"Gegebenheiten"
Zum missionstheologischen Ansatz von Theodor Ahrens
Von Klaus A. Baier
Gibt es den "Geist der gegebenen Sache"
Marcel Mauss
Die Missionswissenschaft (und die ihr fakultätsintern
meist zugeordnete Ökumenewissenschaft) ist eine verhältnismäßig junge
Disziplin im Fächerkanon der theologischen Fakultäten in Deutschland.
Deswegen tritt in ihr der Wandel der theologischen Perspektive
deutlicher zu Tage als in den klassischen Fächern mit ihren in
Jahrhunderten zu einem breiten und manchmal trägen Strom angewachsenen
Themenstellungen. Das ist ein Glücksfall für die Theologie insgesamt.
Denn als die Wissenschaft, die sich wie keine andere theologische
Disziplin mit den Implikationen der Verbreitung des christlichen
Glaubens auseinander setzt, reagiert sie sensibler und rascher auf
Entwicklungen, die im globalen Zusammenhang alle Menschen mehr oder
weniger betreffen und die Theologie insgesamt herausfordern, die
interkulturelle Reichweite des Christentums und die Deutungskompetenz
seiner Gotteserkenntnis zu erweisen. Hat die Theologie die Aufgabe, das
Christentum in die Lebenswelt der Menschen, mit denen sie zu tun hat,
hinein zu interpretieren und diese Lebenswelt selbst zu verstehen, dann
übernehmen es vornehmlich die Missions- und Ökumenewissenschaften zu
klären, welchen Herausforderungen sie sich im Globalisierungsprozess,
dem alle Menschen unterworfen sind, stellen müssen.
Ob die Missions- und die Ökumenewissenschaft also zu
einer Art Zukunftswissenschaften werden, zu Wissenschaften, die
Bedeutung für die Zukunft des Christentums auch in Westeuropa haben?
Wohl kaum. Aber die Art ihres Theologietreibens wird unabdingbar für
jede Theologie sein. Der am Ende des Sommersemesters 2005 emeritierte
Hamburger Missionswissenschaftler
Theodor Ahrens stellt zu Recht fest:
"Im Ergebnis bringt eine ökumenisch ausgerichtete Missionswissenschaft
die theologischen Implikationen der faktisch hergestellten Globalität
des Christentums in den wissenschaftlichen theologischen Diskurs." Wie
sie das tun kann, ist Thema der unter dem Titel "Gegebenheiten"
gesammelten Studien von Theodor Ahrens, einer Veröffentlichung voller
Anregungen für die skizzierte theologische Herausforderung. Ich möchte
exemplarisch auf einige seiner Themen und Thesen eingehen.
Im Unterschied zu den meisten
missionswissenschaftlichen Werken des vorigen Jahrhunderts (z.B. von
Vicedom,
Hoekendijk, Rossel und
Ohm, aber auch noch die in seiner
zweiten Hälfte erschienenen Werke von Gensichen und Bühlmann) geht
Ahrens nicht mehr davon aus, in die Zukunft weisende Modelle des
missionarischen Handelns der Kirchen erarbeiten zu können, die Aussicht
hätten, für einige Jahrzehnte zu bestehen. Der sich beschleunigende
soziale und kulturelle Wandel verkürze die Lebensdauer unserer
theologischen Rahmenvorstellungen. Darum kann die Missionswissenschaft
bis auf weiteres "der Missionspraxis keine Strategien oder Modelle für
künftige Mission an die Hand" geben. "Über 'Modelle' künftiger Mission
verfügt sie nicht" mehr. "Sie analysiert Praxismodelle von Mission" .
Wohl aber hält Ahrens es für möglich und geboten, einige Schlüsselthemen
zu benennen, die sich vermutlich auf der missionstheologischen
Tagesordnung zumindest der europäischen Kirchen, ihrer Missionsagenturen
und der hiesigen missionswissenschaftlichen Institute an den
theologischen Fakultäten behaupten werden. Ahrens geht in seinem Buch
vor allem
-
auf den missionspraktischen und theologischen Stellenwert
der Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Gewalt und in diesem
Zusammenhang auf die Kontextualisierungsproblematik ein. Ferner
-
auf
die Interkulturalität und Praxisrelevanz der Missionswissenschaft.
Schließlich
-
auf die Zukunft der Missionswissenschaft im Fächerkanon
der theologischen Fakultäten und für die Kirchen.
1. Religion und Gewalt
Die Gewaltproblematik hat seit der
Achten
Vollversammlung des ÖRK in Harare (1998) auch hierzulande Gemeinden und
kirchliche Gremien zunehmend beschäftigt und ist auf der
Neunten
Vollversammlung des ÖRK in Porto Alegre (14.-23. Februar 2006) erneut in
den Vordergrund gerückt worden. Ahrens interessiert sich in diesem
Zusammenhang weniger für mögliche gesellschaftliche Ursachen von Gewalt
und politische Möglichkeiten von Gewaltüberwindung. Er erörtert sie im
Zusammenhang der Kontextualisierungsproblematik.
Das überrascht zunächst, erweist sich aber für den
missionswissenschaftlichen und ökumenischen Diskurs als hilfreich. Denn
diese Zugehensweise ermöglicht eine Antwort darauf, was bei aller
Kontextualität sich als theologische "Sachmitte des Christlichen in der
Vielfalt seiner kulturellen Brechungen" erweisen könnte. Gibt es eine
Identität des Christlichen in unterschiedlichen Sprachen und Kulturen?
Die meisten Spannungen und ungelösten Probleme in der ökumenischen
Christenheit rühren daher, dass auf diese Frage bisher keine
befriedigende Antwort gefunden werden kann.
Das (ältere) Inkulturations- bzw.
Indigenisierungsmodell setzte noch voraus, dass im Evangelium etwas zur
Sprache kommt, das universal wahr ist, und man sich je von seinem
kulturellen Ort aus darüber auch verständigen kann. In der (jüngeren)
Kontextualisierungsdebatte verortet man die Frage nach der Identität des
Christlichen stärker in geschichtlichen Prozessen und behauptet, Gott
sei in den konkreten partikularen Situationen immer schon missionarisch
präsent, indem er sich unablässig im geschichtlichen Prozess als
befreiender, versöhnender und heilender Geist inkarniere. Dieses zweite
Modell mit seiner Betonung einer Fülle von Kontexten (also konkreten
Situationen) hat zu einer unüberschaubaren Variationsbreite von
Antworten auf die Frage nach der kontextuellen Gegenwart Gottes geführt,
die alle für sich beanspruchen, ein authentischer Respons auf die
Situation zu sein. Die Behauptung einer benennbaren Sachmitte wird von
ihren Vertretern meist als Reflex eines westlich-theologischen
Herrschaftsanspruch zurückgewiesen. Ahrens meint, dass beide Ansätze je
für sich genommen zu kurz greifen, weil sie die Gegebenheit von Gewalt
und die sie überwindende Gegebenheit der Gnade Gottes nicht in Blick
haben.
1.1 Die zwei Gegebenheiten
Ahrens spricht in diesem Zusammenhang von zwei
Gegebenheiten. Die eine ist die Gewalt; er skizziert sie unter kräftigem
Bezug auf den frankoamerikanischen Philosophen Renè Girard als eine anthropologische Grundkonstante des
Menschen als sozialem Wesen. Auf diesem Hintergrund der Hypothesen von
Girards über die Entstehung von Gewalt fragt er dann nach der anderen
Gegebenheit, nämlich dem universal sagbaren Wort, das diese "Gegebenheit
menschlicher Kulturen" durch die "Gabe des Glaubens an das
unerschöpfliche Vermögen der Liebe" überwindet; von dieser "göttlichen
Gegebenheit", wie er sie nennt , erzähle die Geschichte Jesu. Die
konkrete Situation, in der die biblische Botschaft zur Sprache kommt,
ist nach Ahrens immer diese anthropologische Gegebenheit der Gewalt, der
Fokus der Botschaft ist immer die Überwindung der Gewalt. Damit kommt
als Sachmitte des Christlichen in jeder nur denkbaren Variationsbreite
nur das die Gewalt überwindende konkrete "Wort vom Kreuz" in Frage.
Ahrens diskutiert das damit angeschnittene hermeneutische Problem der Kontextualisierung im Anschluss an seinen Lehrer Jochen Margull vor
allem in dem Beitrag "Der Text in den Kontextualitäten. Zur Relevanz der
Kulturhermeneutik René Girards für die Kontextualisierungsproblematik" ,
sodann in der Studie "Zur Diskussion einer Gotteslehre.
Missionswissenschaftliche Erwägungen" und in dem Aufsatz "Zum
missionarischen Selbstverständnis heute. Eine biblische Besinnung" ,
endlich in einer Fallstudie zur Bedeutung der Tauschbeziehungen in
Papua-Neuguinea . Ich stelle seine Überlegungen in ihren Grundzügen dar.
1.1.1 Mimetische Gewalt. Girards
kulturanthropologische Begründung der Gewalt
Ahrens übersieht die Kritik nicht, die an
Girards
Überlegungen zu den anthropologischen Voraussetzungen des Opferbegriffs
geübt worden ist. In der "Theorie des Mimetischen" aber folgt er ihm
weitgehend und macht sie zum Ausgangspunkt seiner missionstheologischen
Reflexion der Gegebenheiten von menschlicher Gewalt und der göttlichen
Gabe ihrer Überwindung. Ahrens diskutiert das damit angeschnittene
hermeneutische Problem der Kontextualisierung im Anschluss an René
Girards Kulturhermeneutik , ohne der naheliegenden Versuchung auf dem
Leim zu gehen, sie für eine probate hermeneutische "Welteinheitsformel"
anzusehen, mit der sich nun alles, was geschieht, leicht erklären lasse.
Man muss sich seine Vorgehensweise so vorstellen, dass er die
gegenwärtig immer weiter expandierende alltägliche und strukturelle
Gewalt wahrnimmt und ihre phylogenetisch und soziologisch zu erhebenden
Gründe zu verstehen versucht; zu ihrer Interpretation erscheint ihm
Girards Hypothese von den Wurzeln der Gewalt als einer anthropologischen
Grundkonstante als eine hilfreiche Zugangsweise: sie ermöglicht es ihm,
den offenkundigen Zusammenhang von Religion und Gewalt zu interpretieren
und in missionswissenschaftlicher Perspektive als
praktisch-theologisches Problem in den Blick zu nehmen. Ich komme gleich
darauf zu sprechen.
Zunächst skizziere ich René Girards These in ihren
Grundzügen. Er stellt das Thema Religion und Gewalt in einen weiten
kulturtheoretischen und kulturgeschichtlichen Zusammenhang. Gewalt sei
mit dem Menschen als sozialem Wesen gegeben. Sie ist nach Girard nicht
angeboren wie eine Naturanlage, sondern mit der Art und Weise
menschlicher Vergesellschaftung verbunden. Mag die Aggressivität zum
genetischen Erbe des Menschen gehören, so ist ihre Gestalt als Gewalt
doch durch eine - als natürlicher Hang durch Vorsätze oder Erziehung
nicht zu beseitigende - bestimmte Art menschlicher Rivalität verursacht:
durch den mimetischen Charakter des instinktgesteuerten Begehrens der
Hominiden. Was ist damit gemeint?
Girard argumentiert so: Menschliches Begehren wird
nicht eindeutig von einem bestimmten Objekt ausgelöst; wenn dem so wäre,
könnte man sich durch eine entsprechende Verteilung der vorhandenen
Objekte darüber verständigen, wem was zusteht. Nun haben die Objekte für
den Menschen aber nicht einen Wert in sich allein, sondern sie werden
wertvoll je nachdem, ob ein anderer sie ebenfalls begehrt oder nicht.
Girards These lautet daher: Menschen ahmen einander im Begehren nach.
Man kann z.B. bei kleinen Kindern beobachten, dass jedes mit genau dem
Spielzeug spielen will, nach dem gerade das andere gegriffen hat. Zwar
hat jedes Spielzeug eine 'Ausstrahlung', die es existentiell
begehrenswert macht, doch sie ist nicht festgelegt und wird oft nur
latent wahrgenommen. Man kann daher sagen: Erst wenn ich sehe, wie der
Andere ein bestimmten Objekt begehrt, wird meine Aufmerksamkeit auf
dieses Objekt gelenkt, und ich werde von seiner 'Ausstrahlung' erfasst.
Diesen Vorgang nennt Girard "mimetisches Begehren".
