Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott
Die verborgene Einheit
von Allmacht und Liebe: Warum das Niedere vom Höheren aus verstanden
werden und nicht umgekehrt
Von
Robert Spaemann
Zu den
unsterblichen Metaphern für die Deutung der Situation des Menschen
gehört Platon Höhlengleichnis. Ganz vereinfacht, sieht das so aus:
Menschen sitzen in einer fensterlosen Höhle. Sie sind angekettet und
bücken auf eine Wand. Auf der Wand wird ein Schattenspiel gegeben,
sozusagen ein Höhlenkino, projiziert von einer den Zuschauern
unsichtbaren Lichtquelle hinter ihrem Rücken. Die Menschen kennen keine
andere Situation als diese. Sie können weder einander noch sich selbst
sehen. Das Filmgeschehen ist für sie die einzige Wirklichkeit. Mit Bezug
auf diese Wirklichkeit ereifern sie sich, stellen Mutmaßungen an,
stellen Theorien auf und machen Prognosen. Zwar geistert das Gerücht
herum, es gebe so etwas wie eine wahre Welt außerhalb der Höhle. Man hat
auch davon gehört, das Leben hier sei eine Gefangenschaft, es gebe die
Möglichkeit einer Befreiung. Man hat gehört von solchen, die in diese
wahre Welt gelangt seien. Aber deren Augen seien vom Sonnenlicht derart
geblendet worden, dass sie gar nichts sahen. Die Höhlenbewohner sträuben
sich deshalb mit Händen und Füßen, wenn jemand von draußen zurückkommt,
um sie zu befreien.
Platon
wollte mit diesem Gleichnis das Verhältnis der wahren Welt der Ideen zu
deren bloßem Abbild, der materiellen Welt, symbolisieren. Aber wir
können, ohne uns von Platons Absicht zu weit zu entfernen, die Deutung
des Gleichnisses ein bisschen abwandeln. Die Sonne ist ja für Platon das
Bild des substantiellen Guten, des höchsten Gutes, durch das alles
existiert und das alles Streben der Lebewesen letzten Endes motiviert.
Schon die Kirchenväter haben Platons Idee des Guten mit Gott
gleichgesetzt. In meiner Abwandlung sind wir selbst nicht nur die
Betrachter des Höhlenkinos, sondern die Mitspieler im Film. Unser Leben
- "das Licht der Menschen", wie es im Johannesevangelium heißt -
verdankt sich in jedem Augenblick dem Licht eines schöpferischen
Projektors und dessen Filmstreifen. Schöpferisch nenne ich den
Projektor, weil er Dinge und Lebewesen projiziert, die tatsächlich
belebt sind und in gewissem Rahmen sogar frei, sich so oder so zu
bewegen. Allerdings: Wie auch immer sie sich bewegen, der Filmemacher
und Projektor ist ihnen immer schon einen Schritt voraus. Er fügt die
Handlungen der Spieler in den Zusammenhang eines Ganzen, das er
bestimmt. Die eigentliche Ursache des ganzen Geschehens, der Projektor,
taucht natürlich im Film selbst nicht auf. Aber er ist die wahre Ursache
der ganzen Kette und aller ihrer Glieder. Schöpfung ist kein Ereignis,
auf das wir im Studium der Geschichte des Kosmos einmal stoßen werden.
"Schöpfung" bezeichnet das Verhältnis des ganzen Weltprozesses zu seinem
außerweltlichen Ursprung, dem göttlichen Willen.
dass es
sich so verhält, sagt ein altes Gerücht, das Gerücht von Gott.
Merkwürdigerweise waren die Menschen in die "innerfilmische", das heißt
die innerweltliche Wirklichkeit nie so verstrickt, dass sie für dieses
Gerücht unzugänglich gewesen wären. Ihr Bedürfnis zu verstehen wurde
durch das, was sie sahen, nicht befriedigt. Ludwig Wittgenstein, der
Vater der modernen Analytischen Philosophie, nennt es den "Aberglauben
der Moderne, die Naturgesetze erklärten uns die Welt, während sie doch
nur strukturelle Regelmäßigkeiten beschreiben". Diese Regelmäßigkeiten
haben nichts logisch Zwingendes, sie erklären weder sich selbst noch die
Welt. dass sie sich mathematisch formulieren lassen, war für
Naturwissenschaftler wie zum Beispiel für Einstein immer ein Grund des
Staunens und der Hinweis auf einen göttlichen Ursprung.
Die
Alternative lautet nicht wissenschaftliche Erklärbarkeit der Welt oder
Gottesglaube, sondern nur so: Verzicht auf Verstehen der Welt,
Resignation der Vernunft oder Gottesglaube. Der Rationalismus der
Aufklärung ist ja längst dem Glauben an die Ohnmacht der menschlichen
Vernunft gewichen, dem Glauben daran, dass wir nicht sind, wofür wir uns
halten, freie, selbstbestimmte Wesen. Der chrisdiche Glaube hat zwar den
Menschen nie für so frei gehalten, wie es der Idealismus tat, aber er
hält ihn auch nicht für so unfrei, wie es der heutige Szientismus tut.
Vernunft, Ratio heißt ja sowohl Vernunft wie Grund. Die
wissenschaftliche Weltanschauung hält die Welt und damit auch sich
selbst für grundlos. Der Glaube an Gott ist der Glaube an einen Grund
der Welt, der selbst nicht grundlos, also irrational ist, sondern
"Licht", für sich selbst durchsichtig und so sein eigener Grund.
Damit bin
ich bei der Frage: Was glaubt der, der an Gott glaubt? Er glaubt, dass
das Gute fundamentaler ist als das Böse. Er glaubt, dass das Niedere vom
Höheren aus verstanden werden muss und nicht umgekehrt. Er glaubt, dass
Unsinn Sinn voraussetzt und dass Sinn nicht eine Variante der
Sinnlosigkeit ist. Abstrakter, weniger rhetorisch heißt das: im Begriff
"Gott" denken wir die Einheit zweier Prädikate, die in unserer
Erfahrungswelt nur manchmal und niemals notwendig miteinander verbunden
sind: die Einheit der Prädikate "mächtig" und "gut", die Identität des
absolut Mächtigen und des absolut Guten, die Einheit von Sein und Sinn.
