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Vorüberlegungen zu einer Didaktik des ökumenischen Lernens

Von Klaus A. Baier

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Inhalt

1. Bemerkungen zum ökumenischen Lernbegriff

2. Bemerkungen zur Krise des ökumenischen Lernbegriffs 

3. "Einheit in der Finsternis". Bemerkungen zum hermeneutischen Rahmen einer ökumenischen Didaktik
    
     3.1
     3.2

4. Thesen zur Didaktik des ökumenischen Lernens

   These 1

   These 2  

   These 3

   These 4

   These 5

These 6

These 7

These 8

These 9

These 10

These 11

These 12

These 13

These 14

These 15

 

Vorüberlegungen zu einer Didaktik des ökumenischen Lernens

Von Klaus A. Baier

1. Bemerkungen zum ökumenischen Lernbegriff

Klaus A. BaierLernen hat in der ökumenischen Bewegung früh eine Rolle gespielt. In der Tradition des Humanismus und der europäischen Aufklärung haben insbesondere die reformatorischen Kirchen Europas und Nordamerikas die Lernfähigkeit des Menschen auch in Fragen des Glaubens hervorgehoben. Es liegt nahe, die Wurzeln ihres Lernkonzepts im westlich-abendländischen philosophisch-pädagogischen Erbe zu suchen. Da sie in der ökumenischen Bewegung der Kirchen insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine dominante Rolle spielten, haben sie den Lernbegriff mit den Anliegen der ökumenischen Bewegung verbunden und von Anfang an zentral gestellt, um die zwischenkirchlichen Beziehungen und die Probleme des Zusammenwachsens der Menschheit in der einen Welt zu bearbeiten.

Der westlich-abendländische Lernbegriff verband sich etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts nach dem Misslingen des Leibniz'schen Konzepts von der das Übel als hinzunehmendes Leid erklärenden Theodizee zunehmend mit der durch Fichte zuerst beschworenen und von Hegel geschichtsphilosophisch ausgearbeiteten Vision von der endgültigen Überwindung allen Übels durch das entschlossene Handeln des Menschen, der gleichsam als allmächtiger Schöpfer der Geschichte alle Hindernisse beseitigt, die der Vollendung der heilen Welt entgegenstehen. Der diesem Konzept entsprechende Entwicklungsgedanke stellt nicht die nur teilweise zu kompensierenden Mängel und Leiden, die Menschen jeden Zeitalters erdulden müssen, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern die Triumphe über alle Übel, zu denen sie siegend eilen. In dieser Geschichtsphilosophie, die später von Marx ins Revolutionsphilosophische gewendet wurde, ist der Mensch das "triumphierende Lebewesen", das lernen muss, das Übel durch sein Handeln nachhaltig zu kompensieren und dereinst alle Mängel der Welt-Geschichte im "finalen Triumph ... durch Vollendung der heilen Welt" zu überwinden. Lernen heißt dann, den Einzelnen zur aktiven Teilhabe am Prozess der Weltgeschichte als Heilsgeschichte zu befähigen.

Der ökumenische Lernbegriffs entstand in diesem Zusammenhang. Gerade jene erzieherischen Impulse der ökumenischen Bewegung, die zum Konzept des ökumenischen Lernens beitrugen, sind vom westlich-abendländischen Lernoptimismus durchdrungen und brachten in ihren didaktischen Konzepten die biblische Reich-Gottes Vorstellung mit dem erwähnten geschichtsphilosophischen Ansatz zusammen. Die in der ökumenischen Bewegung zusammengeschlossenen Kirchen selbst verstanden sich als Faktor der kommenden Weltgesellschaft und betonten, auf dem Weg der wachsenden Einheit selbst eine Lerngemeinschaft zu sein. Es gehe um die von allen Gliedern der christlichen Gemeinde zu praktizierende Einübung in einen das konkrete Handeln und Verhalten prägenden ökumenischen "Lebensstil" als gegenwärtiges "Zeichen" des aller Welt in Jesus Christus eröffneten Schalom Gottes. Im ökumenischen Lernen geht es um die Befähigung zur Teilnahme an der Transformation der Welt im Sinne der Impulse der Reich-Gottes Botschaft.

Die in Uppsala 1968 angeregte und von der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung im ÖRK zwischen 1968 und 1975 durchgeführte Studienarbeit zum Thema "Einheit der Kirche – Einheit der Menschheit" führt zu einer Ausweitung des Ökumeneverständnisses, das nun nicht mehr vorrangig auf die Einheit der Kirche ausgerichtet ist, sondern die Zukunft der bewohnten Erde (oikoumene) in den Blick nimmt. Im ökumenischen Lernen geht es dann um die Verschränkung des Welthorizonts (oikoumene) mit der konkreten örtlichen Situation "zu Hause" (oikos).

Unter oikoumene wird nun das Gesamt der bewohnten Welt verstanden samt ihren biologischen und geologischen Voraussetzungen. Oikos ist jener Bereich in der oikoumene, der für eine Gruppe von Menschen den sie prägenden Lebenszusammenhang ausmacht. Ökumene wird als Bewegung verstanden, die oikos und oikoumene miteinander in Beziehung setzt. Nach diesem Verständnis umfasst Ökumene alle Bemühungen der Inbeziehungsetzung von "eigenem Haushalt" und "bewohnter Erde" im Sinne der Intention, von der sich die ökumenische Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend hat bestimmen lassen: die Trennung der Einen Kirche und die Spaltungen in der Einen Menschheit zu überwinden und die gemeinsame Zukunft auf der Erde im Sinne des in Jesus Christus geoffenbarten Zeugnisses vom anbrechenden Reich Gottes zu gestalten.