"Mimetisches Begehren" hat seinen Grund darin, dass
Menschen Hordenwesen sind. Das erhöht ihre Überlebenschance etwa bei
einem Angriff wilder Tiere. Aber es macht den einen auch zum Rivalen des
Anderen weil jeder nicht nur bei sich selbst, sondern auch beim anderen
den Wunsch zu überleben spürt. Dieser Wunsch ist elementar und steigert
sich ins Unendliche. Tritt nun zum Beispiel der Fall ein, dass eine
Horde dem Angriff nicht mehr standhalten kann, stiebt sie auseinander,
und so kann es geschehen, dass das eine oder andere schwächere Mitglied
der Gruppe eine Beute der Raubtiere wird, die dadurch zunächst einmal
ihren Hunger gestillt haben und die Gruppe in Ruhe lassen. Die
Überlebenden machen also die Erfahrung, dass der Tod des Anderen
einstweilen den elementaren Überlebenswunsch erfüllt und das eigene
Leben sichert. M.a.W.: Das Opfer des Anderen ermöglicht die eigene
Rettung. Girard bezeichnet diesen Vorgang als den Ursprung des
Sündenbockmechanismus. Der frühe Mensch sei auf Grund der Erfahrung der
Rettung durch das Opfer eines Anderen zu der Ansicht gelangt, durch
Opfer das todbringende Schicksal besänftigen zu können. Wobei die
Bestimmung eines Menschen zum Opfer nicht rational vor sich geht,
sondern durch eine kollektive Erregung auf Grund seiner Anormalität
(z.B. als Albino) oder durch Schwäche (etwa als Krüppel) zustande kommt.
So habe sich gleichsam durch eine Mimesis des Raubtierverhaltens das
Opferritual herausgebildet, durch das nun der "Hunger" des Schicksals
bzw. der Gottheit (oft das in den "Himmel" projizierte Raubtier)
gestillt werden soll.
Immer wenn eine menschliche Gemeinschaft nun (auf
Grund 'endogener' oder 'exogener' Ursache) in eine ihren Bestand in
Frage stellende Situation gerate, werde einem Einzelnen oder einer
Minderheit innerhalb der Gruppe die Schuld dafür aufgebürdet mit der
Folge, dass man sie ausstößt, einen Einzelner zumeist aber tötet. Die
Kraft und Gewalt, mit der man sich zusammentut, um den Sündenbock zu
definieren und zu eliminieren, verbindet die Mitglieder der Gemeinschaft
neu und lässt sie die Krise bewältigen: nach der Entladung der Gewalt
scheinen Einheit und Friede wieder hergestellt. In dieser Phase kommt es
zur Sakralisierung des Opfers. Es wird zu einem sacrificium, d.h. es ist
verflucht und heilig zugleich. Ahrens resümiert Girards Gedankengang:
"Das Opfer übernimmt die Ambiguität der Situation. Die Sakrifizierung
des Opfers markiert eine wichtige Schwelle im Prozess der Hominisierung."
Die Sakrifizierung des Opfers geht im Laufe der Zeit
mit einer Ritualisierung dieses die Gemeinschaft begründenden und
stabilisierenden Mordes einher. Religiöse Riten wiederholen auf einer
symbolischen Ebene die Tötung der Urzeit und verhindern auf diese Weise
einen neuerlichen Ausbruch von Gewalt. Wenn auch gedämpft bleibt Gewalt
in den Riten doch immer gefährlich präsent. So verstanden sind nach
Girard Religion und Gewalt wurzelhaft verbunden. Ahrens: "Gewalt ist das
eigentliche kulturelle Subjekt." Opfern ist immer eine Gewalthandlung.
Wenn man das übersieht, verkenne man die auch durch religiöse Riten
transportierte, in ihnen immer latent vorhandene Gewalt und die durch
sie an die Mitglieder einer Religionsgemeinschaft vermittelte
Gewaltbereitschaft. Man gräbt also nicht tief genug, wenn man wie in der
ökumenischen Dekade Gewalt überwinden vorzugsweise fragt, was zu tun
bzw. zu unterlassen sei, um Gewalt zu überwinden. Diese aktionistische
Perspektive greift ebenso zu kurz wie die in diesem Zusammenhang meist
favorisierte Sicht auf Gewalt fördernde Strukturen, weil sie die Gewalt
der anderen, nicht die im eigenen Herzen ins Zentrum rückt.
Nun ist das "mimetische Begehren" nicht nur auf den
zunehmend eher seltener werdenden Überlebensfall gerichtet, sondern
bestimmt vor allem den gesellschaftlichen Alltag. Es orientiert sich am
Begehren der Anderen - "in der Nachahmung ihres Begehrens und im Zugriff
auf die von ihnen begehrten Objekte" . In einer doppelten Bindung an den
Rivalen (als dem Modell des Begehrens) und an das Objekt des Begehrens
entstehen konfliktträchtige Rivalitäten, die durch eine Praxis der Retribution und Reziprozität am Ausbruch gehindert werden. Die damit
verbundenen gegenseitigen Verpflichtungen und Unterschiede stabilisieren
den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ahrens: "Reziprozität - als
Ordnungsmacht und in ihrem Gewaltpotential - ist global." Wenn es nicht
mehr gelingt, die Rivalitäten des Begehrens durch Retribution
einzudämmen, kommt es zum Zusammenbruch der Reziprozität und also zur
gesellschaftlichen Krise. Das durch Geben und Nehmen stabilisierte
Miteinander mit seinem oben und unten, der Ambivalenz von Nähe und
Distanz und heilig und profan droht zu kollabieren. Der Mensch steht in
der Gefahr, seinen Ort in der Welt zu verlieren und sich im Chaos zu
verlieren. In dieser Phase drohender Gewalt aller gegen alle staut sich
die Aggression in der Gewalt aller gegen einen, der für die Krise
verantwortlich gemacht und auf Grund des tief in der menschlichen
Erfahrung verankerten Musters ausgestoßen bzw. getötet, also geopfert
wird.
Die Erzählgemeinschaft rationalisiert im Laufe der
Zeit das Geschehene. Archaische Mythen wie moderne Legitimationen der
Gewalt gegen ein Opfer haben alle ein generelles Thema: die mimetische
Rivalität und ihre Lösung durch ein sacrificium. Sie enthalten die
generative Matrix, die das soziale Verhalten einer Gesellschaft
dauerhaft steuert. Alte wie jungen Mythen stimmen darin überein, dass
sie alle mehr oder weniger aus der Perspektive der Verfolger erzählen,
d.h. aber, dass sie die reale Verfolgung mehr oder weniger falsch
wiedergeben! Das entlastet die Gesellschaft von Schuldgefühlen. Denn
wenn man die Opfer nicht wahrnimmt, hat man auch keine Empfindungen
gegenüber dem Opfer. Das konkrete Opfer wird tabuisiert. Dass Gewalt
nötig ist, wird hingenommen; die Frage, wem da Gewalt angetan wird und
wessen Blut da fließt, dass es das Blut eines Mitmenschen ist,
interessiert in diesem Zusammenhang nicht.
Die Reziprozität als Ordnungsmacht funktioniert im
Kleinen wie im Großen, in der Familie, im Dorf, im Sippenverband, in
archaischen wie in modernen Gesellschaften. In der Tradition
lutherischer Theologie kann man sagen, der Zusammenhang von Reziprozität
und Retribution sei das 'Gesetz', das untrennbar zur Existenz des
Menschen gehört. Der Mensch ist ein soziales Wesen und muss seine
Sozialität ordnen. Das gelingt aber nur, wenn er zugleich sein
mimetisches Begehren zügelt bzw. domestiziert. Er tut das durch Geben,
Nehmen und Erwidern. Dieses 'Gesetz' bestimmt seine Wirklichkeit und
beansprucht ihn total. Girard meint zwar, dass die zunehmende Öffnung
moderner Gesellschaften den herkömmlichen Vertreibungs- und
Ausschlussmechanismen ihren Sinne nehmen und dazu geführt hat, dass man
nun Opfern Rechte konzediert. Aber auch in modernen Gesellschaften, in
denen die Tauschbeziehungen in der Regel nicht religiös begründet
werden, sind sie vorhanden, wenn auch rechtlich eingefangen. Darum wird
die latente Sündenbockmentalität dadurch auch nicht aufgehoben, sondern
sogar rechtlich fortgesetzt. Eine Krise des Rechtssystems bringt die
uralte Matrix unweigerlich wieder zum Vorschein. Die Ideologie der
Nazis, Stalins und Maos und die terroristischen Systeme, die sie
erbauten, lebten alle von der Funktionalisierung des
Sündenbockmechanismus. Aber er zeigt seine Virulenz jederzeit auch in
den überschaubaren Beziehungsfeldern eines Büros oder einer Schulklasse.
Hier hat das Opfer keine Rechte.
Dagegen setzt nach Girard des Christentum eine
Demaskierung der Opfermythen frei. Darin sei es dem "modernen Anliegen"
verwandt, das ebenfalls davon ausgeht, das Opfer Rechte haben, eine
Gedanke, der in archaischen (und ideologischen) Kulturen nicht vorkommt.
Wohingegen das Evangelium als Aufklärung der Religion über sich selbst
zu verstehen sei. Daraus folgert Ahrens: Das Christliche sei der
offenbarungstheologisch fundierte Gegensatz zu einer Theorie einer
wurzelhaften Verbindung von "Religion-Gewalt-Gesellschaft". Jesus selbst
offenbare den Sündenbockmechanismus und die Passionsgeschichten bestehen
auf der Unschuld Jesu; das sei etwa im Vergleich zu den griechischen
Mythen neu.
Der im Neuen Testament bezeugte Gott sei anders als
die Götter in den Mythen; er trete auf die Seite des unschuldigen
Opfers. Der Blickwechsel bewirke auch in der Selbstwahrnehmung etwas: Er
befreie den Menschen von dem Wahn, um die Zuwendung der Gottheit ggf.
gar durch Darbringung eines Opfers rivalisieren zu müssen. In diesem
Sinne kann man mit Margull auch sagen, das Kreuz streiche die anderen
Religionen nicht durch, aber es könne in allen Religionen, auch in der
eigenen, überraschend eine andere Perspektive schaffen.
"Der Gehalt der Offenbarung besagt: Gott tritt auf
die Seite des unschuldigen Opfers. Und: Nur das unschuldig verfolgte
Opfer erkennt den wahren Gott! In dieser Erkenntnis liegt das Ende
metaphysischer Gewalt ...". Insofern stelle die Offenbarung Gottes in
Jesus Christus alle menschliche Kultur in Frage; was aber nicht
gehindert hat, dass auch die Christen sich immer wieder Sündenböcke
geschaffen (die Juden z.B.) und also die alten Mythen repristiniert
hatten. "Im Lichte der von den Passionsgeschichten eröffneten
Perspektive ist keine Kultur sakrosant."
1.1.2. Das "Ende des Gesetzes"
von Reziprozität und Retribution
Ahrens sieht mit Girard das Christentum so tief in
die Gewaltproblematik involviert, dass es "nicht nur auf einer
sozialethischen Ebene herausgefordert ist, sondern auch hinsichtlich der
Frage nach seinen Fundamenten, hinsichtlich der Frage, was für einen
Gott Christen eigentlich glauben" . In der Kontextualisierungsdebatte
dürfe diese Frage nicht ausgeklammert werden.
