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Leseprobe aus »Estonia«

Von Terttu Pihlajamaa (18.02.1936 – 21.04.2009)

Übersetzung von Peter Uhlmann
Evangelische Verlagsanstalt, Seite 60/1 sowie 146-151

BEIM ABSCHIED UMARMTE ER UNS ALLE

vergrößernEin Jahr ist vergangen, seit Elmer Sillanpää von Borås nach Stockholm fuhr, um den Sarg seines Sohnes Leo Sillanpää abzuholen. Es war die schwerste Fahrt seines Lebens. Die Familie empfand es als eine große Erleichterung, dass Leo gefunden wurde, dass man ihn hier auf dem Friedhof an der Seite der Angehörigen begraben durfte. Doch noch immer hängt die Trauer wie ein dunkler Schleier über ihrem Zuhause. Für Mutter Annikki vergeht kein Tag ohne Tränen. Niemand hat die immer wiederkehrenden Fragen von Vater Elmer beantworten können.

»Es wäre gut, irgendwann zu erfahren, ob Gott in jener Nacht wirklich geschlafen hat. Und ich frage auch, ob vorbestimmt war, dass Leo durch solch ein Unglück sterben musste?«

Elmer erzählt, dass er anfangs verbittert war. Jetzt ist er nur noch müde. Krankheiten stellten sich ein. Sie waren vier Brüder, eine Schwester und die Mutter, als sie aus Vuokkoniemi in Weißmeerkarelien weggingen. Jetzt sind nur noch er und die Schwester übriggeblieben. Die anderen liegen alle dort auf dem Friedhof. Leo fand bei ihnen seinen Platz. Jahrzehntelang hat Elmer zusammen mit seinen Brüdern und Leo im Karelien-Club auf traditionelle karelische Art gekegelt und auf dem See gefischt. Jetzt ist seine Begeisterung fürs Fischen völlig erloschen. Das Boot liegt noch am Ufer.

»Wir hatten auch ein Haus. Vor einem Jahr haben wir es verkauft. Wir konnten uns nicht mehr um das Haus kümmern, wir haben es nicht mehr geschafft. Weil ich in den Nächten herumgelaufen bin und keinen Schlaf finden konnte. Nie hätte ich gedacht, dass ich meinen eigenen Sohn im besten Alter begraben muss.«

»Als die Sehnsucht schon ein bisschen nachließ, wurde die >Estonia<-Katastrophe im Fernsehen und Rundfunk wieder aufgerollt, vor allem am Jahrestag, am Donnerstag. Es war, als hatte man alle Wunden wieder aufgerissen«, sagt Annikki und weint dabei.

An der Wand hängt das gerahmte Bild eines schönen karelischen Hauses. Elmers Elternhaus in seinem Heimatdorf gibt es noch, die Kusine kümmert sich darum. Auf Elmers Gesicht tauchen die feinen Fältchen eines Lächelns auf. Plötzlich fliegt der Redestrom munter dahin. Elmer ist richtig aufgetaut, so wie es nur einem finnischen Mann ergeht, wenn er in einem fremden Land von seiner weit entfernten und geliebten Heimat erzählt. Er konnte sein Heimatdorf in diesem Jahrzehnt mehrere Male besuchen.

»Nach Finnland kam ich 1944, als es den separaten Waffenstillstand mit Russland schloss. Als dann die Regierung Leino anfing, die ehemaligen Bürger der Sowjetunion zu verfolgen, die aus Karelien, aus Ingermanland und den baltischen Ländern kamen, mussten wir Finnland 1948 Hals über Kopf verlassen. Man schickte uns zunächst als Flüchtlinge nach Haparanda in Schweden und, nachdem wir unsere Flüchtlingspässe erhalten hatten, weiter zur Forstarbeit nach Borlänge in der Nähe von Stora Tuna. Dort bekamen wir Kontakt zu einem jungen Mann aus unserem Heimatdorf, der in Borås wohnte. Er schrieb uns: >Hier gibt es Arbeit, hier kriegt man viel leichter einen Arbeitsplatz. Kommt hierher!< Seitdem wohnen wir hier.«

Annikki stammt aus Suomussalmi. Sie erzählt, dass sie nach Schweden ging, um »mal etwas mehr von der Welt zu sehen«. Die jungen Leute trafen sich in Borås bei Algots, dem größten schwedischen Konfektionsbetrieb. Es wurde geheiratet, und im Jahr darauf kam Leo, der Erstgeborene, zur Welt...

