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Dorothee Sölle

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GOTT BRAUCHT WIDERSPRUCH

Nachruf zum Tod der Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle

Von Regina General

Dorothee SölleIch glaube an Gott, der die Welt nicht fertig geschaffen hat wie ein Ding, das immer so bleiben muss, der nicht nach ewigen Gesetzen regiert, die unabänderlich gelten, nicht nach natürlichen Ordnungen von Armen und Reichen, Sachverständigen und Uninformierten, Herrschenden und Ausgelieferten. Ich glaube an Gott, der den Widerspruch des Lebendigen will und die Veränderung aller Zustände durch unsere Arbeit, durch unsere Politik.« Dorothee Sölle lebte den Widerspruch des Lebendigen als Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt, als Beteiligt-sein an allen Prozessen, gleichgültig an welchen Orten der Welt sie abliefen. Sie verstand Christentum als kritische Bereitschaft, die eigenen Vorstellungen zu überprüfen, die Dinge nicht hinzunehmen, sondern nach ihrer Wirksamkeit in Gegenwart und Zukunft zu befragen. Für sie waren die Kirchenstrukturen unerträglich verkrustet. Die Vorstellung, da »oben säße« ein Gott, der »in aller Herrlichkeit ... Auschwitz mit veranstaltet habe«, war ihr unerträglich. Gott gegen solche Vereinfachungen in Schutz nehmen, Theologie als Veränderung begreifen, das Rechte tun, waren die wichtigen Punkte ihres theologischen Verständnisses, das zwangsläufig polarisierte: Für die einen war sie eine Art Prophetin des Christentums, in dem die Trennung von theologischer Wissenschaft und Lebenspraxis aufgehoben war, für die anderen eine Ketzerin, deren Thesen dem traditionellen Gottverständnis widersprachen und deshalb als theologischer Zynismus geächtet wurden. Die Welt war, wie sie auf dem Kirchentag in Vancouver sagte, »reich vor allem an Tod und besseren Möglichkeiten zu töten«, sie böte den Kindern »nichts als Konsum-Sand«, der Dritten Welt »ein Dauer-Auschwitz«. Dagegen anzukämpfen verstand sie als Pflicht und selbstgewählte Aufgabe.

Vor 30 Jahren stand Dorothee Sölle zum ersten Mal im Rampenlicht, als sie mit Gleichgesinnten unter dem Motto »Vietnam ist Golgatha« durch Köln zog und postulierte »jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein«. Sie war eine der wichtigen Botschafterinnen der Friedensbewegung, reiste nach 1945 als eine der ersten Deutschen nach Israel, in den sechziger Jahren nach Nordvietnam und später nach Nikaragua. Für sie waren Atheismus und Gottesglauben keine Gegensätze, sie definierte ihre eigene Haltung als »atheistischen Glauben an Gott«, die jede Art Veränderung einschloss. Darin sah sie die ganz wesentliche Aufgabe von Christen: das Veränderbare zu benennen und dabei zu helfen, es zu tun. Dieses sehr weltliche Theologieverständnis hat ihr die Kirche nie verziehen. Zu keiner Zeit war sie deshalb in Kirchendiensten oder als Ordentliche Professorin an einer deutschen theologischen Fakultät. Politische Theologie war als Lehrfach suspekt. Lediglich Gastvorlesungen wurden erlaubt. Von irgendeinem Zeitpunkt an hat sie sich selbst deshalb Schriftstellerin genannt, ihr Thema aber blieb: Nachdenken über Gott und die Welt.

Ihre Sicht, die sich an engagierten antifaschistischen Theologen orientierte, hat dennoch nachfolgende Generationen geprägt; in der Bundesrepublik selbst - Dorothee Sölles Reden auf Kirchentagen haben immer die streitbare Debatte zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, zwischen Orthodoxen und Reformern angeregt -, ebenso wie in der DDR. Gott braucht den Widerspruch, die Gegenrede, das Anteil nehmen ebenso wie die Macht ihn braucht. Denn nichts ist vollkommen, fertig, abgeschlossen, undiskutierbar; schon gar nicht, wenn Menschen beteiligt sind. An politischen Themen interessierte Theologen gerade auch in den Neuen Bundesländern sorgten, ganz in ihrem Sinne, im jüngsten Irak-Krieg dafür, dass die Kirche ein Raum blieb, in dem ein verantwortlicher Frieden gefordert wird. Bereit mit zu reden, bereit auf die Straße zu gehen, bereit einzugreifen.