Zum einen genüge es nicht, das Evangelium in den
gegebenen religiösen und kulturellen Kontext einzuzeichnen, solange
dessen latentes Gewaltpotential nicht aufgedeckt wird. Zum anderen ist
das Christentum selbst immer wieder dem Opfermechanismus verfallen,
wobei das christliche Opferdenken, das durch die Verknüpfung des
Kreuzestodes Jesu mit dem Satisfikationsmotiv geprägt wurde, in der
Mission globalisiert wurde. Ahrens: "Er, der Sohn Gottes, zahlt für
menschliche Erb- und Tatsünden mit dem Opfer seines Lebens und versöhnt
damit den zornigen Gott. So haben der Missionsprotestantismus und der
römische Katholizismus das Besondere des Christlichen oft dargestellt
..." . Diese Darstellung habe wohl Anhalt an einigen neutestamentlichen
Vorgaben, bleibe aber immer ambivalent. Denn in Religionen (und
Kulturen), in denen der reziproke Kreislauf von Geben, Nehmen und
Erwidern alle sozialen, religiösen und kosmischen Beziehungen
strukturiert und durch periodisch neue Opfer im Gleichgewicht gehalten
wird, "kann eine opferkultische Interpretation des Christlichen einen
gewaltigen Widerhall auslösen - so oder so!" Sie kann die vorgegebene
Gewaltstruktur durch die Re-Paganisierung des Christlichen perpetuieren
, es kann aber auch zur Aufklärung der Religion über sich selbst
beitragen, indem es das opferkultisch angeblich immer neu herzustellende
Gleichgewicht durch die Verkündigung Jesus von der ungeschuldeten Gabe
des Glaubens "stört". Im ersten Falle haben wir es mit einer
gesetzlichen Interpretation zu tun; im zweiten mit einer Gesetz und
Evangelium unterscheidenden Interpretation. Jesu Wort und Werk ist das
Ende des Gesetzes von Reziprozität und Retribution. Jesus hat es
unternommen, seinen "Zeitgenossen den Glauben an die heilende Kraft der
Liebe abzugewinnen und (ist) in seiner Treue zu dieser Mission österlich
gerechtfertigt" worden. "So wird Jesus Urbild des Menschen ganz für Gott
und - seit Ostern universal sagbar - Wort Gottes für alle Menschen. Da
wird die Transzendenz geöffnet - auf ein Leben im Glauben mit Gott. Mit
der ungeschuldeten Gabe des Glaubens ist die Inversion des
Opfergedankens vollzogen." Kontextualisierung heißt in diesem
Zusammenhang dann aber, dass der Kontext gerade nicht zum "Gesetz" des
Evangeliums werden kann, sondern dass das Evangelium der Kontext
verändert und auf den Geist der Liebe Gottes hin öffnet, durch den der
eine Gesellschaft stabilisierende Kontext der Reziprozität des Gebens
und Nehmens nicht aufgelöst , wohl aber sein Gewaltpotential durch den
Glauben, dass es nur mit der Liebe geht, transzendiert wird. Die
Grundstruktur von Geben und Nehmen bleibt, aber sie wird nicht durch das
Opfer, sondern durch die Liebe im Gleichgewicht gehalten: "Lex jam adest"
- das Gesetz, ein Sinn für Verpflichtung ist immer schon da. Geben und
Nehmen, Annehmen und Erwidern, kurz, Reziprozität, sind wichtig für den
Erhalt der Solidarität unter Menschen. Gleichzeitig wird deutlich
gemacht, dass wir einander nichts schulden als dass wir uns lieben. Die
Liebe schöpft aus jenem menschlich unerschwinglichen Vermögen, dass sich
nur gratis erschließt."
Die kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Vorgangs
beschreibt Ahrens wieder unter Aufnahme von Gedanken Girards
folgendermaßen: "Christus ist nicht die Spiritualisierung der
Reziprozität, sondern Modell und Sakrament der Gabe, die im Geben und
Nehmen der Religion die reine Gratuität der Gottesbeziehung ansagt.
Ungeschuldet gewährt Gott den Glauben, dass kein Mensch reduziert wird
auf die Summe seiner Taten oder Untaten - eine Gabe menschlich ebenso
unerschwinglich wie notwendig. Damit ist eine Unterscheidung von Person
und Werk grundgelegt, die erhebliche kulturelle Bedeutung gewinnen kann.
Die Unterscheidung bietet einen theologischen Ansatzpunkt, vor dem
Hintergrund der Ideologie der Reziprozität als Grundgesetz des
Zusammenlebens den Gedanken der Würde und Freiheit des Menschen geltend
zu machen und so zur Universalisierung des Gedankens der Würde und
Freiheit der einzelnen Person beizutragen." Das Pagene dagegen bestehe
darauf, dass niemand den Folgen seiner Taten oder Untaten entkommt.
Angeblich bleiben alle der großen Kette des Seins verhaftet. Hingegen
sagt das Christliche: Es können die Fehltaten und Fehlentscheidungen
nicht nur vergeben werden, sie können spurlos gelöscht werden. Die Logik
und Praxis des immer wieder in Gewalt kippenden Kreislaufs von Geben und
Nehmen, der dann durch ein Opfer wieder ins Gleichgewicht gebracht
werden muss, wird unterbrochen. Die freie Gabe, das Geschenk der Liebe
bricht "in etablierte und zugleich immer im Wandel befindliche, komplex
geordnete Felder des Gebens und Nehmens" ein und sprengt sie - zumindest
für den Augenblick. Die endgültige Überwindung ist ein Ereignis des eschatologischen Handelns Gottes.
"Gleichwohl sind alle Menschen darauf
angewiesen, dass solche Durchbrechungen der Reziprozität im Aufblitzen
der freien Gabe immer wieder, ja unaufhörlich erfolgen." Zu Beginn jedes
christlichen Gottesdienstes werden darum alle Anwesenden darauf
angesprochen, dass sie sich der Gabe Gottes verdanken. "Aus dem
Überfluss des Beschenktseins wird gegeben. Sie sind, wie die Dankgebete
im liturgischen Eröffnungsteil sagen, alle Beschenkte, nämlich des Leben
schenkenden Wortes, Schuldner der Gnade. Was die Gemeindeglieder haben
und sind, verdankt sich einem transzendenten und doch auch in der
Begegnung anwesenden Geber." Als Beschenkte stehen Christen zwar täglich
noch in der Anfechtung, leben im Fragmentarischen und müssen sich an dem
vom Kreuz gewiesenen Ort der Demut bewähren; aber eben so nehmen sie die
letzte Zukunft der mit Ostern angebrochenen Herrschaft Christi und also
der uneingeschränkten Wirksamkeit der Liebe vorweg.
1.1.3 Die Gegebenheit des
Glaubens an die Liebe
Zurück zur Frage nach der Sachmitte des Christlichen
in der Vielfalt der Situationen. Gottes Gegenwart ist immer konkret und
damit partikular. Die Wahrnehmung der Universalität Gottes gründet in
der "Partikularität seiner Selbsterschließung" . Was aber ist in der
bleibenden Mannigfaltigkeit der Kontexte die bleibend christliche
Sachmitte? "Finden wir ... in den Feldern der Logik und Praxis der
Reziprozität und Retribution ein einheitsstiftendes Moment, das eine
Übersetzung erlaubt, ... ein Äquivalent, das in seiner Rolle als
transzendental Gegebenes der Vielfalt der Gaben und der Vieldeutigkeit
des Gebens, Nehmens und Erwiderns eine einheitliche Richtung gibt?" Das
Äquivalent zur Gegebenheit von Geben und Nehmen und Erwidern sieht
Ahrens in der in Jesu Botschaft und Handeln zutage tretenden Gegebenheit
des Glaubens an die Liebe.
Entgegen einer verbreiteten christlichen Annahme gehe
es im Kreuz nicht um ein Opfer des Gottessohnes, sondern um die
humilitas Jesu, seine Niedrigkeit und Demut. Ahrens verweist auf den
frühen Luther, der das Kreuz nicht als Opfer, sondern als Beweis der
Niedrigkeit und Demut interpretiert, durch das Jesus seine Verkündigung
und das in seinem Tun weitergegebene Geschenk der voraussetzungslosen
Liebe Gottes bis in den schändlichsten aller Tode, den Tod am Kreuz,
durchhält und im Kreuz den Abgrund überschreitet, der die Menschen von
Gott trennt. Jesu Kreuz hat nach Luther die geheimnisvolle Kraft, zu
Gott zu erheben, hier ist der Ort, an dem der Glaube an das
unerschöpfliche Vermögen der Liebe entsteht. "Auf die Aggression, die
sich der Zumutung der Liebe als dem zukunftsweisenden Weg der
Gewaltbegrenzung verweigert, antwortet Gott mit der ungeschuldeten Gabe
des Glaubens, dass eben nur die Liebe der Gewalt gewachsen ist." Jesu
Weg bietet also nicht nur ein Beispiel eines Weges mit Gott, auch nicht
nur ein Werk, das er vollbracht hätte. "Sein Kreuz ist der Ort, seine
Person, sein Leib der Ort, an dem sich die schöpferische Gegenwart
Gottes bewährt, indem sie den Glauben stiftet, auf den die Liebe, um
immer neu anzufangen, angewiesen bleibt. Der Glaube an die Allmacht der
Liebe transzendiert die der Religion inhärente Gewalt." Fazit Ahrens:
"So wird die Geschichte Jesu in, mit und an der jüdischen Religion zu
dem auch für Heiden, d.h. universal sagbaren, ihre Mythen und Riten
erhellenden Wort."
Die Aufgabe einer so verstandenen Theologie des
Kreuzes ist es, der Gegebenheit der Gewalt die Erinnerung an die
göttliche Gegebenheit entgegenzustellen. "Dem Geheimnis der Sünde, das,
anders als Girard meint, letztlich unauslotbar bleibt, ist ein anderes
Geheimnis entgegenzustellen, das des Glaubens als menschlich
unerschwinglicher Gabe."
1.2 Transformationen mimetischer
Rivalität
Die Diskussion mit René Girard ermöglich es Ahrens,
die berechtigten Anliegen des Inkulturations- und des
Kontextualisierungsmodells zusammenzuführen. Ersteres setzt voraus, dass
es nur 'ein Evangelium' gibt, durch das etwas von universaler Bedeutung
zur Sprache kommt, das unabhängig von der konkreten Situation immer
schon wahr ist; letzteres betont die Präsenz Gottes, die sich je nach
Kontext unterschiedlich zur Geltung bringt. Ahrens verbindet die Motive
beider Modelle, indem er die nicht zu übersehende Notwendigkeit der Kontextualisierung mit der Frage nach den verbleibenden Möglichkeiten
der Verständigung zwischen unterschiedlichen christlichen Milieus und im
interreligiösen Dialog miteinander verknüpft. Das gelingt ihm durch
einen Perspektivenwechsel. Er stellt nicht zuerst die Frage nach 'dem
ewigen Heilswillen Gottes wie es im Evangelium zur Sprache kommt',
versucht aber auch nicht, eine bestimmte Situation (= Kontext)
theologisch vorab als 'den Ort der Gegenwart Gottes' auszuweisen,
sondern nimmt jene Perspektive ein, die sich ergibt, wenn man sich auf
die Seite der Opfer von Gewalt stellt. Es ist die Perspektive, die D.
Bonhoeffer meinte und als den "Blick von unten" charakterisierte: die
Wahrnehmung der Ereignisse in der Welt "aus der Perspektive der
Ausgeschlossenen, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen,
Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden..." . Es ist der Blick
derer, die unter dem 'Gesetz' und also unter der Gegebenheit der
Opfermentalität leiden.
Die Überwindung von Gewalt könne nun nicht davon
erhofft werden, dass die Lage revolutionär verändert oder
rechtsstaatlich domestiziert wird (um nur diese beiden Alternativen zu
erwähnen). Funktionierende Rechtssysteme können zwar die latente
Gewaltbereitschaft eindämmen. Sie müssen gewahrt und demokratisch
weiterentwickelt werden. Sie werden aber mit der Destruktivität der
Opfermechanismen nicht fertig. Die Quelle des Unheils ist der Mensch,
darum kann das Böse nicht in die Strukturen verschoben werden.
"Institutionen dämmen das Böse ein. Aber sie schaffen keine
grundsätzliche Besserung der Situation." Denn jede Gesellschaft, sei sie
revolutionär oder kapitalistisch geprägt, archaisch oder modern, ist
grundlegend gestört durch den mimetischen Konflikt und in seinem Gefolge
der 'Sünde' des Opfermechanismus , die jeden zum Verfolger und
Verfolgten zugleich macht. "Mimetische Rivalität kann durch Gesetz nicht
aufgehoben werden." Auch nicht durch sozialethischen Aktionismus, der,
so Ahrens, in der ökumenische Debatte um Gewalt und Gewaltüberwindung
dominiert. Eine Transzendierung der Gewalt erhofft sich Ahrens allein
von der Jesus-Story mit ihrer "subversiven und explosiven Botschaft von
der Rechtfertigung des unschuldigen Opfers durch den gewaltlosen Gott" .
Die mimetischen Begierden der Einzelnen, die im Augenblick ihres
Überhandnehmens alle sozialen Beziehungen zerbrechen, werden in jenem
Augenblick überwunden, in dem die Reziprozität von Geben, Nehmen und
Erwidern durch das Geschenk des Glaubens an die Allmacht der Liebe auf
das Kommen des Reiches Gottes hin transzendiert wird. "Reziprozität
-
als Ordnungsmacht und in ihrem Gewaltpotential - ist global. Gnade wird
global. Das Außerordentliche, die ungeschuldete Gabe des Glaubens, also
reine Gnade wird innerhalb des Rahmens der (rechtsstaatlich) gezähmten
Reziprozität erfahrbar, von der sie sich absetzt." Die Anliegen von Inkulturation und Kontextualisierung sind komplementär und verweisen
aufeinander. Ahrens bezieht sich auf den Tübinger Systematiker Ingo U.
Dalferth wenn er schreibt: Die Geschichte Jesu "ist der Kontext, der die
Wahrheit unserer Geschichte konstituiert und zur Geltung bringt, unsere
Geschichte ist der Kontext, in dem sich die Wahrheit seiner Geschichte
erweist." Kurz: Inmitten der Gegebenheit des 'Gesetzes' bricht sich die
Gegebenheit des Evangeliums Bahn und führt bei denen, die sich ihm
anvertrauen, dazu, nach Möglichkeiten der Eindämmung und Überwindung von
Gewalt 'schon jetzt' zu suchen und das ansatzweise auch zu
verwirklichen.
