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Flucht aus Dehra Dun

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Münchener Himalaya-Bergsteiger in tibetanischen Staatsdiensten

Echo der Woche vom 28.10.1948, Seite 10
Nach Briefen und Originalberichten
Aufschnaiters und Harrers  von Ewald Beckmann

Am 15. Januar 1946 zogen zwei finster ausschauende Gestalten mit struppigen Bärten, gekleidet in zerrissene, Schafhautmäntel, beinahe barfuss, auf dem Kopfe hohe Lammfellmützen, auf der Straße aus der Provinz Changtheng, "dem Mitleidlosen", wie der Tibetaner sagt, in Lhasa ein, der Residenz des Dalai Lama, der Verkörperung Buddhas, des "Allerhöchsten", des "Kostbarsten". Anderthalb Rupien haben sie in ihren Taschen, und ihr gesamter Besitz ruht auf dem Rücken eines klapprigen Esels.

Dass in den Fetzen der Schafhaut des einen von ihnen noch eine Tola Gold eingenäht ist (Tola: indisches Gold- und Silbergewicht gleich 180 englischen Trovgrän, gleich 11,644 Gramm), kann ja niemand wissen, und auf ihrer Reise durch das geheimnisvolle Land haben sie ihr Geheimnis streng gehütet. Klugerweise, denn auf den Pässen und in den Schluchten umgeisterte sie ein schauriges Gerücht, und ein wandernder tibetanischer Kalenderverkäufer bestätigte es ihnen: dass ein Freund von ihnen, Europäer, Münchner wie sie selbst, Ludwig Schmaderer, auf der gleichen Wegstrecke, die sie gezogen waren, im Sommer 1945 ermordet worden sei, als die Bewohner eines Dorfes im Spiti-Tal ganz zu Unrecht bei ihm größere Geldbeträge vermuteten.

Die beiden Reisenden, die in solch armseligem Aufzug die tibetanische Hauptstadt betreten, sind zwei der bekanntesten deutschen Himalaya-Stürmer aus dem Kreise um Paul Bauer; es sind Peter Aufschnaiter, der einstige Geschäftsführer der Deutschen Himalaya-Stiftung in München, und Heinz Harrer. Sie gehörten zu jener deutschen Nanga-Parbat-Expedition 1939, die unter der Leitung von Peter Aufschnaiter die Diamirai-Route auf den 8175 m hohen Nanga Parbat zu erforschen hatte, den zum Schicksalsberg der deutschen Himalaya-Forscher gewordenen Bergriesen im Westhirnalaya. Aufschnaiters Expedition hatte ihre Aufgabe gelöst; durch ihre Erkundung hoch in die Diamirai-Flanke empor wurde bestätigt, dass über die gewaltigen Gletscher hinweg durchaus eine Einstiegsmöglichkeit gegeben ist, viel kürzer als jene über die Rakiot-Seite und auch technisch wahrscheinlich zu bewältigen.

Während ihrer Forschertätigkeit in den "himmlischen Bergen" hatten sich die politischen Wolken in Europa drohend zusammengeballt. Die deutschen Bergsteiger sahen sich nach Möglichkeiten um, das fremde Land so rasch wie möglich zu verlassen. Aber in den letzten Augusttagen 1939, noch einige Tage vor der englischen Kriegserklärung wurden Aufschnaiter und seine Kameraden in Haft genommen. In einem Zivilinterniertenlager nördlich von Bombay trafen sie mit Teilnehmern einer zweiten Münchner Himalaya-Expedition zusammen, mit Ludwig Schmaderer und Herbert Paidar, die den 7.363 m hohen Tent Peak im östlichen Himalaya erstmalig bezwungen hatten und auf ihrem Rückmarsch zur indischen Küste hier festgesetzt worden waren. Im Laufe des Krieges wurden die Bergsteiger in ein anderes Lager bei Dehra Dun im nordwestlichen Indien, in den Vorbergen des Himalaya, überführt. Über die Behandlung konnten sie sich nicht beklagen, aber die persönliche Freiheit ging ihnen über alles, und die Nähe der geheimnisvollen Berge lockte mit übermenschlicher Gewalt.

Drei Mann kehrten um

Ihrer sieben waren es, die im April 1944 aus dem Lager ausbrachen. Zwei hatten gleich den Weg auf die Eisenbahn eingeschlagen und waren rasch den Engländern in die Hände gefallen; die anderen drei, Sattler, Treipel und Kopp, die mit Aufschnaiter und Harrer in nördlicher Richtung losgezogen waren, kehrten im Laufe der ersten Monate um. Sattler fühlte sich schon im 3.575 Meter hoch gelegenen Nelang durch die dünne Höhenluft so angegriffen, dass er nach Dehra Dun zurückging; an der eisernen Brücke über den Sutlej trennte sich Treipel von der Gruppe, weil ihn seine Nerven vor dem Marsch in die geheimnisvolle Ungewissheit im Stich ließen, und als Aufschnaiter und Harrer im November von einem vergeblichen Versuch, dem endlosen Warten auf die Aufenthaltsbewilligung in Tibet zu entgehen, nach dem Handelsplatz Tradün zurückkehrten, fanden sie ihren Freund Kopp im Begriff, nach Nepal aufzubrechen.

© Roger Croston
Bruno Treipl in Salzburg
2004-04-21

 

© Roger Croston
Heinrich Harrer in Hüttenberg
2003-05-12

Er hatte mit ihnen die eingeborenen Distriktsbeamten Nordindiens, die durch das Auftauchen der Deutschen jedes Mal in peinliche Konflikte zwischen Pflichtgefühl und Gastfreundschaft geraten waren, um Nahrung und Kleider gebeten, sie hatten gemeinsam den Shipki-Paß überquert und die weiten Hochebenen durchschritten, auf deren erstem Grün die Nomaden ihre Tausende von Schafen weideten, Sie hatten in den Zelten der Nomaden übernachtet, die aus den Haaren des schwarzen Yaks, des innerasiatischen Hochlandrindes, . hergestellt sind und von deren Spitzen die bunten Gebetsfähnchen wehten. Sie hatten den Indus bei Trashigong erreicht, wo man ihre Ankunft gar nicht schätzte, und waren von Distrikt zu Distrikt weitergereicht worden. In Garpöns hatte man ihnen Pässe bis zur. Grenze des Distriktes Gyabnak gegeben, von wo sie sich dann südlich nach Nepal wenden sollten, was unsere Freunde allerdings gar nicht im Sinne hatten. Man hatte sie mit Gastgeschenken überrascht und genötigt, einige Tage zu bleiben. Als sie weiterzogen, wurden sie von einem Diener begleitet, und drei Ochsen mit Gepäck folgten ihnen. Sie hatten gemeinsam geflucht, als am See Mansorowar die dort in vielen Zelten mit unzähligen Yaks lagernden Nomaden ihnen nicht erlaubten, die "heilige Reise" rund um den See zu machen, und hatten sich einer ostwärts ziehenden Karawane tibetanischer Händler angeschlossen.

So waren sie schließlich nach Tradün gekommen, wo zwei hohe Lhasa-Beamte sie erwarteten und nach langwieriger Diskussion ihr Gesuch, in Tibet bleiben zu dürfen, an die Regierung weiterreichten. Trotz reicher Gastgeschenke, die sie für viele Wochen der Sorge um ihren Unterhalt enthoben, waren die vier Monate des Wartens eine harte Nervenprobe. Kopp war ihr nicht, gewachsen. Wie seine Kameraden später erfuhren, wurde er in Nepal gleich den Engländern übergeben.

Im Dorfe der Glückseligkeiten

.Endlich, im Dezember, erschien eine feierliche Deputation und benachrichtigte Aufschnaiter und Harrer, dass Lhasa ihre Weiterreise nach Kyirong bewilligt habe, allerdings wiederum unter der Voraussetzung, dass sie von dort nach Nepal gehen würden. Mit Reitpferden und Diener begannen sie ihre Reise entlang dem zugefrorenen Tsangpo-Fluss und kamen am Weihnachtsabend in der Niederlassung Dzongka Dzong an, gerade noch rechtzeitig, um nicht von einem mächtigen Schneefall überrascht zu werden. Es wurde Januar 1945, bis sie Kyirong erreichten, und es sollte November werden, ehe sie es wieder verließen.

Kyirong heißt: "Dorf der Glückseligkeit", und die beiden Münchner fanden das nicht übertrieben. In einer Landschaft von seltener Schönheit und Harmonie wachsen, von einem wunderbaren Klima begünstigt, Wälder von Eichen, Fichten und Rhododendron, gut kultivierte Felder breiten sich dazwischen und. Dörfer mit hübschen Holzhäusern wie daheim in den Alpen, darüber die massiven Festungen und erhabenen Altare der schneebedeckten Achttausender. Ein reiches Feld für topographische und völkerkundliche Studien tat sich den Freunden auf, aber auf all ihren Wegen und Skitouren, für die ihnen der Ortsschreiner Bretter gefertigt hatte, waren sie in erster Linie darauf bedacht, einen Weg für ihre Flucht ausfindig zu machen. Denn bei aller Freizügigkeit und Gastfreundschaft, die ihnen gewährt wurde, mussten sie doch ständig fürchten, nach Nepal ausgewiesen zu werden.

Aber trotz aller Bemühungen fanden sie keinen anderen Ausweg nach Osten, als einen Pass, der direkt vom Dorf der Glückseligkeit in jenes Gebiet, des Changthang führen sollte, das die Tibetaner nyinje mapu, das Mitleidlose, nennen. Und als ein mitleidloses Land erwies es sich in der Tat.

Am 8. November 1945 verließen die beiden heimlich in der Nacht Kyirong, das ihnen so lieb geworden war. Auf den Höhen war Schnee gefallen, und sie fassten erst Mut, als sie in einem Ort außer Proviant auch einen Yak kaufen konnten, der ihnen von nun an als Tragtier diente, Tagelang wanderten sie mit dem Blick auf den Mount Everest, immer wieder fasziniert vom unheimlichen, oft von Minute zu Minute wechselnden Farbenspiel der Sonne auf den Schneeflächen und Gletschern des Giganten, um sich dann Dach Norden zu wenden.

Längst, hatten sie die Grenzen ihrer Karten überschritten, die sie im Lager von Dehra Dun angefertigt hatten, doch sie wagten es aus Furcht vor Ausweisung nicht, in den Dörfern und bei den Pilgerzügen, die ihnen begegneten, um den Weg nach Lhasa zu fragen. Selbst als sie in einem Dorfe jenseits des Passes auf nahe Verwandte des letzten Sidar Marsang trafen, eines eingeborenen Führers der zweiten Kangchendzönga-Expedition Paul Bauers, an der auch Aufschnaiter teilgenommen hatte, behielten sie ihre brennende Frage für sich und waren froh, dank der Freundschaft dieser Menschen ihre Proviantreserven vervollständigen und ihren heruntergekommenen Yak gegen ein frisches Tier austauschen zu können.

Vor ihnen lag nun das weite, flache, unter Schnee begrabene Plateau des Changthang. Eisiger Nordwind fegte über die Flächen und peitschte ihnen den unaufhörlich fallenden Schnee entgegen. Erbarmungslos kroch die Kälte durch ihre zerfetzten Fellmäntel; Harrer litt unter Frostbeulen. Aber die Gefahr, die man ihnen am eindringlichsten vorgehalten hatte, erwies sich in ihrem Falle als unbegründet: die Khampas, die gefürchteten Räuber der tibetanischen Wüsten, taten ihnen nichts. Manche Nacht verbrachten die Freunde in ihren Zelten, wärmten sich an ihrem Feuer und aßen von den Fleischgerichten, die sie zu jeder Stunde des Tages bereiteten. Oft hatte es den Anschein, dass diese wilden. Ureinwohner kaum noch einen Unterschied zwischen sich und den Fremden machten, und nur wenn von denen ganz vorsichtig die Frage auf Lhasa gebracht wurde, wichen sie aus.

34 harte Tage kämpften sich die Freunde durch das mitleidlose Land. Noch einmal stand der Erfolg ihrer Anstrengungen ernsthaft in. Frage, als sie in einer Niederlassung von einem Beamten aufgehalten wurden, der mit unangenehmer Gründlichkeit ihr nun schon anderthalb Jahre altes Papier für die Reise nach Kyirong studierte. Doch sie konnten aufatmen, denn tief befriedigt von der Lektüre besorgte er ihnen sogar noch einen Führer für den weiteren Weg, Die letzte Strecke bis Lhasa legten die Freunde mit einem Regierungstransport zurück.

Nach 21 Monaten zogen die Freunde in Lhasa ein. Hinter sich zwei zentralasiatiscne Winter und eine Strecke, die in der Luftlinie 1.500 Kilometer beträgt, aus denen aber die vielfachen Umwege 5.000 Kilometer gemacht hatten. In das bizarre Bild der Stadt, über der prächtig die Götterburg des Dalai Lama thront, passen die beiden Wanderer hinein, ohne aufzufallen.

Sie suchten und fanden in einem Kloster Beschäftigung, kehrten den Hof und verrichteten ähnliche niedrige Arbeit, bis sie sich schließlich zu erkennen gaben und freundlich aufgenommen wurden. Während Harrer sich zunächst noch als Gärtner, Gartenarchitekt, Lehrer, Weinbauer, Tennistrainer und Kaufmann betätigte, war die tibetische Regierung bemüht, sich Aufschnaiters Kenntnisse als Diplomingenieur nutzbar zu machen. Heute steht auch Harrer bereits seit längerer Zeit im Dienste der Bauverwaltung von Tibet.

Ihr Auftraggeber ist ein erleuchteter, weitschauender Mann, Freund und Berater des verstorbenen Dalai-Lamas und vorletzter Premierminister Tibets, Exzellenz Tsarong. Er hatte vor Jahren jene Instrumente aufgekauft, mit denen Aufschnaiter nun seine Planungen bewerkstelligt, nachdem sich zehn Jahre lang niemand in Tibet gefunden hatte, der mit dem Gerät umzugehen verstand. Die Arbeiten an einem Kraftwerk, das die Wasserkräfte des Tsanqpo und seines Lhasa berührenden Zuflusses Kyi Psclui ausnutzen soll, wurde vor einiger Zeit mit einer Feier eingeleitet; Straßen, Brücken und Kanäle sind projektiert.

Den Münchner Bergsteigern geht es gut in Lhasa. Sie haben vor, tibetanische Staatsbürger zu werden und im Lande zu bleiben, wenn sie auch mit dem Plan eines gelegentlichen Urlaubs nach Amerika und Europa, sowie vor allem in | die bayerischen Berge liebäugeln. Sie haben viele Freundschaften geschlossen.

Sven Hedin ist "kolossal begeistert"

Auf die Kunde von der phantastischen Flucht der deutschen Bergsteiger haben Mitglieder des englischen Himalaya-Clubs in Oxford und der Herausgeber des angesehenen "Himalayan Journal", die den Münchnern noch von gemeinsamen Bergfahrten im Kreise Paul Bauers her verbunden sind, sich an Aufschnaiter und Haner gewandt und gebeten, über ihr Nanga Parbat-Unternehmen und über ihre Flucht zu berichten. Auch Sven Hedin, der große schwedische Asienforscher, ist von den Ergebnissen der auf so eigentümliche Weise zustande gekommenen Expedition "kolossal begeistert". Er wird die Photographien, geographischen Zeichnungen und Karten, die ihm Aufschnaiter übersandte, im Rahmen seines großen Zentralasien-Atlas mit verwerten, der vor dem letzten Kriege bei Perthes in Gotha bearbeitet wurde, nun aber in den USA herauskommen wird. Die Bedeutung von Aufschnaiters und Harrers Arbeiten geht schon allein daraus hervor, dass es ihnen gelungen ist, die Wasserscheide zwischen Indien und Tibet siebzig Kilometer weiter südlich nachzuweisen als sie auf den bisherigen Karten angenommen wurde. Karten sind die Krönung der Erdforschung. Eine aus der geistigen Beherrschung der Landschaft entstandene Karte ist eine echte naturwissenschaftliche Leistung. Schon die Alpen erforderten neben kartographischer Meisterschaft höchste sportliche Fähigkeiten, was aber verlangen dann die Gebirgsmeere Asiens, der gewaltige Himalaya, vom kartierenden Forscher! Jeder Schritt ist lauernde Gefahr, kostet zehrende Anstrengung, bevor er Erkenntnis bringt, bevor er entschleiert.

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Ein Salzburger im geheimnisvollen Tibet

Mit den Fluchtgefährten des tibetanischen Generalissimus im Reich des Dalai Lama

Von H. K.
Salzburger Volksblatt vom 9. und 16. September 1950

Es gibt gewiss nicht viele Europäer, die sich rühmen können, in Tibet gewesen zu sein. Die Zahl der Österreicher aber, denen das Erlebnis dieses geheimnisumwitterten asiatischen Hochlandes vergönnt war, kann man wahrscheinlich an den Fingern einer Hand abzählen. Dabei ist Tibet in jüngster Zeit in doppelter Hinsicht ins Blickfeld erhöhten Interesses gerückt. Die Presse in aller Welt befasst sich in Wort und Bild mit diesem Land, das in seinen Machtbereich einzubeziehen sich Rot-China anschickt. Und im Zusammenhang damit wird die Tatsache bekannt, dass ein Österreicher, der Grazer Heini Harrer, Generalissimus der Streitkräfte des Dalai Lama ist und dass ein zweiter Österreicher, Ing. Peter Aufschnaiter, in Tibet, das sich seit jeher von allen Europäern hermetisch abschloss, Brücken und Elektrizitätswerke baut. Wer sind die beiden Männer und wie kamen sie nach Tibet?

Von der Eiger Nordwand zum Nanga Parbat

Von Heini Harrer weiß man, dass er zusammen mit dem Wiener Fritz Kasparek und der bayerischen Seilschaft Vörg-Heckmaier erstmals die Eiger-Nordwand bezwang, von Peter Aufschnaiter bleibt zu sagen, dass er ein Nachkomme des Tiroler Freiheitshelden Speckbacher ist und also auch mit den Bergen umzugehen versteht. Beide gehörten der deutschen Himalaja-Expedition an; der es aufgegeben war, die beste Route zur Bezwingung des Nanga Parbat zu erkunden. Der Ausbruch des zweiten Weltkrieges vereitelte den Abschluss der Kundfahrt, Harrer und Aufschnaiter wurden von den Engländern im Zivil-Interniertenlager Dehra Dun, nördlich von Delhi, festgesetzt. Aus diesem Lager flüchteten sie nach jahrelangem Leben hinter Stacheldraht am 1. Mai 1944 und fünf Kameraden, Hanne Kopp aus Berlin, der Rheinländer Friedl Sattler, die beiden Hamburger Rolf Magener, Heinz van Have und der Salzburger Bruno Treipl waren ihre Fluchtgefährten. Bruno Treipl, ein Sohn des in Salzburg ansässigen Obersten a. D. Rudolf Treipl, ist jetzt Wirt des Gast-Hofs "Lueg" bei St. Gilgen. Er war im Jahre 1934 zu seiner Tante nach Java gereist, die dort ein angesehenes Hotel besaß. Am 10. Mai 1940 wurde er interniert und landete auf dem dornenvollen Weg über verschiedene Lager schließlich auch in Dehra Dun. Er erzählte uns die Geschichte der Flucht nach Tibet, Wir überlassen ihm im Folgenden selbst das Wort:

Bruno Treipl erzählt die Flucht aus Dehra Dun

"Wollte ich mich in Einzelheiten verlieren, und Sie dürfen mir glauben, es wäre verlockend genug, zumindest eine eingehende Schilderung unserer Flucht nach Tibet zu geben, dann säßen wir hier stundenlang beieinander und kämen doch nicht zu einem Ende. Soviel Zeit aber habe ich während der Saison als Salzkammergut-Wirt nicht. Ich muss mich also kurz fassen, gewissemaßen im Telegrammstil erzählen.