Dorothee Sölle starb am vergangenen Wochenende, 73-jährig, während einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, die dem Thema »Gott und das Glück« gewidmet war.

Freitag vom 02.05.2003

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Mach uns frei, Gott,
wir bitten dich um unsere Befreiung
Führ uns aus dem Diensthaus des technischen Fortschritts
mach uns frei von dem Zwang, mehr Energie zu verbrauchen als nötig,
mach uns frei von der Rolle der Ausbeuter unserer Erde
mach uns frei von denen, die unsere Demokratie
mit ihrem Atomstaat verwechseln
Sei du unser Gott - nicht die Bombe
sei du unser Friede - nicht das Wachstum
gründe uns in Deiner Gerechtigkeit
sei du unser Frieden

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HAMBURGER THEOLOGIN DOROTHEE SÖLLE GESTORBEN

Dorothee Sölle ist tot. Die evangelische Theologin, Schriftstellerin und Friedensaktivistin, die in Hamburg lebte, starb am Sonntagmorgen in einer Klinik in Göppingen offenbar in Folge eines Herzinfarktes. Dies gab die Direktorin der Evangelischen Akademie Bad Boll, Godlind Bigalke, bekannt. Die 73-Jährige Sölle arbeitete zusammen mit ihrem Mann Fulbert Steffensky, einem ehemaligen Benediktinermönch, bei einem Seminar der Akademie.

Zweiter Herzinfarkt offenbar Ursache

Nach Aussagen der Akademie-Direktorin war Dorothee Sölle stark zuckerkrank. Zwar habe sie etwa vor einem Vierteljahr einen Herzinfarkt erlitten, sich von diesem jedoch gut erholt. Am Samstag habe man auf dem Seminar Sölle nichts von einer Erkrankung anmerken können, sagte Bigalke. Am frühen Sonntagmorgen gegen vier Uhr habe Sölles Mann den Notarzt gerufen, die Theologin sei sofort ins Krankenhaus gebracht worden und dort am Morgen noch gestorben - offenbar an einem erneuten Infarkt, sagte Bigalke. Dorothee Sölle galt als meistgelesene theologische Schriftstellerin.

Die Trauerfeier für die am Sonntag gestorbene Theologin Dorothee Sölle findet am 5. Mai in der Hamburger Katharinenkirche statt. Die Trauerpredigt werde die Lübecker Bischöfin und Freundin der Verstorbenen, Bärbel Wartenberg-Potter, halten.

Politisches Engagement und Theologie untrennbar

Für die linke Theologin waren christliche Lebensführung, politisches Engagement und Theologie nicht zu trennen. Sie wandte sich als Friedensaktivistin gegen den Vietnamkrieg genauso wie gegen den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung. So wurde sie auch wegen Blockaden von US-Einrichtungen zu Geldstrafen verurteilt. Bei Kirchentagen trat sie auf Alternativveranstaltungen der "Initiative Kirche von unten“ auf. 1968 hatte sie das so genannte Politische Nachtgebet beim Katholikentag begründet.

Antje Vollmer: Bischöfinnen ohne Sölle nicht denkbar

Unterdessen würdigten kirchliche Reformgruppen, Hannovers Landesbischöfin Margot Käßmann und die Vizepräsidentin des Bundestages, Antje Vollmer, die Verdienste Sölles: "Dass es heute Bischöfinnen gibt, ist nicht zuletzt ein Werk von Dorothee Sölle“, erklärte Vollmer. Sölle habe den ganzen Weg der westdeutschen Nachkriegskirche geprägt: Von der einstigen Sonderstellung der Frauen in den kirchlichen Ämtern bis zu ihrer prägenden Bedeutung für den deutschen Protestantismus, vom Stuttgarter Schuldbekenntnis bis zum klaren Votum für eine Kirche der Armen und des Friedens. "Radikal im Denken und charismatisch in der Wirkung verfügte sie über eine wunderbare Sprache“, schrieb Vollmer.