EIN DENKMAL WIE DER BUG EINES SCHIFFES

»Ein warmer Pfad
foIgt der Stimme
des tiefen, kalten Wassers.«

Miroslaw Balka

Miroslaw Balka, der 1958 in Warschau geboren wurde, gehört zu den international bekanntesten polnischen Künstlern der 90er Jahre. Er hatte viele Ausstellungen in verschiedenen Teilen der Welt, unter anderem in Schweden, in der Gallerie Nordenhaken und in der Londoner Tate Gallery.

Seinen Stil, der sich auf das Wesentliche beschränkt, hat Balka vielleicht vom Großvater geerbt, der war Steinmetz. Balka erzählt, dass auch sein Vater die Namen der Toten in die Grabsteine einmeißeln durfte. Er betont jedoch:

»Wir selbst geben dem Kunstwerk, das wir sehen, immer einen persönlichen Inhalt.«

Als die »Estonia« am 28. September 1994 sank, war Miroslaw Balka im Flugzeug unterwegs von Warschau nach Helsinki.

»lch saß bequem im weichen Sessel des Flugzeugs, während ein paar Tausend Meter unter mir die letzten Überlebenden gegen den Tod kämpften«, berichtet Balka.

Zwei Monate später bat der Staatliche Kunstrat Schwedens ihn und vier andere berühmte Künstler um Entwürfe für ein nationales Denkmal zum Gedenken an die 852 Opfer des »Estonia«-Unglücks. Balka stimmte zu, ist doch die Darstellung des Kampfes zwischen Leben und Tod stets der rote Faden in seiner Kunst gewesen.

Balkas Entwurf gewann den Wettbewerb mit 5 zu 2 Stimmen. Balka freute sich jedoch nicht übermäßig, als er erfuhr, dass die Wahl auf ihn gefallen war.

»Ich wäre nicht traurig gewesen, wenn ein anderer den Auftrag erhalten hätte. Ich bin mächtig aufgeregt, wenn ich daran denke, was das schwedische Volk wohl zu meiner Lösung sagen wird.«

Anfangs hatte Balka für das Denkmal 852 Stühle vorgesehen, einen für jeden Ertrunkenen. Im, endgültigen Entwurf sind nur zwei Stühle übrig geblieben. Das Denkmal sollte auf einem Hügel an der Bucht von Saltsjö errichtet werden. Vom Anlegesteg sollte ein 92 cm breiter und knapp achtzig Meter langer Pfad hoch zu den zwei Stühlen oben auf dem Hügel führen. In den mit weißem Zement ausgelegten Pfad sollten die Namen aller Opfer eingeschrieben werden.

Balka wollte auf den Hügel eine 190 cm hohe Säule, die mehr an einen Schornstein erinnern sollte, stellen. Er hatte vor, ein Stück von oben bis unten herauszubrechen und im oberen Teil des Schornsteins die genaue Lage der Stelle einzugravieren, an der die »Estonia« sank. Dieser »Schornstein« sollte durch ein unterirdisch neben dem Pfad verlaufendes Zementrohr mit dem Wasser der Meeresbucht Saltsjö verbunden sein. So sollte man am Rohrende im Schornstein die Geräusche des Meeres hören können.

Die Temperatur sowohl des Pfades als auch des Rohres sollte immer 37 Grad betragen und an die menschliche Körpertemperatur erinnern.

»Licht, Wärme und Offenheit sind die Grundgedanken bei dieser Arbeit«, sagt Balka.