Ahrens' Fazit: Die Frage nach der Überwindung der
Gewalt wird in der "Ökumenischen Dekade zur Überwindung von Gewalt"
aufgeworfen, freilich aktionistisch verkürzt, bei Girard anthropologisch
vertieft, aber erst in soteriologisch-christologischen Perspektive
findet sie in der Durchbrechung des mimetischen Mechanismus durch die
menschlich unerschwingliche Gabe des Glaubens an die Zukunftsmacht der
Liebe ihre verheißene Auflösung.
2. Die Reflexion der
Interkulturalität des Christentums: Zur Praxisrelevanz der
Missionswissenschaft.
Auf dem Hintergrund der Frage nach dem christlichen
Beitrag zur Überwindung der globalen Gewaltverhältnisse und der
aktuellen Gewaltausbrüche in vielen Teilen der Welt stellt sich Ahrens
dem Problem der Praxisrelevanz der Missionswissenschaft. Er bearbeitet
es vor allem in folgenden Beiträgen: in der schon genannten Studie "Zur
Diskussion einer Gotteslehre" , in der Untersuchung "Zur Relevanz der
Missionswissenschaft" und in den Erwägungen "Zum missionarischen
Selbstverständnis heute" .
Der Referenzrahmen der Missionswissenschaft kommt für
Ahrens nur die Jesus-Story infrage. Sie wird "in dem Vertrauen erzählt,
dass die Welt ihren angemessenen Ort innerhalb dieser Story hat" . Die
entscheidende Frage dabei ist, wie wir dem unter dem 'Gesetz' der
Reziprozität lebenden Menschen (der Welt) das Evangelium von der
Freiheit vom Gesetz, und das heißt: Jesus Christus als Erfüllung und
Ende des Gesetzes verkündigen (Jesus-Story), ohne ihnen zuerst ein 'anderes Gesetz' aufzuerlegen, z. B. unseren (westlichen) Gottesbegriff
oder gar unser Glaubenssystem . Wie bringen wir das 'Gesetz', unter dem
sie de facto stehen, so zur Sprache, dass das Evangelium das Gesetz
interpretiert und das 'Gesetz' (der Reziprozität) im "Aufblitzen der
freien Gabe" erfüllt wird? In diesen formal skizzierten theologischen
Zusammenhang gehören, wenn ich Ahrens recht verstehe, seine Äußerungen
über die Gotteslehre, die Kreuzestheologie und die Missionspraxis.
2.1 Der Zusammenhang von
Gottesbegriff und missionarischer Praxis
Wie können wir von Gott reden und worin unterscheidet
sich unser Reden davon, wie in anderen religiösen Vorstellungswelten von
"Göttern" geredet wird?
Sowohl in Missions- als auch in der
Religionswissenschaft wird vorausgesetzt, dass man das Zentrum des eines
Glaubenssystems mit dem Zentrum des anderen vergleichen muss, weil nur
so erkennbar wird, welche Elemente eines Systems man mit den des anderen
vergleichen kann. Hinter diese Forderung kann keiner zurück. Aber sie
reicht nicht weit genug. Im Blick auf die religiösen Erfahrungen
beispielsweise wird für Außenstehende in der Regel unzugänglich bleiben,
was Insider in einem Ritus erblicken und erleben. "Appelle an die
Vergleichbarkeit religiöser Erfahrungen ergeben noch keine gemeinsame
Verständnisgrundlage." Ähnliche Schwierigkeiten treten beim Vergleich
der Gottesvorstellungen auf: mag man sich mit den Anhängern
monotheistischer Religionen vielleicht mehr oder weniger verständigen
können, so wird man sagen müssen, dass sich die vielen kleinen Götter polytheistischer Systeme und der eine Gott des Himmels schlechterdings
nicht vergleichen lassen. Es sollte stattdessen darum gehen, die
Erfahrung der Gegebenheiten, soweit man ihrer ansichtig geworden ist und
in Mythen, Riten und Gottesvorstellungen bearbeitete, kurz, die
Sinnhorizonte und die mit ihnen verbundenen Wahrnehmungs- und
Deutungsperspektiven miteinander zu vergleichen.
Alle Menschen schaffen sich ein symbolisches Universum ohne das sie in
der Welt nicht sein können. "Ihr Entwurf der Wirklichkeit wird immer
wieder aktualisiert und versichert sie dessen, dass ihre Wirklichkeit
... verlässlich ist..." . In traditionellen wie modernen Gesellschaften
wird die soziale Ordnung durch Geben, Nehmen und Erwidern
aufrechterhalten. Man kann daher die Logik und Praxis der Reziprozität
auch als eine Metaebene verstehen, die alle Kulturen und ihre religiösen
(oder säkular-juridischen) Systeme miteinander vergleichbar macht.
Gleichzeitig werden sie als für die Überwindung von Reziprozität und Retribution und der mit ihr latent gegebenen Gewaltbereitschaft
zugänglich erachtet, insbesondere in dem Augenblick, in dem die alten
Sinnsysteme ihre Integrationsleistung für die gesamtgesellschaftliche
Konstellation nicht mehr erbringen können. "Theologisch gesehen geht es
darum, für beide Seiten nachvollziehbar von Gott so zu sprechen, dass
damit die Realitätserfahrungen von Menschen kompetent gedeutet werden
und diese nicht nur spiegeln."
Eine Rekonstruktion des bisherigen Sinnsystems durch
die Begegnung mit dem Evangelium von der freien Gabe Gottes, vom freien
Geschenk des Glaubens kann dazu führen, dass sich Christentum und
indigene Kultur gegenseitig auslegen. Die im Prozess der Verkündigung
eingetragenen "Formen des Christentums tragen dazu bei, die
traditionelle religiöse Vorstellungswelt zu verändern ... Die Sprache
ist schon da, in der das Evangelium sagt, von wem es kommt. Die
religiöse Vorstellungswelt, die Plausibilitätsstruktur wird relativiert
von dem her, was das Evangelium sagt und umgekehrt." Das bedeutet aber
auch: "Was die Identität des Christlichen ausmacht, wird im Prozess der
interkulturellen Auffächerung des Christentums strittig." Die von Jesu
Botschaft beeinflusste Sprache des Glaubens "setzt immer neue
christliche Dialekte frei" . Eine abstrakte interkulturelle Hermeneutik
wird damit obsolet. M.a.W.: Die Universalität Gottes kommt immer in der
Partikularität der jeweiligen Kultur zur Sprache. Das entspricht der
christlichen Erfahrung der Selbstbegrenzung Gottes in der Inkarnation
und findet seine Fortsetzung in der konkreten Anrede "mein Leib für
Euch." Die Partikularität stellt nach Ahrens kein vorübergehendes,
sondern ein bleibendes Moment christlicher Glaubenserkenntnis dar. Was
z.B. Christen von ihrem Bekenntnis Gottes als des Schöpfers der Welt zu
sagen haben, sei von dem einmal und ein für alle Mal dort und damals
nicht ablösbar. Zugleich spanne diese Kurzformel eines christlichen
Bekenntnisses einen weltweiten Horizont auf. Ahrens versteht "das
Anliegen der Kirchenväter, die am trinitarischen Gottesbegriff
arbeiteten, so, dass sie diese Partikularität Gottes anerkannten und
zugleich festhielten, das Gott nicht nur als der Akteur der Versöhnung
zu begreifen ist, sondern auch als der Ursprung allen Lebens und als
alle und alles zurecht bringender Geist. Die Wahrnehmung der
Universalität Gottes gründet also in der Partikularität der
Selbsterschleißung Gottes in Christus durch den Geist ... Anders gesagt:
Das Christusbekenntnis ist ohne trinitarische Rahmung nicht aussagbar."
Damit sei allerdings nicht gesagt, dass die altkirchliche Terminologie
für alle Zeit und überall normativ gestellt werden könnte. Allerdings
müsse das, was der trinitarische Gottesbegriff vermitteln will, in jedem
denkbaren christlichen Glaubenssystem gewahrt bleiben: Das ganze
Universum wird durch Gottes schöpferisches, versöhnendes und zur Recht
bringendes Wirken bestimmt. Gottes Gerechtigkeit kommt als seine
Schöpfertreue zum Zug. Wenn das so ist, kann keine Sphäre der
Wirklichkeit vom Wirken und von der Präsenz Gottes ausgeschlossen
werden." Die Basis für ein Verständnis anderer Kulturen und Religionen
sei daher die Annahme der Universalität des Wirkens Gottes in der Welt.
Der Prüfstein dafür, ob die Transformation des Evangeliums von der
freien Gabe in die Welt der Zeichen und Symbole, der Poesie und Poetik
und also auch der Religionen dem Handeln Gottes in Jesus Christus
gelingt, ist die Antwort auf die Frage: "Wie haltet ihr es, wie halten
wir es mit Opfer und Gewalt?" Die Missionswissenschaft kann erkunden,
wie in dem einen oder dem anderen Kontext mit diesem Thema umgegangen
wird. "Das Gewaltthema nötigt die Kirchen, ihre missionarischen
Motivationen zu überprüfen."
Hier zeigt sich eine der hervorragenden Aufgaben, die
Ahrens der Missionswissenschaft stellt. Als Wissenschaft untersucht sie
die Bemühungen derer, die in ihnen fremden kulturellen
Lebenszusammenhängen das Evangelium zur Sprache bringen, und die
Wirkungen ihres Tuns bei anderen und - vermittelt durch die Erfahrungen
der Anderen - bei sich selbst. Dazu gehört neben der Erforschung der
Lebenszusammenhänge, in denen die christliche Botschaft zur Sprache
kommt, der Art und Weise, wie sie weitergegeben wurde und welche
Wirkungen sie dort hatte, vor allem die kritische Untersuchung der
Gewaltgeschichte und Gewaltphantasien bei Christen und Angehörigen
anderer Religionen.
In diesen Zusammenhang gehört zum Beispiel auch das
Thema der partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Kirchen des Nordens
und des Südens und damit verbunden die Frage nach der Bedeutung der
Gabe, die als eine "zentrale Vorstellung des christlichen Glaubens in
den sozialen Beziehungen und kulturellen Ordnungen verankert ist." Hier
wäre zu fragen, "wie der geistvolle Charme des Wortes für dich (umsonst)
gegeben in den Brüchen der partnerschaftlichen Beziehungen, für das
Gebrechen der jeweils anderen heilend zum Tragen kommt. Hebt die
Kernaussage des Evangeliums (Gott gibt umsonst) die alltägliche
Erfahrung auf, dass Beziehungen versauern, wenn Geben, Nehmen und
Erwidern nicht in einer Balance gehalten werden, die den Beteiligten
einigermaßen akzeptabel erscheint?"
Damit geraten die "Gewalterfahrung und der
Versöhnungsauftrag" als missionswissenschaftliches Thema in den Blick. "Die Frage, welchen Beitrag Kirchen zur Begrenzung von Gewalt leisten
können, reicht weit in die Zukunft, reicht allerdings auch weit in die
Vergangenheit der Missionen hinein." Nicht nur haben die Missionen der
westlichen Kirchen ihre Aktivitäten lange Zeit mit dem Kolonialismus und
der mit ihm einhergehenden Gewalt verbunden; sie stehen heute auch vor
der Tatsache, dass ein Großteil ihrer die Gewalt eindämmenden
Entwicklungsbemühungen durch repressive und korrupte politische Systeme
zunichte gemacht worden sind.
Hinsichtlich ihres sozialethischen Engagements können
sie nicht davon ausgehen, dass Gewalt allein im Prozess der
Sozialisation erlernt worden ist, sie also auch wieder verlernt werden
könne, sondern dass sie tiefer an der Wurzel des Menschlichen liegt und
deswegen durch Politik, sozialethisches Handeln und Erziehung
bestenfalls delegitimiert, eingegrenzt, zurückgedrängt werden kann.
Dennoch sei es notwendig, das genuin Christliche auch in politischen und
historischen Zusammenhängen zur Sprache zu bringen und beispielsweise
nach der Relevanz der Versöhnungsbotschaft zu fragen. Kann Versöhnung in
der Perspektive der Überwindung der Opferstruktur durch die freie Gabe
des Glaubens an die Liebe Gottes eine Kategorie politischer Hermeneutik
sein? Wohl nur, wenn man in Rechnung stellt, dass "nur das unschuldig
verfolgte Opfer ... den wahren Gott" erkennt und dem in Theorie und
Praxis Rechnung trägt.