Diese Einheit ist für uns keine analytische Wahrheit. Sie versteht sich
nicht von selbst. Wer an Gott glaubt, glaubt, dass die beiden
Unbedingtheiten identisch sind: die Unbedingtheit dessen, was ist, wie
es ist, die Unbedingtheit des Faktischen und die Unbedingtheit des
Guten. Unbedingtheit des Faktischen: "Wie sich alles verhält, ist Gott.
Gott ist, wie sich alles verhält", heißt es bei Wittgenstein. Gegen das,
was ist, wie es ist, gibt es keinen Einspruch. "Den Willigen führt das
Schicksal, den Widerstrebenden schleift es mit sich", lautet ein Spruch
der Stoiker. "Inschallah", "wenn Gott will", sagen die Muslime, wenn sie
eine Absicht kundtun. Und das gleiche hat schon lange zuvor der Apostel
Jakobus empfohlen. Der Gläubige nimmt alles, was geschieht, aus der Hand
Gottes entgegen, und sei es auch, indem er mit Gott hadert. Hieb hadert
mit Gott wegen des Unglücks, das über ihn hereinbricht. Aber seiner
Frau, die ihm empfiehlt: "Sag Gott ab und stirb", antwortet er: "Der
Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Der Name des Herrn sei
gepriesen."
Aber was
bedeutet Unterwerfung unter das, was wir sowieso nicht ändern können?
Ist es nicht menschenwürdiger, wenigstens unsere Zustimmung zu
verweigern? Gut, aber wen interessiert das, wenn Gott nicht existiert,
wenn das Schicksal blind und das Universum gleichgültig ist gegen
Zustimmung ebenso wie gegen deren Verweigerung oder gar Protest? Wenn
Hiob gegenüber Gott protestiert, dann deshalb, weil er Gott als ein
Wesen denkt, zu dem es gehört, gut zu sein. Im Protest liegt noch die
Anerkennung dessen, gegenüber dem wir Protest einlegen. Hielte man ihn
für gleichgültig gegen irdisches Leid, dann hätte es keinen Sinn zu
protestieren.
Es ist
wichtig, das heute zu betonen, da sogar Priester, statt den Segen des
allmächtigen Gottes auf uns herabzurufen, nur vom "guten Gott" sprechen.
Die Rede vom guten Gott, vom Gott, der die Liebe ist, verliert ja ihre
überwältigende Pointe, wenn sie verschweigt, von wem hier gesagt wird,
er sei die Liebe, nämlich von der die Welt und unser Dasein tragenden
Macht. Denn nur eine solche Macht kann vom Tod retten. Der Gedanke einer
absoluten, unendlichen Liebe bleibt eine bloß regulative Idee, wenn in
ihm nicht die Einheit zweier Unbedingtheiten gedacht wird, der
Unbedingtheit des Faktischen, des Schicksals, und der Unbedingtheit des
Guten. Dieses, das Gute, tut sich uns nicht oder nur manchmal kund in
dem, was geschieht, sondern in der leisen, aber unerbittlichen Stimme
des Gewissens, der Stimme der praktischen Vernunft, deren Urteil uns oft
im Widerspruch zu stellen scheint zu dem, was faktisch geschieht. Aber
niemand in der Welt kann uns zwingen, das Böse gut und das Gute böse zu
nennen, auch wenn das Urteil des Gewissens keineswegs unfehlbar ist,
sondern das Gewissen ebenso wie die Vernunft, um wirklich vernünftig zu
urteilen, der Bildung und eventuell der Korrektur bedarf. Wer also
glaubt, dass das Gute und das Sein letzten Endes und im Grunde eins
sind, der glaubt nicht zwar gegen alle Vernunft, aber gegen den
Augenschein, er glaubt an den verborgenen Gott. Das Faktische ist uns
nicht verborgen. Vernunft und Gewissen machen es uns bekannt. Was uns
verborgen ist, obwohl es vernünftig ist, es zu glauben, das ist die
Einheit der beiden Unbedingtheiten, die Einheit von Macht und Sinn, von
Allmacht und Liebe.
Die
beiden Unbedingtheiten, die wir im Begriff Gottes denken, hat Thomas von
Aquin im Auge, wenn er von den beiden Willen Gottes spricht, dem
Gebotswillen und dem Geschichtswillen, also dem, wovon Gott will, dass
wir es wollen, und dem, wovon er will, dass es geschieht. Der
Geschichtswille ist uns verborgen. Wovon Gott will, dass es geschieht,
das wissen wir erst, wenn es geschehen ist. Wovon er will, dass wir es
wollen, das wissen wir jederzeit. Es ist das Sittliche, und darüber
belehren uns Vernunft und Gewissen oder auch die Zehn Gebote. Wovon Gott
will, dass es geschieht, das wissen wir nicht im Voraus und dürfen
deshalb auch nicht versuchen, es zu wollen und zu tun. Wir können uns
ihm nur unterwerfen. Dem Gebotswillen aber sollen wir gehorchen. Was
Thomas den absoluten Willen Gottes nennt, realisiert sich in der
Geschichte durch dauernde Übertretung seines Gebotswillens. "O
glückliche Sünde Adams!" singt die Kirche jedes Jahr in der Osternacht.
Die Frage
bleibt: Haben wir Grund anzunehmen, dass dem, was wir meinen, wenn wir
"Gott" sagen, etwas in der Realität entspricht? Wir hallen, wie Kant
sagt, ein "fehlerfreies Ideal von diesem höchsten Wesen", einen
"Begriff, welcher die ganze menschliche Erfahrung schließt und krönet".
Aber welchen Grund haben wir zu glauben, dass diesem Begriff, wie
wiederum Kant sagt, "objektive Realität" zukommt? Welchen Grund haben
wir zu glauben, dass unser Dank für einen strahlenden Morgen oder für
das Glück einer Liebe einen Adressaten hat und dass die Klagen der
Unglücklichen nicht in einem gleichgültigen Universum ohne Echo
verhallen? Angesichts der überwältigenden Allgemeinheit und Dauer des
Gerüchts von Gott und angesichts der Gotteserfahrung vieler Menschen
trägt derjenige die Begründungspflicht, der dieses Gerücht als
irreführend und diese Erfahrung als Einbildung abtut. Die Frage ist, hat
der Filmemacher in dem Film, in dem wir mitspielen, selbst seine
Signatur mehr oder weniger versteckt hinterlassen, so dass man, wenn man
will, sie finden kann?