Der Staatliche Kunstrat begründete seine Wahl u. a. mit folgenden Worten:

»Miroslaw Balka hat das ganze Gelände einbezogen, nutzt aber nur sehr wenig Bodenfläche. Der warme, lange Pfad verbindet das Wasser mit dem Land, das Tote mit dem Lebenden. Maßstab und Temperatur weisen auf den menschlichen Körper hin. Die Länge des Pfades drückt tiefe Sehnsucht aus. Mit seinem Denkmal macht Balka aus dem Hügel einen Ort nicht nur des Todes, sondern auch des Lebens.«

Wieder kann man fragen, ob die Gruppe vergessen wurde, die das alles wirklich betrifft. Gunnar Bendreus sieht die Denkmalpläne kritisch. Er ist Vorsitzender der internationalen Hilfsvereinigung der Angehörigen, der 3 000 Mitglieder angehören.

»Wir sind schockiert. Man hat uns nicht nach unserer Meinung gefragt. Unter den Angehörigen gibt es einen Künstler, der einen eigenen Entwurf vorgelegt hat, aber der wurde überhaupt nicht berücksichtigt.

Wir werden das Eingravieren der Namen der Toten verbieten. Unserer Meinung nach ist das eher ein Denkmal für gebrochene Versprechen. Deshalb müssten da die Namen von Ingvar Carlsson, Ines Uusman und der Mitglieder des Kunstrates eingraviert werden. Gerade sie sind es ja, die über unsere Köpfe hinweg entschieden haben.«

Nach Ansicht von Gunnar Bendreus sind die fünf Millionen Kronen für das Denkmal rausgeworfenes Geld.

»Wir haben ein einfaches Holzkreuz in Årsta, das ein Angehöriger errichtet hat. Das reicht uns.«

Am ersten Jahrestag hatte der Kunstrat seine Entscheidung für Balkas Entwurf bekannt gegeben. Erst einen Tag zuvor hatte er etwa zwanzig Vertreter der Vereinigungen der Angehörigen eingeladen, damit sie ihre Gedanken zu den Entwürfen äußern konnten.

Doch dann ist der Staatliche Kunstrat, dessen Entscheidung für Miroslaw Balkas Entwurf nicht einstimmig war, gezwungen gewesen, ihn um einen neuen Entwurf zu bitten, weil der erste mehr Platz verlangte, als die Königliche Verwaltung von Djurgården für das »Estonia«-Denkmal akzeptieren konnte.

Miroslaw Balkas Ahnung einer möglicherweise negativen Einstellung der Schweden zu seinem ersten Entwurf war nicht grundlos. Die Angehörigen empfanden es nämlich als abstoßend und verletzend, dass die Menschen auf die in den 80 Meter langen Pfad eingravierten Namen der Opfer treten würden.

© TageOlsin   http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/ Genau drei Jahre nach der Katastrophe wurde Balkas neuer Entwurf endlich als Nationales Denkmal im Stockholmer Djurgården enthüllt. Es heißt, das Monument stelle den Bug eines Schiffes dar, der sich zur Meeresbucht Saltsjö hin öffnet. Wenn sich der Spaziergänger dem Denkmal aus der Richtung Saltsjö nähert, kann er das Monument durch eine zwei Meter breite Öffnung im »Bug« betreten. Das Monument wird von drei hellgrauen, zweieinhalb Meter hohen Granitmauern gebildet, die ein wenig getrennt voneinander stehen. Auf der Innenseite der Mauern sind zu Hunderten zehn Zentimeter hohe Namen eingraviert. Ihre große Zahl macht mich vollkommen sprachlos:

Ich suche nach Namen, die für mich anfingen zu leben, als ich dieses Buch schrieb. Es sind viele. Alle Namen werden in Uhrzeigerrichtung gelesen, beginnend oben auf der ersten Wand über die zweite bis zum unteren Rand der dritten Wand, in alphabetischer Reihenfolge; es erinnert an eine Spirale. Zwischen den Namen findet man 35 leere Stellen. Manche Angehörige haben noch nicht entschieden, ob die Namen ihrer Verstorbenen in die Mauer eingraviert werden sollen.