Die theologische Begründung für das ökumenische Lernen und Handeln sieht man daher denn auch in der biblischen Verheißung des Schalom Gottes, den er Israel zugesagt und in Jesus Christus "allem Volk" eröffnet hat. In diesem Sinne wird die Verschränkung des eigenen oikos mit der oikoumene als biblisch in der Verschränkung der Geschichte Israels mit dem ganzen Erdkreis zugrundegelegt angesehen. Im ökumenischen Lernen verwirklicht die Kirche ihre Teilhabe an der Weltzuwendung Gottes. Es ereignet sich dort, wo der Zusammenhang von Glauben, Leben und Lernen immer wieder neu gesucht und hergestellt wird (G. Collet). In diesem Zusammenhang beschäftigt sich die Didaktik als Gesamttheorie schulischer und außerschulischer Lernprozesse a) mit den Lernvoraussetzungen (z.B. den konkreten Lebensumständen der Lernenden, ihrer kulturellen Partizipation, ihren Persönlichkeitsmerkmalen usw.), b) der Lernsituation (z.B. den Inhalten, den Methoden und Medien, ihren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen usw.) und c) den Lehrvoraussetzungen (also jenen Dispositionen, die das Verhalten des Lehrenden in der Lernsituation beeinflussen, z.B. seine konkrete "Lebenswelt"). Die Perspektive einer Didaktik des ökumenischen Lernens wird dabei durch den Lebens- und Entdeckungszusammenhang des Ökumenischen (verstanden im Sinne des perichoretischen Verflochtenseins von oikos und oikoumene) bestimmt.

Daraus ergibt sich die Grundfrage allen ökumenischen Lernens: Wie können Einzelne und Gemeinden einerseits mit der Differenz von oikos und oikoumene leben lernen, andererseits die sich hier notwendig ergebende Spannung in einen ökumenischen Existenzentwurf integrieren, so dass ihr Leben dem ökumenischen Apriori entspricht, nämlich zum einen zur Gemeinschaft und Einheit der Kirchen beizutragen und an ihrer universalen Sendung teilzunehmen, zum anderen Einheit und Gemeinschaft in der Welt zu stiften und zukünftig zu erhalten? Insbesondere unter Aufnahme der Arbeiten Ernst Langes und Paulo Freires ist das Anliegen der ökumenischen Bildungsarbeit seit Mitte der 70er Jahre in Deutschland sowohl von der evangelischen als auch der katholischen Religions- und Gemeindepädagogik als "Ökumenisches Lernen" rezipiert worden.

Seitdem wird die Forderung, dass nicht nur die Religionspädagogik, sondern die Praktische Theologie insgesamt ihre Zielsetzung unter das Leitmotiv des Ökumenischen stellen müsse, immer wieder erhoben. Mehr noch: wenn mit dem Begriff "ökumenisch" die Aufgabe der ganzen Kirche beschrieben wird, oikos und oikoumene in der Verkündigung des Evangeliums aufeinander zu beziehen, dann wird der ökumenische Aspekt zu einer formalen Intention, die in allen theologischen Disziplinen wirksam werden soll.

Ökumenisches Lernen wird von denen, die es vertreten, als ein pädagogisches Konzept verstanden, herkömmlichen Aufgaben, aber auch neuen Herausforderungen, denen sich Christen heute stellen müssen, zu begegnen. Die Perspektive, auf die hin dieses Lernen erfolgt, ist die "Bewohnbarmachung der ganzen bewohnten Erde für alle Menschen und orientiert sich an der Idee einer weltweiten Gerechtigkeit." Klaus Goßmann fasst das Ziel ökumenischen Lernens denn auch so zusammen: "Ökumenisches Lernen meint ein Lernen im Horizont der Einen Kirche und geschieht im Modus der brüderlich-schwesterlichen Solidarität für die gesamte Kirche, verstanden als das eine wandernde Gottesvolk. Es meint zugleich ein Lernen im Horizont der Einen Menschheit und geschieht im Modus der Mitverantwortung für die Zukunft".

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2. Bemerkungen zur Krise des ökumenischen Lernbegriffs

Ein Durchgang durch die Geschichte des ökumenischen Lernbegriffs zeigt, dass das vom ÖRK formulierte Einheitsverständnis und das von ihm mit auf den Weg gebrachte ökumenische Lernprojekt ein tief im Lernoptimismus der abendländischen (insbesondere der von der mitteleuropäischen Aufklärung geprägten) Tradition gegründetes Unternehmen ist, das je länger je mehr auf Widerstand vor allem bei Vertretern der "südlichen Länder", aber auch mancher (östlichen) orthodoxen Kirchen stößt. Ökumenisches Lernen erweist sich in dieser Tradition als Funktion der eschatologisch vermittelten Hoffnung auf die Realisierung der Einen Menschheit in der Einen Welt und ihrer proleptischen (zeichenhaften) Verwirklichung in der ökumenischen Bewegung, die ihrerseits der politischen Hoffnung auf den "ewigen Frieden als letztem Ziel des ganzen Völkerrechts" (Kant) die Gewissheit des Glaubens an "einen neuen Himmel und eine neue Erde" als ihren eigentlichen Horizont an die Seite stellt.