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22..10.2006

Die
Spaßgesellschaft
Der Kampf gegen ihren
banalen Nihilismus ist das verzweifelte Bewusstsein davon, was es
bedeutet, wenn Gott nicht existiert
Von
Robert Spaemann
Das
Vermögen der Gottsuche ist die Vernunft. Nicht die instrumentelle
Vernunft, die uns, wie Nietzsche sagt, zu "findigen Tieren" macht,
sondern das Vermögen, mittels dessen der Mensch sich und seine Umwelt
überschreitet und sich auf eine ihm selbst transzendente Wirklichkeit
beziehen kann. Glauben, dass Gott ist, heißt, dass er nicht unsere Idee
ist, sondern dass wir seine Idee sind. Es bedeutet also "Umkehr" der
Perspektive, Bekehrung, wenn Gott ist, dann ist das das Wichtigste,
wichtiger, als dass wir sind. Es gibt eine große Geschichte der Bemühung
der Menschen, ihre Überzeugung von der Existenz Gottes durch rationale
Spurensuche zu stützen, zu festigen und zu rechtfertigen. dass die
Gottesbeweise samt und sonders strittig sind, besagt dabei nicht viel.
Würde von Beweisen in der Mathematik eine radikale Entscheidung über die
Orientierung unseres Lebens abhängen, dann wären auch diese Beweise
strittig.
Wir
können diese traditionellen Beweise in zwei Typen einteilen, den
ontologischen und den kosmologischen. Der ontologische Beweis, den
Anselm von Canterbury im 12. Jahrhundert ersann und der Descartes,
Leibniz und Hegel überzeugte, folgert, ohne auf irgendwelche empirischen
Gegebenheiten Bezug zu nehmen, aus dem Begriff Gottes seine
Wirklichkeit. Denn dieser Begriff ist der Begriff eines Wesens, über das
hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann. Ein solches Wesen aber
existiert per definitionem, weil ein wirklicher Gott vollkommener ist
als ein bloß gedachter. Der andere Beweis war zu allen Zeiten der
populärste. Er geht aus von der unbezweifelbaren Existenz
zielgerichteter Prozesse, also solcher Prozesse, die wir nur verstehen
können von einem Ende her, wie zum Beispiel den Flug der Vögel zum
Süden, den wir nur verstehen, wenn wir wissen, dass die Vögel dort
Nahrung finden. Die Vögel aber wissen das nicht. Also, so lautet der
Schluss, also muss es ein schöpferisches Bewusstsein geben, das diesen
Prozessen zugrunde liegt.
Eine
plötzliche grundlose Entstehung einer Welt aus nichts denken zu müssen
enthält eine Zumutung an die Vernunft, die alle anderen Zumutungen in
den Schatten stellt. Ebenso aber auch die Zumutung, eine unbeabsichtigte
Entstehung von Leben, von Trieb, von Innerlichkeit und Selbstbewusstsein
als Resultat materieller Prozesse zu denken, als Resultat zufälliger
Mutationen und der Selektion des Überlebens-dienlichen. Solche Prozesse
können Komplexitätssteigerungen hervorbringen. Aber sie können nicht
erklären, wie es zu einem "Aus-sein-auf" kommt, das wir in uns selbst
erleben und zumindest allen höheren Lebewesen zusprechen müssen. Wie
kommen Schmerz und Lust, wie kommt Negativität in eine Welt purer
Faktizität?
Der erste
Schlag gegen die Argumente zugunsten der Existenz Gottes wurde geführt
von Kant mit seiner These, dass unsere theoretische Vernunft und ihre
konstitutiven Instrumente, die Kategorien, nur dazu geeignet sind,
unsere Erfahrungen zu ordnen. Den entscheidenden Schlag aber führte
Nietzsche, indem er eine Voraussetzung prinzipiell in Frage stellte, die
allen traditionellen Gottesbeweisen als zugestanden zugrunde lag. Am
kürzesten hat der französische Philosoph Michel Foucault formuliert, was
erstmals Nietzsche dachte: "Wir dürfen nicht meinen, dass die Welt uns
ein lesbares Gesicht zuwendet." Was Nietzsche prinzipiell in Frage
stellte, war die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft und damit der Gedanke
von so etwas wie Wahrheit überhaupt. Dieser Gedanke hat für ihn nämlich
eine theologische Voraussetzung, die Voraussetzung, dass Gott ist. Nur
wenn Gott ist, gibt es etwas anderes als subjektive Weltbilder, so etwas
wie "Dinge an sich", von denen ja noch Kant gesprochen hatte. Es sind
die Dinge, wie Gott sie sieht. Wenn es den Blick Gottes nicht gibt, gibt
es keine Wahrheit jenseits unserer subjektiven Perspektiven. Die
Gottesbeweise kranken also an dem, was Logiker eine Petitio principii
nennen. Diese Beweise setzen genau das voraus, was sie beweisen wollen:
Gott.
Wer sagt
denn, dass wir nicht im Absurden leben? Zwar verwickeln wir uns damit in
Widersprüche, aber so ist es nun einmal. Wir müssen lernen, ohne
Wahrheit zu leben. Wenn die Aufklärung ihr Werk getan hat, schafft sie
sich selbst ab, denn, so schreibt Nietzsche, "auch wir Aufklärer, wir
freien Geister des 19. Jahrhunderts leben noch von dem Christglauben,
der auch der Glaube Platons war, dass die Wahrheit göttlich ist". Wenn
die Aufklärung sich selbst abgeschafft hat, heißt das Resultat
Nihilismus. Dieser aber schafft nach Nietzsches Sicht den notwendigen
Freiraum für einen neuen Mythos. Aber auch das kann man natürlich im
Grunde nicht sagen, da man Wahres überhaupt nicht sagen kann. Die Frage
ist nur noch, mit welcher Lüge man am besten lebt. Man kennt die
Geschichte von der Mauerinschrift "Gott ist tot. Nietzsche", unter die
jemand schrieb: "Nietzsche ist tot. Gott."