© Roger Croston
Bruno Treipl in Salzburg
2004-04-21

Vorausgeschickt sei, dass wir unsere Flucht von langer Hand vorbereiteten und dass die Möglichkeit dazu uns der Umstand bot, an manchen Tagen gegen Ehrenwort das Lager auf eine bestimmte Zeit verlassen zu dürfen. Nur so gelang es, im Freien vergraben, ein Depot von all dem anzulegen, was man zu einer Flucht quer durch eines der unwirtlichsten Länder dieser Erde unbedingt braucht. Materialbestände der Nanga-Parbat-Expedition, die uns zu einem Teil noch zur Verfügung standen, schufen die Voraussetzung dafür. Im Übrigen trainierten wir monatelang Dauerlauf und am 1. Mai 1944, Punkt 3 Uhr nachmittags, schoben wir uns, durch das meterhohe Gras gedeckt, unter der inneren Stacheldrahtwand hindurch, in den von den Wachtürmen aus unter Maschinengewehrfeuern Bedrohung liegenden Zwischenraum. Mit einem Schlag standen wir alle sechs, wie aus dem Boden gewachsen, auf. Der siebente, Sattler, hätte aus dem Nebenblock zu uns stoßen sollen, aber er blieb aus.

"Asti, asti, pab!"

Nun dürfen Sie nicht annehmen, dass da jählings sechs Internierte zwischen den Stacheldrahtwänden standen, es waren vielmehr - oder sie sahen zumindest genau so aus - vier Inder in der Uniform der einheimischen Pioniertruppen und zwei englische Offiziere. Die Posten auf den Wachtürmen mögen sich zwar gewundert haben, woher dieser Trupp plötzlich gekommen sein mochte, allein, da eine Leiter und Stacheldraht-Rollen in den Händen der "Inder" über den Zweck des Aufenthalts der Truppe hinreichend Aufklärung zu geben schienen, schwiegen die Maschinengewehre. Unsere beiden Hamburger, die das Englische wie ihre Muttersprache beherrschten, schwangen kokett ihre Offiziersstöckchen, gingen uns voran auf den ersten Torposten zu und verlangten dort barsch die Öffnung des Tores. Dem Befehl wurde ohne weiteres Folge geleistet und klopfenden Herzens passierten wir mit unseren durch übermangansaures Kali echt indisch gebräunten Gesichtern, unter mächtigen Turbanen möglichst gleichgültig in die Welt schauend, das erste Hindernis. Dann ging's durch die Lager-Hauptstraße dem Haupttor entgegen. Unsere Hamburger wurden allenthalben mit dem nötigen Respekt gegrüßt, trotzdem begann Aufschnaiter, der als Vordermann mit mir die Leiter trug, so auffällig unorientalisch zu hasten, dass ich ihn mit einem: "Asti, asti, pab!", was soviel wie "Langsam, langsam, Väterchen!" heißt, zur Mäßigung seines Schrittes mahnen musste.

Ein Inder bleibt uns aus den Fersen

Ein englischer Offizier, der Kommandant eines Nebenblocks, radelte auf uns zu, wir hielten unser Inderdasein bereits für beendet, aber die beiden Hamburger grüßten und nahmen wie selbstverständlich den Dank des Engländers entgegen, den das Radl rasch an uns vorübertrug. Das Haupttor brachten wir ebenfalls glücklich hinter uns und auch die dritte, letzte und uns am gefährlichsten erscheinende Klippe, den ausschließlich von indischer Polizei bewachten Schlagbaum am Lagereingang, überwanden wir.

Friedel SattlerKaum waren wir außer Sicht, fingen wir zu laufen an. Aber es dauerte nicht lange, da merkten wir, dass hinter uns her ein Inder gerannt kam, der wild gestikulierte und unverständliche Rufe ausstieß. Wir verdoppelten unser Tempo, denn wir dachten nichts anderes, als dass wir bereits verfolgt würden. Der Mann hinter uns aber lief noch um etliches schneller und kam uns endlich so nahe, dass wir beschlossen, stehen zu bleiben und ihn zu erwarten. Erst als der keuchende, mit einem Hängebart versehene Inder schon fast vor uns stand, erkannten wir ihn. Es war Sattler, der mit seinem vom Lagerfriseur Reich! kunstvoll zum Inderantlitz umgebildeten Schädel und mit einem Teertopf und einem Pinsel in der Hand als zu uns gehöriger Nachzügler glatt alle drei Tore durchschritten hatte.

Nachts auf verlassener Pilgerstraße

Im Dauerlauf erreichten wir schließlich unser Depot, dort rüsteten wir uns nach bestem Vermögen berglerisch aus und mit Rucksäcken, die durchschnittlich 40 Kilogramm schwer waren, machten wir uns bei hereinbrechender Nacht auf den Weg zur indisch-tibetanischen Grenze. In der vierten Nacht erreichten wir den Ganges, dort ein brausender Gebirgsfluss, und nächtlicherweise zogen wir entlang dem heiligen Gewässer auf der Pilgerstraße dem Quellgebiet zu und dann hinauf bis Nelang. Da wir in der Nacht wanderten, also zu einer Zeit, da sich die geisterfürchtigen Inder ohne Not nicht im Freien aufhalten, hatten mir keine Begegnung, es sei denn die mit wilden Tieren, die aber erschraken über unser Erscheinen mehr als mir über ihres. So plumpste ein Bär, erschreckt über unser Auftauchen, rücklings in den Ganges und verschwand.

Einschieben muss ich hier, dass die beiden Hamburger sich, schon nach der ersten Nacht, nachdem sie sich ihrem Fluchtplan gemäß, von auffälligen englischen Offizieren in schlichte Tommys verwandelt hatten, von uns trennten. Sie schlugen sich zur Assamfront durch, fanden Anschluss an die Japaner und leben heute wohlbehalten in ihrer Heimat. Auch Harrer war vorübergehend eigene Wege gegangen, da er bei einem indischen Kaufmann Geld hinterlegt hatte, das er sich holen ging. In Nelang traf er wieder mit uns zusammen.

Einer macht schlapp

Glauben Sie nun ja nicht, dass der Marsch nach Nelang, ein über 3.000 Meter hoch Iiegendes, um diese Zeit von allen Bewohnern verlassenes Dorf in Eis und Schnee, ein Vergnügen war. Die Kälte und auch der Hunger setzten uns arg zu. Wir hatten gehofft, uns in Nelang durch Einbruch in die Vorratskammern der jetzt im Tal lebenden Bevölkerung verproviantieren zu können. Drei Tibetaner aber, die wir in Nelang antrafen und die ebenfalls über den 5.300 Meter hohen Tselukaga-Pass nach Tibet zurückstrebten, machten uns einen Strich durch die Rechnung. In ihrer Gegenwart konnten wir unser Vorhaben nicht ausführen. Ich musste mich mit Kopp in dieser lawinenbedrohten Eis- und Schneeöde auf die Suche nach einem ebenfalls verlassenen Dorf in einem Seitental machen, um dort auf die angegebene Weise Lebensmittel zu "organisieren". Not und Bedrängnis, in Kälte und Höhenluft doppelt hart spürbar, hatten sich schon so weit gesteigert, dass Sattler mürbe geworden war. Er kehrte um, stieg wieder hinunter ins Vorgebirge und stellte sich den Engländern.

Wir aber wollten nicht locker lassen. Es gelang mir mit Kopp, das gesuchte Dorf unter Schnee begraben zu entdecken. Wir stiegen durch die wie bei uns in den Alpen mit Steinen beschwerten Dächer in die Häuser ein und kehrten schließlich beladen mit Reis, Trockengemüse und etwas Mehl zu Harrer und Aufschnaiter zurück. Aufgeteilt in die Zweiermannschaften Harrer-Kopp und Aufschnnaiter-Treipl machten wir uns zusammen wieder auf den Weg, den Pass zu überwinden und Tibet zu erreichen. Die drei Tibetaner blieben noch in Nelang zurück.

Erlassen Sie es mir, Ihnen die furchtbaren Strapazen zu schildern, die ertragen werden mussten, bis mir nach Irr-Anstiegen in Hochtälern, die uns an die 5.000 Meter hinaufführten, schließlich die Höhe des Tselukaga-Passes erreichten und West-Tibet, ein Hochplateau, sich unserm staunenden Blick erschloss. Zerschlissene Gebetsfahnen allein kündeten davon, dass ab und zu Menschen hier heraufkamen. Die letzten Weißen vor uns waren zwei englische Missionare im Jahre 1856 gewesen, die in Tibet verschollen blieben.

Messer an Bambusstangen

In Puleng trafen mir auf die ersten Tibetaner auf tibetanischen Boden, sie behandelten uns zunächst wie Luft, obwohl - wie wir nachträglich erfahren mussten - sich augenblicks einer davongemacht hatte, um das Auftauchen von vier Europäern in der nächsten Siedlung zu melden. Schließlich verkaufte man uns für unverschämt viel Geld, da man unsere Notlage und unsere verhältnismäßige Harmlosigkeit (wir trugen lediglich auf Bambusstangen aufgesetzte Messer als "Lanzen") erkannt hatte, einen Ziegenbock. Nach viertägiger Rast wanderten wir weiter. Weglos über das Hochplateau, das durch Flussläufe in meist über 1.000 Meter tiefe Engtäler zerrissen ist. Wir stießen auf ein tibetanisches Kloster, ein Drittel aller Tibetaner sind Mönche, und wurden verhältnismäßig, freundlich aufgenommen.

Dessen ungeachtet wollten Harrer und Kopp sich ungesäumt auf die Suche nach dem Ort Tsaparang machen. Wir beiden noch Zurückbleibenden sahen sie den Berghang hinaufsteigen, konnten beobachten, wie sie ungefähr auf halbem Weg mit Berittenen zusammentrafen, das Geläut der mit Schellen behangenen Pferde drang bis zu uns herab, wir mussten wahrnehmen, dass die Reiter kehrt machten und Harrer und Kopp mit sich nahmen. Oben auf der Höhe des Plateaus, knapp bevor die Gruppe unserem Blicke entschwand, stieß Harrer, die Hände trichterförmig vor den Mund haltend, einen kurzen Jodlruf aus, dem er dreimal hintereinander ein eindringliches: "Haut ab!“ folgen ließ.

Es war klar, unsere beiden Kameraden waren in die Hand irgendeiner tibetanischen Behörde gefallen, dafür sprachen schon die schellenbehangenen Pferde. Wohin aber sollten wir abhauen? Wir beschlossen vielmehr, den Spuren unserer Kameraden und der Reiter zu folgen. Oben am Hochplateau aber verloren sich diese zwischen den Wildesel-Wechsseln und so machten wir uns auf, Tsaparang zu suchen,

Zu Gast im Kloster

Die gewaltsame Trennung von Harrer und Kopp machten Aufschnaiter und mich an sich schon tief niedergeschlagen. Dazu kam, dass sich in den nächsten Tagen fruchtlosen Umherirrens Wasser- und Hungersnot bei uns einstellten. Wir lebten von Gras, wurden nervös, stritten und kamen uns in der unendlichen, von keiner Menschenseele belebten Mondlandschaft, wie schon aus dem Leben ausgeschieden vor. Nach etlichen Tagen, als wir uns halb und halb schon aufgegeben hatten, trafen wir überraschend mit einer alten Tibetanerin zusammen, der wir etwas Schafkäse abhandeln konnten. Aufschnaiter, der tibetanisch sprach, fragte um den Weg nach Tsaparang. Sie wies nach der Richtung, aus der wir gekommen waren!

Wir erkundigten uns nach der Lage des Klosters Tuleng, das auf unserer Karte eingezeichnet war. Sie wies in eine andere Richtung und deutete an, dass es bis dorthin nicht allzu weit sei. In der Tat sahen wir bei Einbruch der Dunkelheit die Lichter des Klosters leuchten. Es liegt im Tal des Sutlej-FIusses. Wir wurden von den Mönchen gelabt und durften im Klosterbezirk unser Zelt aufschlagen. Aufschnaiter, der, da Tibet von Jugend an sein Traumland gewesen war, die Kenntnisse der tibetanischen Sprache in Wort und Schrift erworben hatte, schrieb einen Brief an den Abt, worauf wir von diesem unter vielen Zeremonien empfangen wurden. Hinsichtlich unserer verschollenen Freunde aber konnte oder wollte er uns allerdings keinen Rat geben.

Unter Bedeckung zurück nach Indien

Umso überraschter waren wir, als eines Tages Harrer und Kopp, eskortiert von tibetanischer Polizei, im Kloster auftauchten. Sie waren vom Sungpön (eine Art Bezirkshauptmann), persönlich aufgegriffen und nach Tsaparang gebracht worden. Alle Versuche, den hohen Herrn gnädig zu stimmen, waren fehlgeschlagen, er hatte weit und breit verlautbaren lassen, dass jede Lebensmittelabgabe an uns mit dem Tode bestraft würde und im übrigen verfügt, dass unsere Freunde wieder über die indische Grenze zurückgebracht werden müssten. Was blieb uns nach Lage der Dinge anderes übrig, als uns dieser Eskorte anzuschließen? Allerdings blieben wir zusammen noch vier Tage im Klosterbereich bei nun genau abgemessenen Tagesrationen, Nach mühsamer, unter Bedeckung vor sich gehender Wanderung, über die auch viel Abenteuerliches zu erzählen wäre, wurden wir am Shipki-Pass, wo wir jene Hängebrücke zu passieren hatten, die schon Sven Hedin beschreibt, in das indische Dorf Namgia entlassen.

In Namgia war's, wo sich unsere Wege trennten. Harrer, der noch über Geld verfügte, drang auf der Route nach Gartok neuerdings in Tibet ein und Aufschnaiter, der Tibet-Besessene, folgte ihm nach und erreichte den Gefährten auch. Sie gelangten an ihr Ziel nach Lhasa und sind heute noch im Reich des Dalai Lama. Welche Stellungen sie dort einnehmen, ist Ihnen ja bekannt.

Hane KoppKopp und ich landeten schließlich nach Erlebnissen erfreulicher und betrüblicher Art, zu jenen gehörte die Gastfreundschaft des Maharadschas von Rampur, zu diesen das Absitzen einer Strafe, wieder im Internierungslager Dehra Dun. Drei Monate waren wir unterwegs gewesen. Zu Beginn des Jahres 1946 kehrte ich heim. Auch Kopp erreichte schließlich Deutschland.

Das ist der kurzgefasste Bericht eines der Fluchtgefährten Heini Harrers, des jetzigen Generalissimus der tibetanischen Streitkräfte. Was er hierüber und über andere abenteuerliche Erlebnisse im einzelnen zu berichten wüsste, würde ein Buch füllen. Vielleicht finden wir Gelegenheit, das eine oder andere Kapitel daraus auch noch aufzuschlagen.

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Der große Bluff

Mischung aus Glück und Frechheit "Wir sind verloren!"

Spiegel vom 29.06.1955, Seite 35–36

Am 29. April 1944, es war ein Sonnabend, bewegte sich in sengender Mittagshitze eine kleine Trägerkolonne durch die Hauptstraße des nordwestindischen Internierungslagers Dehra Dun. Durch das wie ausgestorben liegende Camp zogen vier schwerbeladene indische Kulis. Ihnen folgten zwei britische Offiziere in Khaki mit Tropenhelm und dem unvermeidlichen Stöckchen.

Ein einsamer Deutscher stand in der Ecke des durch Stacheldraht vom Mittelgang abgetrennten Lagerflügels, aus dem die Gruppe plötzlich aufgetaucht war. Er krampfte die Hände zusammen; schmerzhaft bohrten sich die Nägel ins Fleisch, als die Kolonne an dem indischen Posten am Haupttor vorübe zog. Dann atmete er tief aus, Offiziere und Kulis passierten die Straße vor dem Lager und verschwanden auf einem schmalen Pfad im jenseitigen Dschungel: Sechs deutschen Zivilinternierten - die beiden "britischen Offiziere" hießen Rolf Magener und Heins von Have, einer der Kulis Heinrich Harrer - war wider alle Wahrscheinlichkeit die erste Etappe einer Flucht geglückt.

Kaum wähnten sich die Flüchtlinge in einiger Sicherheit, da stießen sie auf indische Bauern. Sie fuhren auseinander "wie eine Zirkusgruppe, zwischen die der Tiger geraten ist". Rolf Magener, der Chronist seiner und Haves weiterer Flucht, erzählt in seinem jüngst bei Ullstein veröffentlichten Bericht*): "Harrer, Have und ich liefen linker Hand, die anderen hielten nach rechts. Es war das Letzte, was wir von ihnen sahen."

Harrer zog noch am selben Tage weiter im Alleingang über den Himalaja in den Mönchsstaat Tibet. Jahre nach dem Kriege kehrte er von dort nach Österreich zurück.

Magener und Have suchten sich eine Höhle in den Vorbergen des Himalaja. Dort hielten sie sich mehrere Tage im Angesicht des "Throns der Götter" versteckt, bis sie annehmen durften, dass die Such-Aktion des Lagerkommandanten eingestellt war.

Der phantastische Plan Rolf Mageners und seines Gefährten stand auf Bluff: Als englische Offiziere verkleidet wollten sie quer durch das von britischem Militär wimmelnde Nordindien reisen und versuchen, mitten durch die Burmafront hindurchstossend, die Linien der japanischen Verbündeten zu erreichen.

Ausbrüche aus Dehra Dun waren ein gewohnter Sport, aber bis dahin waren alle Flüchtigen nach kurzer Zeit zurückgebracht worden oder unterwegs umgekommen. Fester noch als der Stacheldraht um Dehra Dun waren die Mauern und Gräben, die Meer- und Gebirgsgrenzen des größeren Gefängnisses Indien.

Der einzige, wenn auch risikoreichste Ausweg, so rechneten sich Magener und Have aus, war die burmesische Dschungelfront. Für die Reise bis an die Grenze des frontnahen Gebietes aber bauten sie auf gewisse Gewohnheiten der Engländer und die Scheu der Inder.

Zwei Trümpfe hielten sie bei ihrem kaltblütigen Spiel in der Hand. Der eine war die ihnen bekannte Laxheit der Briten im Uniformtragen. Ihre andere Trumpfkarte war die notorische Zurückhaltung der Engländer gegenüber Fremden, auch Landsleuten.

Magener und Have brachten beste Voraussetzungen für ihre Rolle als Engländer mit. Beide sprachen fast akzentfrei Englisch, weil sie jahrelang als Kaufleute in britisch-asiatischen Gebieten gelebt hatten. Magener hatte außerdem eine Zeitlang ein englisches College besucht.
Die erste Frechheit leisteten sich beide, als sie nur wenige Stunden vom Lager entfernt einfach einen Omnibus nach Saharanpur, der nächsten Bahnstation, anhielten. Allerdings hatten sie im Wagen nur mit Indern zu tun. Auf der Bahn wurde das anders.

Im Wartesaal von Saharanpur nahmen am Tisch neben den Flüchtlingen ausgerechnet zwei MPs (Militär-Polizisten) Platz. Sie gingen wieder, ohne die Ausbrecher angesprochen zu haben.

Aber als Magener und Have ein sicheres, nur von Indern besetztes Zug-Abteil gefunden zu haben glaubten, entdeckten sie einen britischen Oberleutnant und einen Piloten auf den Eckplätzen. Vierzig Stunden, die ganze 1.450 Kilometer lange Strecke bis Kalkutta, teilten sie mit den beiden das Abteil, ohne angesprochen zu werden. Im übrigen hatten sie bei den Passkontrollen der MP unwahrscheinliches Glück, jenes Glück, das ihnen später die japanische Geheimpolizei einfach nicht glauben wollte.