Die Anzahl der Veröffentlichungen zum ökumenischen Lernen ist im Vergleich mit den Jahren zwischen 1970 und 1995 heute rückläufig.

Der Verlust der Dynamik hängt nach meiner Beobachtung mit mehreren Faktoren zusammen : Da ist zum einen der Verlust der visionären Kraft des Konziliaren Prozesses, dessen Hoffnungen auf eine Transformation der Welt in Gerechtigkeit, auf mehr Frieden und eine wachsende Bereitschaft, die Schöpfung zu bewahren im Prozess der Globalisierung fast erstarrt sind; da ist zum anderen die anhaltende Krise des ÖRK, der sich nicht zuletzt aufgrund zurückgehender finanzieller Ausstattung durch seine Mitgliedskirchen mit Problemen seiner organisatorischen Umstrukturierung befasst; dazu kommt der immer noch nicht überwundene und ihn im Kern betreffende Konflikt mit einigen Kirchen der Orthodoxie über Sinn und Aufgabe des ÖRK. Das alles bindet Kräfte, die nötig wären, das ökumenische Feuer in Gang zu halten.

Überhaupt scheint für viele Christen Ökumene nicht mehr die Qualität einer Vision zu haben, die Menschen dazu bewegt, überkommene Traditionen zu verlassen und sich auf Schritte der Erneuerung einzulassen, stellt Konrad Raiser auf der Sitzung des Zentralausschusses in Genf (26. August 2002) fest. Die Ökumene stehe schon länger vor ihrer bisher schwersten Bewährungsprobe. Aber in vielen Kirchen werde das nicht einmal wahrgenommen. Für die ökumenische Bewegung als Lernbewegung und für ein deswegen von der Ökumene so resonanzabhängiges Unternehmen wie eine Didaktik des ökumenischen Lernens könnte das verhängnisvoll sein.

Die Didaktik des ökumenischen Lernens hatte aber von Anfang an noch mit einer ganz anderen Hypothek zu ringen. Sie blieb solange unterschwellig, als die Vision trug. Aber nun schiebt sie sich mit Macht in den Vordergrund. Ich erinnere an die hochgesteckten Erwartungen des ökumenischen Lernens, die mit seinen fünf enorm anspruchsvollen pädagogischen Kategorien "grenzüberschreitend", "handlungsorientiert", "soziales Lernen", "interkulturelles Lernen" und "Lernen als ganzheitlicher Prozess" Versagenserfahrungen geradezu provozieren. Die mit ihnen verbundenen schweren Probleme und Fragestellungen blieben weitgehend ungeklärt; z.B. wie im grenzüberschreitenden handlungsorientierten sozialen Lernen mit interkulturellem Impetus das Globale mit dem Lokalen in einem ganzheitlichen Prozess verknüpft werden könnte.

Die Dialektik zwischen globalen und lokalen Fragen, die Ernst Lange in seine bekannte Formel des ökumenischen Lernens "global denken – lokal handeln" fasste, ließ hoffen, gemeinsame Probleme würden vielen Menschen im Alltag so sehr auf den Nägeln brennen, dass sie alsbald und zunehmend bereit sein würden, sie global und international anzugehen. Er hoffte (in der Tradition der deutschen Aufklärung seit Immanuel Kant), dass wir in der Lage sind, den Universalismus im Partikulen zu gewinnen und durch universell gültige Verhaltensweisen (und entsprechende Gesetze) zu sichern, obwohl wir im Partikularen eingebunden bleiben. Das Gegenteil scheint aber der Fall zu sein.

Auch wenn globale Probleme wie z.B. der Streit um die Sicherheit und Güte der Nahrungsmittel, den freien Warenverkehr und die Umweltstandards, die Finanz- und Arbeitsmarktnormierung usw. "wie Blitze im Erfahrungsraum der Menschen" einschlagen und dort geläufige "Prioritäten" umstürzen, führt das nicht automatisch zu einem tiefgreifenden Wandel des Verhaltens. Im Gegenteil: Es gibt bisher weder einen globalen Konsens darüber, wie die alle betreffenden Probleme des Klimaschutzes, der ausreichenden Bereitstellung von Nahrungsmitteln und ihre Güte, der Trinkwasserknappheit usw. angegangen werden könnten, noch globale Handlungsinstitutionen. "So verschärft sich das Bewusstsein einer drängenden Handlungsnot ohne Handlungschance." Ich vermute, dass der Zusammenprall des Gefühls (und Bewusstseins!) mangelnder Handlungsmöglichkeiten mit dem oben erwähnten ökumenischen Anspruch an die moralische Verantwortlichkeit des Einzelnen mit dazu geführt hat, dass dieser sich resigniert von "der Welt" abwendet und angesichts der unüberschaubaren Probleme auf das Lokale, auf die eigene Gemeinde, die Parochie, den religiösen Schonraum (oder was immer es sein mag) zurückzieht. Wolfram Weisse stellt rückblicken im Blick auf das ökumenische Lernkonzept der 1970er bis 1990er Jahre fest: "Kurz: es zeigten sich Gefahren der Überfrachtung und der unterschwelligen Verharmlosung." Dies "bedeutete eine Überschätzung der Möglichkeiten ökumenischen Lernens und musste zu Enttäuschungen führen ..." .