Hierher gehört schließlich auch die Frage, welche
Rolle die Phantasien von einem die Welt erobernden Gott in der
abendländischen Missionsgeschichte gespielt haben. Hier liegen
Schlüsselprobleme einer künftig zu schreibenden Missionsgeschichte offen
zu Tage. Statt die sich aus der gemeinsamen Geschichte ergebenden
Probleme offen und frei zu diskutieren, werden sie auch von den
Missionsgesellschaften bis heute oft tabuisiert. "Wie gehen wir mit
unserer Geschichte um? Wie gehen wir um mit der Geschichte der anderen,
unserer sog. 'Partner'? Wie gehen wir um mit der Geschichte, die so oder
so nun unsere gemeinsame Geschichte ist, derer im Norden, derer im
Süden, derer im Osten, derer im Westen?" Und da diese Geschichte immer
auch die nach außen gewandte Seite unseres Gottesverständnisses ist -
welcher Gottesbegriff lenkt unsere Praxis, welche Jesus-Story erzählen
wir?
2.2 Der Zusammenhang von
Jesus-Story und missionarischer Existenz
Das Selbstverständnis von Mission, die Praxis der
Missionarinnen und Missionare, die ökumenische Partnerschaft zwischen
Kirchen, der Transfer von Wissen, Geld und Mitarbeitern, die
Bildungsarbeit, der Umgang mit innerkirchlichen, interkirchlichen und
interreligiösen Konflikten usw. - all das muss sich daran messen lassen,
ob es der humilitas Jesu und der mit ihr angestoßenen Geschichte der
Überwindung von Gewalt entspricht. "Die Wahrheit haben wir nicht als ein
vorzeigbares Objekt. Sie erschließt sich nur im Prozess menschlicher
Kommunikation." Der glaubwürdige missionarische Lebensstil steht hier
ebenso zur Debatte wie die der ungeschuldeten Gabe der Liebe Gottes
angemessene missionarische Praxis. Ahrens diskutiert das Problem in
einer "Biblischen Besinnung" darüber, wie der Apostel Paulus seine "missionarische Existenz" interpretiert. Ich halte seine Ausführungen
(die in großer Nähe zu seinem Lehrer im Neuen Testament,
Ernst Käsemann,
entstanden sein dürften) für einen Schlüsseltext zu einem an der
Botschaft von der Überwindung der Opfermentalität und der mit ihr
gesetzten Gewalt ausgerichteten Selbstverständnis missionarischer Praxis
heute.
2.2.1 Schwachheit
Paulus interpretiert in seiner Auseinandersetzung mit
der korinthischen Gemeinde über die Glaubwürdigkeit seiner Verkündigung
angesichts der Erbärmlichkeit seiner eigenen Lebenssituation seine
Ohnmacht und Schwäche als Repräsentanz der Ohnmacht Gottes, wie sie am
Kreuz anschaulich geworden ist. Aber wie in der Ohnmacht Jesu Gottes
Macht offenbar geworden ist, so in der Schwäche des Apostels Gottes
Herrlichkeit und Macht. "Das Kreuz sagt gültig aus, was es heißt, sich
auf Gott einzulassen. Der Apostel, hineingezogen in das Sterben Jesu,
stellt eine Vergegenwärtigung dieses Kreuzesgeschehens dar." Darum kann
am Leiden des Apostels das Leben Jesu deutlich werden. Das "Mysterium
missionarischer Existenz besteht ... darin, dass Missionare an der
Schwäche Gottes beteiligt werden und so hinweisen auf die Möglichkeiten
eines Lebens im Geiste Jesu." Kurz: "Die Grenzen der (erbärmlichen)
Leiblichkeit des Apostels markieren das Nadelöhr seiner missionarischen
Kommunikation."
Welche Bedeutung hat diese Verortung seiner Existenz
im Kreuzesgeschehen für die missionarische Verkündigung des Apostels?
Die Vorstellungen von einem allgewaltigen und gewalttätigen Gott werden
durch Jesus, das Bild Gottes (2.Kor 4,4), infrage gestellt. Gott war in
Christus - Gott lässt sich auf diese Welt ein, wie er sich auf diesen
Menschen Jesus eingelassen hat. Paulus ruft dazu auf, sich von diesem
Gott versöhnen zu lassen, und das heißt, sich darauf einzulassen, dass
allein durch den "menschlich unerschwinglichen, von Gott ins Herz
gelegten Glauben, dass in der Liebe das Vermögen liegt, das Böse
aufzulösen" und dem Sog der Gewalt zu widerstehen.
"Wo Menschen in dem Glauben, dass die Kraft der Liebe
dem Bösen gewachsen ist, mit Gott versöhnt sind, ist das Perfektum
dieser Versöhnung in Beziehung zu setzen mit dem, was noch werden soll."
Sie dürfen und können das, weil sie als "Angeld" den Heiligen Geist
empfangen haben, "eine Anzahlung, zugleich eine Ermächtigung, mit Gott
in seiner Welt zusammenzuwirken (2. Kor 1,22;
5,5; Röm
8,26)", wobei
die Motivation und das Maß ihres Handelns die Liebe ist. Aber nicht alle
Orte, alle Menschen und Zeiten sind schon von der Gegenwart des Geistes
erfüllt. Menschen an konkreten Orten und zu bestimmten Zeiten können
aber zu "Stätten der Gegenwart des Heiligen Geistes" und zu Zeichen des
Reiches Gottes werden, wenn sie legitimiert bleiben "durch ihren Anhalt
an den Merkmalen der Jesusgeschichte:" Heilsgeschichte und
Weltgeschichte fallen also nicht deckungsgleich ineinander. Darum gehört
es zu den Gaben des Heiligen Geistes, die Geister unterscheiden zu
können. Wo ist das Wirken des Geistes erkennbar und welche Grenzen und
Möglichkeiten missionarischer Solidarität ergeben sich daraus?
2.2.2 Geistesgegenwart
Nun, auf die Frage, wo das Wirken Geistes erkennbar
ist, kann man keine eindeutige Antwort geben. Fraglich erscheinen Ahrens
die in der ökumenischen und missionstheologischen Diskussion
verbreiteten Hinweise auf die humanisierende Wirkung durch die
Verkündigung des Evangeliums, die Verbesserung sozio-ökonomischer
Zustände, die Eingrenzung von Gewalt und die Wiederherstellung der Würde
des Menschen. Das alles sei wohl wichtig und wert, sich dafür zu
engagieren. Aber Ungerechtigkeiten sind nach allem, was wir über die
Ursache von Gewalt gehört haben, nie nur Ergebnis von Strukturfragen.
Vielmehr bedürfen wir "einer in die Tiefe gehenden Öffnung der Quellen
der Zuversicht, eines Grundvertrauens, dass diese Welt nicht einfach in
einer kosmischen Katastrophe verschwinden wird, sondern dass Gott der
Schöpfer, Versöhner und Vollender seiner Schöpfung treu bleibt und die
Geschichte seiner Treue (= Gerechtigkeit Gottes) zu seinem Ende führen
wird" In der Weckung dieses Glaubens erkennt Ahrens die maßgebliche
Aufgabe missionarischer Verkündigung, missionarischer Existenz und
Strukturen. Von hier her umreißt Ahrens - wieder in Anlehnung an Paulus
(1. Kor 9, 19-23) - die Möglichkeiten und die Grenzen missionarischer
Solidarität.
Ahrens fasziniert, dass Paulus sich jeweils auf das
einlässt, was die Stärke seines Dialogpartner ausmacht bzw. was dieser
dafür hält: er wird den Juden wie ein Jude, den Griechen wie ein
Grieche, denen unter dem Gesetz als ob auch er unter dem Gesetz stünde
und den Gesetzlosen als ob auch er ohne Gesetz sei (1. Kor 9,21). Nur
von den Schwachen heißt es, er begegne ihnen als Schwacher (v. 22).
Paradoxerweise sind die Schwachen ihrem Selbstverständnis nach die
wirklich Starken in der korinthischen Gemeinde, weil sie kein
Götzenopferfleisch essen (1. Kor 8, 1 ff,
10, 23 ff), von Paulus und den
korinthischen Enthusiasten aber als Schwache beurteilt werden, weil sie
religiös besonders rigoros (weil an das religiöse Verbot des Essens von
Götzenopferfleisch gebunden) und also unfrei sind. Im Umkehrschluss
heißt das aber: Paulus, der das Leiden Christi an seinem Leibe trägt,
also dessen Ohnmacht repräsentiert, ist der in Wahrheit Schwache. Er
wird nicht nur von seinen Gegnern als Schwacher gekennzeichnet, obwohl
er sich für einen Starken hält, sondern er ist der Schwache. Seine
Schwachheit ist keine Fremd-, sondern Eigenzuschreibung! Als solcher -
getragen von der Gewissheit, dass Gott in den "Schwachheiten,
Begrenzungen und Beschränkungen kleine oder auch große
Wirkungsmöglichkeiten erschließen kann" - sucht er nicht den
Schwachpunkt in der Position seiner Dialogpartner, sondern tastet sich
vor zu seinem "Identitätskern". Mehr als ein wie und als ob ist da nicht
möglich; aber er sucht sie in ihrer festen Burg auf. Sie müssen an ihrer
stärksten Stelle mit Gott konfrontiert werden, nicht da, wo sie
versagen! Indem der Apostel die Identität des Gegenübers ernst nimmt,
stellt er seine Wahrheit nicht über die der Anderen, sondern neben ihre
Wahrheit, die freilich für Paulus in Wirklichkeit ihre Schwäche ist. "So
wird der Gesetzestreue aus der Schwachheit seiner Gesetzestreue, der
Grieche aus der Schwachheit seines Griechentums, der Jude aus der
Schwachheit seines Judentums und der Schwache aus der festen Burg seiner
religiösen Arroganz befreit." Das ist ein ganz und gar gewaltfreies
Ereignis. Im Vertrauen darauf, dass er als einer, der dem Gesetz Christi
eingepflanzt ist, an der Ohnmacht Christi in dieser Welt partizipiert,
wagt er den Schritt auf die Lebensebene des Anderen und hofft, dass sich
dadurch die Herrlichkeit des ohnmächtigen Christus erweisen wird. "Kreuzestheologie ist Wort. Sie wird aber auch Wort, indem sie gelebt
wird." Darum ist - wie Ahrens unter Bezug auf E. Güttgemanns schreibt -
"die Präsenz des Apostolats die 'Wort gewordene Präsenz' Jesu in der
missionarischen Existenz." Darum habe missionarische Existenz ihre
Maßgabe darin, "dass Jesus Christus sich zum Diener aller macht und dass
die Kirche je an ihrem Ort mit der Zumutung lebt, dies neu zu
vollziehen". Sie lässt sich durch Jesus Christus für "die Welt" in
Anspruch nehmen, wird "Kirche für andere" (D. Bonhoeffer) .
2.2.3 Leitlinien missionarischer
Existenz
Auch wenn Ahrens davor warnt, paulinische
Einzelaussagen eins zu eins in die Gegenwart zu übertragen, lassen sich
daraus s.E. doch einige Leitlinien missionarischer Existenz heute
ziehen.
Woran lässt sich das Missionarische festmachen? Nicht
mehr geographisch am Überqueren der Grenzen zu fernen Ländern oder der
Grenzen zu fremden religiösen bzw. kulturellen Vorstellungen, auch nicht
an zivilisatorischen Defiziten oder einem Auftrag zur Humanisierung der
Welt. Es lässt sich aber festmachen an der Bereitschaft, in jeder
konkreten Situation die Grenze zwischen dem Glauben, der die Liebe den
Grund des Handelens sein lässt, und dem Unglauben, der meint, es ginge
ohne die Liebe, zu überschreiten. "Mit dieser Grenzerfahrung redlich
umzugehen - ist Mission."
Zur missionarischen Existenz gehört die Erfahrung des
Glaubens, dass in Christus, dem Bild Gottes, uns der vergessene Ursprung
des schöpferischen Lichtes entgegenleuchtet - "ein Bild göttlicher Kraft
und Weisheit, das tief ins menschliche Leben und Leid hineinreicht."
Auch eine Grenzerfahrung! Nur dass hier mitten in unserem Leben, vom
Jenseits der durch unser Immer-wieder-Vergessen dieses Ursprungs
aufgerichteten Grenze her, die Geist-verdankte Erleuchtung zuteil wird,
dass das Jenseitigste, das Transzendenteste sich im Niedrigsten, in
Jesus am Kreuz gezeigt hat und deswegen kein Leben wie erbärmlich auch
immer verloren ist und also ohne Gott gelebt wird.
Woran bewährt sich das Missionarische? An der
Wahrnehmung des Anderen und seiner Wahrheit, an dem Respekt vor seiner
Stärke. Dann reden wir "über das Leben mit Gott so, dass wir einen
Vorschlag zu den Kernfragen, den Sinnfragen unterbreiten, freilich mit
der Neugierde: Was haben andere dazu zu sagen?" Das geschehe im Modus
der Erzählung. Die anderen können den Faden aufnehmen oder nicht. Diese
Freiheit hat jeder. Und jeder kann sich seinen Reim machen, seine
Glaubensform finden, seine Symbolsysteme entwerfen und seine
Gottesdienste feiern. "Das Erzählen überlässt den Hörer seinem Weg mit
dem Wort, es überlässt ihn der Führung des Geistes."