Es blieb ihnen auch allzu unwahrscheinlich treu. Immer im kritischsten Augenblick, wenn sie einen scharf kontrollierten Engpass passieren mussten, wurde der Posten gerade abgelenkt, musste sich umdrehen oder war mit der Kontrolle anderer Personen beschäftigt. So kamen sie auch durch die schwerbewachte Bahnsteigsperre in Kalkutta und tauchten dort in einem CVJM-Hospiz für ein paar Tage unter.

In der Anonymität der Großstadt wurden die beiden immer frecher. Schließlich gingen sie regelmäßig in Kalkuttas elegantestes Restaurant zum Essen. Eine Party, auf der plötzlich englische Front-Offiziere auftauchten, endete mit einer Schlägerei und einem Sprung vom Balkon.

Aber die beiden entkamen. Mit der Bahn fuhren sie nach Ghoalanda, wo die Riesenströme Ganges und Brahmaputra zusammenfließen. Sie kamen unentdeckt auf einen Flussdampfer, der sie durch das Delta bis Chandpur brachte.

In Chandpur war der ganze Kai vor der Anlegestelle von MP abgeriegelt. "Einer von ihnen rief einen Befehl herüber. Die Tommies gaben ihn weiter: ''Alles Militär für eine Kontrolle an Bord bleiben!'' Magener dachte: "Hier ist also der Filter! Na, dann gute Nacht. Nun haben sie uns." 

Aber nun mischten sich wieder Glück und Frechheit. Magener und Have gingen trotz des Befehls sofort von Bord: "Die Tommies waren über unser eigenwilliges Vorgehen entrüstet; von allen Seiten riefen sie uns zu, dass wir dazubleiben hätten. Unbekümmert um die Zurufe gingen wir unseren Weg."

Im vollen Licht einer Bogenlampe versuchten die beiden, an dem MP neben der Sperre vorbeizugehen. Der stoppte sie: "Haben Sie nicht gehört, dass Sie das Schiff nicht verlassen dürfen? Bitte zurück!" Have fragte zurück: "Müssen denn Zivilisten auch warten?" Der verdutzte Posten ließ sie durch, als sie ihm ihre Zivilfahrkarten unter die Nase hielten.

Die Bahn benutzten die beiden zum letzten Mal für die Reise nach Chittagong, das 250 Kilometer von der Burmagrenze entfernt liegt. In einem Eingeborenendorf des von Wasserläufen durchzogenen Küstendschungels befahlen sie dem Dorfältesten in der Rolle britischer Kontrollbeamten die Gestellung eines Bootes mit Ruderer.

Unter den Matten, die den Mittelteil des flachgehenden Kahns gegen die Sonne schützen sollten, nebenbei aber den Effekt einer Backröhre hatten, hielten sie sich bei Tage verborgen. Nachts schliefen sie an Land. Der ängstliche und misstrauische Eingeborene setzte sie in der Nähe von Cox''s Bazar im Etappengebiet der Front ab. Nun begann der mühevolle und nerventötende Fußmarsch in das eigentliche Kampfgebiet.

Die Flüchtlinge konnten nur die Hauptnachschubstraße benutzen, im Dschungel wären sie verloren gewesen. So marschierten sie nachts und schliefen tags. So sicher wie Schlafwandler durchquerten sie englische Militärlager und Nachschubzentren und erreichten endlich den Naaf, den Grenzfluss zwischen Indien und Burma, wo sie halbverhungert wiederum mit unwahrscheinlich anmutendem Glück den Übergang schafften.

Stundenlang stolperten sie erschöpft in der Wildnis umher und verloren zum Schluss jegliche Orientierung. Magener: "Auf unserer blinden Hetzjagd gerieten wir in eine schmale Schlucht, in deren wannenförmiger Enge das Wasser sich aufgestaut hatte. Bauchtief in den Tümpeln watend, andere durchschwimmend, waren wir gerade einem Wasserbecken entstiegen und um einen Felsvorsprung gebogen, als ich vor mir, auf Duell-Abstand, eine Gruppe von drei Gestalten gewahrte, Have ein verzweifeltes ''Wir sind verloren!'' zurief und sah, wie sich langsam die Gewehre gegen uns erhoben."

Die Gestalten waren japanische Soldaten, Magener und Have war wider alles Erwarten die Flucht geglückt. Aber nun begann für sie eine neue Nervenprobe. Die misstrauischen Japaner hielten sie beharrlich für besonders geschickt getarnte britische Agenten.

Mit asiatischer Ruhe prüften die Japaner ihre unglaublich klingenden Angaben. Nach endlosen Verhören wurden Magener und Have endlich zum Hauptquartier der japanischen Geheimpolizei, der Kempetai, in der burmesischen Hauptstadt Rangun abgeschoben.

Neue eingehende Untersuchungen folgten, bis man sie eines Tages aus Gründen, die ebenso unerklärlich waren wie vieles Vorangegangene auf dieser Flucht, im Flugzeug nach Tokio brachte. Der Weg zur deutschen Botschaft war frei.

Magener und Have machten auch nach ihrer Freilassung durch Kaltblütigkeit von sich reden. Während des großen amerikanischen Bombenangriffs auf Tokio Ende Mai 1945 retteten Magener und Have einen großen Gebäudekomplex, darunter auch die amerikanische Botschaft.

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Die Chance war null

Von Rolf Magener

Verlag Ullstein 1954

Auszug aus dem Buch
Entnommen aus http://www.reisegeschichte.de/geschich/flucht2.htm 

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Im Norden Hindostans, am Fuße des höchsten Gebirges der Welt, unweit des Bergfürstentums Nepal, liegt Dehra Dun. Gegen den Hintergrund einer sich lang hinziehenden, fein konturierten Vorgebirgskette erstreckt sich die Stadt. Einem steinernen Vorhang gleich verdeckt das Vorgebirge die Eisgipfel des Himalaja.

An der Schwelle des Schweigens noch einmal der ganze geräuschvolle indische Lebensaufruhr: wimmelnde, überquellende Menschheit, Basar und Geschrei, Geschiebe in den Gassen, Hindus und Moslems, scharfer Geruch orientalischer Gewürze, heiliger Kuhdung und Lingams.

Hier, am Rande der belebten Welt, hat Seine Britische Majestät am Dschungelsaum eine kleine, stacheldrahtumsponnene Lagerstadt für Zivilgefangene des zweiten Weltkrieges anlegen lassen. The City of Despair - Stadt der Verzweiflung: eine lieblose Zwangsherberge. Hlnter tropischer Sonne, zwischen Teegärten und Busch, wurden auf altes Ackergelände Zeile an Zeile flacher, rohrgedeckter Baracken gesetzt. Die Strohdächer reichen bis tief an den Boden herab und legen ein Höhlenhalbdunkel um die Gebäude. Nur vereinzelt ragen Bäume empor; Aasvögel, nach Abfällen ausspähend, sitzen in den Ästen. Sonst sieht man Stauden, Schrebergärtchen, Ausläufe, lange Reihen von Latrinen. Weder Frauen noch Kinder gibt es hier, aber sonst ist die Bevölkerung bunt zusammengesetzt: Neben Deutschen leben Italiener, Bulgaren, Ungarn, Rumänen, Finnen - gemeinsam verlieren sie hier ihre Zeit. Die Deutschen, aus allen Ländern zwischen dem Irak und Hongkong, sind bei weitem in der Überzahl.

Im Massenkäfig herrscht das Massenlos: Massenpferchung, Massenverpflegung, Massenlangeweile. Wiewohl Ereignislosigkeit und brütender Stumpfsinn Lagermerkmale sind, bringt doch audi das Dumpfe zuweilen etwas Erregendes hervor. Dann gart es, braut sich zusammen und entlädt sich jäh.

Ich hatte nach der ersten Begegnung mit ihm den bestimmten Eindruck, dass er für eine Flucht der richtige Partner wäre. Wir standen uns - und es war das erste Mal, dass er in mein Blickfeld trat - als Gegner in einem Wettspiel auf dem Lagersportplatz gegenüber und waren dann gemeinsam zu meiner Baracke gegangen, uns dort etwas auszuruhen, denn es war ein monsunschwüler Nachmittag gewesen, an dem man sich besser nicht bewegt hätte. Er setzte sich, heiß und triefend, neben mich auf einen Hocker aus Kistenholz unter den selbstangepflanzten Papayabäumen, denen die Früchte unmittelbar aus dem Stamm, wie strotzende Brüste, wachsen. Sein Atem ging kurz, aber er lachte. Ein verwegenes, unbekümmertes Lachen, ein wenig mit Verachtung untermischt, wie es für ihn, Heins von Have, so bezeichnend war. Ich schätzte ihn etwas älter als mich ein; er war es, wenn auch nur um wenige Jahre, die Anfang Dreißig keinen großen Unterschied bedeuten. Etwas Klares, Festes, Scharfumrissenes, zu dem das harte Blau seiner Augen passte, war spürbar an ihm. Wir hatten jeder ein großes, dickwandiges Glas mit Tamarindensaft vor uns und tranken in tiefen Zügen.

Have war in Batavia, wo er zuletzt gelebt hatte und als Kaufmann tätig gewesen war, von den Holländern interniert und vor der Landung der Japaner auf Java mit den anderen Deutschen aus Indonesien nach Britisch-Indien gebracht worden. Er stieß daher erst später zu uns, die wir bereits seit dem 3. September 1939 unsere Freiheit verloren hatten. Der Ruf eines tollkühnen Ausbrechers ging ihm voraus, der es sich zum besonderen Vergnügen machte, die Inder zu düpieren und die Engländer zu bluffen. Man hatte ihn zunächst mit den anderen aus Niederländisch-Indien in einem Camp nicht weit von Kalkutta untergebracht, und als von dort eine Überführung der Gefangenen in ein Zwischenlager im Westen des Landes erfolgte, unternahm er seinen ersten Fluchtversuch, zusammen mit einem anderen Hamburger, Hans Peter Hülsen, und zwar durch Abspringen aus dem fahrenden Zuge. Das Unternehmen, nach einem zunächst sehr verheißungsvollen Verlauf, scheiterte, ebenso wie der zweite, kurz darauf unternommene Versuch, mit dem gleichen Gefährten, der dabei das Leben verlor.

Have berichtete in kurzen, bestimmten, doch nonchalant hingeworfenen Sätzen, ohne Beschönigungen, nur die Tatsachen schildernd, die allerdings ungewöhnlich genug waren. Während des Sprechens bemaß er die Luft etwas kurz, gerade für die Satzlänge ausreichend, wodurch seine Stimme einen leisen, wie gefährlich klingenden Tonfall annehmen konnte.

"Übler Ausgang, das letzte Mal, geht mir scharf an die Nieren", beschloss er seinen rasch erstatteten Bericht.

"Haben Sie nicht durch den Tod des anderen eine Weile genug?"
"Im Gegenteil", antwortete er, "jetzt habe ich noch weniger Ruhe als früher."

"Denken Sie schon wieder an -?" Ich machte eine Bewegung mit dem Kopf in Richtung des Stacheldrahts.

"Daran denke ich eigentlich immer, vom ersten Tage der Internierung an. Und jetzt nach dem Verlust von Hülsen treibt es mich noch stärker fort als früher. Ich muss jetzt 'raus, ich muss einfach!"

Er wischte sich mit der Innenseite des Oberarms über das feuchte Gesicht und die sandgelben, von der Anstrengung des Spiels noch nassen Haare, trank einen guten Zug und lachte.

"An sich sollte man zwischendurch immer 'n büsschen rraus an die frische Luft, die Engländer ärgern. Hier drinnen ist's zu muffig, noch?" sagte er auf platt.

"Natürlich sollte man, aber nicht für 'n büsschen, sondern möglichst für dauernd. Das Fatale ist nur, dass man wieder eingefangen wird und dort endet, wo man begonnen hat."

"Richtig, aber 'mal wird es gelingen, und diesmal steht es fest, ganz felsenfest, dass ich beim nächsten Versuch durchkomme. Brief und Siegel gebe ich Ihnen darauf!"

Das wurde mit einer an das Unverschämte grenzenden Zuversicht gesagt und von einer charakteristischen Bewegung des rechten Armes begleitet, der mit geschlossener Hand ruckartig an die Seite geführt wurde, als würde der Degen in die Scheide gestoßen.

"Ihr Wort in Gottes Ohr -"

"Glauben Sie mir, es lässt sich schaffen. Ich habe draußen gesehen, wie weit man kommen kann, vor allem, wenn man einigermaßen Englisch spricht. Sehen Sie mal..." und nun entwickelte er rasch seine Gedanken, die sich unter geschickter Berufung auf die gemachten Erfahrungen zu einem faszinierenden Plane fügten. Freilich enthielt er noch Lücken und Unwahrscheinlichkeiten genug, auf die ich, als ein von Haus aus eher pessimistischer Beurteiler von Chancen, ihn nachdrücklich hinwies. Als ich ihn beispielsweise auf das doch sehr naheliegende Interesse der Militärpolizei für Flüchtlingsvorhaben aufmerksam machte, bemerkte er, und damit war die Sache für ihn abgetan:

"Mein Lieber, wenn man einem MP nur mit genügend souveräner Verachtung gegenübertritt, ist er zu überspielen."

Er machte eine kurze Pause und sagte dann: "Im übrigen, Sie zeigen ein Interesse für diese Dinge, als wenn Sie selber mehr fürs Durchbrennen als fürs Durchsitzen wären."

"Über meine wirklichen Neigungen sprechen wir 'mal später." Wir holten uns noch etwas zu trinken, und ich erzählte Have wie beiläufig, aber nicht ohne Hintergedanken, dass ich ein College in England besucht hatte und von Jugend an viel mit Angelsachsen umgegangen war. Ich ließ auch einfließen, dass die I. G. Farbenindustrie, meine Firma, mich verschiedentlich nach London, Indien und auch in andere Länder des Ostens entsandt hätte, wobei ich Gelegenheit fand, die Lebensgewohnheiten der Engländer ausgiebig zu beobachten. Er hörte mir mit einer Aufmerksamkeit zu, die vielversprechend war.

Wie schon in den Vorjahren, häuften sich auch diesmal die Ausbrüche aus dem Lager Dehra Dun in den Monaten April und Mai. Im Winter wird es hier, in der Nachbarschaft vergletscherter Bergkolosse, kalt, die Tropenschwüle wird von Frösten durchkühlt. Das Vorgebirge führt, obwohl es die eisigen Höhenwinde abfängt, eigene Kaltluft zu Tal. Es ist zu frisch, um im Freien zu übernachten. Der Sommer hebt mit Waschküchenhitze an; der Himmel verschleiert sich milchig. Die Ebene dampft und bildet eine dicke Dunstschicht, die von der nicht mehr sichtbaren Sonne unbarmherzig aufgeheizt wird. Es gibt dann kein Nachlassen, keine Abkühlung, auch nachts nicht, wenn der Gefangene unter seinem Moskitonetz keucht. Später folgen die wochenlangen Wolkenbrüche des Monsuns, und man sitzt in der Baracke wie in einem U-Boot eingeschlossen, - ringsum die Wassermassen. Bei solchem Wetter kann sich ein Ausbrecher draußen nicht halten. Im Frühjahr dagegen ist die Luft trocken und sprühig, die Hitze erträglich; die Erde, noch nicht ausgeglüht, führt genügend Wasser. Dem erfrischten Lande darf sich der Flüchtling anvertrauen.

Eine Internierung in Indien bedeutet für den, der sich mit Fluchtgedanken trägt, doppelte Gefangenschaft: einmal innerhalb des Stacheldrahts und dann nochmals im Lande als solchem, dessen natürliche Grenzhindernisse seinen Befreiungsplanen wie ein zweites großes Bollwerk entgegenstehen. Indien erscheint dann als großes, undurchdringliches Dreieck, dessen Basis der Himalaja bildet, während die Schenkel vom Ozean begrenzt werden. Im Nordwesten verriegeln Wüsten, im Nordosten Dschungel die Ausgänge. Der Weg nach Afghanistan ist durch die Sperrforts des Khyberpasses verlegt, das dortige Grenzgebiet für Weiße wegen der ewig aufrührerischen Afridistämme nicht begehbar. Südlich von Bombay liegt die kleine portugiesische Enklave Goa. Im Kriege neutral, war sie in Anbetracht der Schwierigkeit der anderen Strecken anfänglich das Ziel der Ausbrüche, besser gesagt nur ein Zwischenaufenthalt, denn man hätte von dort die Flucht zu Schiff fortsetzen müssen - ein fast unmögliches Vorhaben, weil ja die arabische und die afrikanische Gegenküste sich gleichfalls in britischer Hand befanden. Als später die mit Deutschland verbündeten Japaner Burma besetzten, wandte sich die Aufmerksamkeit dem Osten zu. Da der direkte Vorstoß dorthin durch die Gangesebene und Bengalen aussichtslos erschien, versuchte man in wahrhaft großartiger Konzeption eine ausgreifende Umgehung Indiens: den Durchbruch über Tibet. Erst im Spätfrühling konnte dazu angesetzt werden, denn vorher sind die transhimalajischen Hochpässe, die über 5.000 Meter liegen, nicht schneefrei.

Auf diesen verwegenen Gedanken hatten die Bergsteiger, die in Dehra Dun gefangen waren, ihre Mitbürger gebracht. Eine kleine, auserlesene Schar von Gipfelstürmern, Teilnehmer an verschiedenen Himalaja-Expeditionen, wurden sie bei Kriegsausbruch mit den Indien-Deutschen zusammen interniert. Seitdem waren sie von dem Wunsch besessen, in ihre geliebten Berge zurückzukehren. Und es war wirklich eine große Versuchung für sie, die verlockendsten Exemplare, das Beste, was die Welt in dieser Art zu bieten hat, täglich in greifbarer Nähe vor Augen zu haben. Dass zwischen ihnen und Tibet unüberwindliche Hindernisse lagen - das flintenscharf bewachte Stacheldrahtgehege, menschenleere Einöden, räuberische Nomaden, Hunger und Tod -, das kümmerte unsere Bergsteiger wenig. Die Aussichtslosigkeit des Unternehmens - wie sollte ein deutscher Flüchtling sich in dem damals noch unter englischem Einfluss stehenden, weglosen Hochland halten? -, gerade dies Unmögliche reizte sie, um ihre gestaute Tatenlust daran auszulassen. Jedenfalls hatten sie ihre Hand im Spiele als Anstifter, Berater und Mittäter, als im Vorjahre acht Mann zu vier Paaren nach Tibet auszogen. Sie wurden alle wieder eingefangen und nach üblichem Verhör und Verbüßung der auf solche Untaten verhängten achtundzwanzig Tage Einzelhaft im Lager eingeliefert.

Es ist bezeichnend, dass solche Enttäuschungen - und bisher hatten alle Fluchtversuche aus deutschen Lagern in Indien zu Enttäuschungen geführt - nicht etwa lähmend auf den Fluchtbetrieb wirkten. Das galt vor allem für die Betroffenen selbst. Wer einmal, nach jahrelanger Haft, die Freiheit für einige Tage gekostet, stacheldrahtfreie Luft in die Lunge gesogen, den Nervenkitzel des Gejagtseins verspürt, den zog es trotz erlittenen Misserfolges immer wieder über den Zaun. So wurden viele der Ausreißer regelrechte Habitus mit zwei, drei und mehr Ausbrüchen. Aber auch die Anwärter, die vor ihrer ersten Flucht standen, ließen sich von den vorausgegangenen Fehlschlägen nicht abschrecken, denn aus jeder missglückten Flucht wurde Neues gelernt, wuchs die Erfahrung. Fehlerquellen wurden ausgeschlossen, Sackgassen und falsche Richtungen erkannt.

