bis auf wenige vergessen. Lebendig geblieben sind seine autobiographischen Schriften, allen voran der "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802". Das Werk erschien 1803 bei dem Verleger Hartknoch in Leipzig und machte ihn mit einem Schlage zum berühmten Manne.

Äußerlich gesehen ist das Buch eine Folge von Briefen, die gleichsam an den Leser gerichtet sind. Diese lockere Form ist ihm besonders gemäß, denn sie gestattet es, ungezwungen an irgendeine persönliche und zufällige Situation anzuknüpfen. Dabei kann er respektlos bis zur Ketzerei gegen alle anerkannten Werte und Urteile sein. Wann hätte je ein Italienfahrer jener Zeit in seinem Buche Worte wie diese gewagt: "Es ist ein großes, altes, dunkles, hässliches, jämmerliches Loch, das Spoleto; ich möchte lieber Küster Klimm zu Bergen in Norwegen sein als Erzbischof zu Spoleto. Die Leute hier, denen ich ins Auge guckte, sahen alle aus wie das böse Gewissen, und nur mein Wirt mit seiner Familie schien eine Ausnahme zu machen. Deswegen habe ich mich auch keinen Deut um ihre Altertümer bekümmert, deren hier noch eine ziemliche Menge sein sollen. Aber alles ist Trümmer, Trümmer überhaupt, und zumal in Spoleto, und überdies in so entsetzlichem Nebelwetter, geben eben keine schöne Unterhaltung." So wird das Werk alles andere als eines der üblichen Italienreisebücher. Seine Darstellung ist völlig frei von Pathos, ohne jede Phrase und ganz und gar unromantisch. Er kümmert sich wenig um die berühmten und oft beschriebenen Sehenswürdigkeiten, wenn sie ihm nicht aus irgendeiner persönlichen Beziehung wichtig werden. "Ich lief eine Stunde in Pompeji herum und sah, was die anderen auch gesehen hatten." Er kennt sehr wohl die Grenzen seines Talents, weiß, dass weder tiefsinnige historische Betrachtungen noch künstlerisches Nachempfinden seine Stärke sind. Also lässt er es bleiben, denn nichts ist ihm so verhasst wie innere Unwahrhaftigkeit. Es ist nicht auszudenken, was alles von der Reiseliteratur über Italien umgeschrieben geblieben wäre, wenn alle Autoren sich zu solcher Selbstbeschränkung verstanden hätten. Er weiß es selbst ganz genau: "Städte und Gegenden und Menschen und ihre Pracht anzustaunen ist eben nicht meine Sache. Bis zur Bewunderung steigt meine Seele nur selten." Trotz seiner Liebe zu den klassischen Autoren bedeuten ihm die Reste der Antike im Grunde nur wenig, und für die Kunstschätze der Renaissance hat er vollends keinen Sinn.

Es geht ihm nicht um die Vergangenheit und ihre Ruinen, sondern um die lebendige Gegenwart. Ein Gespräch mit einem Landstreicher ist ihm dafür ebenso aufschlussreich wie das mit einem gelehrten Manne oder einem hohen Würdenträger. Immer beschäftigten ihn die Menschen, ihre soziale Lage und ihre politische Verfassung. So wird sein Werk zu einem politischen Reisebuch und damit in der Italienliteratur seiner Zeit zu einem unvergleichlichen kulturhistorischen Dokument. Aber auch das zu geben ist nicht eigentlich seine letzte Absicht, es geht ihm um mehr. Er will nicht nur schildern, sondern erziehen und bessern, denn im Grunde ist er ein Pädagoge und ein eifernder Moralist. Ein wohlangebauter Garten, ein wogendes Weizenfeld oder ein schöner Olivenhain sind ihm ein Heiligtum, und er möchte gleich jeden "vor die Kartätsche stellen", der solche Werke des Friedens zerstört. In Rimini findet er ein Monument, das man einem Papst Paul errichtet hat für eine Wasserleitung, die er den Bürgern der Stadt bauen ließ. "Eine Wasserleitung halte ich überall für eins der wichtigsten Werke und für eine der größten Wohltaten, und hier in Italien ist es doppelt so. Wenn ein Papst eine recht schöne, wohltätige Wasserleitung baut, kann man ihm fast vergeben, dass er ein Papst ist."

Der zweiten Ausgabe seiner Gedichte stellte er den Satz voran: "Ich habe nun einmal die Krankheit, dass mich alles, was Bedrückung, Ungerechtigkeit und Inhumanität ist, empört, und ich werde wohl schwerlich davon genesen." Mit idealistischer Philosophie allein ist noch nichts gewonnen. Sokrates brachte die Philosophie vom Himmel herab, sagt Seume, aber die neueren Philosophen arbeiten mit vereinten Kräften daran, sie wieder hinaufzutragen und nichts zurückzulassen. "Man ist mit seiner Seele so gern in höheren Sphären, weil man nicht den Mut hat, hier auf der Erde menschlich vernünftig zu sein." Für diesen Kampf steht ihm eine Fülle von Ausdrucksmitteln zur Verfügung: eine mehr bissige als liebenswürdige Ironie, stachliger Witz und immer zum Angriff bereite sarkastische Kritik. Er kämpft nicht gegen die Religion, aber gegen deren Missbrauch durch den Klerus, nicht gegen den Staat, aber gegen dessen Despotismus, nicht gegen die Fürsten, aber gegen deren unbeschränkte Willkür. Er ist auf keine bestimmte politische Verfassung eingeschworen, bekennt aber doch von sich, dass er "eine kleine Liebschaft gegen die Republiken habe, wenn sie nur leidlich vernünftig sind."

Ein Mann, der solche Ansichten nicht nur im stillen Studierzimmer aufs Papier brachte oder sich in allegorischen Dichtungen dazu bekannte, sondern jederzeit im praktischen Leben dafür eintrat, hatte wenig Aussicht auf Amt und Würden. Ja er tat gut daran, gar nicht erst danach zu streben. Nur durch diesen Verzicht konnte er sich die Unabhängigkeit sichern, sein selbstgewähltes Richteramt wahrzunehmen. So wird sein Bild lebendig bleiben als das eines aufrechten Mannes und unsteten Wanderers durch seine Zeit, der die äußeren Dinge des Lebens gering, die Würde des Menschen aber hoch achtete.

Links

 onmousedown="ET_Event.link('Link%20auf%20www.gaebler.info',