Aber
etwas bleibt von Nietzsche. Was bleibt, ist der Kampf gegen den banalen
Nihilismus der Spaßgesellschaft, ist das genaue und verzweifelte
Bewusstsein davon, was es bedeutet, wenn Gott nicht ist. Und was
theoretisch bleibt, ist die Einsicht in den inneren und untrennbaren
Zusammenhang des Glaubens an die Existenz Gottes mit dem Gedanken der
Wahrheit und der Wahrheitsfähigkeit des Menschen. Diese beiden
Überzeugungen bedingen einander. Wir wissen nicht, wer wir sind, ehe wir
wissen, wer Gott ist, aber wir können nicht von Gott wissen, wenn wir
die Spur Gottes nicht wahrnehmen wollen, die wir selber sind, wir als
Personen, als endliche, aber freie und wahrheitsfähige Wesen.
Die Spur
Gottes in der Welt, von der wir heute ausgehen müssen, ist der Mensch,
sind wir selbst. Aber diese Spur hat die Eigentümlichkeit, dass sie mit
ihrem Entdecker identisch ist, also nicht unabhängig von ihm existiert.
Wenn wir uns selbst nicht mehr glauben, wer und was wir sind, wenn wir
uns überreden lassen, wir seien nur Maschinen zur Verbreitung unserer
Gene, und wenn wir unsere Vernunft nur für ein evolutionäres
Anpassungsprodukt halten, das mit Wahrheit nichts zu tun hat, und wenn
uns die Selbstwidersprüchlichkeit dieser Behauptung nicht schreckt, dann
können wir nicht erwarten, dass uns irgend etwas von der Existenz Gottes
überzeugt. Denn diese Spur Gottes, die wir selbst sind, existiert nicht,
ohne dass wir es wollen, wenn auch - Gott sei Dank - Gott vollkommen
unabhängig davon existiert, ob wir ihn erkennen, von ihm wissen oder ihm
danken. Nur wir selbst sind es, die sich durchstreichen können. Der
Begriff der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der oft nur als eine
erbauliche Metapher benutzt wird, gewinnt heute eine ungeahnt genaue
Bedeutung. Gottebenbildlichkeit, das heißt Wahrheitsfähigkeit.
Ich
möchte das, was ich meine, dass nämlich Wahrheit Gott voraussetzt, an
einem letzten Beispiel verdeutlichen, an einem Gottesbeweis, der
sozusagen Nietzscheresistent ist, einem Gottesbeweis aus der Grammatik,
genauer aus dem sogenannten Futurum exactum. Das Futurum exactum, das 2.
Futur, ist für uns denknotwendig mit dem Präsens verbunden. Von etwas
sagen, es sei jetzt, ist gleichbedeutend damit, zu sagen, es sei in
Zukunft gewesen. In diesem Sinne ist jede Wahrheit ewig.
Wenn wir
heute hier sind, werden wir morgen hier gewesen sein. Das Gegenwärtige
bleibt als Vergangenheit des künftig Gegenwärtigen immer wirklich. Aber
von welcher Art ist diese Wirklichkeit? Man könnte sagen: in den Spuren,
die sie durch ihre kausale Einwirkung hinterlässt. Aber diese Spuren
werden schwächer und schwächer. Und Spuren sind sie nur, solange das,
was sie hinterlassen hat, als es selbst erinnert wird.
Solange
Vergangenes erinnert wird, ist es nicht schwer, die Frage nach seiner
Seinsart zu beantworten. Es hat seine Wirklichkeit eben im
Erinnertwerden. Aber die Erinnerung hört irgendwann auf. Und irgendwann
wird es keine Menschen mehr auf der Erde geben. Schließlich wird die
Erde selbst verschwinden. Da zur Vergangenheit immer eine Gegenwart
gehört, deren Vergangenheit sie ist, müssten wir also sagen: Mit der
bewussten Gegenwart - und Gegenwart ist immer nur als bewusste -
verschwindet auch die Vergangenheit, und das Futurum exactum verliert
seinen Sinn. Aber genau dies können wir nicht denken. Der Satz: "In
ferner Zukunft wird es nicht mehr wahr sein, dass wir heute abend hier
zusammen waren", ist Unsinn. Er lässt sich nicht denken. Wenn
gegenwärtige Wirklichkeit einmal nicht mehr gewesen sein wird, dann ist
sie gar nicht wirklich. Wer das Futurum exactum beseitigt, beseitigt den
Präsens.
Aber noch
einmal: Von welcher Art ist diese Wirklichkeit des Vergangenen, das
ewige Wahrsein jeder Wahrheit? Die einzige Antwort kann lauten: Wir
müssen ein Bewusstsein denken, in dem alles, was geschieht, aufgehoben
ist, ein absolutes Bewusstsein. Kein Wort wird einmal ungesprochen sein,
kein Schmerz unerlitten, keine Freude unerlebt. Geschehenes kann
verziehen, es kann nicht ungeschehen gemacht werden. Wenn es
Wirklichkeit gibt, dann ist das Futurum exactum unausweichlich und mit
ihm das Postulat des wirklichen Gottes. "Ich furchte", so schrieb
Nietzsche, "wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik
glauben." Aber wir können nicht umhin, an die Grammatik zu glauben. Auch
Nietzsche konnte nur schreiben, was er schrieb, weil er das, was er
sagen wollte, der Grammatik anvertraute.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29.10.2006

Der
Gottesbeweis
Warum wir, wenn es Gott
nicht gibt, überhaupt nichts denken können
Von
Robert Spaemann
Das
Gerücht von Gott liegt überall, wo Menschen sind, in wie deformierter
Gestalt auch immer, in der Luft. In der griechischen Philosophie wird es
erstmals begrifflich gedacht, in Israel verliert es erstmals seinen
Charakter als Gerücht und wird zu einer gemeinschaftlichen
Glaubenserfahrung, bis dann innerhalb Israels Jesus von Nazareth
auftritt und sagt: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen." Aber
die Frage bleibt: Entspricht diesem Gerücht etwas in der Realität? Wir
wissen, was wir meinen, wenn wir "Gott" sagen. Wir haben, wie Kant sagt,
ein fehlerfreies Ideal von diesem höchsten Wesen, einen "Begriff,
welcher die ganze menschliche Erfahrung schließt und krönet". Aber
welchen Grund haben wir zu glauben, dass diesem Begriff, wie wiederum
Kant sagt, "objektive Realität" zukommt? Welchen Grund haben wir zu
glauben, dass Gott mehr ist als eine Idee, welchen Grund haben wir zu
glauben, dass er existiert?