Die vielen Misserfolge schienen allerdings auch zu lehren, wie unverständig es ist, gleichsam wider bessere Einsicht aus Indien entfliehen zu wollen. Die unüberwindlichen Grenzen des Landes, seine kontinentale Weite, das niederträchtige Klima, die fremdrassige Bevölkerung, in der jeder Weiße sofort auffällt, alles sprach dagegen. Und wirklich schien das Land selbst gleich einer Gummiwand die Flüchtlinge wieder ins Lager zurückzuwerfen. Wer diesen Widerständen immer noch trotzen wollte, musste sich dem Vorwurf törichter Vermessenheit aussetzen. Was Wunder, dass sich unter den anderthalbtausend deutschen Internierten zwei Schulen in der Fluchtfrage bildeten. Die eine sah in der Tatsache des dauernden Misslingens eine Aufforderung zu immer neuen und hartnäckigeren Anläufen - das war die kleine Gruppe der Narren. Die andere meinte, dass jede Flucht von vornherein aussichtslos und daher zu unterlassen sei - das waren die Besonnenen. Jeder misslungene Ausbruch lieferte den Besonnenen neue Beweise für die Richtigkeit ihrer Auffassung. Auch besänftigte das Abzählen der Fehlschläge ihr Gewissen, denn jeder fühlt einen Drang und die meisten fühlen eine Verpflichtung zum Durchgehen. Infolge erwiesener Undurchführbarkeit war man nunmehr dieser Verpflichtung überhoben. Die einen waren im höheren Recht, konnten es aber nicht beweisen; die anderen konnten beweisen, fühlten sich aber nicht im höheren Recht.

Wie dem auch sei, eine hohe statistische Wahrscheinlichkeit - rund siebzig missglückte Versuche in beiden Kriegen - sprach gegen Flucht. Angesichts dieser eindeutigen Sachlage war selbst der englische Lagerkommandant dazu geneigt, in einem wiederaufgebrachten Ausrücker eher einen lästigen Toren denn einen gefährlichen Verbrecher zu erblicken.

Allein, die Schule des Unterlassens hatte doch ihre Freude an der Schule des Tuns. Es erquickt nun einmal jeden Gefangenen, wenn ein Leidensgefährte die Fesseln sprengt und durchbrennt. Die Sergeanten machen verdutzte Gesichter, wenn sie beim Durchzählen den Verlust entdecken. Die Wachen werden angeschnauzt und verfallen einem Strafgericht. Der Kommandant rast. Selbst höchsten Orts in Delhi wird die Sache ruchbar.

So eine Flucht bringt eben Abwechslung und Spannung für alle.

Es ist schwer, die Vorbereitungen geheim zu halten. Man kann im Lager keinen Schritt tun, der nicht von unzähligen Augen beobachtet wird. Aus triftigen Gründen muss aber unbekannt bleiben, wann und von wem ein Fluchtversuch unternommen wird. Die Engländer könnten von den Plänen erfahren. Aber auch die Kameraden, die helfen und dabei sein wollen, wenn der Ausstieg erfolgt, in ihrem Übereifer jedoch die Wachen unnötigerweise beunruhigen könnten, hält man besser im ungewissen. Vor allem dürfen andere Fluchtanwärter nicht erfahren, wann man das Weite suchen will, sonst trachten sie zuvorzukommen. Jeder möchte als erster hinaus, weil beim ersten die günstigsten Bedingungen vorwalten. Je später man an die Reihe kommt, desto schlechter die Aussichten; der eine läuft in den Alarm des anderen hinein, die Wachen, die Kontrollen, alles wird verschärft. So wird denn ein unsichtbarer, verbissener Kampf um den ersten Platz geführt.

Eben diese Sorgen um den ersten Absprung bedrängten uns, Have und mich. Wir hatten uns endgültig gefunden und machten jetzt gemeinsame Sache.

Have, als erfahrener Ausbrecher, der wusste, wie viel von einem günstigen Anfang abhing, bestand nachdrücklich auf einem frühen Fluchttermin. Als Stichtag für unseren Ausbruch hatten wir daher den 15. April 1944 angesetzt. Bis dahin sollten unsere Zurüstungen abgeschlossen sein, und von jenem Tage an wollten wir versuchen wegzukommen - dann wären wir bestimmt die ersten gewesen. Wir wurden aber nicht fertig, es fehlte an diesem und jenem der Ausrüstung. Trotz angestrengter Bemühungen war es immer noch nicht gelungen, unentbehrliches Fluchtgerät - Kompass, Lampen, Kursbuch - ins Lager einzuschmuggeln. Auch hatte die Beschaffung des Geldes mehr Zeit gekostet, als wir gerechnet hatten. Mit wachsender Unruhe bemerkten wir jetzt, dass andere bereits Anstalten machten, ihre Flucht unmittelbar ins Werk zu setzen.

Schon monatelang hatten wir uns mit der Frage des Entkommens beschäftigt und dieser Aufgabe mit jener leidenschaftlichen Geduld obgelegen, deren eben nur ein Gefangener fähig ist, mit seinem ungeheuren Vorrat an Zeit und der grenzenlosen Wut über die Einsperrung. Indem er seinen ganzen Scharfsinn, seine Erfindungsgabe und Willenskraft aufbietet, triumphiert der Bewachte schließlich doch über seine Bewacher, die meist routinemäßig und im Vertrauen auf ihre faktische Überlegenheit, bestenfalls dienstbeflissen und pflichtgemäß ihr Amt versehen, niemals aber mit der geduldigen Inbrunst, ja monomanischen Eiferwut, mit der der Ausbrecher seine heilige Sache betreibt. So hatten wir denn nach gründlicher Beobachtung des Bewachungssystems von Dehra Dun die Ausbruchsmöglichkeiten mit fast wissenschaftlicher Sorgfalt untersucht und das Erfolgversprechende vom Aussichtslosen zu scheiden vermocht. Um das Lager lief ein doppelter, dreieinhalb Meter hoher Stacheldrahtzaun, der einen Laufgang bildete; hier standen in achtzig Schritt Abstand die Wachen. Es waren Gurkha, von den Engländern angeworbene Söldner aus den kriegerischen Stämmen Nepals, kleine, gedrungene Burschen mit gelber Haut und Mongolenaugen; auf dem kahlen Rundkopf den breitkrempigen Hut, Bergluchse, die das Schießen und Schlitzen lieben. Sie würden einen Flüchtling erbarmungslos niederschießen, wenn er sich im Verhau verfinge, und das konnte leicht geschehen, denn die Drähte waren nur in handbreitem Abstand gespannt und überdies durch eine auf dem Boden liegende enggespulte Drahtrolle verstärkt. Da nachts der Laufgang hell beleuchtet war und die Wadien auf- und niedergingen, kam der Versuch, sich durch den Draht zu zwängen, einem selbstmörderischen Unternehmen gleich. Durch Zeitmessungen mit der Stoppuhr hatten wir errechnet, dass die durchschnittliche Sekundenzahl, während der die Wache sich abwendet, nicht ausreichte, um die Mindestzeit für den Durchgang zu decken. Und die andere Möglichkeit, nämlich nicht durch, sondern über den Draht - wie über eine Leiter - zu steigen, scheiterte an der Schwierigkeit, dass der erste Zaun eine Abschrägung nach innen aufwies.

Die Prüfung der Drahtverhältnisse verlief also negativ. Nicht, dass das Hindernis unüberwindlich gewesen wäre, nur ging es nicht ohne Alarm ab, und das bedeutete Verlust an Vorsprung. Es hatte sich auch gezeigt, dass es besonders schwer ist, zu zweit durch den Draht zu kommen, obendrein mit Fluchtgepäck. Die Engländer schließlich, durch Schaden klug geworden, verschärften die Bewachung während der Fluchtsaison; sie schickten nachts Patrouillen außerhalb der Umzäunung aus, die man vom Lager her nicht sehen konnte, weil sie sich jenseits der beleuchteten Zone bewegten. Sie waren besonders gefährlich. Aus diesen Gründen beschlossen wir, den Weg durch den Zaun nur zu benützen, wenn es sonst kein Entkommen gab. Wir verfolgten daher einen ganz anderen Plan.

Das Lager war in Abschnitte oder "wings" - Flügel - unterteilt, von denen es insgesamt sieben gab. Diese Flügel waren durch hohe, doppelte Stacheldrahtzäune getrennt, die nach Art der äußeren Umdrahtung ebenfalls Gänge bildeten. Nur gelegentlich, und dann nur nachts, standen hier Wachen. Sie sollten die gegenseitigen nächtlichen Besuche der Gefangenen unterbinden - eine strafbare Handlung, die manchem Übertreter vierzehn Tage Einzelhaft eingetragen hatte. Hin und wieder erschien ein diensttuender Offizier in den inneren Laufgängen, die alle miteinander verbunden waren, um die Drahtverhaue nach schadhaften Stellen abzusuchen. Einer dieser Gänge war eher eine breite Straße zu nennen, die den rechteckigen Lagerkomplex in der Mitte durchschnitt und auf der sich ein regerer Verkehr von englischem und indischem Lagerpersonal abspielte. An den beiden Ausgängen der Straße standen bewaffnete Posten, welche die tagsüber geöffneten Doppeltore bewachten; doch wurden die Vorübergehenden hier nicht angehalten oder nach Ausweisen gefragt, da es sich ja nur um befugte Passanten, keinesfalls um Internierte, handeln konnte. Dies war von uns sehr genau beobachtet worden.

An der Innenseite des eigenen Blocks entlang lief ein Drahtkorridor, der uns vom Lagerteil trennte, wo die Angehörigen der Balkanstaaten interniert waren, und dieser Gang mündete in die breite Mittelstraße.

Auf diesen Sachverhalt hatten wir, alles sorgfältig abwägend und jeden Schritt vorausberechnend, unseren Anschlag gegründet. Er erschien uns bestechend, wenn auch an einem seidenen Faden hängend, er entsprach der Ausreißeretikette, die eine elegante Lösung forderte; aber leider war er nun gefährdet, denn unsere Rivalen, die es so eilig hatten, konnten auf den gleichen Gedanken verfallen, ihn vor uns verwirklichen oder verpatzen und damit unsere Aussichten verderben.

Unser Stichtag war bereits um eine Woche überschritten, als Have mich zu einem Gang auf den Sportplatz aufforderte, der einzigen Stelle, wo man sich beraten konnte, ohne abgehört zu werden.

"Du, ich habe eben einen Wink bekommen: in der nächsten Nacht wird ein Ausbruch erfolgen", sagte Have.

"Von wem?"

"Von Aufschnaiter und Treipl."

"Schon morgen?"

"Ja."

Dass die beiden sich vorbereiteten, wussten wir, nicht aber, dass sie so schnell Ernst machen wollten. Aufschnaiter war seines Zeichens Bergsteiger, Sekretär der Deutschen Himalaja-Stiftung und im Vorjahre schon einmal in Richtung Tibet unterwegs gewesen. Früher hatte er an mehreren legalen Himalaja-Expeditionen teilgenommen. Er war nicht mehr ganz jung - an seinem gotisch gestreckten Schädel zeigten sich die ersten Altersspuren -, dafür aber zäh wie Leder und erfahren. Treipl war noch Anfänger in der Kunst des Fliehens, ein taufrischer, unbekümmerter Bursche. Sie ergänzten sich gut.

"Wie wollen die 'raus?" fragte ich.

"Keine Ahnung."

"Ich habe den Verdacht, dass auch Hanne Kopp, obwohl er immer das Gegenteil behauptet, bald durchgehen wird; wenn der erfährt, was Aufschnaiter vorhat, wird er versuchen, ihm zuvorzukommen."

Und Kopp wusste rasch zu handeln, wenn die Stunde es erforderte. Er stammte aus Berlin und war im Irak gefangen worden, wo er bei Kriegsausbruch Montagearbeiten beaufsichtigt hatte. Mit einem Dutzend Leidensgefährten wurde er von Bagdad nach Indien gebracht. Sein wuchtiger Brustkasten hatte ihm den Spitznamen "Geschwollener" oder auch "Brust mit Beene" eingetragen, und an den Ketten der Gefangenschaft riss er mit Macht. Er war wohlgelitten, denn wohin er kam, trieb er seinen Ulk und hob mit ausgelassenen Streichen die Stimmung. Man hatte immer den Eindruck, dass er nach einem sehr schweren Gegenstand suche, um dessen Transport zu übernehmen.
"Na, Hanne, wo steht det Klavia?" pflegte man ihm nachzurufen.

Vollblütig war er und verwegen. Mund und Herz saßen ihm auf dem rechten Fleck, und pfiffig war er auch.

"Kopp geht bestimmt nicht allein", meinte Have, "ich möchte wissen, wer sein Partner ist."

Das war des Teufels, denn außer den Genannten wollte auch Heini Harrer, der unentwegte Durchgänger, wieder einmal 'raus. Harrer konnte schon auf einige außerordentliche Leistungen in seinem Leben zurücksehen. Er hatte die Eiger-Nordwand als erster mitbestiegen und gehörte zur Ski-Weltklasse. Wir waren mit ihm eng befreundet und mit seinen Absichten längst vertraut. Uns eingerechnet, waren das sechs Mann, die hinaus wollten, wahrscheinlich sieben.

"Wir müssen versuchen, die anderen zu einem Aufschub von einer Woche zu überreden, und zwar sofort", schlug ich vor. "Bis dahin haben wir unsere Sachen bereit."

"Wir sollten hiezu Harrers Meinung einholen", sagte Have.

Harrer, den wir gleich danach aufsuchten, äußerte Bedenken; es ginge dabei weniger um die paar Tage als vielmehr um den Vorrang, und in diesem Punkte würde keiner Rücksicht nehmen, das könnte man auch billigerweise nicht verlangen.

Wir beschlossen daraufhin, zu Ede Krämer zu gehen.

Wie jedermann weiß, der längere Zeit gefangen saß, spielt die Körperkraft im Lager, wo die Männer unter sich sind, eine wichtige Rolle, viel wichtiger als draußen im bürgerlichen Leben. Denn hinter dem Stacheldraht nimmt die körperliche Stärke ihre urtümlichen Rechte wieder ein, so wie sie es in der Schule tat. Neben der überkommenen Hierarchie der Großkopfeten errichtet sie ihre eigene Pyramide der Macht, mit eigenen Spielregeln. Oben, an ihrer Spitze, steht der Kräftigste, und dann geht es, in klaren Abstufungen, beginnend mit den Löwensinnigen über die Halbstarken bis herunter zu den Schlappstiefeln. Es dauert gar nicht lange, bis jeder ganz genau weiß, wo er in dieser Ordnung, die Mut und Muskeln zum Maßstab nimmt, hingehört. So stehen die beiden Bereiche in prekärem Gleichgewicht nebeneinander, sich gelegentlich befehdend, was zu herzerfrischenden Spannungen führen kann, die die Lagerlangeweile unterbrechen. Schließlich wird man dankbar für jede Prügelei und applaudiert, wenn die Fetzen fliegen.

Bild von Bruno Treipl

Der stärkste Mann von Dehra Dun war Edmund Krämer, derselbe, zu dem wir mit unseren Sorgen gingen. Er hieß auch von Krämer, seine Manager jedenfalls ließen ihn so in Indien ausrufen, was vollere Kassen brachte, denn Ede war Ringer, und zwar ein Gentleman-Ringer; das Adelsprädikat sollte das sinnfällig zum Ausdruck bringen. Man konnte Krämer seinen Beruf nicht gleich anmerken; weder ein unförmiger Fleischkoloss noch durch das Blumenkohlohr entstellt, war er im Gegenteil wohlgestaltet, wenn auch gedrungen. Um seinen Mund hatte sich ein scharfer Zug eingegraben, von den vielen auf der Matte verkniffenen Schmerzen. Sein Appetit entsprach dem von mehreren Personen, weshalb ihn die Engländer auf doppelte Ration setzten, - trotzdem litt er immer Hunger.

Wir trafen Ede in seiner Behausung an. Er hatte sich auf dem Umgang der Baracke, unter Ausnützung der Steinmauer, einen Wohnverschlag gebaut und ihn auf seine Weise eingerichtet. Die Schlafpritsche stand darin, ein großer, grober Tisch und ein paar Stühle. Ein sechsspiraliger Expander hing von einem Nagel herab. Das übrige lag herum: leere Flaschen, Wäsche, Kriminalromane. Die eine Wandfläche war in voller Ausdehnung mit Aktbildern tapeziert, Blatt an Blatt. Hier thronte er, der Gewaltige, Inhaber vieler Meistertitel, Sieger aller Klassen. Wir störten ihn gerade bei einer wichtigen Beschäftigung. Behäbig kauend war er im Begriff, ein Stück Fleisch zu verzehren, das irgend ein Bewunderer des griechisch-römischen Stils gespendet hatte. Obwohl es Abend war, staute sich eine abgestandene, dumpfe Hitze in dem Raum - die Glutreste des Tropentages, die unvermindert vom nächsten Morgen übernommen würden.

"Na, Sangesbrüder, was gibt's?" begrüßte uns Ede, die fettigen Finger an seinem dunkelblauen Bademantel abwischend. Wir verteilten uns auf Bett und Stühle.

Für unser Anliegen war Krämer der richtige Mann. Er besaß eine gewisse Schlüsselstellung im Lager. Von ihm liefen Fäden zur Außenwelt, da Inder und Tommies ihn gleichermaßen bewunderten; von ihm wurden auch die Lagerwerkstätten unsichtbar beherrscht, die geheimen Tipps vergeben und manches Unternehmen ausgeheckt. Über die Handwerker erfuhr er frühzeitig von bevorstehenden Ausbrüchen, weil Schuster, Schneider und Schlosser bei der Anfertigung von Fluchtgerät mitwirkten. Wollte man rasch etwas durchsetzen, so musste Edmund an dem Fall interessiert werden. Er sorgte für Tempo.

Außerdem war Krämer selber schon einmal geflohen, und zwar mit Kopp zusammen nach Tibet. Es war ihnen gelungen, bis ins Innere des Priesterlandes vorzudringen, aber dort hatten Hunger und mancherlei Missgeschick mit den widerborstigen Mönchen sie gezwungen, wieder nach Indien abzudrehen, wo sie sich, ausgerechnet als Geistliche verkleidet, eine Weile hielten. Zu ihren geistverklärten Heiligengesichtern passte die fromme Gewandung vortrefflich. Kuttenverhüllt wallten diese Knechte Gottes in wiegendem Athletengang durch Dörfer und Städte dahin. Als dann in Delhi der Komödie ein jähes Ende bereitet wurde, die Polizei die Wölfe aus den Schafspelzen hervorholte, hallte Indien wider von Gelächter. Die Zeitungen hatten nämlich, der Beliebtheit Krämers, des großen Ringers, eingedenk, die Geschichte von seiner Wallfahrt veröffentlicht. Mir ist es bis heute ein Rätsel geblieben, wie Ede sich so lange hatte draußen halten können, denn die einzigen englischen Vokabeln, die er sicher beherrschte, waren: "I'll fix it" und "O. K.".

Krämer kannte sich also im Fluchtgeschäft aus, besaß die erforderliche Autorität, hatte seine Hand an allen möglichen Hebeln und war uns beiden, wie überhaupt der ganzen Anlage unseres Unternehmens, gewogen. Er glaubte fest an dessen Gelingen.

"Nun pass mal auf, Ede, du musst uns aus der Klemme helfen." 

"Was ist denn los?"

"Wir hörten, dass morgen Abend Kopp, Aufschnaiter und Treipl los wollen."

"Na, und ?"

"Wäre es nicht gut, wenn wir uns jetzt alle bei dir zusammensetzten, um zu verhindern, dass wir uns gegenseitig die Aussichten verderben? Sollte es gar nicht anders gehen, können wir einen gemeinsamen Ausbruch versuchen. Für diesen Fall hätten wir einen Vorschlag zu machen."

"Hol mal gleich die anderen her", befahl Ede einem seiner Trabanten in der Baracke.