Andererseits steht außer Frage, dass die sich rapide beschleunigende Interdependenz in Politik und Wirtschaft sowie die teils erst seit einer Generation von vielen bewusst wahrgenommene Pluralität der Ethnien und Nationen, der Religionen und Weltanschauungen, aber auch die wachsenden Spannungen aufgrund zunehmender ökologischer Verwerfungen zu einem Denken nötigt, das sich dem Globus als Ganzem verpflichtet fühlt. "Die Weltprobleme der kulturell Anderen müssen in der politischen Gemeinschaft präsent sein, gehört werden, eine Stimme haben – kulturell wie politisch."

Wie kann diese Forderung didaktisch eingelöst werden, ohne zur resignationsgenerierenden Überforderung zu werden?

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3. "Einheit in der Finsternis". Bemerkungen zum hermeneutischen Rahmen einer ökumenischen Didaktik

Vielleicht so, dass man an die kreuzestheologische Tradition innerhalb der ökumenischen Bewegung anknüpft, die bereits auf der ersten Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm 1925 grundgelegt wurde und in den 1970er Jahre des vorigen Jahrhunderts zeitweilig an Bedeutung gewann: Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung formulierte auf ihrer Sitzung in Accra 1974, dass die Einheit der Kirche und die der Menschheit im Leid und in der Schwachheit besteht – sie sei eine "Einheit in der Finsternis". Seit der ersten Vollversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948 war das Motto der ökumenischen Bewegung die "Nachfolge auf dem Weg Jesu Christi" in der Welt. Jetzt sagte man, wohin man gelangt, wenn man Jesus Christus nachfolgt: in die Finsternis unter dem Kreuz, in der eine große Zahl von Menschen lebt. Seither versucht man in der ökumenischen Bewegung zu verstehen, was das für die Kirche, die nach wie vor von sich als dem Zeichen der zukünftigen Einheit der Menschheit zu sprechen wagt, bedeutet.

Der hermeneutische Rahmen einer Didaktik ökumenischen Lernens im Kontext der ökumenischen Bewegung sollte daher nicht die Vision der Einheit der Weltzivilisation als eines einheitlichen Weltdorfes sein, die ohnehin die Rivalität der sog. (politischen, wirtschaftlichen und religiösen) Weltmächte und ihre Hegemonialbestrebungen kaschiert; ebenso wenig die Angst vor den real gegebenen Möglichkeiten der Selbstzerstörung der menschlichen Zivilisation und der sich abzeichnenden ökologischen Katastrophe, die häufig doch nur Verdrängungs- und Verschleierungsmechanismen potenziert; auch nicht die organisatorische Einheit der Kirche, nicht die ökumenische Bewegung ganz allgemein, nicht einmal die besonders im Zusammenhang des ökumenischen Lernens oft beschworene heilsgeschichtliche Prävalenz der Armen. Der hermeneutische Rahmen ist das Leiden und das Kreuz als Zeichen der Hoffnung der Gegenwart Gottes im Leid und in der (leiblichen und geistlichen) Schwachheit.

Die Ökumeniker unter den Religionspädagogen sollten auf dieser von Accra 1974 her in die ökumenische Diskussion erneut eingezeichneten Linie weiterdenken und die in den ökologischen und politischen Krisen unserer Zeit offenbar werdende philosophische Niederlage des westlich-abendländischen Entwicklungsgedankens zum Anlass nehmen, neu über einen (durchaus auch von der neueren Anthropologie wieder entdeckten) Aspekt des biblischen Menschenbildes nachzudenken, das sich dadurch auszeichnet, die Mängel und Leiden, mit denen die Menschheit (und jedes Zeitalter in seiner besonderen Weise) leben muss, in den Aufmerksamkeitsmittelpunkt zu rücken. Die "Sonderstellung des Menschen" ist, dass er "nicht die Spezies der finalen Triumphe, sondern die Spezies der prolongierten Niederlagen ist mit dem Pensum, sie zu ertragen" . Dass diese von manchen modernen Anthropologen (z.B. H. Plessner, A. Gehlen) und Philosophen konstatierte Schwachheit auch theologisch und religionspädagogisch hochinteressant ist, zeigt ein Blick in die Korrespondenz des Apostels Paulus mit der christlichen Gemeinde in Korinth.

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3.1

Paulus spricht in seinen Briefen an die Gemeinde wiederholt von der Schwachheit, in der sich Gottes rettendes Handeln vollzieht. Er, Paulus, bemühe sich daher, den Schwachen als Schwacher (1. Kor. 9, 22) zu begegnen, um wenigstens einige zu retten (vgl. 1. Kor. 9, 22b).

In den vorhergehenden Versen schreibt er, er begegne den Juden wie ein Jude, den Griechen wie ein Grieche, denen unter dem Gesetz, als ob auch er unter dem Gesetz stünde etc. Nur bei der Gruppe der Schwachen fehlt das Wie und Als-Ob. Den Schwachen begegnet er als Schwacher – also nicht in der Haltung des Als-Ob. Warum betont er das an dieser Stelle?