Es gibt
die negative Antwort auf diese Frage, den Atheismus, es gibt die
bekümmerte Feststellung, eine Antwort bisher nicht gefunden zu haben,
oder die agnostische Antwort, man könne eine solche Antwort aus
prinzipiellen Gründen nicht finden. Alle diese Antworten, so falsch sie
auch sind, verdienen den Respekt, den nun einmal menschliche
Überzeugungen verdienen, nicht weil sie wahr sind, sondern weil Menschen
sich mit ihnen identifizieren. Keinen Respekt verdient die heute
verbreitete, meist gar nicht klar artikulierte Ansicht, die Antwort auf
diese Frage sei nicht so wichtig, alles andere, was uns bewegt, sei
eigentlich wichtiger, und es lohne sich nicht, seine Zeit auf das
Nachdenken über Gott zu wenden. Wenn es Gott gebe und ein Leben nach dem
Tod, so würden wir das ja dann spätestens sehen. Ob jemand ein
anständiger Mensch sei, hänge sowieso nicht davon ab, ob er an Gott
glaubt oder nicht. Schließlich glaubten die moslemischen
Selbstmordattentäter auch an Gott, ja gerade dieser Glaube motiviere sie
zu ihren Verbrechen. Ich sage, dass diese Ansicht keinen Respekt
verdient. Denn sie zeigt, wie Sokrates einmal sagt, einen sehr
kümmerlichen Menschen. Was würden wir von einem Menschen sagen, der aus
verzweifelter Lage gerettet und dem Leben zurückgegeben und über dem ein
Füllhorn von Wohltaten ausgeschüttet wird, der sich aber im Unklaren
darüber ist, ob das Ganze Zufall oder das heimliche Geschenk eines
liebevollen Menschen ist? Und dieser Mensch würde sagen: "Diese Frage
interessiert mich nicht. Was ich habe, habe ich, und ob dahinter die
Liebe eines Gebers steht, ist mir egal, denn ich würde ihm sowieso nicht
danken." Ein Mensch, den wir achten, hat den Wunsch zu danken, wenn es
dafür einen Adressaten gibt. Und er würde alles daran setzen, um das
herauszufinden.
Und er
möchte auch klagen können, wenn es dafür einen Adressaten gibt. Es gibt
gewiss verschiedene Motive, die einen Menschen veranlassen, die Frage
nach Gott zu stellen. Das tiefste Motiv ist wohl dies: Danken können und
aus dem Dank leben können. Nicht umsonst ist das Wort für den
christlichen Gottesdienst "Dank", Eucharistia. Mit dem Dank verbindet
sich die Freude. Eine Annehmlichkeit ohne Geber kann sich mit
Befriedigung verbinden. Freude gibt es nur, wo es jemanden gibt, dem man
danken kann. Bei den zentralen Fragen des Menschen und bei den Fragen
der Philosophie, die diese Fragen methodisch und systematisch erörtert,
steht am Anfang, wie bei einem Gerichtsprozess, eine Entscheidung. Über
die Verteilung der Beweislast beziehungsweise der Begründungspflicht.
Angesichts der überwältigenden Allgemeinheit und Dauer des Gerüchts von
Gott trägt derjenige die Begründungspflicht, der dieses Gerücht als
irreführend abtut. Vor allem aber: Wenn wir Spuren eines Wesens suchen,
dann ist immer derjenige wichtiger, der eine Spur gefunden hat, als der,
der keine gefunden hat. Die Tatsache, dass jemand nie einen weißen Raben
gesehen hat, beweist nichts gegenüber dem, der einen gefunden hat. Jener
kann nicht sagen: "Es gibt keinen weißen Raben", bloß weil er noch
keinen gesehen hat. Wohl kann der, der einen gesehen hat, sagen, dass es
ihn gibt. "Niemand hat Gott je gesehen", schreibt der Evangelist
Johannes. Die Frage ist: Hat der Regisseur des Films, in dem wir
mitspielen, in dem Film selbst seine Signatur mehr oder weniger
versteckt hinterlassen, so dass man, wenn man will, sie finden kann?
Das
Vermögen der Gottsuche des Menschen ist die Vernunft. Nicht die
instrumentelle Vernunft, die uns, wie Nietzsche sagt, zu findigen Tieren
macht, sondern das Vermögen, kraft dessen der Mensch seine Umwelt
überschreiten und sich auf die Wirklichkeit selbst beziehen kann. Das
Vermögen, das uns auf See zu wissen erlaubt, dass in dem fernen, kaum
wahrnehmbaren Schiff am Horizont, das im Kontext unseres Lebens keine
Rolle spielt, Menschen sitzen, die ebenso wie wir in der Mitte ihres
Blickfeldes sind und für die wir nur am Rand des Horizontes erscheinen
und ebenfalls keine Rolle spielen. Glauben, dass Gott existiert, heißt
glauben, dass er nicht unsere Idee, sondern dass wir seine Idee sind. Es
bedeutet das, wozu Jesus auffordert: Umkehr der Perspektive, Bekehrung.
Wenn Gott ist, dann ist das das Wichtigste. Wichtiger als dass wir sind.
Aber dies wissen zu können, macht die Würde des Menschen aus, die ihn
von allen anderen Lebewesen unterscheidet.
Es gibt
eine große Geschichte der Bemühung von Menschen, ihre Überzeugung von
der Existenz Gottes durch rationale Spurensuche zu stützen. Selten ist
ein Mensch durch Gottesbeweise zum Glauben an Gott gekommen, obgleich
auch dies vorkommt. Aber Pascal lässt mit Recht Gott sagen: Du würdest
mich nicht suchen, wenn du mich nicht schon gefunden hättest. Und die
Gläubigen haben immer ihre intuitive Gewissheit durch rationale Gründe
zu festigen und zu rechtfertigen gesucht. dass die Gottesbeweise samt
und sonders strittig sind, bedeutet nicht viel. Würde von Beweisen
innerhalb der Mathematik eine radikale Entscheidung über die
Orientierung unseres Lebens abhängen, wären auch diese Beweise strittig.