Hannovers Landesbischöfin Margot Käßmann hat die gestorbene Theologin Dorothee Sölle als "kreative theologische Denkerin“ und Streiterin für die feministische Theologie gewürdigt. Ihr Tod sei ein großer Verlust für die Kirche, "da wird eine heilsame Unruhe fehlen“, sagte die Bischöfin am Montag.

Religion mit Seele

Dorothee Sölle wurde am 30. Sept. 1929 in Köln als Tochter des Arbeitsrechtlers Hans Carl Nipperdey geboren. 1949 begann die Schwester des 1992 verstorbenen Historikers Thomas Nipperdey zu studieren, zunächst klassische Philologie, dann Philosophie, Literaturwissenschaften und Theologie. 1971 habilitierte sie an der Philosophischen Fakultät der Uni Köln zum Thema "Realisation, Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung“. Obwohl sie im Ausland Gastprofessuren bekam, erhielt sie in Deutschland niemals eine ordentliche Professur - das Image einer Außenseiterin der wissenschaftlichen Theologie war zu groß. In Hamburg wurde sie allerdings 1994 mit einer Ehrenprofessur ausgezeichnet. Für eine "Religion mit Seele“ stand Sölle, die mit Gedichten und literarischen Texten die Grenzen der Disziplin eigenwillig sprengte und die Genres mischte.

"Kirche und Staat sind vielleicht trennbar, doch der Geist des Glaubens und der Politik nicht“, sagte sie einmal. Sölle wehrte sich auch gegen eine "Amerikanisierung“ des Lebens in Europa. Die streitbare Theologin war der Ansicht, dass die Privatisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche "überaus schädlich“ sei. Es dürfe "nicht immer nur im Vordergrund stehen, ob sich die Dinge rechnen oder nicht“.

Ihre Positionen waren umstritten

Unumstritten waren ihre Positionen nie. Ihre Werke wurden nicht selten als "naiv“ und "undifferenziert“ verrissen. Ihr Referat "Leben in seiner ganzen Fülle“, das sie 1983 vor dem Weltkirchenrat in Vancouver hielt war nach Meinung des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden eine "Randposition“. Auf Widerstand der evangelischen wie der katholischen Kirche stießen auch die von ihr zwischen 1969 und 1972 veranstalteten "Politischen Nachtgebete“ in Köln. Bis zuletzt zählte Sölle zu den profiliertesten Verfechterinnen eines "anderen Protestantismus“, auch weil sie ihn ihren Büchern und im praktischen Leben eine "Entmythologisierung“ der Bibel in Gang gebracht hat.

Meistgelesene theologische Autorin der Gegenwart

Dorothee Sölle gilt als meistgelesene theologische Autorin der Gegenwart. Zu ihren Publikationen gehören zum Beispiel "Stellvertretung - Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“ (1965), "Atheistisch an Gott glauben“ (1968), "Welches Christentum hat Zukunft?“ (1990) und "Mystik und Widerstand: du stilles Geschrei“ (1997).

NDR am 01.05.2003

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THEOLOGIN OHNE ELFENBEINTURM

Dorothee Sölle ist tot

Von Markus Brauck

Für einen Gott hat sie sich nie interessiert, den allmächtigen, der sich für das Schicksal der Menschen nur am Rand interessiert. Den "Papa-wird's-schon-richten-Gott“ nannte sie ihn. Für Dorothee Sölle konnte ein solcher Gott nur ein einsamer sein. Sie glaubte eher an einen Gott, der die Menschen braucht. Und deswegen ging es der 1929 geborenen Theologin immer mehr um die Praxis des Glaubens als um seine Theorie. Das hat sie früh zur politischen Theologie gebracht. Ihren rechten Ort sah sie immer mehr in der Kritik an der Ausbeutung der Armen durch die Globalisierung. Ein paar Tage nach dem 11. September 2001 sagte sie in einem Vortrag: "Wir leben in einem Kreislauf der Gewalt, und wir sind in ihm gefangen. Unser Gefängnis ist sicher das besttapezierte der Weltgeschichte, aber gefangen sind wir doch im Kreislauf der Gewalt, die Gegengewalt erzeugt." Und sie sah nur einen Ausweg: "Wir brauchen eine andere wirtschaftliche Globalisierung: von unten."