Ein Mann läuft umher, anscheinend sucht er Reihe für Reihe durch. Schließlich muss er feststellen, dass der Name seiner Mutter nicht dabei ist.

Auf dem Innenhof des Denkmals, im hellgrauen Kies, strebt eine uralte Ulme gen Himmel. Um den Stamm ist ein Stahlband befestigt, auf dem mit Längen- und Parallelkreisen die Lage des Wracks der »Estonia« im Meer eingezeichnet ist. Die Ulme könnte das Leben symbolisieren, das weitergeht - trotz allem.

Das Eindrucksvollste und Schönste an dem Monument ist vielleicht, dass es sich auf der dem »Bug« gegenüberliegenden Seite nach Galär öffnet, Treppen führen zu diesem alten Friedhof der Seeleute. Das könnte den Aufstieg der 852 Menschen aus dem stockfinsteren, stürmischen Meer zum ewigen Licht, zu den Quellen des Lebens, zu Frieden und Windstille symbolisieren. Oder zeigen diese Treppen die Hoffnung des »Estonia-Volkes«, in gesegneter Erde begraben zu werden?

Die Angehörigen und Überlebenden bedauern, dass sie keine Information über die Einweihung erhalten haben. Sie wurden zu der Veranstaltung einfach nicht eingeladen. Arne Jonsson, der bei dem Unglück seine Frau verlor, erzählte, dass Dompröbstin Caroline Krook gesagt hat:

»Dieses Denkmal ist nicht für die Angehörigen. Es wurde für das Volk und für künftige Generationen errichtet.«

Von jetzt an ist das Denkmal der »Estonia«-Katastrophe ein fester Bestandteil der steinernen Mauer des Friedhofs Galär, wie ein Astknorren in einem Baumstamm, obwohl es nicht die Spur eines Bezugs zum Schatz der christlichen Symbolik enthält.

Als man den Platz für das Denkmal auswählte, wurde betont, dass er leicht erreichbar und ganz in der Nähe der Stadt liegen sollte. Djurgården ist sowohl bei den Stockholmern als auch bei Touristen und anderen Besuchern ein beliebtes Naherholungsgebiet. In der offenen Landschaft können Augen und Gedanken des Spaziergängers Ruhe finden. Im Westen grenzt das Gelände an das Wasa-Museum, im Norden an die Steinmauer des Friedhofs von Galdär, und im Süden dringt das Meer, der Saltsjö-See, weit ins Land hinein.

Nur ein Teil der Angehörigen legt heute Blumen an der Granitmauer des Denkmals nieder. Schon am Vorabend des dritten Jahrestages der Katastrophe organisierten viele Angehörigengruppen Demonstrationen in verschiedenen Teilen des Landes. Am Jahrestag selbst kamen zahlreiche Busse mit Angehörigen nach Stockholm. Zunächst nahmen die Menschen am Gedenkgottesdienst in der Kirche von Årsta teil und setzten dann den Augenblick des Gedenkens mit Blumen und Kerzen an dem einfachen Holzkreuz fort, das Hans Håkansson errichtet hat, der bei dem Unglück seine Frau verlor.

Der dritte Jahrestag der »Estonia«-Katastrophe erlischt in einem dunklen Herbstabend. Hunderte trauerschwere Schritte entfernen sich langsam vom Holzkreuz. Aber der Trauergesang, die am meisten geliebte, stille Melodie schwedischer Begräbnisse, bleibt noch einen Augenblick in der Nähe des Holzkreuzes und schwebt dann im Luftstrom über den Fels in Richtung Meer:

»Es verstrichen die Jahre, es raste die Zeit,
Generationen geraten in Vergessenheit.
Klar erhalten bleibt stets nur der Klang,
der himmlische, der Seelen Gesang.«

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