Dennoch
sind die Gottesbeweise Beweise ad hominem, das heißt sie setzen immer
schon einen bestimmten Menschen und bestimmte Voraussetzungen als
zugestanden voraus. Leibniz, der wusste, was mein Beweis ist, schreibt
einmal, alle Beweise seien Beweise ad hominem. Einen Beweis, der bei den
Adressaten nichts als bereits zugestanden voraussetzt, gibt es nicht,
auch nicht in der Mathematik. Die Tatsache, dass die klassischen
Gottesbeweise von Aristoteles bis Descartes, Leibniz und Hegel ihre
Beweiskraft verloren zu haben scheinen, hängt damit zusammen, dass diese
Beweise sämtliche etwas als zugestanden voraussetzen, das zuerst Kant,
dann aber vor allem Nietzsche nicht zugestanden haben. Die Frage ist:
Was dürfen und müssen wir als zugestanden voraussetzen, um Gründe für
den Glauben an die Wirklichkeit Gottes einleuchtend zu finden?
Wenden
wir uns zunächst kurz den traditionellen Gottesbeweisen zu. Wir können
sie in zwei Gruppen einteilen, den sogenannten ontologischen
Gottesbeweis, den der heilige Anselm von Canterbury im 12. Jahrhundert
erdacht, den Thomas von Aquin und Kant zurückgewiesen, der aber große
Geister wie Descartes, Leibniz und Hegel überzeugt hat. Das anselmsche
Argument folgert, ohne auf irgendeine geschaffene Welt Bezug zu nehmen,
aus dem bloßen Begriff Gottes seine Wirklichkeit, denn dieser Begriff
meint jenes Wesen über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden
kann. Mit dem Gedanken eines solchen Wesens aber haben wir bereits die
bloße Immanenz unseres Denkens gesprengt und transzendiert, denn, so
argumentiert Anselm: "Ein wirklicher Gott wäre, eben weil er wirklich
ist, größer, vollkommener als ein bloß gedachter Gott." Wir müssen Gott
also sozusagen per definitionem als wirklich denken. Thomas wendet
dagegen ein, dass auch der Gedanke von Gott als einem jenseits unseres
Gedankens Existierendem doch wiederum nur ein Gedanke sei. Ähnlich
argumentiert Kant, wenn er schreibt, reale Existenz sei nicht eine
Eigenschaft, ein Merkmal, das zu anderen Merkmalen hinzukäme. Es gibt
auch im 20. Jahrhundert scharfsinnige Philosophen, die Anselms Argument
nach wie vor schlüssig finden und verteidigen.
Die
Argumente des heiligen Thomas nun, die berühmten fünf Werke, kann ich
hier nicht im Einzelnen vorführen. Sie gehen alle von der Existenz der
Welt aus, in der sie Spuren des Schöpfers entdecken. Ich erwähne hier
nur zwei dieser Argumente. Das eine, der sogenannte Kontingenzbeweis,
geht aus von der Tatsache, dass die Dinge und Ereignisse dieser Welt,
aber auch die Naturgesetze keinerlei innere Notwendigkeit besitzen.
Alles könnte auch anders sein, als es ist. Das Zufällige aber kann es
nur auf dem Hintergrund des Notwendigen geben. Es muss einen Grund dafür
geben, dass es ist, wie es ist, wenn das Denken nicht kapitulieren soll.
Das Sein aber, das auf Grund seiner eigenen inneren Notwendigkeit ist,
nennen wir Gott.
Der
andere Beweis war zu allen Zeiten der volkstümlichste. Er geht aus von
der unbezweifelbaren Existenz zielgerichteter Prozesse, wie des
Wachstums von Pflanzen und Tieren - Prozessen also, die nur verstehbar
sind von ihrem Ende her. So können wir den Flug der Vögel im Winter nach
Afrika nur verstehen, wenn wir wissen, dass sie dort Nahrung finden.
Aber, so sagt Thomas, die Vögel selbst wissen das nicht, und noch
weniger kennt die Pflanze das Programm, das ihr Wachstum steuert. Das
Ziel ist nicht im abgeschlossenen Pfeil, sondern im Geist des Schützen.
Es muss also, um die zielgerichteten Naturprozesse zu verstehen, einen
Schützen geben, also einen Schöpfer, der den Dingen die Richtung auf das
für sie Gute hin eingestiftet hat, denn nur als bewusstes kann ein Ziel
sozusagen nach rückwärts wirken und Kausalprozesse in Gang setzen und
koordinieren, weil das Bewusstsein des Zieles dem Prozess vorausgeht.
Der erste
Schlag gegen die Gottesbeweise wurde von Kant geführt mit der These,
dass unsere theoretische Vernunft und ihre konstitutiven Instrumente,
die Kategorien, nur geeignet sind, unsere sinnlichen Erfahrungsdaten zu
ordnen. In diesem Rahmen hat auch die Gottesidee eine systematisierende
Funktion. Aber für die theoretische Vernunft gilt das Wort Humes "We
never do one step beyond ourselves."
Die
Vernunft ermächtigt uns nicht, etwas über die Wirklichkeit selbst zu
sagen und also auch nicht über Gott, insofern er mehr ist als eine Idee.
Nur die praktische Vernunft, nur die Gewissenserfahrung veranlasst, ja
verpflichtet uns zu der Annahme, die Existenz eines Wesens anzunehmen,
das beide Unbedingtheiten, die des Seins und die des guten Miteinander,
vereint und garantiert, dass der Lauf der Welt den guten Willen nicht ad
absurdum führt. "Ich musste das Wissen einschränken, um für den Glauben
Platz zu schaffen", schreibt Kant. Hegel hat dann moniert, dass Kant
einen zu eingeschränkten Begriff von Vernunft habe, eingeschränkt
nämlich auf die Vernunft der neuzeitlichen Naturwissenschaft, für die,
wie ich schon zu zeigen versuchte, Gott kein möglicher Gegenstand sein
kann.