Paulus ist schwach aus doppeltem Grund. Er war, wie er berichtet, physisch schwach; schwach aber auch aus geistlichen Gründen (vgl. 1. Kor. 4, 1 ff2. Kor. 6, 4 ff2. Kor. 11, 23 ff2. Kor. 12, 10). Die Erbärmlichkeit und Ärmlichkeit seiner Erscheinung deutet Paulus im Lichte des Kreuzes Jesu (1. Kor. 2, 1-52. Kor. 4, 10): "Die Ohnmacht und Schwäche des Apostels sind so wie er sie hier darstellt, eine Repräsentanz der Macht/Ohnmacht Gottes, wie sie im Kreuz Christi unanschaulich anschaulich wurde. Das Kreuz sagt gültig aus, was es heißt, sich auf Gott einzulassen. Der Apostel, hineingezogen in das Sterben Jesu, stellt eine Vergegenwärtigung dieses Kreuzesgeschehens dar." Darum kann am Leben des Apostels das Leben Jesu, d.h. aber für Paulus immer zugleich die Art und Weise des rettenden Handelns Gottes offenbar werden: "Wir tragen das Sterben Christi an unserem Leibe herum, damit das Leben Christi offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch." (2. Kor. 4, 10, vgl. 2. Kor. 13, 3.)

Den Schwachen begegnet Paulus als Schwacher in der Hoffnung, "einige zu retten" (1. Kor. 9, 22b), d.h. aber bei Paulus nicht nur an dieser Stelle: in die Freiheit des Glaubens hineinzuziehen. "Er steht also zu seiner Schwachheit aus der Überzeugung, dass Gott in den Schwachheiten, Begrenzungen, Beschränkungen kleine oder auch große Wirkungsmöglichkeiten erschließen kann."

Aber auch da, wo er den Griechen wie ein Grieche begegnet, den Gesetzlosen, als ob auch er ohne innere Steuerung sei usw. – auch da bleibt Paulus der durch Schwachheit qualifizierte Apostel. Er signalisiert das durch das distanzierende Wie und Als-Ob. Indem er nun aber den Griechen wie ein Grieche usw. begegnet, sucht er sie gerade da auf, wo sie ihre Stärke als Griechen ausleben, also im "Identitätskern seines Gegenübers" (T. Ahrens). Der Grieche etc. muss nicht erst "schwach" gemacht, klein geredet werden. Aber in der Konfrontation mit der Schwachheit der Botschaft vom Evangelium des Gekreuzigten hofft Paulus, ihm seine (des Griechen) Stärke als notorische Schwäche zu erweisen, die stark ist in der Zurückweisung anderer Lebens- und Denkmöglichkeiten und unfähig, Differentes miteinander zu versöhnen. Seine Stärke spaltet die Welt und zerstört die Möglichkeit humaner Existenz, während Gottes Schwäche die Welt mit sich und also auch mit sich selbst versöhnt.

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3.2

Ökumenische Existenz in paulinischer Perspektive findet m.E. ihre angemessene Gestalt in der Bereitschaft, an der Schwachheit Gottes in dieser Welt teilzunehmen. Ggf. kann das heißen, die eigenen Beschränkungen, das leibliche Scheitern anzunehmen und dennoch zu hoffen, Gott möge seine Stärke im konkreten Handeln erweisen. Wichtig erscheint mir für Menschen unseres Kulturkreises aber vor allem der geistliche Aspekt der Schwachheit und damit verbunden das Bemühen um eine neue erkenntnistheoretische Haltung: Die paradoxe Formulierung des Paulus, nach der er stark sei, wenn er schwach ist (2. Kor. 12, 10 b), weil Gottes "Schwäche" stärker ist als die Menschen (1. Kor. 1, 25) trifft nämlich das ökumenische Anforderungsprofil sehr präzise. Der Tod Jesu am Kreuz offenbart gerade in seiner Schwachheit Gottes Stärke, Differentes miteinander zu versöhnen, ohne es aufzulösen. Ökumenische Theologie und Didaktik in der Nachfolge Jesu kann in der "Perspektive des Gekreuzigten" nur heißen, zu verlernen, wie man alles über einen Leisten schlägt, hyperbolische Moralvorstellungen herrscherlich durchzusetzen, uneinlösbare Erwartungen zu wecken, nur seiner Perspektive zur Geltung zu verhelfen, starre Prinzipiensätze zu formulieren usw.; dagegen zu lernen, sich an Vielfalt zu freuen, umsichtig mit ihr umzugehen, sich auf divergierende Ansprüche einzulassen, die Stärke der mental und politisch für "schwach" Gehaltenen zu entdecken, in die Vielfalt und Komplexität unterschiedlicher Konfessionen und Religionen einzutreten und inmitten derselben zu operieren und gangbare Wege in der Unübersichtlichkeit der religiösen und weltanschaulichen Landschaften zu suchen. Kurzum: Ökumenische Theologie und Didaktik kann in der durch das Kreuz bestimmten Perspektive einen Beitrag zur Entwicklung einer zwischen sehr unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der Welt hin und her gehenden Vernunft leisten, wenn sie das Moment der Schwäche als ihre Stärke aufweist - nämlich Übergänge dort zu ermöglichen, wo man gegenseitig zu erstarren droht.

Es mögen sich viele gute Gründe dafür anführen lassen, dass wir auch in Zukunft konfessionell getrennt bleiben, die Prämissen für unsere Begründungen mögen in sich kohärent, die Erzählungen, mit denen wir unsere Tradition weitergeben, faszinierend sein - irgendwann kann es geschehen, dass man sein Handeln nicht mehr begründen kann, dass man auf eine Prämisse stößt, die sich nicht mehr weiter begründen lässt. Eine solche Prämisse ist für mich die Schwachheit, die im Sinne des Paulus als Dynamis Gottes interpretiert werden kann. Hier ist für mich "harter Fels", und der "Spaten biegt sich zurück", wie Ludwig Wittgenstein plastisch formuliert. "Ich bin dann geneigt zu sagen: 'So handle ich eben'." 