Wir benützten die Zwischenzeit, um Ede klarzumachen, dass wir eine Woche Zeit gewinnen müssten, sonst kämen wir ins Hintertreffen. Er versprach seinen uneingeschränkten Beistand und erbot sich, falls erforderlich, nachzuhelfen. In unserer Lage war es gut, ihn zum Verbündeten zu haben, denn um alle auf eine einheitliche Aktion zu verpflichten, bedurfte es der Mitwirkung einer starken Hand.

Als die Ausbrechergilde versammelt war, ging die denkwürdige Sitzung unter Edes Vorsitz los. Seine Hammerfäuste vor sich auf dem Tisch, gab er in kerniger, Gehorsam heischender Rede den Zweck der Veranstaltung kund. Von unserem Vorschlag sagte er noch nichts, erwähnte nur, dass wir uns einigen müssten, und mit den Worten: "So, Sportfreunde, und nun legt die Karten auf den Tisch des Hauses", forderte er jeden auf, seine Absichten bekanntzugeben. Die Antworten kamen zögernd, man war nicht gewohnt, Fluchtvorbereitungen einem größeren Kreis zu enthüllen.

"Es geht euch nicht das Geringste an, was ich vorhabe", meinte Kopp.

Aber da Aufschnaiter bereits sein Geheimnis preisgegeben hatte, musste auch Kopp sich wohl oder übel zu einer Auskunft bequemen. So kam schließlich an den Tag, dass außer uns beiden alles nordwärts über die Berge wollte.

"Vielleicht haste die Freundlichkeit, uns jetzt noch zu sagen", wandte sich Ede, der so leicht nicht locker ließ, wieder an den zurückhaltenden Kopp, "mit wem du losziehen willst."

"Man immer sachte. Man nicht so drängeln."

"Na, erkläre dich allmählich, Steilwandfahrer", ermunterte Krämer.

"Schön, wenn ihr unbedingt wissen wollt, was ich vorhabe, will ich euch meine Pläne verraten. Ich flitze mit Sattler aus wing 6. Nachts klettere ich zu ihm 'rüber und gehe von dort mit ihm zusammen los. Jetzt kennt ihr meine Absichten. Seid ihr nun befriedigt oder habt ihr noch weitere Wünsche?"

Es fiel uns auf, dass sich die anderen über die Frage des eigentlichen Hinauskommens noch nicht im reinen waren. Wir wähnten, der Augenblick für unsere Bitte um Aufschub wäre da, und Have brachte sie vor. Gab das einen Aufruhr! Einstimmige Ablehnung. Alle bestanden hartnäckig auf völliger Handlungsfreiheit. Krämer wollte schon andere Register aufziehen, als Have ihn unterbrach und nun unseren eigentlichen Vorschlag entwickelte. Grundgedanke: gemeinsamer Ausbruch. Bei der Anlage unseres Planes war es möglich, die Anzahl der Teilnehmer, wenn es sein musste, auf sieben zu erweitern. Das Risiko der Durchführung würde dadurch zwar erhöht, aber nicht über die Maßen, nicht so weit, dass der Anschlag scheitern musste, und selbst bei höherer Teilnehmerzahl war er noch erfolgversprechender als alle bisher vorgebrachten Einzelpläne.

"Wir sind bereit, auch unter Verschlechterung der eigenen Aussichten euch mit 'rauszunehmen, unter der Bedingung jedoch, dass es erst in einer Woche geschieht."

Als gelte es, widerstrebende Konkurrenten in einem Kartell zusammenzufassen, hatte Have gesprochen.

"Quatsch, - dass wir im Massenspaziergang 'rauskommen, ist ausgeschlossen", ließ sich von der Gegenseite jemand vernehmen.

"Den Blödsinn mache ich nicht mit!"

"Nun langt's mir bald, Sangesbrüderl"

Aus dieser Bemerkung konnten die anderen entnehmen, dass ihr fortgesetzter Widerspruch Edes Missfallen erregte, aber sie kuschten nicht. Aufschnaiter fürchtete, kostbare Zeit zu verlieren, er konnte nicht früh genug über die Pässe kommen. Treipl, sein Gefährte, unterstützte ihn, und Eile hatte auch Kopp.

Im Raum herrschte unerträgliche Hitze, die Luft war verbraucht und stickig. Wir beschlossen die Hemden auszuziehen, mit Ausnahme von Krämer, der den Ringermantel, wenn auch über der entblößten Brust weit geöffnet, anbehielt.

Auch ich versuchte unter Anrufung der auf der Gegenseite zweifellos vorhandenen selbstlosen Gefühle meine Überredungskunst. Umsonst. Sie ließen sich nicht überzeugen. Der tote Punkt war erreicht. Ede saß mit kaum verhohlener Ungeduld auf seinem Platz, und während er die Gürtelquaste seines Mantels wie einen Propeller drehte, pfiff er leise und drohend vor sich hin, gelegentlich einen funkelnden Blick auf einen der Widerstrebenden werfend.

So kamen wir nicht weiter. Ich flüsterte Have etwas zu. Wir spielten unseren letzten Trumpf aus.

"So, damit ihr nun wisst, was ihr uns verderbt: Seht euch dies hier mal genauer an!"

Und damit zog ich zwei kleine Büchlein aus der Tasche, zwei regelrechte englische pay-books, Soldbücher der Tommies, die wir uns mit unsäglich vieler Mühe über Krämer beschafft hatten. Das war bisher noch keinem gelungen. Da wir Indien als Engländer durchqueren wollten, besaßen wir damit ein wichtiges Ausweispapier, das die Aussichten unseres Durchkommens beträchtlich erhöhte. Es wäre ein Frevel gewesen, sie zu verderben. Unsere Freunde waren beeindruckt. Krämer schien versöhnlicher gestimmt. Harrer kam wieder auf unseren Vorschlag zurück, weil ihm eine gute Verbesserung dazu eingefallen war. "So hört sich die Sache schon anders an", meinte Kopp, der unterdessen erkannt hatte, dass unser Plan eine günstige Gelegenheit bot, auch seinen Partner aus dem anderen Flügel mitzunehmen. Jetzt mussten noch Aufschnaiter und Treipl umgestimmt werden, und schon ließ sich bemerken, dass sie schwankend wurden. Sie befanden sich bereits in der Minderheit. Ein letzter Ansturm würde es schaffen.

Und plötzlich hatten wir die Widerspenstigen so weit: Die Ablehnung schlug in begeisterte Zustimmung um. Wir sprachen nochmals alle Einzelheiten durch, verteilten die Rollen und vereinbarten, dass es in einer Woche, an einem Samstag, losgehen sollte.

Jeder verpflichtete sich zu strengstem Stillschweigen.

Zum Zeichen, dass der geschäftliche Teil des Abends beendet war, griff Ede unter das Bett und holte einen großen Topf hervor. Als Aufschnaiter das sah, empfahl er sich, denn das Gefäß enthielt hochprozentigen Schnaps, von Internierten selbst gebraut. Jeder musste von dem Destillat einen halben Zahnputzbecher leeren, der unverzüglich nachgefüllt wurde. Mit dem Schnaps hatte es seine eigene Bewandtnis. Im Lager bestanden mehrere Schwarzbrennereien, die vor den Engländern sorgfältig geheim gehalten wurden. Man konnte ganz hübsch daran verdienen. Es lohnte sich, um den Markt zu kämpfen, und rücksichtslos versuchten die einzelnen Brenner einander niederzukonkurrieren. Derartige Absatzschlachten nahmen mehrfach handgreifliche Formen an. Die Brauer drohten einander die Apparate zu zerschlagen und gingen oft zu Tätlichkeiten über. Da kam einer der Bedrängten auf den Gedanken, sich unter Edes Schutz zu stellen, den ihm dieser gern gewährte - gegen Provision in natura. Andere Schutzflehende folgten. Das setzte ihn in den Stand, ein großzügiger Gastgeber zu sein, dessen Vorräte selten versiegten.

Es war schon spät; seit Stunden schlief das Lager. Kein Luftzug ging, die Oberkörper der Verschwörer glänzten feucht. Von ferne drangen die Rufe der sich ablösenden Wachen zu uns herüber. Der Becher kreiste. Unruhig sprang die Unterhaltung von einem Gegenstand zum anderen. Man besprach lärmend die letzte Fußballaufstellung, fand vieles daran auszusetzen, feierte aber den Mittelläufer, der sich rücksichtslos eingesetzt und durch geschickte Ballbehandlung hervorgetan hatte. Dann wollte ich, den es wurmte, dass zwischen meiner Haft und meinem früheren persönlichen Verhalten kein ursächlicher Zusammenhang bestand, von den Anwesenden wissen, welche Missetat ich eigentlich hätte begehen können, um mir die mehr als vier Jahre Strafzeit, die ich bisher abgesessen, rechtschaffen zu verdienen. "Notzucht! Betrügerischer Bankrott!" - rief man mir entgegen. "Gefällt mir nicht, weitere Vorschläge bitte!" - "Brandstiftung!" ... "Weiter..." - "Wie wäre es mit schwerer Körperverletzung?" - "Das schon eher", meinte ich und rieb unternehmungslustig die rechte Faust in der linken Handfläche, "ja, das ist ganz vorzüglich." Ich stand auf und schlug wie zur Probe einen Schwinger durch die Luft. Krämer, der in seinem Bereich niemandem das Recht zur Kraftäußerung zuerkannte, drückte mich blitzschnell auf meinen Sitz zurück. Auf meinem nackten Oberarm bildete sich eine Röte, wo die Löwenpranke zugepackt hatte. Nun erzählte Krämer Anekdoten aus seiner Zeit bei der Fremdenlegion, der er durch eine tollkühne Flucht entkommen war. Streng achtete er darauf, dass alle fleißig dem Alkohol zusprachen. Dann lenkte Harrer das Gespräch auf die ferne Zukunft, indem er uns in die Lage des in die Heimat zurückkehrenden Internierten versetzte, der in große Verlegenheit gerät, wenn man ihn nach seinen Kriegstaten ausfragt. Was sollte unsereiner einem solchen Erlebnisriesen aus der Heimat antworten?

"Haste schon mal ne eingemachte Erbse nach ihren Leistungen in der Dose befragt?', würde ich so einem Kerl zurückgeben", sagte der schlagfertige Kopp. Ede fand das großartig und stimmte ein Gelächter an, dass seine Goldzähne nur so blitzten.

Die Feier hatte inzwischen einen Punkt erreicht, den früher oder später jede ähnliche Lagerveranstaltung erreichte, den Punkt nämlich, wo das Fehlen des weiblichen Elements den Gemütern peinvoll zum Bewusstsein kam. Unvermeidlich steuerte das Gespräch auf die Frauen zu, und einer tischte Erlebnisse aus seiner Vergangenheit auf, neue, die noch keiner kannte, was ungewöhnlich war, denn die meisten hatte man schon unzählige Male vernommen. Ede hörte nur unaufmerksam zu, seine Phantasie beschäftigte sich mit der bevorstehenden Flucht. Die Vorstellung des entsetzten, erbleichenden englischen Offiziers, wenn er morgens beim Appell vor versammelter Front von der Massenflucht erführe, schien ihn in höhere Himmel zu entrücken. Man hörte ihn unvermittelt sagen: "Ich werde dicht an ihm vorbeigehen und ihn hämisch angrinsen. Dann saufe ich mir einen an." Plötzlich schrie er in die schlafende Baracke einen Befehl, woraufhin verstört ein dienstbarer Geist auftauchte, - die Leute waren gut erzogen.

"Los, hol mal den Müller raus, der soll Musik machen!"

Gehorsam lief der Bote in die entfernte Baracke.

Inzwischen führte Krämer einige Kartenkunststücke vor, die er seinen Artistenkollegen abgesehen hatte. Vor der Flucht nach Tibet wurde auch Kopp in die besten Tricks eingeweiht; die Tibetfahrer wollten sich damit im Land des Aberglaubens ein erhöhtes Ansehen, einen übersinnlichen Nimbus verschaffen. (Allerdings kam es dann später ganz anders: Denn kaum gewahrten die Tibeter den Zauber mit den Karten, als sie schon alles Wertvolle wegzuräumen begannen. Solchen Leuten war nicht zu trauen! ...)

Harrer spürte das heftige Bedürfnis zu singen und gab ihm hemmungslos nach. Have lachte in einem fort. Kopp wollte von mir den Begriff der schweren Körperverletzung näher erläutert haben, doch verhedderte ich mich so, dass wir beide ganz verwirrt wurden. Treipl war eingeschlafen.

Der Musiker Müller kam nicht. Er hätte erst kürzlich einen strengen Verweis wegen nächtlicher Ruhestörung erhalten, ließ er ausrichten. Mit großer Mühe hielten wir Ede davon ab, dass er zu dem Unseligen, der es gewagt hatte, seine Anordnungen - und kämen sie auch nachts - nicht zu befolgen, hinging, um ihm die Geige auf dem Kopf zu zerschmettern. "Ich werfe das billige Fieselchen über den Zaun!" zischte er.

Halbwegs beruhigt stand er schließlich auf, in seinem Ringermantel grimmig anzuschauen, nahm einen Stock zur Hand und drehte sich der Wand zu, wo die anstößigen Photos hingen. Offensichtlich drängte es ihn jetzt, sich aus den Niederungen des Lebens in die Höhenluft der reinen Ästhetik zu erheben. Wie der Lehrer beim Lichtbildervortrag erläuterte unser Gastgeber mit Zeigestock und feinsinnigen Bemerkungen ein Bild nach dem anderen, ein jegliches nach Verdienst rühmend. "Du hast zwar Akademie studiert", wandte er sich an mich, "kannst aber trotzdem von Ede lernen."

"Bestimmt, neben dir verblasst jeder Professor." Wir hatten genug und gingen schlafen.

Mancher Flüchtling war infolge unzureichender Geldmittel unterwegs steckengeblieben, - unter keinen Umständen sollte sich das an uns wiederholen. Have hatte eindringlich geschildert, welchen unnötigen Gefahren er sich auf seinen früheren Fluchten aussetzen musste, nur um einen Wertgegenstand zu veräußern, oder weil er kein Geld hatte, um Fahrkarten oder Essen zu kaufen. Wir widmeten deshalb der Geldbeschaffung unsere besondere Aufmerksamkeit.

Im Lager selbst gab es an sich kein Geld, nur Geldersatz in Form von Lagercoupons, die eine Art Binnenwährung darstellten, mit der man draußen im Lande nichts anfangen konnte. Dem Internierten war es gestattet, von Geldern, die er bei der Gefangennahme besaß, ein Konto zu unterhalten, das die Engländer führten und von dem der Gefangene monatlich eine beschränkte Summe in Lagerscheinen abheben durfte.

Trotz aller Durchsuchungen, Verbote und Drohungen fanden sich aber im Camp auch indische Banknoten, der Himmel mochte wissen, wie sie hereingekommen waren. Ihr Gesamtbetrag dürfte gering gewesen sein, ihr Bestand war überdies bedroht. Man musste sie nämlich aus Sicherheitsgründen vergraben und war dann nicht gewiss, was bei der späteren Exkavation zum Vorschein kommen würde. Fast hätten wir Tränen des Zornes vergossen, als wir aus der Tiefe eine Blechdose hervorholten, in die ein Hundertrupienschein vorsorglich versenkt worden war: Nur eine dünne Umrandung war von der Banknote übriggeblieben, das andere hatten die weißen Ameisen gefressen. Nichts war vor diesen Termiten sicher; in einer Nacht fraßen sie einen Koffer auf oder einen Bademantel, der an der Lehmwand der Baracke hing. Wir trauerten um unseren verlorenen Schatz und erzählten das Unglück den Befreundeten. Man teilte unseren Schmerz, bis jemand meinte - worüber wir dann selber lachen mussten: "Ärgert euch nicht. Bedenkt lieber den Schaden, den die Ameisen erlitten haben: Die dummen Viecher, wie viel mehr hätten sie fressen können, wenn sie, anstatt das Geld zu verschlingen, sich Verpflegung dafür gekauft hätten!" -

Es bot sich auch Gelegenheit, kleine Mengen Goldes aufzutreiben; sie wurden im Lager in Gestalt von ausgefallenen Zahnfüllungen regelrecht gehandelt. Have kaufte davon und nähte die Stückchen, die einst einen Weisheitszahn geschmückt haben mochten, pietätlos in seine Hosennaht ein.

Doch das war alles unzureichend. Das Geld musste in größerem Stil beschafft werden, und da gab es nur einen Weg: unauffällig und unter allen möglichen Vorwänden beträchtliche Mengen von Lagerscheinen vom eigenen Konto abzuziehen, das dank der Fürsorge der I. G. einen guten Stand aufwies, um dann diese Scheine in vollwertige indische Währung umzutauschen.

Diese Aufgabe wurde gelöst. Es war, als wir den Weg einmal gefunden hatten, gar nicht besonders schwer.

Die Versorgung des Camps mit Lebensmitteln erfolgte nämlich durch indische Lieferanten, die sogenannten contractors. Sie hatten Zutritt zum Lager, aber nur zur Küchenverwaltung, die in deutschen Händen lag. Es war möglich, über die contractors zusätzliche Waren hereinzubringen, zur Aufbesserung der eintönigen Verpflegung. In solchen Fällen wurde das Fleisch oder andere Ware ins Lager gebracht, die Rechnung der Küchenverwaltung vorgelegt und der geschuldete Betrag in Lagergeld dem englischen Zahlmeister übergeben. Dieser nahm dann die Überweisung in indischer Währung an den contractor vor.

Wir verfielen nun auf den Gedanken, einen indischen Angestellten des Lieferanten, der regelmäßig ins Lager kam, durch Bestechung dahin zu bringen, dass er eine Rechnung ausstellte, ohne die fakturierte Ware zu liefern. Er erlag der Versuchung.

So wurde ein Schwein bestellt, für das ich in Lagergeld der Küche die Rechnung beglich, das aber nie hereingebracht wurde. Von der Küche gingen die Coupons zu den Engländern, wo sie in echtes Geld umgewandelt wurden, das der Inder abholte. Er behielt zwanzig Prozent für sich und schmuggelte den Rest des Geldes bei seinem nächsten Besuch ins Lager. Das wiederholte sich mehrere Male mit verschiedenen Scheinbezügen, bis wir etwa neunhundert Rupien sowie einen englischen Goldsovereign zusammengebracht hatten. Diese Summe entsprach etwa tausend Mark.

Der Samstag rückte näher. Es gab noch allerlei zu erledigen. Da waren ausgeliehene Sachen zurückzugeben, Schulden zu begleichen, Verfügungen über die zurückbleibenden Habseligkeiten zu treffen, kurz, Ordnung zu schaffen wie bei einer Nachlassregelung.

Obschon man sich innerlich vom Lager losgemacht hatte, musste nach außen hin alles bis zum letzten Augenblick seinen alten Gang gehen. Brav lief man in der Tretmühle des Internierten-Alltags noch eine Weile mit, aber schon in dem Gefühl, dass die gerade zu erledigende Verrichtung für einige Zeit, vielleicht für immer, die letzte sein werde.

,Wenn's gelingt, schälst du jedenfalls so bald keine Kartoffeln mehr', dachte ich beim Küchendienst, ,und die übelriechienden Zwiebeln mag dann schneiden, wer will -'. Da saßen sie mit mir, die Leidensgefährten - Priester und Pflanzer, ehemalige Direktoren und Monteure -, schabten Karotten und starrten verdrossen vor sich hin. Keiner passte mehr zu seiner Vergangenheit, keiner glaubte mehr an seine Tauglichkeit für die Zukunft. Dafür hatte es zu lange gedauert. Es herrschte geschäftige Stille, nur die Gemüsestückchen erzeugten beim Auffallen gegen die Gefäßwand ein dumpfes kleines Geräusch. Unterhaltungen mit dem Nebenmann wurden von der Allgemeinheit nicht geduldet; die Arbeit, die im Gruppenakkord zu leisten war, litt darunter. Ein Witz dagegen durfte schon mal gerissen werden. Man schabte und schälte, als hätte man nie etwas anderes getan, als würde es auch nie etwas anderes geben. Ob sich die Lagertore wohl je wieder öffnen würden? Keiner konnte sich das mehr vorstellen.