Den
entscheidenden Schlag aber führte Nietzsche, indem er eine Voraussetzung
prinzipiell in Frage stellte, die allen traditionellen Gottesbeweisen
als zugestanden zugrunde lag, die Voraussetzung der Intelligibilität der
Welt. Am kürzesten hat Michel Foucault formuliert, was Nietzsche dachte:
"Wir dürfen nicht meinen, dass die Welt uns ein lesbares Gesicht
zuwendet." Was Nietzsche prinzipiell in Frage stellte, war die
Wahrheitsfähigkeit der Vernunft und damit der Gedanke von so etwas wie
Wahrheit überhaupt. Dieser Gedanke hat für ihn nämlich eine theologische
Voraussetzung, die Voraussetzung, dass Gott ist. Nur wenn Gott ist, gibt
es etwas anderes als subjektive Weltbilder, so etwas wie "Dinge an
sich", von denen ja noch Kant gesprochen hatte. Es sind die Dinge, wie
Gott sie sieht. Wenn es den Blick Gottes nicht gibt, gibt es keine
Wahrheit jenseits unserer subjektiven Perspektiven. Nietzsche spricht
vom Glauben Platons, der auch der Glaube der Christen ist, dem Glauben,
dass Gott die Wahrheit, dass die Wahrheit göttlich ist. Die
Gottesbeweise kranken also sämtlich an dem, was die Logiker eine "petitio
principii" nennen. Diese Beweise setzen genau das voraus, was sie
beweisen wollen: Gott.
Stimmt
das? Ja und nein. Theoretisch stimmt es nicht. Thomas von Aquin setzt
zwar bei den fünf Wegen niemals irgendeine These über die logische
Struktur der Welt und die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft voraus. Aber
er setzt sie stillschweigend voraus. dass diese Voraussetzung letzten
Endes in Gott ihren Grund hat, ist für ihn ontologisch klar, aber das
geht in die erkenntnistheoretische Reflexion nicht ein. Wo es um die
Frage der Geltung der ersten Prinzipien unseres wahrheitsfunktionalen
Denkens geht, da argumentiert er einfach, wie Aristoteles mit der
reductio ad absurdum des Gegenteils. Wer die Wahrheitsfähigkeit der
Vernunft, wer die Geltung des Widerspruchprinzips leugnet, der kann
überhaupt nichts mehr sagen. Ja, sogar die These, es gebe keine
Wahrheit, setzt Wahrheit zumindest für diese These voraus. Sonst landen
wir im Absurden. Hier aber setzt Nietzsche ein mit dem Einwand: Wer sagt
denn, dass wir nicht im Absurden leben? Zwar verwickeln wir uns damit in
Widersprüche, aber so ist es nun einmal. Die Verzweiflung der Vernunft
an sich selbst kann sich nicht noch einmal in logisch konsistenter Form
artikulieren. Wir müssen lernen, ohne Wahrheit zu leben. Wenn die
Aufklärung ihr Werk getan hat, schafft sie sich selbst ab, denn, so
schreibt Nietzsche, "auch wir Aufklärer, wir freien Geister des 19.
Jahrhunderts leben noch von dem Christenglauben, der auch der Glaube
Platons war, dass Gott die Wahrheit, dass die Wahrheit göttlich ist".
Wenn die
Aufklärung sich selbst abgeschafft hat, heißt das Resultat Nihilismus.
Dieser aber schafft nach Nietzsche den notwendigen Freiraum für einen
neuen Mythos. Aber auch das kann man im Grunde nicht sagen, da man
Wahres überhaupt nicht sagen kann. Die Frage ist nur, mit welcher Lüge
man am besten lebt.
Eine
bekannte Mauerinschrift lautet: "Gott ist tot. Nietzsche". Unter sie
schrieb jemand: "Nietzsche ist tot. Gott". Aber etwas bleibt von
Nietzsche: Der Kampf gegen den banalen Nihilismus der Spaßgesellschaft,
das genaue und verzweifelte Bewusstsein davon, was es bedeutet, wenn
Gott nicht ist. Und was theoretisch bleibt, ist die Einsicht in den
inneren und untrennbaren Zusammenhang des Glaubens an die Existenz
Gottes mit dem Gedanken der Wahrheit und der Wahrheitsfähigkeit des
Menschen. Diese beiden Überzeugungen bedingen sich. Wenn einmal der
Gedanke, im Absurden zu leben, aufgetaucht ist, ist die bloß
erkenntnistheoretische reductio ad absurdum keine Widerlegung mehr. Wir
können nicht mehr auf dem sicheren Grund der Wahrheitsfähigkeit des
Menschen Beweise für die Existenz Gottes führen, denn dieser Grund ist
nur sicher unter der Voraussetzung der Existenz Gottes. Wir können also
nur noch beides zugleich haben. Wir wissen nicht, wer wir sind, ehe wir
wissen, wer Gott ist, aber wir können nicht von Gott wissen, wenn wir
die Spur Gottes nicht wahrnehmen wollen, die wir selber sind, wir als
Personen, als endliche, aber freie und wahrheitsfähige Wesen. Die Spur
Gottes in der Welt, von der wir heute ausgehen müssen, ist der Mensch,
sind wir selbst.
Aber
diese Spur hat die Eigentümlichkeit, dass sie mit ihrem Entdecker
identisch ist, also nicht unabhängig von ihm existiert. Wenn wir, als
Opfer des Szientismus, uns selbst nicht mehr glauben, wer und was wir
sind, wenn wir uns überreden lassen, wir seien nur Maschinen zur
Verbreitung unserer Gene, und wenn wir unsere Vernunft nur für ein
evolutionäres Anpassungsprodukt halten, das mit Wahrheit nichts zu tun
hat, und wenn uns alle Selbstwidersprüchlichkeit dieser Behauptung nicht
schreckt, dann können wir nicht erwarten, irgend etwas könne uns von der
Existenz Gottes überzeugen. Denn, wie gesagt, diese Spur Gottes, die wir
selbst sind, existiert nicht, ohne dass wir es wollen, wenn auch - Gott
sei Dank - Gott vollkommen unabhängig davon existiert, ob wir ihn
erkennen, von ihm wissen oder ihm danken. Nur wir selbst sind es, die
sich durchstreichen können.