Missionarische Existenz zeichnet sich ferner dadurch
aus, dass sie sich nicht scheut, die Wahrheitsfrage zu stellen. Aber was
ist die Wahrheit des Christlichen? Kurz gesagt, dass kein Mensch auf das
reduzierbar ist, was er gemacht, gedacht oder worin er gefehlt hat. "das
zu glauben, ist der Inhalt der christlich zugemuteten Umkehr zu einem
Leben miteinander im Geiste Jesu. Wo das geglaubt wird, wird der
Ermöglichungsgrund der Freiheit geortet." Die Wahrheitsfrage so zu
stellen heißt, den Anderen nicht zu übermächtigen, heißt, "dem
Erniedrigten den Weg zum Menschen" nicht zu "verlegen"
Und schließlich: Missionarische Existenz ereignet
sich dort, wo ein schwacher Mensch die Ohnmacht der Erniedrigten und
Geschundenen teilt. Er kann nämlich zur "Brücke" für die Erfahrung
werden, dass Gott in den Schwachen mächtig ist.
Ich habe diese Gedanken zum missionarischen
Selbstverständnis deswegen so ausführlich referiert, weil sie neben den
oben skizzierten Studien zu Religion und Gewalt im Zentrum der
missionstheologischen Überlegungen von Ahrens stehen. Wenn die
Reziprozität von Geben und Nehmen und die ihr latent inhärente
Gewaltbereitschaft als das 'Gesetz' angesehen werden kann, unter das 'alles Fleisch' gebunden ist, dann ist das
'Wort vom Kreuz' das
Evangelium, das die vom Gesetz aufgerichtete Grenze zum Anderen
überwindet und mit dem Glauben an die freie Gabe der Liebe zur
Versöhnung zwischen Menschen ermächtigt. Die theologia crucis ist der
Grundton in Ahrens' Denken. Sie ist der Kern seiner
missionswissenschaftlichen Studien. Eine in seinem Sinne betriebene
Missionstheologie soll dazu befähigen, an der Ohnmacht Gottes in der
Welt teilzunehmen. Und die Praxisrelevanz der Missionswissenschaft liegt
nicht zuletzt darin, dass sie die Welt als eine dem Gesetz der Gewalt
unterworfene Wirklichkeit erkennt und die Wirkungen der Wirklichkeit
Gottes in ihr wahrnimmt, versteht und Menschen dazu anleitet, die
Wirklichkeit der Welt auszuhalten und in ihr als "Menschen für andere"
(D. Bonhoeffer) Gottes Wirklichkeit anzuzeigen. Im Aushalten der
Wirklichkeit vor Gott manifestiert sich in jedem denkbaren Kontext
missionarische Existenz in unterschiedlichster Weise immer wieder neu.
Das ist das concretissimum in den nun abschließend noch kurz
vorzustellenden missionswissenschaftlichen und missionspraktischen
Konkretionen in den Aufsätzen "Theologisches Lernen interkulturell" , "'Wohin nur mit den
job discriptions?'" ,
"Wo Ausnahmen zur Regel
werden. Empirisches und nichtempirisches Wissen interkulturell
betrachtet" und "Zur Zukunft der Missionswissenschaft" . Ich beginne mit
der zuerst genannten Studie.
3. Zur Zukunft der
Missionswissenschaft
3.1 Religionswissenschaft versus
Missionswissenschaft?
Die Themen der Missionswissenschaft entstehen da, wo
die Wahrnehmung der "Gegebenheiten" und das Evangelium von der
"Gegebenheit" der ungeschuldeten Gabe des Glaubens an die Liebe Gottes
sich kreuzen. Ersteres könnte auch von einer seriösen
Religionswissenschaft als einer deskriptiven Wissenschaft geleistet
werden, die sich um ein besseres Verständnis anderer Religionen und der
Prozesse ihrer wechselseitigen Beziehungen einschließlich ihres
Verhältnisses zum Christentum bemüht. Letzteres ist nur in der
Missionswissenschaft als einer "positionalen Wissenschaft" (R. Schumann)
möglich, für die "das christliche Symbolsystem" immer der spezifische
Sinnhorizont bleibt. "Jenseits dieser Plausibilitätsstruktur lässt sich
der Sinn christlicher Mission nicht begründen noch verwerfen." Der
eigentliche Unterschied zwischen dem Christentum und anderen Religionen
liegt weniger in ethischen und kulturellen Gegebenheiten, sondern in der
Art der Gotteswahrnehmung (2. Kor 5, 19-21). So stellt das Christentum "die im Christusgeschehen erschlossene Wahrnehmung Gottes in eine
interkulturelle Perspektive" , während die religionswissenschaftliche
Forschung "Gott nur im Zitat und als Begriff kennt" . Darum können nach
Ahrens entgegen mancher Versuche verschiedener Theologischer Fakultäten
an deutschen Universitäten Missions- und Religionswissenschaft nicht zu
einer Disziplin zusammengeführt werden, obwohl sich ihre Themen
mannigfach überschneiden. Er besteht daher auf der Missionswissenschaft
als einer eigenständigen theologischen Disziplin und ist an einer klaren
Zuordnung und Unterscheidung beider im wissenschaftlichen Diskurs
interessiert, weil eine "Verbindung religionswissenschaftlicher
Fachkompetenz mit dialogisch engagierter Missionswissenschaft" die Sinne
dafür zu schärfen vermag, dass Religionen sich nicht nur hinsichtlich
ihrer Antworten auf die "Gegebenheiten" gemeinsamer menschlicher
Existenzfragen unterscheiden, sondern dass sie durchaus unterschiedliche
Grundfragen in Anschlag bringen.
3.2 Zu den Aufgaben der
Missionswissenschaft im Kanon der theologischen Disziplinen
Welches könnte heute der spezifische Beitrag der
Missionswissenschaft im Kanon der theologischen Fächer sein? Das
Christentum, das der interkulturellen Reichweite und Deutungskompetenz
seiner Gotteserkenntnis immer vertraut hat, ist erst in der Neuzeit im
empirisch überprüfbaren Sinne eine Weltreligion geworden. Mit diesem
Prozess in all seinen Facetten befasst sich die Missionswissenschaft. So
gehöre es zu ihren Aufgaben, die Entwicklungen, die in der Modere zu
einer "anderen" (H.J. Margull) Christenheit in der nicht-westlichen Welt
geführt haben und ihre Wirkungen in den lokalen Gegebenheiten, ihre
Auffächerung, die Entstehung neuer christlicher Dialekte, das Auftreten
eines neuen christlichen Polyzentrismus usw. zu untersuchen. Wie hat das
Christentum seine Deutungskompetenz ausgespielt, wie hat es sie
verspielt? Welche Verschmelzungsprozesse fanden in anderen kulturellen
Kontexten statt? Wie hat die Mission zur Transformation von
Gesellschaften beigetragen? "Missionswissenschaft interpretiert also
Prozesse der Aneignung, Integration, Synkretisierung, Umarbeitung und
Zurückweisung des Christlichen in der nicht-westlichen Welt." Und in
alle dem behält sie die "Sachmitte" des Christlichen im Blick: die Gabe
des Glaubens, dass es nur mit der Liebe geht. Sie leistet damit für die
Theologie insgesamt einen maßgeblichen Beitrag zur Bearbeitung der
Herausforderungen, die sich dem Christentum in einer zunehmend
globalisierten Menschheit stellen. Die hinsichtlich der Kommunikation
der christlichen Botschaft in globalen Zusammenhängen gemachten
Erfahrungen in der Mission sind von hoher Relevanz für die lokalen
Bemühungen um christlich angestoßene Umkehr- und Erneuerungsprozesse.
Was heißt es z.B. als Christ in einer Gesellschaft zu leben, in der der
Sinnhorizont eines christlichen Symbolsystems progredient an
Plausibilität verliert? Welche Bedeutung hat die faktische
Interkulturalität des Christentums für die westeuropäischen Kirchen,
ihre Theologie und die europäischen Gesellschaften insgemein? Welche
bleibende Bedeutung werden die Erfahrungen der abendländischen
Christenheit mit der europäischen Aufklärung für christliche
Intellektuelle in der die nicht-westliche Welt haben, wenn deren
Gesellschaften vom pragmatischen und religionskritischen Rationalismus
und den Wissenssystemen, die er ausgebildet hat, eingeholt werden? Diese
und andere Probleme werden von der Missionswissenschaft in dem
Bewusstsein bearbeitet, dass ihre in ihrem konkreten Kontext gefundenen
Antworten nicht überall auf Zustimmung treffen werden. Nicht können!
Denn die unübersehbare "Phasenverschobenheit religiöser, besonders
christlicher Vorstellungs- und Erlebniswelten" verbieten es, eine lokale
Antwort global zu stellen. Die Wahrnehmung der sich in der ökumenischen
Christenheit damit notwendig einstellenden Spannungen in den Beziehungen
und ihre Bearbeitung gehört darum ebenfalls zum Aufgabenfeld der
Missionswissenschaft, das sie stellvertretend für die ganze Theologie
bearbeitet.
Christliche Theologie ist heute notwendigerweise
interkulturelle und ökumenische Theologie. Hinsichtlich ihrer
Erfahrungen und ihres erkenntnisleitenden Ansatzes ist die
Missionswissenschaft dafür besser gerüstet als andere theologische
Disziplinen. Auch die ihr am nächsten stehende Ökumenewissenschaft
verdankt ihrer Kompetenz für die Bearbeitung globaler Zusammenhänge
wesentliche Anstöße. Nicht nur, dass die Entstehung der ökumenischen
Bewegung eng mit der Weltmissionsbewegung verbunden ist; auch ihre auf
die Einheit der Kirche und die Einheit der Menschheit gerichtete
Intention speist sich aus dem die Missionswissenschaft leitenden Wissen
um die Universalität der Botschaft von der freien Gabe des Glaubens an
die Wirksamkeit der Liebe Gottes in der Welt. Deswegen hat der vormalige
Hamburger Missionswissenschaftler
W. Freytag mit einigem Recht in der
Mission den Schlüssel zum Verstehen der Ökumenischen Bewegung gesehen.
Die Missionswissenschaft verfügt über Erfahrungs- und Wissensvorsprünge
im Umgang mit anderen Religionen, Kulturen und Sprachen, die in anderen
theologischen Fächern so nicht vorliegen, aber für die theologische
Bearbeitung der mit dem religiösen Pluralismus und der Globalisierung
verbundenen Probleme unersetzbar sind. Ihre Beteiligung an
interkulturellen Prozessen ermöglicht ihr im Blick auf die anderen
theologischen Fächer eine "Mittlerfunktion" , die von der
Religionswissenschaft allein nicht übernommen werden kann. Sie erinnert
alle theologischen Wissenschaften aber auch daran, dass es keine "Welteinheitsformel interkultureller Hermeneutik" gibt. Zu Recht gibt
Ahrens zu bedenken, dass sich die "Dynamik der Mission und die damit
einhergehende Pluralisierung des Christlichen" einer "interkulturellen
Systematik" entziehen. Ein "hermeneutischer Universalschlüssel", der uns
in Stand setzte anzugeben, "welche Prinzipien die Kontextualisierungsprozesse des christlichen Symbolsystems in
verschiedenen Lebenswelten wirklich steuern", ist nicht in Sicht und
auch nicht wünschenswert. Denn die Einsicht in die Unmöglichkeit einer
wissenschaftlichen Systematisierung der Interkulturalität des
Christentum und der interkulturellen Prozesse gemahnt die Theologie
daran, von allen Versuchen theologischer Welterklärungsmodelle zu
lassen, weil sie der kontextuellen Konkretion der "Gegebenheit" des
Evangeliums widerspräche. Was soll sie dann aber tun?
Sie soll die Vielfalt der christlichen Dialekte, die
Konkretionen des Glaubens in der Pluralität der unterschiedlichen
Rahmenvorgaben und der gesellschaftlichen Kontexte, die verschiedenen
Systematisierungen des Christlichen, die sich oft gegenseitig infrage
stellenden Sinnzusammenhänge und Religionen auf das "Außerordentliche
der freien Gabe" als der zentralen Vorstellung des christlichen Glaubens
beziehen. Sie verbindet mit dem Verweis auf die "Absolutheit der Gabe"
die Hoffnung auf eine "Unterbrechung oder gar eine Aufhebung" der "allumgreifenden
menschlichen Erfahrung im Kreislauf von Geben und Nehmen". In ihrer
Fähigkeit, "solche Durchbrechungen der Reziprozität im Aufblitzen der
freien Gabe immer wieder" anzustoßen, bewährt sich die Praxisrelevanz
der Missionswissenschaft am nachhaltigsten. Gelingt ihr das?