Ich verknüpfe also die Pluralität des Konfessionen, Kirchen und Religionen theologisch mit dem Kreuz Jesu Christi. Das Kreuz ist für mich das Ende jeder Beliebigkeit und somit der Integrationsfaktor aller religiösen und konfessionellen Pluralität. Es ermöglicht sie und zentriert sie zugleich. Denn es ist die nicht mehr zu überschreitende Grenze der Schwachheit, über die hinaus es nichts mehr gibt, was einem Menschen noch widerfahren könnte. Da gibt es keine Differenzierungen mehr.

Gleichzeitig aber hinterfragt es alle von uns vorgenommenen Differenzierungen aufgrund der Perspektive, die wir, wenn wir uns unter das Kreuz stellen, einnehmen müssen: Es befragt sie darauf hin, ob sie der Gerechtigkeit, die Gott durch seinen Geist in Jesus Christus offenbart und aller Welt mitgeteilt hat, entsprechen. Und gleichzeitig ermöglicht sie eine neue Pluralität - die Pluralität der vor Gott geltenden Gerechtigkeit Gottes. Wenn wir in unseren religiösen und konfessionellen Differenzierungen dieser Pluralität entsprechen, verfälschen sie weder die Einheit der Kirche noch die sich im Leiden manifestierende Gemeinschaft der Religionen, sondern realisieren die "Einheit in der Finsternis" und so eine "Kultur öffentlicher, für Differenz sensible Identitäten und die Kultur einer beständig für Differenz sensiblen Gerechtigkeit ..." .

Was wäre von dort her für eine Didaktik des ökumenischen Lernens zu bedenken? Welche ökumenische Hoffnung haben die Vertreter des ökumenischen Lernens und welche Didaktik lässt sich von daher entwerfen? Ich versuche mit einigen Thesen eine mögliche Antwort zu skizzieren.

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4. Thesen zur Didaktik des ökumenischen Lernens

1. These

Man muss wohl davon ausgehen, dass es in absehbarer Zeit nicht (vermutlich aber nie) zu einem alle Konfessionskirchen gleichermaßen befriedigendem Verständnis von Einheit kommen wird. Zu stark sind die Differenzen in den Frömmigkeitsstilen, in Ritus, in Ethos und sozialmoralischem Habitus der Kirchen in der oikoumene. Selbst wenn es zur Einheit verschiedener Kirchen kommt, sorgt die Lage auf dem religiösen Markt für neue Differenzierungen. Die kontextuelle Einbindung tut ein Übriges: Sie fördert Indigenisierung und Enkulturation – und trägt gerade dadurch zur Differenzierung der (religiösen) Kulturen bei. Ökumenisches Lernen geschieht also unter diesen Voraussetzungen dann und dort, wo man lernt, in dieser Vielfalt den Reichtum des "transversalen" Heils und der Gerechtigkeit Gottes für die Welt zu entdecken, das Übergänge, Versöhnung und Verflechtungen zwischen Differentem ermöglicht. Ökumenisches Lernen sollte einen Beitrag zur Entwicklung einer "Hermeneutik der legitimen Pluralität" leisten. 

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2. These

Die Auflösung des (religiösen) Absolutheits- und Letztcharakters, der Relativismus in der Lehre ist keine theologische Schande, sondern der Normalfall. Die faktische Pluralität der Christenheit z.B. ist kein Mangel, kein beklagenswerter "Verlust der Einheit" , auch nicht a priori eine Schuld, sondern Ausdruck der legitimen Konkurrenz individueller und kultureller Frömmigkeitsstile. Frömmigkeitsstile sind relativ zu ihrer Zeit, zu ihrem Ort, zu ihrer Kultur. Das sollte man gar nicht ändern wollen. Im Gegenteil: ökumenisch gelernt wird, wenn man sich auf die Andersheit des konkreten Anderen einlassen und ihn gleichzeitig als verschieden und gleich bejahen kann: verschieden in seinem Anderssein und gleich im wechselseitigen Recht, ein Anderer (und ggf. Fremder) zu bleiben. Das schließt den Universalismus als großen Gleichmacher ebenso aus wie den Globalismus mit seiner Tendenz zur zeitlosen Einebnung aller Differenzen wie aber auch den Multikulturalismus, der die Andersheit von Individuen immer nur als Teilhabe an territorial-ethnischen Einheiten (als kollektive Andersheit) verstehen lehrt. Ökumenisches Lernen zielt gerade nicht auf die zeitlose Einebnung bzw. die Aufhebung aller Differenzen oder die Unterwerfung unter den Zwang zur Universalität, sondern im Gegenteil auf die radikale Wiederfindung des Individuellen und die Anerkennung des Anderen als Anderer. Das gilt nicht nur für seine "kulturelle Andersheit" (die sich beispielsweise in anderen Modernitätsentwürfen und Zivilisationen äußert), sondern auch für seine Sicht der Zukunft, die Vorstellung von Natur, seine Rationalität und Religion.

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3. These

Wer die Andersheit des Anderen ernst nimmt und seine eigene Andersheit bejaht, braucht keine Angst vor konfessioneller (auch nicht vor religiöser) Vielfalt zu haben. Zur Anerkennung der Andersheit des Anderen gehört Deutlichkeit im Eigenen. Das klare Profil im Gegenüber zu anderen religiösen Organisationen (in der innerchristlichen Konfessionsfamilie und hinsichtlich "fremder" Religionsfamilien) ist keine Absage an den Dialog mit ihnen, sondern ermöglicht ihn überhaupt erst. Ökumenisches Lernen zielt auf das Erlernen des Zusammenlebens mit dem Anderen als dem von mir verschiedenen Fremden, der das gleiche Recht wie ich hat, ein Fremder zu bleiben.