Verfluchter Stacheldraht!

Vielleicht zum letzten Mal die Stickluft' der Baracke geatmet. … Heiß wie in einer Kochkiste ist es herinnen. Türen und Fenster sind tagsüber fest verschlossen, damit nicht neue Hitze von draußen eindringt. Im Halbdunkel des langen Raumes zeichnen sich die schwitzenden Leiber der Kameraden ab, die an kleinen selbstgezimmerten Tischchen hocken oder auf den Pritschen herumliegen. Man liest, legt Patiencen oder döst vor sich hin. Einer stopft Socken. Irgendwo wird Klavier geübt, immer wieder dieselben Läufe, stundenlang. Vom Strohdach kommt in großen Spiralen ein Halm heruntergesegelt. Jemand bringt die englische Zeitung. Die Nachrichten werden gierig gelesen und dann gründlich mit dem Bettnachbarn durchgesprochen. "In vier Wochen werden wir klarer sehen", vertröstet man sich von Monat zu Monat. Fliegengeschmeiß umschwirrt die hässlichen, langen Drähte, an denen nachts die Moskitonetze hängen. Man macht einen matten Versuch, seine Gedanken in eine erfreuliche Richtung zu lenken - vergeblich, sie kehren nach einigen Kreisläufen an den Ausgangspunkt zurück. Resigniert überlässt man sich dem alten Dämmern.

"Mensch, hab' ich die Scheiße satt!" schreit einer durch den Raum. Ja, ja, - satt haben wir's alle. Wer hat es nicht satt, immer wieder dieselben Gesichter um sich zu sehen, auch wenn man die Betreffenden noch so sehr schätzt? Wem hängt das ewige Einerlei von Morgenappell und Abendappell, von links 'ne Pritsche, rechts 'ne Pritsche, von Einheitsfutter aus Einheitstellern vom Einheitstisch nicht längst zum Hals heraus? Heute weiß man genau, was morgen geschieht, und was morgen geschieht, das wiederholt sich im nächsten Jahr, im übernächsten. ...

Aber ist das, was im Lager passiert, überhaupt ein Geschehen zu nennen? Ist die Zeit nicht entleert? Sie zeitigt ja keine echte Veränderung, vermittelt kein Erleben; es ereignet sich nichts. Und doch rinnt auch die leere Zeit, verschlingt Jahr um Jahr, und da sie unbefristet ist, setzt sie ihre Opfer der zusätzlichen Pein der Ungewissheit aus. Der Zuchthäusler, der seine zudiktierte Strafe absitzt, kennt wenigstens die Länge seiner Kerkerfrist und kann - wäre sie auch noch so lang - vom Augenblick, da er seine Zelle betritt, mit dem Abstreichen der Tage beginnen. Wer von uns aber wusste zu sagen, wie lange die Gefangenschaft noch dauern würde?

Vor mehr als vier Jahren, als ich eingeliefert wurde, bekam ich eine Nummer. Seitdem bin ich 1775. Sie steht auf meinen Sachen und wird in der Liste des Kommandanten geführt. Einige tausend Male wurde diese Zahl bei Appellen aufgerufen. Dann habe ich jedes Mal "Hier!" gebrüllt und bin drei Schritte vorgetreten. Solange meine Nummer in der langen Kolonne des Lagerbuches erscheint, ist alles in Ordnung: Idi bin ein "bloody internee" (verdammter Internierter), die Gesamtzahl stimmt, der Kommandant ist zufrieden. Wird es nun dem Zahlenpaar 1775 und 55826 - das ist die Nummer von Have - glücken, unter Störung dieser Ordnung sich endgültig in der Stammrolle zu löschen?
Morgen um diese Zeit ist die kritische Stunde am Zaun. Dann holen uns entweder die Dämonen wieder in ihre Vorhalle zurück, oder es führen die Götter uns in die goldene Freiheit hinaus.

Es fiel mir nicht leicht, in der Nacht vor dem entscheidenden Tage den Schlaf zu finden, - immerhin war es meine erste Flucht, die jetzt bevorstand. Nun, da sie sich ereignen sollte, befielen mich im letzten Augenblick Unruhe und Zweifel. Wozu das Schicksal herausfordern, sich willentlich der Gefahr aussetzen? Weihalb sich hetzen und wie ein Verbrecher jagen lassen, warum Entbehrungen auf sich nehmen? Im Lager war man doch so sicher aufgehoben. Man war leidlich an den Trott gewöhnt, in einen festen Rahmen gestellt, für das Notdürftigste wurde gesorgt; ich hatte meine Beschäftigung und meine Freunde.

Für jeden Einsichtigen war es doch klar, dass unser Vorhaben, von dem sich nicht ein einziger Schritt vorausberechnen ließ, scheitern musste. Schon am Zaun konnte es enden oder an der nächsten Straßenkreuzung, nach wenigen Stunden, spätestens in Tagen.

Gut, Have würde mitgehen, aber selbst ihn haben sie ja immer wieder eingebracht. Und war er nicht in einer ganz gefährlichen Stimmung diesmal, nach dem Tode von Hülsen? Mich hatte es schon mehrfach mit geheimem Grauen berührt, als ich eine bewusste Herausforderung der Gefahr an ihm gewahrte. In seiner jetzigen Gemütsverfassung war ihm alles ganz gleich. Wie ein Spieler in seiner Verzweiflung setzte er alles auf eine Karte. Er würde zu viel riskieren. War es nicht Wahnsinn, hier mitzuhalten? Wer kann es sagen? Wenn ich allein gewesen wäre, keiner um meinen Vorsatz gewusst hätte - vielleicht hätte ich gekniffen. Aber da waren Harrer und Have, vor denen ich mich schämte, und alle die anderen, die tapfer waren, denen ich nicht nachstehen wollte. Ich hatte mich nach außen festgelegt; das wirkte jetzt als Sicherung gegen die Versuchung eines Widerrufs.

Um mich her schliefen die Kameraden; sie lagen unter ihren viereckigen Moskitonetzen, die in der Dunkelheit wie große, auf die Pritschen aufgesetzte Kasten erschienen. Ein jeder umschloss ein Leben, das auf unbestimmte Zeit der Verkümmerung preisgegeben war, das an dem Daseinsschwund, dem Abgeschlossensein und einer falschen Geborgenheit litt, während sich die Welt draußen in grässlichem Aufruhr befand. Hier wälzten sie sich unruhig im Schlaf und nahmen durch ungezählte Nächte ihr Leid, das wie ein dauerndes, leises Weinen war, in ihre argen Träume hinüber.

Links von mir auf der Pritsche rief der Schläfer im Traum, vielleicht einen Namen, den Namen einer Frau, wendete sich, seine Stimme, unverständlicher werdend, stammelte etwas, und er schlief nach einem kleinen Seufzer weiter. ...

Da war noch ein wichtiger Punkt, über den ich mit mir nicht im reinen war. Wie würde ich mich wohl angesichts der Gefahr verhalten? Man konnte so etwas im Vorhinein nicht wissen. Ich besaß noch keine Erfahrung im Umgang mit ihr. Have hatte mir erzählt, dass ein indischer Verfolgertrupp aus großer Nähe auf ihn geschossen hätte, er aber weitergelaufen und entkommen sei. Brächte ich die gleiche Bravour auf? Was aber, wenn nicht? Es wäre nicht auszudenken!

Zum Pokern hätte ich lieber gehen sollen, zu einer späten Partie in die Kantine, statt mir durch frühes Zubettgehen Zeit zum Nervenkrieg gegen mich selbst zu lassen. ... Guter Einfall: jetzt noch ein Spielchen mitmachen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich kroch aus dem Moskitonetz, stand leise auf und schlich aus der Baracke.

In der Kantine war es dunkel; die Spieler waren fort. Langsam ging ich zurück. Von fern heulten die Schakale. ... Nichts konnte mich so deprimieren, schon von Anbeginn, wie der Anblick des nächtlichen Lagers. Wenn man allein zwischen den dunklen Baracken stand, in denen man die vielen schlafenden Gefangenen wusste, das grelle Licht in den Gängen der Wachen sah, ihre fremden Stimmen hörte, die Fremdheit der indischen Erde spürte und selbst vom Himmel fremde Sternbilder funkelten, dann mochte einen die Wehmut fast überwältigen.

Und da wage ich die Richtigkeit meines Entschlusses zu bezweifeln? Es ist höchste Zeit, dass er verwirklicht wird! Nicht nur von dem unerfreulichen Ort, ich muss mich auch von den eingefahrenen Bahnen losreißen. Mir könnte sonst die Anpassung noch gelingen. Habe ich mir doch schon eine Philosophie zurechtgelegt, die dem Sinnlosen einen Sinn verleihen soll aber sie ist ein Truggebilde. Ich gehe Studien nach, gebe vor, sie um ihrer selbst willen zu betreiben aber es ist nicht die Wahrheit; ich tue es nur, um einen Abgrund zu verdecken, den immer weiter sich öffnenden Abgrund der toten Zeit.

Was fruchtet jetzt noch grübelndes Abwägen? Von Anfang an stand fest, dass Nachdenken über den Fluchtentschluss in Widersprüche verwickelt. Längst habe ich begriffen, dass zuweilen das Unverständige gerade deshalb getan werden muss, weil es das Vernünftige ist. Der Versuch soll entscheiden.

Der entschlossene Versuch.

Morgen.

Die Flucht

Solidarität und Erfolg

Als klar wird, dass ein gemeinsamer Ausbruch für alle Vorteile bietet, plant man die Ausbruchsphase gemeinsam. "Ungelöst war noch das Problem des Herauskommens aus dem Lager. Die Flucht während eines Spazierganges schalteten wir von vornherein aus. Das hätte einen Parolebruch bedeutet, und im Falle des Nichtgelingens langjährige Haft oder Zwangsarbeit nach sich gezogen. Zunächst dachten wir daran, in der Nacht zu fliehen. Der Kommandant war für die Bewachung des Lagers nach Sonnenuntergang nicht verantwortlich, nahm daher auch eine nächtliche Flucht nicht besonders tragisch. Floh aber jemand bei Tag, gab es oft monatelang für die Internierten Ausgangsbeschränkungen und andere, fühlbare Vergeltungsmaßnahmen. Ganze Nächte beobachteten wir den Stand der Posten, ihre Gepflogenheiten und Bewegungen, ihre Ablösung und den automatischen Lichtwechsel der Scheinwerferlampen."

Die Gefangenen durften auf sogenannte Paroleausflüge gehen, wenn sie zuvor einen Zettel unterschrieben, dass sie außerhalb des Lagers mit niemandem sprechen würden, keine Verkehrsmittel verwendeten und keinen Fluchtversuch unternehmen würden. Man respektierte die Fairness der Engländer und hielt sich an das Abkommen, nutzte jedoch die Ausflüge, um zu trainieren, die Gegend für die ersten Marschtage möglichst gut kennenzulernen, um Ausrüstung herauszuschmuggeln und Depots anzulegen.

Ein deutscher Arzt im Lager besorgte Arzneien, ein Handwerker fabrizierte einen langen Dolch aus einer alten Autofeder, ein Pater, der bei den Tibetern missioniert hatte, informierte über Gebräuche und Sprache der Tibeter und zeichnete Karten. Aufschnaiter und Harrer besaßen noch die Expeditionsbücher und Karten der Nanga-Parbat-Expedition und nutzten sie zur genauen Planung der Fluchtroute.

Eine Gruppe bestand aus Rolf Magener und Heins von Have, eine weitere aus Peter Aufschnaiter und dem Salzburger Bruno Treipel, die dritte aus Hans "Hanne" Kopp und Friedel Sattler; Heinrich Harrer ging allein. Als Ausbruchszeit legten sie Ende April fest. Sie wollten das Lager als Reparaturkolonne verlassen. Harrer und Kopp schnitten 30 Meter Stacheldraht aus dem Zaun, wickelten ihn auf eine Rolle und stellten sich aus Bambus eine Leiter her. Ein Schneider hatte die Ausbrecher kostümiert: Magener und von Have sprachen ein ausgezeichnetes Oxford-Englisch und wurden als englische Offiziere ausstaffiert. Sie trugen eine Mischung aus entwendeten und selbstgeschneiderten Uniformteilen inklusive Offiziersstöckchen und Blaupausen des Lagers, die anderen gingen als indische Kulis.

Je näher der Fluchtzeitpunkt rückte, desto größer wurden die Ängste: "Was fruchtet jetzt noch grübelndes Abwägen? Von Anfang an stand fest, dass Nachdenken über den Fluchtentschluss in Widersprüche verwickelt. Längst habe ich begriffen, dass zuweilen das Unverständige gerade deshalb getan werden muss, weil es das Vernünftige ist. Der Versuch soll entscheiden. Der entschlossene Versuch. Morgen."

Zwei Offiziere und fünf Inder?

Während der größten Hitze und der Mittagsruhe, gegen zwei Uhr am 29. April 1944, war es soweit. "Ein letzter Blick in den Spiegel: Ein Inder, wie er leibt und lebt, sah mich an. Eine zerrissene Pyjamahose, ein schmutziges, ölbeflecktes Hemd, ein vorschriftsmäßig gebundener grau-weißer Turban, die Haut mit einer Permanganlösung braungefärbt, das Weiß der Augen durch Augentropfen bläulich getrübt und ein langer Schnurrbart, in langen Spitzen endend - das war meine vorzügliche Tarnung." 

Frech durchschritten zwei englische Offiziere mit fünf indischen Kulis das Lagertor, bepackt mit Leiter und Stacheldraht, Pinsel und Teertöpfen, in denen sich Teile des Gepäcks befanden. Niemand hielt sie auf. Kaum außer Sichtweite, entledigten sie sich der Tarnung und spurteten zu ihrem versteckten Gepäck. Harrer, Magener und von Have trennten sich nach kurzer Zeit. Harrer marschierte allein Richtung Tibet, Rolf Magener und Heins von Have, wollten mit der Bahn zur Burmafront und dann nach Japan. Die vier übrigen wollten gemeinsam nach Tibet: Aufschnaiter (damals bereits über vierzig) und Treipel trailten, dann folgten Kopp und Sattler. Schon auf den ersten Kilometern hatte Sattler Schwierigkeiten, sprach von einem Krampf in den Beinen. "Trotz meiner vielen Übungsmärsche vom Lager aus fehlten mir Ausdauer und der lange Atem der Bergsteiger." Kopp war da anderer Meinung: "Wie sich dann später herausstellte, war sein Versagen darauf zurückzuführen, dass er nie genügend trainiert hatte. Während wir mit schwer beladenen Rucksäcken voll Steinen die Berge hinauf- und hinuntergestiegen waren, um uns zu üben, hatte er, an einem Lagerfeuer im Tal sitzend, unseren Anstrengungen zugeschaut."

Sie marschierten nur nachts. In zwei Wochen sollte der Weg zur tibetischen Grenze zurückgelegt werden, der Proviant war genau eingeteilt. Tags wurden Ausrüstung, Schuhe und Kleidung repariert und verbessert oder es wurde geschlafen, immer in der Angst, entdeckt zu werden. Die nächtlichen Märsche boten genug Gefahren: Begegnungen mit Bären, die Entdeckung, dass man sein Lager neben dem Loch einer Kobra aufgeschlagen hat, Stürze im Dunkeln an gefährlichen Hängen, Schluchtüberquerungen an einem Drahtseil hängend, das Durchwaten von Bächen auf glitschigen Felsen - alles im Dunkeln.

Dörfer wurden heimlich durchquert: "Lange vorher lagen wir auf der Lauer und warteten ab, bis der letzte Schein eines Feuers oder einer Laterne verlosch. Bei solchen Gelegenheiten tauschten wir unsere benagelten Bergschuhe gegen leichte Turnschuhe aus und versäumten nie, vorher unsere Feldflaschen zu entleeren, um zu vermeiden, dass das Glucksen des Wassers einen Dorfbewohner aufweckte."

Heinrich "Heini" Harrer trifft nach einigen Tagen wieder auf die anderen: "Sein unermesslicher Ehrgeiz wollte es nicht zulassen, dass wir unter Umständen vor ihm die Grenze erreichten. So war er die beiden letzten Tage und Nächte ununterbrochen auf den Füßen gewesen. Nie mehr hat er uns ganz verzeihen können, dass wir ihm voraus waren." Harrer hatte eine andere Route nehmen wollen, sich aber verlaufen und fand erst nach Tagen zur ersten Route zurück.

Sattlers Rückkehr

Sattlers Zustand verschlechterte sich, etwa eine Woche hielt er mühsam mit, war immer der Letzte. In Nelang (3.410 m) bleibt er schließlich zurück. Er hat Dysenterie und leidet zunehmend an der Höhenkrankheit. Er verbarg seine Krankheit, so gut es ging, dann kümmerte sich Aufschnaiter um ihn. Fünf Tage lagerten sie dort, doch Sattler entschloss sich zur Umkehr, überließ sein Zelt, einen Teil seines Geldes und überflüssige Ausrüstung den Freunden. Kopp schilderte die Stimmung: "Die Gesichter waren verdrießlich und es schien, als ob der `Deserteur´ die anderen angesteckt habe." und "Sein Ausscheiden war zu verschmerzen, aber da er sein Geld wieder zurückbekommen musste, gab das ein empfindliches Loch in unserer gemeinsamen Kasse." Harrer berichtete: "Sattler bekam leider einen Anfall von Bergkrankheit, er fühlte sich elend und den Strapazen nicht mehr gewachsen. Er entschloss sich zur Rückkehr, versprach aber, sich erst nach zwei Tagen zu melden, um uns nicht zu gefährden."

In Tibet

Am 17. Mai 1944 erreichten die vier Flüchtenden den Grenzpass Tsangtschok-La (5.030 m). Die tibetischen Bevölkerung reagierte überwiegend mit Nichtbeachtung, Abweisung, Aggression. Man wollte sie nicht im Land haben, ergriff aber auch keine Maßnahmen, sie mit Gewalt abzuschieben. Zu hohen Preisen erhielten sie ranzige Butter und madiges Fleisch und erst, als sie versprachen, sich wieder Richtung Indien, nach Schangtse zu wenden, stellte ihnen der Gouverneur von Tsaparang vier Tragesel zur Verfügung und lässt sie ziehen: "Anfangs wunderten wir uns, dass man uns ohne jede Bewachung, nur in Begleitung eines Eselstreibers, wegziehen ließ. Wir kamen aber bald darauf, dass die in Tibet übliche die einfachste Überwachungsmethode der Welt ist, nämlich den Lebensmittelverkauf an Fremde nur gegen einen Erlaubnisschein zu gestatten." So landeten sie am 9. Juni wieder in Indien, diesmal am Schipki-Pass. Treipl sah sein Ziel, Japan, in immer größere Ferne rücken, hatte genug von Tibet und kehrte freiwillig ins Lager zurück. Aufschnaiter begleitete ihn ein Stück und schlug sich dann wieder nach Tibet durch, während Harrer und Kopp gemeinsam durch ein Seitental Richtung Tibet wanderten.