3.3 Situationen
3.3.1 Ökumenisches Lernen in
missionstheologischer Perspektive
Ökumenisches Lernen ist ein Lernen in dem die Welt
umschließenden Horizont der Liebe Gottes und in der Perspektive der
Reichs-Gottes-Hoffnung. Das Stichwort taucht anders als in früheren
Veröffentlichungen von Ahrens in diesem Buch nur am Rande auf. Der Sache
nach ist es immer präsent. Da das Christentum stets auf beiden Seiten
steht: sowohl auf der des Globalen und Universalen als auch auf der des
Kontextuellen, ja Provinziellen, es damit auch an allen Spannungen und
Problemen partizipiert, die heute zwischen Religionen, Staaten, Kulturen
und Gesellschaften bestehen, ist es genötigt, beide Horizonte: den des
Lokalen und den des Globalen einander zu vermitteln. Der damit dem
Christentum historisch und sachlich zuzuweisende Ort ist der ökumenische
Lernort schlechthin. Da für Ahrens Mission und Ökumene komplementäre
Wahrnehmungs- und Handlungsräume des christlichen Selbstverständnisses
sind, Missionswissenschaft s.E. daher auch nur in ökumenischer
Perspektive betrieben werden kann , lässt sich vieles, was er über die
Ausbildung zur Mission, die Fähigkeiten des Missionars, über
missionarische Lernsituationen und missionarische Kompetenz etc. direkt
auf das ökumenische Lernen übertragen. Ich will hier nur auf einige
Aspekte hinweisen, die für die Didaktik des ökumenischen Lernens
besonders interessant sind.
3.3.1.1
Persönlichkeitskonzept
In der Didaktik des ökumenischen Lernen wurde in der
Vergangenheit die bewusstseinsbildende Dimension des Lernprozesses immer
wieder mit einem bestimmten Persönlichkeitsbegriff verbunden. So hat
z.B. Ernst Lange im Gefolge Paolo Freires als eines der Ziele
ökumenischen Lernens formuliert, dass Menschen in ihrem Kontext
sprachfähig und also handlungsfähig werden. Sie sollen die Strukturen,
die sie an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit hindern, und die
Konflikte, die ein Zusammenleben in Gerechtigkeit erschweren, verstehen
und verändern können. Dieses Konzept ist mit der Vorstellung verbunden,
dass es eine Hierarchie von Bewusstseinswelten gibt. Wobei der Grad des
Bewusstseins über diese Zusammenhänge über den Grad der Autonomie der
Persönlichkeit entscheidet. Unter der Hand wurde daraus rasch das
Leitbild der "ökumenischen" Persönlichkeit, die weiß, welchen Plan Gott
mit der Welt hat.
Damit fallen aber andere, nicht-westliche
Persönlichkeitskonzepte als potentielle Zielvorstellungen ökumenischen
Lernens aus. In der melanesischen Vorstellungswelt beispielsweise fehlt
das Konzept eines an den Körper gebundenen Ichs. Dennoch ist der Mensch
auch hier als Persönlichkeit gedacht, die sich freilich weniger an
seinem Körper festmachen lässt als an seiner "Ausstrahlung": der Mensch
ist mehr als seine physische Repräsentation, er ist eingebettet in den
kosmischen Zusammenhang. Man kann ihn nicht definieren. Will man ihn
wahrnehmen, muss man sich seiner Ausstrahlung aussetzen. Aber auch dann
wird er nicht zu einer im westlich-abendländisch verstandenen Sinn
Persönlichkeit, sondern zu einem Menschen, dessen Ausstrahlung ihre
Wurzel im kosmischen Zusammenhang hat. Ein Melanesier wird also seinen
Lebenszusammenhang sehr verschieden von dem eines im Westen
sozialisierten Menschen wahrnehmen.
In einer Didaktik des ökumenischen Lernens ginge es
nun darum, verscchiedene Persönlichkeitsbegriffe aus ihrem jeweiligen
kontextuellen Zusammenhang heraus auf die beiden "Gegebenheiten" zu
beziehen, von denen oben die Rede war, und zu fragen, ob der
Persönlichkeitsbegriff von der sich von dort ergebenden Interpretation
der "Situation" her angemessen ist.
Was Ahrens über die Missionswissenschaft insgesamt
schreibt, gilt auch für die Didaktik ökumenischen Lernens. Modell,
Paradigmen oder Methoden sind meist a posteriori-Erfindungen. Eine
didaktische Theorie kann der Praxis ökumenischen Lernens keine
Strategien oder Modelle für künftiges Lernen an die Hand geben. Über
Modelle künftigen Lernens verfügt sie nicht, weil keine Theorie in der
Lage ist, die Komplexität ökumenischer Situationen einzufangen. Aber sie
kann Praxismodelle ökumenische. Lernens analysieren. Man wird sich daher
endgültig von allen Versuchen verabschieden müssen, ein Modell
ökumenischen Lernens, das "weltweit" anzuwenden wäre, zu entwerfen. Ein
in die Zukunft weisendes ökumenisches Lernmodell wird es nicht geben.
Das ist auch nicht weiter schlimm. Wohl aber dürfte es möglich sein,
einige Schlüsselfragen und Kernthemen zu benennen, die viele Menschen im
Prozess der Globalisierung bewegen. Hier steht die Gewaltthematik sicher
ganz im Vordergrund.
Die ökumenische Didaktik als ein im Zusammenhang der
"Genfer Ökumene" gestartetes und weiterentwickeltes Unternehmen hat
nicht immer genügend bedacht, dass es verschiedene Arten des Wissens und
des Lebens gibt. Damit aber auch verschiedene Arten des Lernens. Ahrens
erinnert uns daran, dass bereits in der alten griechischen Gesellschaft
zwischen Praxis, Poesie und Theorie unterschieden worden ist. Praxis
meint ein praktisches Engagement für das Gemeinwohl, das alltägliche
Miteinander, das nicht gelingen kann, wenn man keinen Common Sense
pflegt. Poiesis ist die Welt der Poesie und der Religion. Auch sie
begegnet im Alltag, unterbricht ihn und das in ihm geltende Wissen
freilich immer wieder. Die Poesie befasst sich mit der Welt der Bilder,
Symbole, des Rituals; sie gehört in den Bereich der Ästhetik und der
Religion. Die den Menschen bestimmende Wirklichkeit lässt sich nicht auf
die Dokumentation dessen reduzieren, was geschehen ist. Sie muss die
Sprachlichkeit des Menschen berücksichtigen, denn erst in und mit der
Sprache entsteht auch der Entwurf der Wirklichkeit. Menschen greifen auf
die Deutungskompetenz ihrer Sprachen zurück. "Sie könnten nicht
überleben ohne Sinnzuschreibungen, die ihnen das Netz ihrer
Muttersprache bereitstellt. Sie können die Unterschiede ihrer
kulturellen und religiösen Vorstellungswelten aber unterlaufen und
Verständigungen suchen, indem sie füreinander erzählen, singen, malen,
musizieren und so mit dem präsent werden, was sie glauben, worauf sie
hoffen, was sie lieben."
Und schließlich ist da der Bereich der Theorie. Die
will es genau wissen. Das theoretische Erkenntnisinteresse richtet sich
auf das, was der Fall ist, liest Texte und versucht zu verstehen, was
einst gewesen ist und was heute gemeint sein könnte. Kurzum: "Das
theoretische Interesse nimmt ... Abschied von den scheinbaren
Selbstverständlichkeiten des Common Sense ..." .
In der westlichen Bildungstradition gehören diese
drei Ebenen ursprünglich zusammen, wenn auch in den zurückliegenden
Jahrzehnten die theoretische Bildung immer stärker in den Vordergrund
gerückt wurde und in der durch PISA angestoßenen Diskussion erneut
fokussiert wird. Es sind unterschiedliche Zugänge zur
Lebensorientierung, die wohl auch in jeder Biographie mit
unterschiedlichem Gewicht versehen sind. Sie fordern und fördern sich
gegenseitig, keine kann auf Kosten der anderen zentral gestellt werden.
Ökumenisches Lernen sollte diese drei Lernstile bzw.
Lebensweisen berücksichtigen und aufeinander beziehen. Wenn in einer
Welt phasenverschobener Erfahrungen mit den Globalisierungsprozessen
durch ökumenisches Lernen ansatzweise wenigsten eine bi-kulturelle (von
einer multikulturellen gar nicht erst zu reden) Kompetenz erworben
werden soll, dann muss man hinsichtlich der Praxis, der Poesie und der
Theorie in anderen Kulturen, in anderen Situationen und in anderen
gesellschaftlichen Kontexten zur Teilnahme bereit sein. Theoretische
Abständigkeit verbietet sich im ökumenischen Lernprozess. Die
volkskirchliche Alltäglichkeit und die Praxis und Poiesis eines anderen
christlichen und/ oder religiösen Lebenszusammenhangs wird in Zukunft
für die ökumenische Didaktik an Bedeutung gewinnen.
3.3.1.3 Gottesvorstellung
Ahrens hat über die Bedeutung des Zusammenhangs von
Gottesvorstellungen und Opfermentalität für den interkulturellen Dialog
und das ökumenische Lernen ein Menge zu sagen. Die Gottesfrage ist eine
der zentralen Themen ökumenischen Lernens, sie kann heute nur noch in
interkultureller Perspektive gestellt und verhandelt werden. Das ist in
den Didaktiken des ökumenischen Lernens bisher viel zu wenig bedacht
worden. Mit der Gottesfrage verbunden ist die nach dem Stellenwert der
Gabe in unserem Leben und nach unserer Haltung zu dem Opfern von Gewalt.
Im ökumenischen Lernen hat man von Anfang an versucht, die "Perspektive
von unten", die "Perspektive der Armen" usw. einzunehmen und hat sich
dabei vor allem von befreiungstheologischen Ansätzen leiten lassen. Man
rückte den sozialethischen Aspekt in den Vordergrund und wagte kaum noch
von 'Sünde' und dem 'Bösen' zu sprechen. Ahrens ermutigt uns, im
Anschluss an Girard eine sachgerechte Sprache zu entwickeln, mit der das
gesellschaftlich Böse in den mimetischen Entstehungszusammenhang gerückt
wird und von der Befreiung aus der mimetischen Realität in einer Weise
zu reden, die die Herzen der Menschen aus der Umklammerung des Gewalt
generierenden 'Gesetzes' befreit. Dann ist aber auch neu darüber
nachzudenken, wo man diese Erfahrung machen kann. Eines scheint mir
sicher: Ökumenisches Lernen wird stärker als bisher auf den spirituellen
Aspekt der Erfahrungsmöglichkeit bedacht sein müssen und kann sich nicht
- wie bisher zumeist - mit ökumenisch-sozialethisch angelegten Aktionen
begnügen. So könnte auch die Appellstruktur vieler ökumenischer
Didaktikentwürfe überwunden werden.
3.3.1.4 Der
kreuzestheologische Aspekt
Der Hinweis auf das Kreuz Jesu dient Ahrens primär
zur theologischen bzw. christologischen Standortbestimmung und zur
Ortsanweisung für die Christen. Durch das Kreuz ist die durch
Retribution und Reziprozität gekennzeichnete Gewaltstruktur der Welt
betroffen: es markiert die radikale Brechung und Durchbrechung des
Opfermechanismus. Es initiiert einen Prozess der Umwertung aller Werte,
der sein Ziel in der endgültigen und universalen Herrschaft des
gekreuzigten Auferstandenen hat. Aber das Kreuz hebt die Christen nicht
aus der Welt. Es stellt sie mitten hinein. Aber nicht als solche, die
enthusiastisch alles besser wissen und - nur jetzt noch verborgen
-heimlich schon am Ziel sind. Sondern so, dass sie selbst "kreuzförmig"
werden, also ihren Ort unter dem Kreuz einnehmen. Kreuzestheologie hat
zum einen immer eine kritische Funktion gehabt: sie entlarvt die
selbstverliebte Frömmigkeit (das Kennzeichen jedweden Fundamentalismus),
die meint, dem Gesetz der Gewalt enthoben zu sein und damit oft genug
nur den status quo von Gewaltstrukturen sanktioniert, ebenso wie den
enthusiastischen Triumphalismus, der als Folge der Adaption des
neuzeitlichen (oft revolutionär konnotierten) Fortschrittsoptimismus
durch Reich-Gottes-Vorstellungen manche ökumenischen sozialethischen
Aktionen beeinflusste und meinte, Gewalt unter Übergehen der
anthropologischen Grundstrukturen durch Veränderung von
gesellschaftlichen Machtverhältnissen überwinden zu können. Zum anderen
kommt in der theologia crucis eine theolgia viatorum zum Vorschein: das
Kreuz stiftet nicht nur eine andere Perspektive in Theologie und
christlichem Lebensvollzug, sondern mit der Hoffnung auf die endgültige
Überwindung der Gewalt den Mut, auf dem Wege zum Ziel und von da her
motiviert schon jetzt der Gewalt zu widerstehen. Der Glaube an die
ungeschuldete Gabe des Glaubens an die Liebe stellt an den Ort, wo Jesus
seinen Ort vor Ostern hatte: "Er lebt aus der Kraft Gottes, wir aber
sind schwach in ihm, werden aber mit ihm leben (2. Kor 13,4)." Kurz: Der staurozentrische Ansatz hilft, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden
und so zueinander in Beziehung zu setzen, dass der Ort der Gemeinde in
der Welt deutlich wird: unter das Gesetz der Gewalt getan, aber ihm
nicht verfallen, durch das Evangelium in die Freiheit der Kinder Gottes
versetzt, aber noch angefochten durch Gewalt und Leid.