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4. These

Die erkenntnistheoretische Maxime, wonach wir nur im Blick auf prinzipiell unlösbare Probleme (z.B. die Frage, warum Sein und nicht Nichts ist) eine Entscheidung treffen können, korrespondiert mit der Beobachtung, dass in Fragen unterschiedlichen Glaubens keine Einigung möglich ist, es sei denn, man gibt ihn auf bzw. passt ihn den Gegebenheiten an. (Aber damit ist er nicht mehr der "alte" Glaube, ist etwas Anderes geworden.) Man muss diesen transzendentalen Unterschied wahren und achten lernen. Das kann gelingen, wenn man sich dialogisch aufeinander bezieht. Dialog ist die Art und Weise, wie Unterschiede aufeinander bezogen werden und in ihrer wechselseitigen Bezogenheit authentisch bleiben.

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5. These

"Dialog" ist nur in symmetrischen Verhältnissen möglich. Wo es keine wechselseitige prinzipielle Parität zwischen den "Dialog-Partnern" gibt, ist er ein Modus der Ausübung verdeckter Macht (-ansprüche). Hier von Partnerschaft zu reden, ist diffuse Rhetorik. Ökumenisches Lernen hat das Ziel, zur Symmetrie zwischen den ökumenischen Akteuren beizutragen. Zum Einüben des Dialogs gehört der Verzicht auf Macht in jeder Form (nicht der Verzicht auf religiöse Autorität die qua definitionem immer Ausdruck der Demut, des Gotteslobes und der Dankbarkeit, der Anbetung und Menschenfreundlichkeit ist). Das kann man wohl als das am schwersten zu "operationalisierende" ökumenische Lernziel bezeichnen.

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6. These

So gesehen ist die faktische Spaltung der Kirche eine Chance, "der Welt" zu zeigen, wie Dialog möglich sein kann. Nicht die "Einheit der Menschheit" ist das erste Ziel ökumenischen Lernens, sondern der Respekt vor der Andersheit des Anderen. Dass globale Gefahren das Leben der Menschheit in Frage stellen und so gesehen die Selbstgefährdung den Globus zur Einen Welt machen, widerspricht dem nicht. Denn in der Einen Welt werden wir auch zukünftig als je Andere leben, die die globalen Gefahren je anders wahrnehmen. "Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass die Definitionsschlachten um diese titanischen Probleme neuartige Konflikte auslösen." Die Versuchung, die Gefahren monokausal zu erklären (mit P.S. Huntington etwa als Folge eines angeblichen Zusammenpralls der Zivilisationen), ist groß. In der Geschichte gibt es keine Monokausalität, es gibt sie auch nicht in der Politik. Ökumenisches Lernen muss sich daher die Liquidität des oikoumenischen Denkens und Handelns zum Ziel setzen.

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7. These

In der ökumenischen Bewegung haben Kirchen gelernt, sich in ihrer jeweiligen Andersheit wahrzunehmen, sich aufeinander zu beziehen und dialogisch zu agieren. Jetzt ist ein weiterer Schritt nötig: Sie müssen lernen, dass es Ökumenebegriffe gibt, die nicht miteinander kompatibel sind. So ist beispielsweise der protestantische Leitbegriff von "Ökumene" mit dem "Ökumenismus" der römisch-katholischen Kirche unvereinbar, wie zwar nicht die Debatte um die "Gemeinsame Erklärung der Rechtfertigungslehre", wohl aber die im Anschluss daran von Rom sogleich losgetretene Diskussion um "Dominus Jesus" und den hier erneuerten Anspruch, die einzig wahre Kirche Jesu Christi zu sein, ebenso deutlich zeigt, wie die römische Stellungnahme zur Eucharistie. Die "ökumenische Existenz" zeichnet sich auch durch die Kompetenz aus, konkurrierende Ökumenebegriffe nicht nur auszuhalten, sondern dialogisch aufeinander zu beziehen. Dazu gehört, die spezifische Eigenart des jeweiligen Ökumenebegriff ins Spiel zu bringen und nicht "um eines lieben Friedens willen" zu unterschlagen. So sollten z.B. die Kirchen des Protestantismus ihre ökumenische Kompetenz auf den "ökumenischen Markt" bringen. Sie besteht nicht zuletzt darin, dass sie durch die von ihnen ermöglichte und gegen den Anspruch einer sich als "Heilsanstalt" verstehenden Kirche durchgesetzte religiöse Begründung und Rechtfertigung individueller Freiheit die Anerkennung der Andersheit des Anderen überhaupt erst auf den Weg gebracht hat. Darin liegt m.E. sowohl ihre ökumenische Kernkompetenz als auch ihre oikoumenische Relevanz. Ähnlich wäre vom römischen Sakramentverständnis zu sagen, dass es in besonderer Weise das "Geheimnis des Glaubens" in der Welt schützt: ohne Wahrung des Mysteriums gäbe es keine religiöse Existenz.