Der
Begriff der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, der oft nur als eine
erbauliche Metapher benutzt wird, gewinnt heute eine ungeahnt genaue
Bedeutung. Gottesebenbildlichkeit, das heißt: Wahrheitsfähigkeit. Wobei
die Liebe nichts anderes ist als die getane Wahrheit. Liebe kann man ja
übersetzen in: Wirklichwerden des Anderen für mich. Kein Begriff hat für
die neutestamentliche Botschaft eine so zentrale Bedeutung wie der
Begriff der Wahrheit. "Dazu bin ich geboren und die Welt gekommen, dass
ich von der Wahrheit Zeugnis gebe", antwortet Christus auf die Frage des
Pilatus, ob er ein König sei. Diese Antwort steht bis heute neben der
des Pilatus: "Was ist Wahrheit?" Die Personalität des Menschen steht und
fällt mit seiner Wahrheitsfähigkeit. Sie wird heute von Biologen,
Evolutionstheoretikern und Neurowissenschaftlern in Frage gestellt. Ich
kann in die hier aufgebrochene Diskussion nicht eintreten. Nur soviel
möchte ich sagen: Jede rein spiritualistische Sicht des Menschen wird
heute vom Naturalismus eingeholt.
Für den
Naturalismus aber ist Erkenntnis nicht das, wofür sie sich hält.
Erkenntnis belehrt uns nicht über das, was ist, sondern besteht in
überlebensdienlichen Anpassungen an die Umwelt. Aber wie können wir das
wissen, wenn wir nichts wissen können? dass der Mensch ganz und gar
Natur, ein natürliches Wesen ist und aus untermenschlichem Leben
hervorgegangen ist, das ist für das Selbstverständnis des Menschen nur
dann nicht tödlich, wenn die Natur ihrerseits von Gott geschaffen ist
und die Hervorbringung des Menschen einer göttlichen Absicht entspricht.
Dazu ist es nicht nötig, den Evolutionsprozess, den ich lieber mit
Darwin als Deszendenzprozess bezeichne, als telelogischen Prozeß zu
verstehen, das heißt, dass in ihm nicht der Zufall der Generator des
Neuen ist. Was naturwissenschaftlich gesehen Zufall ist, kann ebenso
göttliche Absicht sein wie das, was für uns als zielgerichteter Prozess
erkennbar ist. Gott wirkt ebenso durch Zufall wie durch Naturgesetze.
Biologen sprechen von "Fulguration" und "Emergenz", um das Unerklärbare
durch Worte zu beschwören. An Gott glauben bedeutet, für dieses
Auftreten des Neuen einen Namen zu haben, der das Neue nicht im Grunde
nur auf das Alte reduziert, den Namen "Schöpfung" nämlich.
Wahrheitsfähigkeit läßt sich verstehen nur als Schöpfung.
Ich
möchte das was ich meine, dass nämlich Wahrheit Gott voraussetzt, an
einem letzten Beispiel verdeutlichen, an einem Gottesbeweis, der
sozusagen nietzscheresistent ist, einem Gottesbeweis aus der Grammatik,
genauer aus dem sogenannten Futurum exactum. Das Futurum exactum, das
zweite Futur, ist für uns denknotwendig mit dem Präsens verbunden. Von
etwas sagen, es sei jetzt, ist gleichbedeutend damit zu sagen, es sei in
Zukunft gewesen. In diesem Sinne ist jede Wahrheit ewig. dass am Abend
des 6. Dezember 2004 zahlreiche Menschen in der Hochschule für
Philosophie in München zu einem Vortrag über Rationalität und
Gottesglaube versammelt waren, das nicht nur an jenem Abend wahr, das
ist immer wahr. Wenn wir heute hier sind, werden wir morgen hier gewesen
sein. Das Gegenwärtige bleibt als Vergangenheit des künftig
Gegenwärtigen immer wirklich. Aber von welcher Art ist diese
Wirklichkeit? Man könnte sagen: in den Spuren, die sie durch ihre
kausale Einwirkung hinterlässt. Aber diese Spuren werden schwächer und
schwächer. Und Spuren sind sie nur, solange das, was sie hinterlassen
hat, als es selbst erinnert wird.
Solange
Vergangenes erinnert wird, ist es nicht schwer, die Frage nach seiner
Seinsart zu beantworten. Es hat seine Wirklichkeit eben im
Erinnertwerden. Aber die Erinnerung hört irgendwann auf, und irgendwann
wird es keine Menschen mehr auf der Erde geben. Schließlich wird die
Erde selbst verschwinden. Da zur Vergangenheit immer eine Gegenwart
gehört, deren Vergangenheit sie ist, müssten wir also sagen: mit der
bewussten Gegenwart - und Gegenwart ist immer nur als bewusste -
verschwindet auch die Vergangenheit, und das Futurum exactum verliert
seinen Sinn. Aber genau dies können wir nicht denken. Der Satz: "In
ferner Zukunft wird es nicht mehr wahr sein, dass wir heute Abend hier
zusammen waren" ist Unsinn. Er läßt sich nicht denken. Wenn wir einmal
nicht mehr hier gewesen sein werden, dann sind wir tatsächlich auch
jetzt nicht wirklich hier, wie es der Buddhismus denn auch
konsequenterweise behauptet. Wenn gegenwärtige Wirklichkeit einmal nicht
mehr gewesen sein wird, dann ist sie gar nicht wirklich. Wer das Futurum
exactum beseitigt, beseitigt das Präsens.
Aber noch
einmal: Von welcher Art ist diese Wirklichkeit des Vergangenen, das
ewige Wahrsein jeder Wahrheit? Die einzige Antwort kann lauten: Wir
müssen ein Bewusstsein denken, in dem alles, was geschieht, aufgehoben
ist, ein absolutes Bewusstsein. Kein Wort wird einmal ungesprochen sein,
kein Schmerz unerlitten, keine Freude unerlebt. Geschehenes kann
verziehen, es kann nicht ungeschehen gemacht werden. Wenn es
Wirklichkeit gibt, dann ist das Futurum exactum unausweichlich, und mit
ihm das Postulat des wirklichen Gottes. "Ich fürchte", so schrieb
Nietzsche, "wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik
glauben." Aber wir können nicht umhin, an die Grammatik zu glauben. Auch
Nietzsche konnte nur schreiben, was er schrieb, weil er das, was er
sagen wollte, der Grammatik anvertraute.
Die Welt vom 26.03.2005
|