Dieses politische Engagement hat in ihrer Biografie immer eine große Rolle gespielt. Sie wandte sich als Friedensaktivistin gegen den Vietnamkrieg ("Vietnam ist Golgatha") genauso wie gegen den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung; so wurde sie auch wegen Blockaden von US-Basen zu Geldstrafen verurteilt. Bei Kirchentagen trat sie auf Alternativ-Veranstaltungen der "Initiative Kirche von unten“ auf. 1968 begründete sie das so genannte Politische Nachtgebet beim Katholikentag.

Doch erfolgreich war sie vor allem als theologische Schriftstellerin, die immer weniger die systematische theologische Arbeit betrieb als das Schreiben über Genregrenzen hinweg. Sie schrieb Gedichte und theologische Prosa. Das hat sie zur meistgelesenen theologischen Schriftstellerin der Gegenwart gemacht, ihr aber von der Wissenschaft oft den Vorwurf eingebracht, sie sei naiv. Sie war eine Außenseiterin in der Theologie. Trotz Habilitation erhielt sie in Deutschland nie einen ordentlichen Lehrstuhl. Erst 1994 wurde sie zur Ehrenprofessorin der Universität Hamburg ernannt. Am Union Theological Seminary in New York dozierte sie von 1975 bis 1987.

Nach ihrem Protest gegen den Vietnamkrieg galt sie in kirchlichen Kreisen rasch als linksradikal. Und als sie 1965 ihr Buch "Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“ publizierte, dem drei Jahre später der Titel "Atheistisch an Gott glauben“ folgte, war sie vor allem für konservative Christen ein Schreckgespenst. Dabei wollte sie mit ihrem provokanten, an Nietzsche angelehnten Titel vor allem die Abkehr vom allmächtigen, auf die Menschen nicht angewiesenen Gott vorantreiben. Sie wollte Ungerechtigkeiten der Zeit nicht als "gottgegeben“ hinnehmen. Vielmehr sei es Aufgabe der Christen, "das Veränderbare zu benennen und als veränderbar zu kennzeichnen".

Auch mit Grundlagen der christlichen Theologie haderte sie: Die Hoffnung an ein Leben nach dem Tod klang für sie zu sehr nach einer Vertröstung für die im Diesseits zu kurz Gekommenen. "Ich finde die Unsterblichkeitshoffnung problematisch“, bekannte sie in einem Zeitungsinterview. "Ich glaube ja an das ewige Leben. Es geht weiter. Ich bin dann ein Tropfen in diesem Meer. Mein Glück hat immer mit Ichlosigkeit zu tun. Das Ego irgendwann ganz loszulassen - weil diese Schöpfung gut ist.“ Am Sonntag ist Dorothee Sölle mit 73 Jahren in einer Klinik in Göppingen offenbar an einem Herzinfarkt gestorben.

Frankfurter Rundschau vom 28.04.2003

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Über Auferstehung

Sie fragen mich nach der auferstehung
sicher sicher gehört hab ich davon
daß ein mensch dem tod nicht mehr entgegenrast
daß der tod hinter einem sein kann
weil vor einem die liebe ist
daß die angst hinter einem sein kann
die angst verlassen zu bleiben
weil man selber gehört hab ich davon
so ganz wird daß nichts da ist
das fortgehen könnte für immer
Ach fragt nicht nach der auferstehung
ein märchen aus uralten zeiten
das kommt dir schnell aus dem sinn
ich höre denen zu
die mich austrocknenen und kleinmachen
ich richte mich ein
auf die langsame gewöhnung ans totsein
in der geheizten wohnung
den großen stein vor der tür
Ach frag mich nach der auferstehung
ach hör nicht auf mich zu fragen

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TRAUER UM DOROTHEE SÖLLE

Die Theologin starb im Alter von 73 Jahren

Von Andreas Burgmayer

Sie war eine Frau, die den Streit nicht fürchtete. Sie prägte ganze Generationen von Theologen mit ihrem politisch-kämpferischen Verständnis der christlichen Botschaft und war seit mehr als 30 Jahren aus Politik und Kirche nicht wegzudenken: Die Hamburger Theologin Dorothee Sölle ist am gestrigen Sonntagmorgen im Alter von 73 Jahren im baden-württembergischen Göppingen überraschend an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben.