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8. These

Der ökumenische Pluralismus ist kein Pluralismus aus Beliebigkeit, sondern ein "Pluralismus aus Prinzip" (E. Herms). Er orientiert sich am Kreuz Christi. Christus, der Gekreuzigte, ist die "Gestalt" der Gegenwart Gottes in der Welt (εικων του θεου, 2. Kor. 4, 4c). Aus eigenem Entschluss hat Gott sich nach dem Bilde seines eigenen Wollens in ihm die Gestalt der Schwachheit gegeben. So will er "in der Welt" (oikoumene) sein.

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9. These

Christliche Konfessionen sind Gemeinschaften, die sich jeweils an ihrem konkreten Ort zu dem einen Gott bekennen, der sich im Kreuz als der Gestalt seiner Gegenwart in der Welt offenbart.

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10. These

Als ökumenische Weggemeinschaft nehmen die Konfessionskirchen Gottes Gegenwart in der Welt wahr, indem sie in der Nachfolge Christi in ihrem eigenen Sein und in ihrer jeweils konkreten Lebenswelt der Schwachheit Gottes Gestalt geben. Sie können der Gegenwart Gottes in der oikoumene nur gewahr zu werden hoffen, wenn sie in ihrer konkreten Gestalt und an ihrem konkreten Ort der Schwachheit Gottes zu entsprechen suchen.

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11. These

Die Konkretheit der Erfahrungen des Leids und der Akte des liebenden Mitleids sind Ursache der Vielfalt der Leiderfahrungen und der Vielfalt des Handelns aus Mitleid. Wer in den vielfältigen Leiderfahrungen die Gestalt der Gegenwart Gottes in der Welt wahrnimmt, indem er ihnen im Reden und Tun in der Welt Gestalt schafft, muss mit der Vielfalt konfessioneller Gestalten rechnen.

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12. These

Die Erfahrungen von Leid und Mitleid machen konfessionelle Gestalten gerade wegen ihrer Konkretheit notwendig, depotenzieren jedoch alle konfessionellen Prinzipien.

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13. These

Nur Kirchen, die die in der Schwachheit Gestalt gewinnende Gegenwart Gottes in der oikoumene wahrnehmen, indem sie ihr in ihrem Reden und Handeln Gestalt geben, können in der gegenwärtigen Weltgesellschaft in ihrer jeweiligen konkreten konfessionellen Gestalt die Hoffnung auf eine koinonia des Teilens und Mitleidens wach halten und in Ansätzen verwirklichen. Die raison d'être der Kirche ist es, der Schwachheit Gottes in der Welt in ihrer Gestalt zu entsprechen.

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14. These

In diesem Sinne sind die Konfessionskirchen ökumenische Kirchen. Sie setzen ihr Glaubenszeugnis nicht über das der Anderen, sondern neben das der Anderen und vertrauen darauf, dass Gott sich in ihrer Sprache und Kultur und also in ihrem je eigenen Erfahrungsraum auf seine (uns durchaus sehr fremde) Weise zur Sprache bringen will. T. Ahrens: "Wir reden über das Leben mit Gott so, dass wir einen Vorschlag zu den Kernfragen, den Sinnfragen unterbreiten, freilich mit der Neugierde: Was haben andere dazu zu sagen? Die anderen können den Faden aufnehmen, sie können zustimmen oder auch nicht ... Die Erzählform der Evangelien macht ein Angebot. Sie erzwingt nichts, sie entlässt das Wort in die Offenheit einer konkreten Situation ...". Die ökumenische Hoffnung ist, dass sich durch die gegenseitig erzählten Geschichten von erduldetem Leid und erfahrener Schwachheit und von der in alledem sich erweisenden Menschenfreundlichkeit und Liebe Gottes eine Gemeinschaft zwischen den Angehörigen verschiedener Konfessionen und Religionen auftut, die Übergänge zwischen ihnen ermöglicht.

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15. These

Eine wie auch immer dann im einzelnen konzipierte Didaktik ökumenischen Lernens sollte über das Modell der "Nachfolge" entwickelt werden. Jesus nachfolgen heißt, seine Schwachheit als Lebenskonzept zu akzeptieren, also den Subjektanteil zu stärken, der den nach Herrschaft strebenden Anteilen des Subjekts am meisten widerspricht. Gerade das schwache, das sich zurücknehmende Ich zeichnet sich durch eine hohe Pluralitätskompetenz als in Wahrheit "stark" aus. Da es auf dekretorische und herrscherliche Ausübung seiner Vernunft nicht angewiesen ist, kann es gerade in Situationen eminenter Komplexität zur Verflechtung von Perspektiven, Akzeptanz fremder Subjektivität und zum achtsamen Abwägen unterschiedlicher rationaler Komplexe beitragen. Was zunächst als Schwäche erscheint - die Rücknahme der Behauptung rational und strukturell durchzusetzender Identität - führt zu besonderen Leistungen, begründet eigene Kompetenz und Stärken: neben der Pluralitätskompetenz, Differentes aufeinander zu beziehen, vor allem die Kompetenz, auf der Grenze der Begegnung von Ich und Anderem die wechselseitige Fremdheit auszuhalten und sich auf sie einzulassen: seine Erkenntnis, seine Wahrheit könnte auch meine, könnte auch seine sein und umgekehrt. Das Ökumenische können wir nicht an bestimmten Institutionen festmachen, auch nicht geographisch am Überqueren der Grenzen zu fernen Ländern oder der Grenzen zu fremden Religionen, nicht an ökologischen Krisen usw., sondern daran, ob man sich auf die Zumutung einlässt, die Schwachheit Gottes den Grund des Denkens und Handelns sein zu lassen.

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