Kopp und Krämer hatten bereits im Vorjahr ähnliche Erfahrungen gemacht. Seit Tagen waren sie schon hungrig marschiert und trafen dann auf Menschen: "Aber trotz unseres erbärmlichen Aussehens und des Hungers, der uns in den Augen geschrieben stand, ließen sie uns unbeachtet." Sie erhielten nicht einen Bissen, doch zeigte man ihnen bereitwillig den Weg zurück nach Indien. Die wochenlange Sorge um Nahrung, das Zwangsfasten und gleichzeitig lange Märsche belasteten nicht nur den Körper, sondern auch die geistige Verfassung. Kopp erinnert sich: "Zu reden gab es auch nichts mehr, wo es kaum etwas zu hoffen gab. Nur ein einziges Mal handelten wir zusammen. Das war, als dicht vor uns ein Tier, ich glaube, ein Hamster, vorüberhuschte und unter einem flachen Stein Zuflucht suchte. Wir stürzten zu der Stelle hin, hoben einen mächtigen Steinbrocken auf, schmetterten ihn mehrmals auf die Deckung unserer Beute, rissen das halbzerquetschte Tier aus der Erde und verschlangen gierig das rohe Fleisch. So seltsam das auch in den Ohren derer klingen wird, die nie erfahren haben, wohin der Hunger einen Menschen bringen kann - seit jener blutigen Mahlzeit fürchteten wir einander. Niemals in jenen grauenvollen Tagen marschierte einer vor dem anderen. Es war unerträglich, den "Feind" im Rücken zu wissen oder ihm durch Voraustritt irgendeine größere Chance einzuräumen. Schweigend taumelten wir nebeneinander her, immer auf der Lauer, das Messer griffbereit. Eine unbekannte Verwirrung bemächtigte sich unserer Gehirne. Das Zeitgefühl war erloschen, der Wahnsinn näher, als wir ahnten, und die Hoffnung auf Rettung ein Phantom." Was Wunder, dass Krämer diesmal nicht mehr mitmachen wollte.

Eine Pille gegen jedes Übel

Kopp und Krämer gaben sich häufig als Ärzte aus, ebenso wie Harrer und Aufschnaiter ein Jahr später. Zur Legitimation genügte der Anblick der mitgebrachten Medikamente und Instrumente. Das Vertrauen der Bevölkerung ließ sich so rasch gewinnen, viele wollten behandelt werden. Sie erhielten kaum Geld, doch Nahrungsmittel und Unterkunft. "Besonders ein koloriertes anatomisches Bild des menschlichen Körpers erregte gewaltiges Aufsehen. Um einer Verschwendung unserer kostbaren Medizinen zu steuern, hatten wir uns selbst Mittelchen aus einem Mehlbrei bereitet, dem wir durch Atebrin und Salz Geschmack und mit Permanganat Farbe verliehen. Diesen schönen Brei rollten wir dünn aus und schnitten daraus Tabletten, die vorsichtig an der Sonne getrocknet wurden. Dann füllten wir unsere Wundertabletten in Original-Bayer-Ampullen, damit auch niemand auf den Gedanken kommen könnte, uns für Schwindler zu halten. ... Da wir kein ausgesprochenes Rheumamittel mit uns führten, kamen wir auf den Gedanken, Butter abzukochen und mit Hilfe einer Tablette Prontosil zu tönen. Die fette Soße gossen wir in eine bunte Leukoplastdose und ließen sie dort erstarren. Mit diesem Balsam massierten wir die schmerzenden Glieder kräftig. Der Erfolg war erstaunlich, denn schon nach einigen Behandlungen mit der Wundersalbe fühlten sich die Patienten bedeutend besser und bezahlten uns gern mit Butter-, Zamba- und Weizengaben."

Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt

Am 24. Juni trafen Kopp und Harrer in Tibet wieder auf Aufschnaiter, doch während Kopp sich freute, war Harrer missmutig und wollte zuerst nicht mit Aufschnaiter zusammen weiterziehen. Harrer dagegen betonte in seinem Buch, dass Aufschnaiter nicht mit ihnen weiterziehen wollte. Und obwohl sich die beiden nicht sehr zugetan sind, werden sie mehrere Jahre mehr oder weniger gemeinsam in Tibet verbringen. Bei Harrer werden Konflikte nicht thematisiert: Wo er im Landschaftlichen schwelgt, beschreibt Kopp Details im Zwischenmenschlichen. Wenn sich Harrer auf ein allgemeines "wir" zurückzieht, nennt Kopp Namen, legt den Finger auf offene Wunden, auf eigene Unzulänglichkeiten, nennt Disharmonien, Ängste und Missgeschicke beim Namen. Harrer schönt an diesen Stellen, schweigt oder wird doppeldeutig, überspielt Missverständnisse und Streit. Während er sagt: "...Aufschnaiter und Treipel waren etwas zurückgeblieben, Kopp und ich bildeten die Vorhut ..." , heißt das bei Kopp: "Leider war es in diesen Tagen dann und wann zu kleinen Misshelligkeiten gekommen, so dass Harrer, als Aufschnaiter und Treipl am nächsten Morgen mit Kochen und Packen nicht rechtzeitig fertig wurden, sich dafür entschied, nicht länger auf sie zu warten."

In Gartok erhielten unsere drei Reisenden erstmals einen Reisepass für Tibet, der die einzelnen Stationen ihrer Reise auswies und für die Ausreise nach Nepal galt. Alle drei schworen, sich daran zu halten und brachen am 13. Juli auf. Mehrere Wochen waren sie nun unterwegs mit Norbu, ihrem tibetischen Begleiter und Aufpasser. Ihr Pass war gültig bis Gyabnak. Im nächsten Ort, in Tradün, wandten sie sich an den örtlichen Bönpo, den höchsten Beamten und handelten um die Erlaubnis, nach Lhasa ziehen zu dürfen. Sie erfuhren weder Ablehnung noch Zusage und durften einen Brief nach Lhasa schreiben, um ihr Anliegen vorzubringen. Sie erhielten eine Unterkunft, reichlich Lebensmittel und eine gewisse Bewegungsfreiheit. Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate. Aufschnaiter hatte mittlerweile fast sein ganzes Geld verbraucht. Er kaufte sich von seinem letzten Geld einige Lastschafe und wollte mit ihnen ins Landesinnere ziehen. Doch schon in der ersten Nacht wurden bis auf eines alle von Wölfen gerissen.

Als nach drei Monaten die Antwort eintraf, hatte sich Kopp bereits verabschiedet und war unterwegs nach Nepal. Harrer, der noch über genügend Geld verfügte, blieb mit dem erfahrenen und sprachkundigen Aufschnaiter zurück: "Harrer besaß jedoch bedeutend mehr als ich, und er bot mir an, gemeinsam zu wirtschaften. Ein kleines Einkommen hatten wir aus unserer ärztlichen Tätigkeit, wobei es allerdings keine sensationellen Erfolge zu verzeichnen gab."

Warten auf die Gunst des Schicksals

Das Schreiben gab ihnen immerhin die Erlaubnis, noch bis in den Ort Kyirong zu ziehen, nur acht Kilometer von der nepalischen Grenze entfernt. Das nutzten die beiden aus und blieben zehn Monate in Kyirong: "Einen guten Teil unserer Zeit und Energie verwendeten wir für die Beschaffung von Lebensmitteln zu optimal ausgehandelten Preisen und fürs Kochen. Ich muss sagen, dass ich eine solche Existenz gar nicht so unbefriedigend fand. Wir überlegten uns manchmal, wie wir hier einige Jahre verbringen könnten. Für jemanden, der in einer voll ausgefüllten Arbeit drinsteckt, wäre ein solches Dasein wahrscheinlich unvorstellbar gewesen und wäre als Abstieg angesehen worden, für uns jedoch war es besser, zumindest in dieser Weise zu existieren, statt über kommende Höllen brütend vor sich hinzustieren."

Harrer und Aufschnaiter legten sich während ihrer Zeit in Kyirong ein Depot außerhalb des Ortes an, um für eine eventuelle Flucht im Falle einer plötzlichen Ausweisung gerüstet zu sein, denn sie wollten keinesfalls nach Nepal. Nachts stahlen sie sich, als "Tote" verkleidet, aus dem Dorf, denn die Einheimischen hatten Angst vor in der Nacht umherirrenden Gespenstern, und ergänzten ihr Depot.

Über Nepal zurück ins Lager

Kopp war die Warterei zu lang geworden. Er zog am 22. November 1944 über Mustang nach Nepal. Bis nach Pokhara kam er gut, ab dort erhielt er eine militärische Eskorte und Mitte Dezember erreichte er Kathmandu. Hier waren überall Engländer und trotz der offiziellen Neutralität Nepals wurde seinem Wunsch nach Asyl nicht entsprochen. Das entsprach einer Auslieferung. Am fünften Tag seiner Ankunft in Kathmandu empfingen ihn Maharadscha und Premierminister, bestätigten ihm aber nochmals die Ablehnung seines Asylantrages aus politischen Gründen. Am 25. Dezember wurde er wieder in Dehra Dun eingeliefert. Im April 1945 wurde er dann zusammen mit allen, die bisher einen Ausbruchsversuch unternommen hatten, strafverlegt in das Lager Deoli, etwa neunzig Kilometer entfernt von Kotta. Alle Vergünstigungen, die es in Dehra Dun gegeben hatte, fielen weg, eine erneute Flucht erschwert. Ende 1945 wurde das Lager aufgelöst.

In Lhasa

Nach zehn Monaten wurden Harrer und Aufschnaiter in Kyirong zur Weiterreise gedrängt; illegal brachen sie Richtung Lhasa auf. Sie erreichten Lhasa erst zwei Jahre nach ihrem Ausbruch aus dem Lager. 65 Pässe zwischen 5.000 und 6.000 Metern Höhe hatten sie in dieser Zeit überquert. Die eigentliche Reise und Flucht war damit abgeschlossen, denn in Tibet verbrachten Aufschnaiter und Harrer die nächsten Jahre und betrachten es als zweite Heimat.

Die Flucht von Magener und Have nach Burma

Magener und Have setzten auf Bluff und Menschenkenntnis statt auf Kondition und Ausdauer. Sie wollten, nachdem sich die ersten Aufregungen infolge ihrer Flucht gelegt hatten, als Engländer auftreten und die offiziellen Verkehrsmittel benutzen. Sie wirkten britisch, trugen Militär-Khaki, beherrschten die Sprache vorzüglich und hatten sich Soldbücher von zwei Soldaten gestohlen und präpariert. Aus englischen Gesellschaftsblättern hatten sie sich eine Legende zusammengebastelt, Namen von Truppenteilen und Offizieren auswendig gelernt. Sechs Tage versteckten sie sich in den Bergen und wagten sich dann zurück in die Ebene. 2.300 Kilometer lagen vor ihnen bis nach Burma.

Sie unterhielten sich ständig nur auf Englisch, um gar nicht erst in einer zweiten Sprache zu denken. An ihrer Militär-Khaki-Kleidung hatten sie keine Rangabzeichen. Sie rechneten einfach damit, dass jeder annahm, sie seien vom Militär. Andererseits hätte diese Kleidung aber auch jeder Zivilist tragen können. Ebenso hielten sie es mit ihren gestohlenen Papieren: Sie würden sie gegenüber Zivilpersonen benutzen, nicht aber bei Kontrollen durch die Militärpolizei, um nach einer eventuellen Gefangennahme nicht zusätzliche Strafen für die Benutzung militärischer Abzeichen und Papiere zu erhalten.
Diese Methode funktionierte gut: mit dem Bus nach Saharanpur, mit dem Zug über Lucknow nach Kalkutta, auf der Straße, in Restaurants und Bahnhofshallen - nirgends fielen sie auf. Mit Glück rutschten sie durch eine stichprobenartige Kontrolle der Militärpolizei. Problematisch war allerdings die Übernachtung in der Großstadt: Die großen Hotels waren für Militärs reserviert; diese zu benutzen, fehlten ihnen die geeigneten Papiere. Die Hotels der Einheimischen wurden besonders intensiv von der Polizei kontrolliert, kamen also auch nicht in Frage. Schließlich landeten sie im YMCA, das zwar auch nur Inder beherbergte, aber keine Papiere verlangte. Mit dem Zug ging es weiter nach Goalanda Chat, dann mit dem Schiff nach Chandpur, alles ohne eine Kontrolle. Die erfolgte erst beim Verlassen des Schiffes: Alle Militärpersonen sollten an Bord bleiben. Have und Magener gehen selbstsicher auf die Militärpolizei zu und überzeugten diese durch Vorzeigen ihrer Zivilfahrkarten, dass sie nicht zum Militär gehörten: "Das war wieder so ein Streich nach Haves Geschmack. Er konnte dem Reiz der Lage nicht widerstehen ... Furchtlos, und ohne Nerven, mit einem unfehlbaren Instinkt für das gerade noch Mögliche, stand er immer über der Situation. Niemals habe ich ihn aufgeregt gesehen ... Hinterher sahen seine Abenteuer immer so aus, als habe er sie vorher genau durchkalkuliert." 

Nun stiegen sie um auf die Bahn nach Chittagong, mieteten dort einen einheimischen Führer, der sie auf seinem Sampan bis Cox´ Bazar ruderte, drei Tage und Nächte versteckt unter dessen Palmendach. Von dort schlugen sie sich nur noch des nachts durch, auf und neben den Straßen durch den Dschungel. Mehrmals liefen sie in den dunklen Nächten in Militärlager, durchquerten sie aber ohne aufzufallen. Immer wieder fanden sie sich in den gefährlichsten Lagen, vertrauten auf ihre Intuition, handelten, ohne zu planen, verließen sich auf ihr Gefühl. Zu vieles geschah zu plötzlich: Da wurden sie in der Nacht mehrfach mit einem "Stop" angerufen, hörten das Klicken der Gewehrsicherung in ihrem Rücken und gingen dennoch weiter - niemand schoss, niemand kam ihnen nach. Einen anderen Posten, der es wagte, sie nach ihren Papieren zu fragen, schüchterten sie dermaßen ein, dass der nur noch Entschuldigungen stammeln konnte. Dann wollten sie einen Ghurka-Posten umgehen, indem sie einen Hügel erkletterten. In der Mitte des Hangs lösten sich einige Felsbrocken unter ihren Füßen, der Posten guckte nach oben, die beiden winkten kräftig mit ihren Tropenhelmen, der Posten grüßte zurück und alle waren zufrieden.

"Das Ungewisse, das Unbekannte war zu unserem eigentlichen Lebenselement geworden. Nirgends fanden wir sicheren Halt, nirgends eine verlässliche Größe, mit der wir rechnen konnte. Nur selten wussten wir genau, wo wir waren, und selbst dann, wenn wir eine bestimmte Örtlichkeit ausgemacht hatten, blieb uns unsere Lage in Bezug auf unser Endziel unklar, denn wo dieses sich befand, konnten wir ja noch gar nicht angeben. ... Die Ereignisse waren auf wenige atemraubende Augenblicke zusammengedrängt, auf allerkleinste Zeiteinheiten, zwischen denen lange, qualvolle Pausen, große, leere Zwischenräume lagen. ... Jeder Augenblick konnte den ganzen Mann erfordern. Mit dieser Umstellung ging auch die Führung vom Verstand auf den Instinkt über; wir überließen uns unbewussten Reaktionen und Reflexbewegungen. Weil ununterbrochen neue Ereignisse auf uns einstürmten, wären wir ihnen alsbald nicht gewachsen gewesen, hätte nicht unsere eigene Natur durch einen Entlastungsmechanismus Abhilfe geschaffen. Er bestand einmal darin, dass das soeben Erlebte weit in die Vergangenheit zurückgestoßen wurde, beklemmende Eindrücke also ihre lähmende Nachwirkung verloren. ... Wir waren noch keine zwanzig Schritt an den Straßenposten vorbei, da waren sie schon aus dem Sinn und vergessen. Und zum anderen wurden wir gegen Gefahren zusehends unempfindlicher; immer gefährlichere Begebenheiten kamen uns harmlos vor ..." 

Ihr Weg führte sie durch Dschungel, Sümpfe, über Kanäle und Flüsse, bis sie am 31. Tag ihrer Flucht ahnungslos burmesischen Boden betraten. Japaner nahmen sie einige Kilometer hinter der Front gefangen. Die Freude, es geschafft zu haben, verflog bald, denn für die Japaner waren sie zunächst nichts anderes als englische Spione, und es dauerte Wochen, sie vom Gegenteil zu überzeugen: eine Zeit, die sie in bewachten Hütten, Gefängnis, Lager, Zuchthaus zubrachten. Diese Zeit war nicht weniger belastend als die Wochen zuvor: "Wir mussten uns daher, in dem Bewusstsein, dass das Samuraischwert noch immer über uns hing, in Lammsgeduld fassen - wir, die wir in Wahrheit keinen Funken Geduld mehr besaßen, vielmehr endlich die Früchte der Flucht genießen, uns bewegen, Leute sehen, Deutsche sprechen, kurz, wieder Menschen sein wollten." Doch weitere Wochen mit Vernehmungen im Hauptquartier der Kempetai schlossen sich an. Die Ernährung war dermaßen schlecht, dass ihnen büschelweise die Haare ausfielen, Schwerhörigkeit und Nervenschmerzen sich einstellten. Nach drei Monaten wurden sie der Presse vorgestellt, plötzlich, ohne Vorankündigung; man eröffnete ihnen, dass man ihnen nun glaubte, ohne den Umstand zu nennen, der den Gesinnungswechsel bewirkte, und schickte sie nach Tokio, endlich in die Freiheit. Leider teilt Magener nicht mit, wie sich die weitere Zukunft entwickelte.

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Anmerkungen

Rolf Magener

1910 geboren. Magener hatte ein College in England besucht, war für seine Firma, die IG Farbenfabriken, bei der er auch eine kaufmännische Ausbildung abgeschlossen hatte, viel in London, Indien und anderen Ländern Asiens unterwegs gewesen, und sprach perfekt Englisch. Er promovierte am 14.7.1937 an der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät in Frankfurt am Main in Betriebswirtschaft. Danach war er in Bombay tätig, bis er dort am 3. September 1939 verhaftet wurde und ins Lager Dehra Dun in Nord-Indien kam. Er entkam zusammen mit von Have, Harrer, Aufschnaiter, Sattler und Kopp am 29.04.1944 und schlug sich zusammen mit Have nach Burma durch, wo er sich in die Hände der Japaner begab. 1947 war er wieder in Deutschland und arbeitete dort für die BASF.

Heins von Have

Etwa um 1910 geboren. Lebte bis zum Ausbruch des Krieges in Batavia und war dort als Kaufmann tätig, wurde von den Holländern interniert und vor der Landung der Japaner auf Java mit den anderen Deutschen aus Indonesien nach Britisch-Indien gebracht. Er hatte schon bei seiner Ankunft in Dehra-Dun den Ruf eines tollkühnen Ausbrechers. Zusammen mit dem Hamburger Hans Peter Hülsen unternahm er einen ersten Fluchtversuch, indem sie aus einem fahrenden Zug sprangen. Zunächst erfolgreich, wurden sie dennoch bald gefasst. Ein zweiter Fluchtversuch der beiden endete kurz vor dem Erreichen der burmesischen Grenze mit dem Tod des Hamburgers. Der dritte Fluchtversuch gelang am 29.04.1944 mit seinem Freund Magener sowie fünf andere. Nach 31 Tagen überschritten sie die Grenze nach Burma.

http://de.wikipedia.org/wiki/Heins_von_Have

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Vom Gefangenen Nummer 1775 zum Finanzchef

Das ungewöhnliche Leben Rolf Mageners

Von Ulla Hofmann

Frankfurter Allgemeine Zeitung  vom 05.08.2000

Er hatte sich einige Aufzeichnungen gemacht für eine Rede, die er an seinem 90. Geburtstag am 3. August dieses Jahres in Heidelberg halten wollte. Seine Sprachkraft und Formulierungskunst waren ihm bis ins hohe Alter erhalten geblieben. Man durfte wie immer mit treffsicheren nachdenklichen Äußerungen rechnen. Durch seinen Tod am 5. Mai ist es dazu nicht mehr gekommen. "In unserem Leben gibt es immer neue Anfänge", begann Rolf Magener seine Notizen, "jedes Mal tritt der Anfänger unsicher, neugierig, lernsüchtig und stets zum Staunen bereit auf." Mageners Leben ist ein ungewöhnliches Leben voller Anfänge und Szenenwechsel gewesen, das sogar der International Herald Tribune eine längere Notiz wert gewesen ist.