Die Vertreter des ökumenisches Lernen waren in der
zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zunehmend fasziniert von den
Möglichkeiten, die sich der Menschheit zur fortschreitenden
Humanisierung aller Lebensverhältnisse anzubieten schienen, aber auch
zunehmend ungeduldig im Blick auf ihre Realisierung, schließlich
resigniert angesichts der verbreiteten begrenzten Bereitschaft zur
"Umkehr". Aus der Einsicht, im ökumenischen Lernen Gemeinden und
Einzelne moralisch und intellektuell häufig überfordert zu haben, zogen
sie nicht den Schluss, die theologischen Voraussetzungen ihres
Lernverständnisses zu überprüfen, sondern wichen verstärkt auf
interkonfessionelle Konzepte des Religionsunterrichts aus - wenn sie
sich nicht ganz dem vermeintlich leichteren Thema des interreligiösen
Religionsunterrichts zuwandten. Der kreuzestheologische Ansatz könnte
helfen, die Chancen und Hindernisse des ökumenischen Lernens besser
einzuschätzen. Die damit verbundene didaktische Reflexion liegt noch vor
uns.
Etwas anders sieht es im Bereich der
Partnerschaftsarbeit der Kirchen aus. Seit Jahrzehnten bestehende
Beziehungen und damit verbunden gewachsene gegenseitige Verantwortung
füreinander ließen es nicht zu, das ökumenische Lernprojekt einfach
fallen zu lassen. Überlegungen zur ökumenischen Didaktik können an
dortige (durchaus immer auch ambivalente) Erfahrungen anknüpfen. Einige
bringt Ahrens im Zusammenhang seiner "Beobachtungen und Überlegungen zum
Personaleinsatz evangelischer Missionswerke bei deren Partnerkirchen"
zur Sprache.
3.4 Lernziele ökumenischer Didaktik
in missionstheologischer Perspektive
Zunächst einmal wäre nüchtern zu konstatieren, dass
die Motive der Partner in einer "Überseepartnerschaft" sich sehr
unterscheiden können. Bei denen, die sich von hier aus für die Menschen
in den Partnerkirchen engagieren oder in eine "südliche" Partnerkirche
aufmachen, verbindet sich der Wunsch zu helfen und sich "für andere" zu
engagieren mit der Hoffnung auf ökumenischen Lerngewinn; für die
ausreisenden Mitarbeiter zumeist verstanden im Sinne von
interkulturellen Erfahrungen und neuen religiösen Einsichten aus anderen
kulturellen Lebensbezügen. Der Einsatz kann aber auch mit dem Ziel,
einen Beitrag zur Förderung von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der
Schöpfung zu leisten, unternommen werden oder unter dem Gesichtspunkt
der Wiedergutmachung und als vollzogene Solidarität mit den
Benachteiligten in jenen Ländern. Überseeische Kirchen hatten bisher
meist weniger Interesse an solchen Erfahrungen; bei ihnen steht im
Vordergrund, dass ihre Partner aus dem Norden den lokalen Personalpool
aufstocken und dass mit ihrem Einsatz nicht unerhebliche finanzielle benefits verbunden sind. Außerdem verbreitert selbst der Einsatz von
Praktikanten, die für einige Wochen oder Monate ausreisen, die Basis der
Kontaktmöglichkeiten zu Gemeinden und Aktionsgruppen in den Kirchen des
Nordens. Die Erwartungshaltung ändert sich zwar langsam, manchmal unter
schmerzhaften zwischenkirchlichen Verwerfungen , aber ein Ende dieses
Prozesses ist noch nicht abzusehen. Umso wichtiger wird die Frage,
welche Kompetenz die erlangen müssen, die sich auf das ökumenische
Lernprojekt einlassen. Ahrens nennt einige.
3.4.1 Beziehungsfähigkeit
Eine Situation muss - so gut es einem, der von außen
in sie eintritt oder hinein gerät, gelingen kann - wahrgenommen werden.
Das geschieht nie abstrakt, sondern im Geflecht der vielfältigen
Beziehungen. Keiner, der nicht beziehungsfähig ist, wird auch nur
ansatzweise den Kontext, in dem er sich in einem ökumenischen Projekt
vorfindet, verstehen können. Erziehung zur Beziehungsfähigkeit ist eine
der Schlüsselqualifikationen, die einem im ökumenischen Lernen
vermittelt werden müssen.
3.4.2 Wahrnehmungsbereitschaft
Die Didaktik des ökumenischen Lernens hat sie schon
immer zentral gestellt. Wer sich auf ökumenische Bezüge einlässt, muss
lernen, achtsam mit den Erfahrungen und Erwartungen anderer umzugehen.
Dabei muss man wissen, dass Wahrnehmungsvorgänge immer wechselseitig
sind. Wahrnehmung ist dialogisch, reziprok und interaktiv. Sie
vollziehen sich nicht nur in einem Gegenwartshorizont, sondern stehen in
wirkungsgeschichtlichen Zusammenhängen, d.h. wie man sich gegenseitig
wahrnimmt hängt davon ab, in welchem Erwartungshorizont man aufgewachsen
und erzogen worden ist. In der ökumenischen Lernsituation trifft man
sich "als Menschen, als mehr oder weniger sozialisierte Mitchristen in
bestimmten, geschichtlich geprägten Wirkzusammenhängen, die gegenseitige
Wahrnehmung und Handlungsoptionen beeinflussen" . Daraus ergibt sich als
Lernziel ökumenischen Lernens, dass man fähig ist, "die anderen als aus
ihrer Perspektive/ Motivation heraus als sinnvoll Handelnde
wahrzunehmen."
3.4.3 Sprachfähigkeit
Die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, wächst mit der
Sprachfähigkeit. Mehr: Sprache und Erfahrung sind komplementär
aufeinander bezogen. Damit ist nicht nur gemeint, dass man sich in
ökumenischen Lebenszusammenhängen mindestens in einer der Weltsprachen
hinlänglich verständigen kann, sondern immer besser lernt, das in einer
Sprache enthaltene Weltbild mit seinen vielen Bedeutungen wenigsten
soweit zu dekodieren, dass man die hidden agenda eines Diskurses
zumindest erahnt. Mehr ist nur von langfristigen Beziehungen zu erwarten
- vielleicht. Zur Sprachfähigkeit gehört darum auch, sich einzugestehen,
dass man sich selbst in langjährigen ökumenischen Beziehungen partiell
fremd bleibt. Und zu lernen, dass das für Christen kein Hinderungsgrund
dafür sein muss, im Vertrauen auf die gemeinsamen Sachmitte sich
gegenseitig zuzutrauen, je aus seinen Erfahrungen kontextueller
Gegebenheiten heraus Zeichen der ungeschuldeten Liebe Gottes in der
jeweiligen Situation zu sein. Sprachfähigkeit impliziert daher die "Sprachfähigkeit in Fragen religiöser ... Erfahrungen" .
3.4.4 Kreolität wagen
Wer sich lernend auf andere Kulturen einlässt, wird
irgendwann merken: dies und das aus/ in ihr könnte auch mein Leben
bestimmten. Damit ist kein going native gemeint, sondern die
Bereitschaft, sich auf die andere Perspektive einzulassen, neue
Erfahrungen zu machen und die Differenzen auszuhalten. Wer das wagt,
wird von denen, die real oder mental daheim geblieben sind, leicht des
Synkretismus geziehen. Aber darum geht es gar nicht. Unter Kreolität
versteht Ahrens etwas viel wichtigeres als beispielsweise die Freude an
der anderen Religion, aus der man sich eine eigene patch-work Religion
erschafft. Wer sich auf ökumenisches Lernen einlässt, muss wagen, "zwischen den Zeiten und Orten" zu hausen, den an dieser Natstelle
entstehenden Stress aushalten und eine Sprache und Lebensweise zu
entwickeln, die dieser Situation angemessen ist - eine "transkulturelle"
Sprache, die - indem sie gesprochen wird - das Gesetz von Reziprozität
und Retribution überwindet. Synkretismus indentiert ein neues
Wissenssystem; Kreolität lebt in und von der Offenheit.
Es kann sein, dass auf lange Zeit in diese Sprache aus drei Worten
besteht: aus dem Halleluja nach dem Hören des Evangeliums und dem
Empfang der Gabe im Abendmahl , aus dem Amen nach gemeinsamem Gebet und
aus dem Marana tha (Unser Herr, komm,
1. Kor 16,22) im gemeinsam
ausgehaltenen Scheitern . "Das Christentum ist eine
Glaubensgemeinschaft, eine Hoffnungsgemeinschaft, eine
Auftragsgemeinschaft. Das johanneische 'Ihr selbst seid meine Zeugen' (Joh
3,26) bleibt der Sinnhorizont" des ökumenischen Lernens. Es kann auch
sein, dass das gemeinsame Handeln sich zunächst nur darin äußert, dass
man gute Nachbarschaft pflegt , Achtung vor der Freiheit der anderen hat
und "einfach nur" als Christ präsent ist - was jedes für sich genommen
schon sehr viel ist!
Kreuzestheologie lehrt uns die Gelassenheit im Blick
auf die eigenen und fremden Möglichkeiten. Das Christliche erweist sich
nicht in der hochgemuten Erwartung, alle Probleme lösen und alles Leid
beseitigen zu können. Gewalt wird ein transkontextuelles Phänomen
bleiben. Das ist kein Grund zu resignieren. Das Kreuz verstellt uns den
Fluchtweg in die eigene Innerlichkeit, es führt freilich auch das
Vertrauen auf die Überwindung der Gewalt durch eigene Kraft und Stärke
in die Krise. Die am Kreuz Jesu offenbarte Gratituität der Gabe des
Glaubens an die Liebe ermutigt aber zur Teilnahme an der Schwachheit
Jesu und zum Einüben seiner humilitas. Eine mystische Deutung des
Leidens Jesu wäre aber eine Fehldeutung. Ökumenisches Lernen ist
imitatio Christi am konkreten Ort, der sich auftut, wenn Menschen
verschiedener kontextueller Lebenszusammenhänge in einer konkreten
Situation zusammenkommen.
Zum kurzen Schluss ein längeres
Zitat von W. Schrage: Die theologia crucis verlängert und expliziert
Welt- und Geschichtserfahrungen. "Dabei reflektiert sich ... in der
Existenz der Christen, dass das Kreuz zuerst kritisch, polemisch und
antithetisch wirkt, insofern der Gekreuzigte aus ihnen in Analogie zur
Torheit und Schwachheit seines Kreuzes (1. Kor 1,18 ff;
2. Kor 13,3)
Toren und Schwache macht (1. Kor 1,26 ff;
4,10), sie ihrer Kultur und
Religion entfremdet, ihnen nicht Publizität und Popularität, Harmonie
mit sich und der Welt, sondern Verfolgung und Prügel, Spott und Schande,
Dissonanz und Kalamitäten bringt. Das Kreuz ist damit Skandalon und
Torheit nicht nur im Blick auf den Gottesgedanken und die
Heilserwartung, sondern es impliziert als Kreuz Christi eine Krisis und
Umwertung aller Werte (1. Kor 1,25 ff). Der Gekreuzigte erweist seine
Macht sowohl freisprechend und richtend, heil- und gehorsamsetzend als
auch darin, dass er die Geister scheidet, die mitgebrachte Religiosität
desillusioniert und alle Kategorien und Systeme zerbricht, aber auch
darin, dass er die Christen an Leid, Schande und Niedrigkeit
partizipieren lässt ... Der Gekreuzigte selbst ist es, der die Seinen
... mit auf seinen Weg nimmt und die, deren Subjekt er geworden ist (Gal
2,20), in sein Schicksal einschließt. So wie Gott sich mit dem
Gekreuzigten identifiziert hat, so hat sich der Gekreuzigte mit denen
identifiziert, die mit ihm leiden.
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