Im Jahr 1944, im letzten Weltkrieg also, war dem damals 34 Jahre alten Rolf Magener zusammen mit einem deutschen Gefährten die Flucht aus dem scharf bewachten britischen Internierungslager Dehra Dun am Fuße des Himalaja gelungen. Nach 2.400 Kilometern Wegstrecke voller Abenteuer und Gefahren gelangten die beiden schließlich in das von den Japanern, den deutschen Verbündeten, besetzte Burma. "Die Chance war Null" überschrieb Magener die Geschichte dieser Flucht, die schließlich in Tokio endete. (Der längst vergriffene Fluchtbericht, der in dieser Zeitung 1954 in Fortsetzungen abgedruckt worden war, ist jetzt im Heidelberger Universitätsverlag Karl Winter neu aufgelegt worden.) In der japanischen Hauptstadt erlebte Magener im Mai 1945 die Kapitulation Deutschlands und jene Episode, von der er den Freunden beim Geburtstag berichten wollte - von der unglaublichsten Rede, die er in seinem ganzen Leben je gehört habe.

"Ort der Handlung: Residenz der deutschen Botschaft in Tokio, großer Empfangssalon, in dessen Mitte ein runder Tisch. Zeit der Handlung: der Tag, an dem Deutschland kapituliert. Japan entsendet eine Delegation seiner Wehrmacht, sich von dem niedergeschlagenen Waffengefährten zu verabschieden. Drei uralte Generalfeldmarschälle, angeführt von einem greisen Generalissimus, betreten klirrend den Raum. Sie nehmen Platz. Nach einer Pause erhebt sich der Älteste, die Abschiedszeremonie zu eröffnen. Er tut es, indem er zu schweigen beginnt. Kein Laut. Er schweigt und schweigt und schweigt. Anhaltend tödliche Stille. Dann plötzlich, aus seinen tiefsten Eingeweiden, stößt er wie ein Geschoß einen gurgelnden Urschrei hervor. "Gakku" dröhnt es durch den Raum (das bedeutet "Exzellenzen".) Das war alles, mehr sagt er nicht - er schweigt erneut. Er bleibt still, so lange, bis den Kameraden die Tränen über die Wangen zu rollen beginnen. Sie erheben sich, kurze Verbeugung, klirrend verlassen sie den Raum. In tiefster Betroffenheit bleiben die Deutschen zurück."

Die Stummheit gehöre zu den Attributen der Vollkommenheit des Japaners, fügt Magener noch an.

Das ungewöhnliche Leben von Rolf Magener, des später nahezu legendären Finanzchefs der BASF in den Zeiten ihres Aufbruchs in die Internationalität, hatte "an einer warmen Küste des Schwarzen Meers", in Odessa, begonnen, wie er selbst schreibt. Magener war der Sohn einer russischen Mutter und eines deutschen Vaters, der als Kaufmann in Russland tätig war. Zum Immobilienbesitz von Vater Adolf Magener gehörte das Hotel Metropol in Moskau, heute noch oder wieder ein Denkmal des Jugendstils. Die Familie verbrachte mit Rücksicht auf die Gesundheit der Mutter lange Zeiten an der Cote d'Azur. Von daher stamme wohl seine Vorliebe für alles Helle, Klare, Leichte, für edle und schöne Form, meinte Magener. Das Abitur legte der Siebzehnjährige in einem deutschen Internat im kleinen Städtchen Bieberstein in der Rhön ab. Dem Studium der Betriebswirtschaft folgte 1935 die Promotion in Frankfurt. Auf Betreiben des anglophilen Vaters war Rolf Magener schon früh mit England in Berührung gekommen, er hatte einige Semester in Exeter studiert.

Die intime Kenntnis angelsächsischer Lebensart sollte für ihn später lebensentscheidend werden.

"Die Angelsachsen sind eine gefährliche Rasse", notierte er in der Sprache dieser Generation, "kriegerisch, verwegene Spieler, zuverlässige Hasser, die nicht vergeben. Auch sind sie Meister im rechtzeitigen Loslassen. Engländer halten mehr von der Freiheit als von Gleichheit, und die Muße ist ihnen etwas Höheres als die Arbeit. Uns haben die Engländer voraus, dass sie sich gegenseitig mögen . . . Und die Oberschicht, was macht die? Nichts, das allerdings vorzüglich."

Der junge Betriebswirt war 1935 in Berlin in einen der damals größten Chemiekonzerne der Welt, der I.G. Farbenindustrie, eingetreten, wo er vor dem Studium schon eine kaufmännische Lehre absolviert hatte. Die Generaldirektion dieses Riesenkonzerns residierte mit bester Adresse Unter den Linden, gegenüber vom Hotel Adlon am Pariser Platz. Der Trainee beobachtete scharf die Hochfinanz, "die agiert, als gäbe es sie nicht", das elitäre Milieu der zentralen I.G. Finanzverwaltung, der er scharfe Gegnerschaft gegen das herrschende Regime attestiert, ein Eindruck, der aus heutiger Sicht nicht zur Historie und zu den Verstrickungen der I.G. Farben in der Nazizeit zu passen scheint. Magener beobachtete:

"Der Generaldirektor hinterlässt keinerlei Spuren, vor allem kaum Durchschläge. Sein Sekretariat besteht aus drei älteren Damen. Es wurde behauptet, die eine sei schwerhörig, die andere sehe schlecht, die dritte sei vermutlich Analphabetin - kurzum, mit dieser Truppe hinterlässt der Chef keine Spuren. Das meiste erledigt er telefonisch oder in Zweiersitzungen. An Wochenenden fährt er nach Basel zu einem Privatbankier, über den er alle seine internationalen Finanzierungen einfädelt. Mehrmals konnten wir das Nachzittern an den Gliedern des sympathischen Geheimrats sehen, wenn er zurückkam von der nahe gelegenen Reichskanzlei, wo er vor Adolf Hitler einen Scheck von fünf Millionen Mark als Spende Deutschlands größter Firma für die Winterhilfe unterschreiben musste."

Magener wurde ins Ausland geschickt, zunächst auf eine große Reise bis China und dann 1938 zur indischen I.G.-Farben-Vertretung in Bombay. Für ihn war es "wie eine zweite Geburt", Indien, die Tropen. Doch bei Kriegsausbruch setzten die Briten Magener zusammen mit viertausend Schicksalsgefährten im Internierungslager Dehra Dun am Fuß des Himalaja fest.

Fünf Jahre lang beobachtete der junge Deutsche als "Nummer 1775" die erfolglosen, auch tödlichen Fluchtversuche von Mitgefangenen. Im Frühjahr 1944 entschloss er sich selbst zur Flucht.

"Mit der Frage des Entkommens beschäftigten wir uns monatelang, mit jener leidenschaftlichen Geduld, deren eben nur ein Gefangener fähig ist, mit seinem ungeheuren Vorrat an Zeit und der grenzenlosen Wut über die Einsperrung. Indem er seinen ganzen Scharfsinn, seine Erfindungsgabe und Willenskraft aufbietet, triumphiert der Bewachte schließlich doch über seine Bewacher, die meist routinemäßig und im Vertrauen auf ihre faktische Überlegenheit bestenfalls dienstbeflissen und pflichtgemäß ihr Amt versehen, niemals aber mit der geduldigen Inbrunst, ja der monomatischen Eiferwut, mit der der Ausbrecher seine heilige Sache betreibt."

Was Magener und seine fünf Gefährten bei der Flucht einzusetzen gedachten, war "die Zauberwaffe des Bluffs" - eine Waffe, die Magener auch in seinem späteren Leben nicht verachtete.

Rolf Magener und Heins von Have, ein Kaufmann, der in Indonesien festgenommen worden war, verkleideten sich als englische Offiziere. Geld, Soldbücher, Uniformen und vor allem die typischen kurzen britischen Offiziersstöckchen hatten sie sich auf abenteuerlichste Weise beschafft. Vier Mitgefangene, darunter der Bergsteiger Heinrich Harrer, berühmt als Erstbesteiger der Eiger-Nordwand, verkleideten sich als indische Kulis. So bildeten die sechs - zitternd vor Angst - eine harmlose Reparaturkolonne mit zugehörigem Gerät, die am helllichten Tag an den schwerbewaffneten Lagerwachen vorbei wie zu Ausbesserungsarbeiten an den Drahtzäunen auszog - in die Freiheit, doch zuerst in den Dschungel. Rolf Magener schildert in seinem Buch die einzelnen Stationen dieser Flucht. Die Gruppe trennte sich bald, Heinrich Harrer schlug seinen eigenen Fluchtweg nach Tibet ein, den er später in seinem Buch "Sieben Jahre in Tibet" beschrieben hat.

Magener und von Have, die beide fließend Englisch sprachen, blieben zusammen - nach der gefährlichen Flucht durch den Dschungel ganz offensichtlich zwei britische Offiziere in Indien, die es sich leisten konnten, zeitweise auch den Zug zu benutzen und in Kalkutta, das einem Heerlager glich, im elegantesten Restaurant der Stadt, dem Firpo, einzukehren: "Im Gedränge war man am sichersten." Doch trotz des frechen Abstechers ins Nobelrestaurant war und blieb die Flucht lebensgefährlich. Die Flüchtlinge schlugen sich 120 Kilometer zu Fuß bis zum Kriegsgebiet durch, wo sie von einer japanischen Patrouille im Dschungel von Mayu festgenommen wurden. Aber die Japaner glaubten nicht, dass es sich bei ihren beiden Gefangenen um deutsche Flüchtlinge handelte. Sie vermuteten in ihnen britische Spione und überstellten sie der japanischen Geheimpolizei Kempetai.

Erst nach zweimonatiger Haft und ständigen Verhören gelangte das Gerücht von der abenteuerlichen Flucht der Deutschen bis nach Japan. Die Kempetai erkannte nicht nur Magener und von Have, sondern auch den Propagandawert der Nachricht einer Flucht aus britischem Gewahrsam. Sie kleidete die Flüchtlinge neu ein, stellte sie der Presse vor und schaffte sie umgehend von Rangun auf dem Luftweg nach Tokio. In der deutschen Botschaft lernte Magener seine spätere Frau kennen. Doris von Behling, Tochter einer englischen Mutter, arbeitete dort als rechte Hand des Luftwaffen-Attachés. Dora Thea nannte sie Magener, das Geschenk der Götter. Sie heirateten noch in Japan.

Ereignisse von solcher Wucht prägen einen Menschen. Magener empfand den langen Weg von Dehra Dun nach Tokio, diesen Weg durch den Grenzbereich menschlicher Belastbarkeit als eine Bestätigung seiner ganzen Existenz. Hohe Risiken und die Kunst, sie glücklich zu wenden, begleiteten fortan sein Berufsleben. Die Politik eines "scharfen Segelns vor dem Wind" wurde seine ureigenste Sache.

Zur BASF kam er 1955 auf Empfehlung ihres Aufsichtsratsvorsitzenden Hermann J. Abs und des BASF-Vorstands Julius Overhoff, nachdem er zunächst bei der Deutschen Commerz in Frankfurt tätig gewesen war. 1962 wurde Magener in den Vorstand der BASF berufen. Dort fand er seine Lebensaufgabe und im Finanzressort das ihm gemäße Instrumentarium. Geld faszinierte ihn nicht als Besitz. Geld war für ihn "wie ein magischer Stab, der die Dinge bewegt, alles mit allem verbindet, Leistungen ermöglicht und organisiert". Der weltläufige Mann mit dem britisch anmutenden Habitus schuf als kongenialer Finanzchef die Voraussetzungen für die internationale Expansion und die Marktverbreiterung, die Bernhard Timm der BASF verordnet hatte, der seit 1965 den Vorstandsvorsitz des Konzerns innehatte. Es waren Jahre des Sturms und Drangs, Jahre, in denen die BASF kaufte und kaufte und kaufte: Lacke und Farben mit Glasurit, Siegle, Herbol, Wintershall mitsamt Kali + Salz, das Pharmaunternehmen Nordmark, den Plexiglashersteller Röhm und Haas wenigstens zum Teil, den Faserproduzenten Phrix und schließlich auch noch Wyandotte, das erste Faustpfand auf amerikanischem Boden. Magener wurde ein Magier der Finanzen, der die Expansion nicht nur mit Geld, sondern - eine Seltenheit in jenen Jahren - mit Aktien bezahlte. Den Zauberstab brauchte er allerdings auch, um Anfang der siebziger Jahre die Verschuldung des Konzerns, die Folge der Aufkaufserie, wieder zurückzuführen. Sein Nachfolger Ernst Denzel wurde der Finanzier der Konsoldierungsphase bei BASF. Doch der Durchbruch zur Weltklasse der Chemie war gelungen.

Magener war ein Meister im Umgang auch mit den Medien. Mochten internationale Verhandlungspartner an dem Gentleman aus Ludwigshafen den Intellekt rühmen, die Sprachkenntnisse, das Verhandlungsgeschick, den eleganten Auftritt - die Wirtschaftsjournalisten liebten an diesen charismatischen Mann, dass er druckreif sprach, dass er nicht plump manipulierte und dass er in einer analytisch klaren und dennoch bilderreichen Sprache auch komplizierte Zusammenhänge erläutern konnte. Für seine Finanzpolitik unter Bernhard Timm kreierte Magener das Schlagwort von "Onkel Timms Hütte", die nicht ins Wanken geraten dürfe. Die Medien griffen die Formulierung begeistert auf, zumal sich die BASF inzwischen mit dem Erwerb von Wyandotte buchstäblich am Ufer des Mississippi angesiedelt hatte. "Wir gehören ein ganz klein wenig zusammen", sagte Magener beim Abschied vom Posten des Finanzvorstands zu Journalisten, "so wie die Fratres der Dominikaner in einem Inquisitionstribunal und das Opfer, das auf dem Scheiterhaufen brennt, zusammengehören." Die BASF sei doch ein ergiebiger Lieferant neuer Finanzweisheiten gewesen, ein gutes Lern- und Studienobjekt, weil sie so ungefähr alles, was auf finanziellem Gebiet vorkommen kann, in einem kurzen Zeitraum vorexerziert und es auch noch kommentiert habe: "Alle erdenklichen Finanzinstrumente und Holdingkonstruktionen haben wir vorgeführt, alle möglichen Akquisitionsformen durchgespielt und last not least auch eine Pleite fabriziert." Ein "echtes Widerfahrnis", so bezeichnete Magener die Erfahrungen der BASF mit der schließlich stillgelegten Phrix AG.

Der Presse musste schmeicheln, als Magener den Journalisten zurief, es sei gar nicht leicht, ja, es sei gefährlich, mit ihnen umzugehen:

"Es ist nicht so sehr, dass Sie immer das letzte Wort haben, dass man garantiert der Unterlegene bleibt; es ist nicht die Furcht, vor Ihnen dumm oder unbeholfen zu erscheinen und darob gegeißelt zu werden. Es ist nicht so sehr das Überfallartige, Hartnäckige Ihrer Fragen oder die bloßstellende Absicht derselben - so verhalten sich Vorgesetzte gelegentlich auch. Es ist das Unheimliche des Transformationseffekts, den Sie bewirken. Was man vor Ihnen aus dem Gehege der Zähne lässt, gehört einem in der nächsten Sekunde schon nicht mehr - es ist unwiderruflich heraus und fort, fort an die Öffentlichkeit, die auf eine unvorhersehbare Weise darauf reagiert. Und der Manager erschrickt vor der plötzlichen Emanzipation seiner Erklärung, wenn sie vor der Presse erfolgt. Es ist wie die Preisgabe eines peinlich gehüteten intimen Geheimnisses - nun kennt es plötzlich alle Welt, und der Manager muss erröten, wohin er kommt. Und hinzu kommt das Wissen: Die Öffentlichkeit gibt kein Pardon."

Magener wusste, dass der Finanzchef eines Unternehmens derjenige ist, der zuerst ins Fadenkreuz der Medien gerät. Aber er wusste auch, was sie hören wollten. "Man mache sich interessant", empfahl er. "Man bringe Neues, danach gieren alle. Man biete Enthüllendes, darauf lauern alle. Man offeriere gehaltvolle Fülle, denn alles wird komplizierter, die Methoden verfeinern sich. Die Presse ist über letzte Entwicklungen à jour zu halten. Man liefere Gags, Formulierungshilfen - Journalisten sind Feinschmecker. Und schließlich strebe man ein hohes Niveau der Darbietung an - das schuldet man sich selbst und der Presse." Er war ein gesuchter Redner und geschätzter Autor.

Magener sprach und schrieb über die Beweggründe, aus denen die Erwerbsstrategien eines Unternehmens wachsen: "Was unschöpferisch ist, bringt auf die Dauer keinen Gewinn." Seine Erfahrungen aus der Finanzierung von Investitionen und Erwerben führten zu der Einsicht: "Jeder Gewinn beginnt mit einem Verlust." Was er über das Phänomen der Entscheidung im Unternehmen und über die handelnden Personen sagte, beruhte auf den eigenen, am Fuß des Himalaja gewonnenen Erfahrungen der Lagerflucht:

"Die besten Gewinnchancen liegen im Bereich des noch Unbetretenen, Unerprobten, Gefährdeten. Wer Risiko ganz meidet, bringt es zu nichts. Wer es bedenkenlos sucht, scheitert meist an ihm. Der kluge Unternehmer wahrt das Gleichgewicht zwischen Kühnheit und Vorsicht . . . Weil Entscheiden eine Synthese von Denken und Tun ist, eignet sich derjenige zu diesem Geschäft, der in seiner Person den Denker und den Täter vereinigt. Geeignet ist, wer Urteilskraft besitzt. Wer nicht entscheiden kann, der kann auch nicht führen . . . Ansonsten frommt es dem Hause, wenn um seinen obersten Tisch höchst unterschiedliche Charaktere sitzen: Zauderer und Verwegene, Visionäre und Tagespolitiker, solche, die vor lauter Energie beben, und wieder andere, die phlegmatisch sind. Das ergibt eine großartige Komposition für abgewogene, weise Beschlüsse."

Nach seinem Abschied 1975 von der BASF, dem noch manche Tätigkeit, so auch für die deutsche Tochtergesellschaft des amerikanischen Bankhauses J. P. Morgan, folgte, beobachtete Magener mit fast väterlicher Freude den Werdegang von Männern, die er einst bei der BASF gefördert hatte. Manchmal hatte er im Aufzug im Ludwigshafener Verwaltungsgebäude junge Leute angesprochen, die ihm aufgefallen waren, und sie in sein Zimmer bestellt. Nicht selten entwickelte sich daraus eine Karriere. Die Nachwuchsförderung war Magener ein hochwichtiges Anliegen, sein Ressort eine regelrechte Kaderschmiede. Klaus Pohle (Schering AG) ging daraus hervor, Jürgen Kammer (Süd-Chemie), Ronaldo Schmitz (Deutsche Bank) oder auch Jürgen Strube, der heutige Vorstandsvorsitzende der BASF.

"Rolf Magener gab uns eine Chance", schrieben sie in das Nachwort zur Neuauflage seines Buchs. "Wir sind ihm dankbar verbunden." Und Jürgen Strube fügte an: "Hätte man mich bei meinem Eintritt in die BASF 1968 gefragt, wie ich meine Chancen beurteilte, einmal Vorsitzender des Vorstands der BASF zu werden, so wäre auch ich zu dem Schluss gekommen: Null!"

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