Die vor allem durch ihr Engagement in der Friedensbewegung bekannte Theologin hatte in der Evangelischen Akademie Bad Boll noch am Sonnabend mit ihrem Ehemann, dem emeritierten Hamburger Theologen Fulbert Steffensky, zum Thema "Gott und das Glück" referiert und ihre Gedichte vorgetragen. Gestern Morgen, gegen 4 Uhr, musste ihr Mann den Notarzt rufen, weil seine Frau Herzprobleme bekam. Sölle war stark zuckerkrank und hatte bereits vor einem Vierteljahr einen Infarkt erlitten.

Tief erschüttert zeigte sich Bischöfin Maria Jepsen (58), als sie die Nachricht vom Tode Sölles bei einer Veranstaltung auf dem Rathausmarkt erfuhr. "Wir verlieren eine Frau von tiefer Frömmigkeit, die sich immer wieder zu gesellschaftlichen und politischen Themen zu Wort gemeldet hat", sagte Jepsen. Ihre Friedenstexte seien von einer großer Wahrhaftigkeit und Sölles tiefem Glauben gekennzeichnet. Für viele Hamburger Christen sei ihr Tod ein bitterer Verlust. Jepsen: "Wir müssen aber dankbar sein, für all die vielen, großartigen Texte dieser Frau. Sie sind es, die uns in der Trauer trösten und aufrütteln. Mit unseren Gedanken sind wir auch bei ihrem lieben Mann Fulbert Steffensky."

Die am 30. September 1929 in Köln als Tochter des Arbeitsrechtlers Hans-Carl Nipperdey geborene Sölle galt als meistgelesene theologische Schriftstellerin des Landes. Trotz ihrer Habilitation im Jahr 1971 erhielt die unter ihren Kollegen wegen ihrer theologischen Aussagen umstrittene Wissenschaftlerin in Deutschland nie einen Lehrstuhl. Zeitweise arbeitete sie als Studienrätin. Von 1975 bis 1987 dozierte sie als Professorin für Systematische Theologie in New York. Erst 1994 wurde sie zur Ehrenprofessorin der Universität Hamburg ernannt. Zu ihren theologischen Büchern zählen "Politische Theologie", "Atheistisch an Gott glauben" und "Gott im Müll".

Auf kircheninterne Kritik war Sölle bereits 1965 mit ihrer ersten größeren Veröffentlichung "Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tod Gottes“ gestoßen. Sölle sprach selbst, wie es zu ihrem 70. Geburtstag im "Deutschen Sonntagsblatt“ hieß, von einer Absage an einen allmächtigen Gott, der sich für die Menschen nicht interessiert oder an einen "Papa-wirds-schon-richten-Gott“. Für die linke Theologin waren christliche Lebensführung, politisches Engagement und Theologie nicht zu trennen. Sie wandte sich scharf gegen eine "Amerikanisierung“ und "Ökonomisierung“ aller Bereiche. 1968 sorgte sie auf dem Katholikentag in Essen mit einem Politischen Nachtgebet für Aufsehen. Sie solidarisierte sich mit Befreiungsbewegungen in Nicaragua und El Salvador. Zu ihren literarischen Werken zählen die Lyrik-Bände "Die revolutionäre Geduld“, "Zivil und ungehorsam“ oder "Verrückt nach Licht“. Sölle heiratete 1954 den Maler Dietrich Sölle; nach zehn Jahren wurde die Ehe geschieden. 1969 heiratete die Theologin den früheren Benediktinermönch Fulbert Steffensky, mit dem sie im gemeinsamen Haus in Othmarschen lebte. Sie hinterlässt drei Kinder aus erster und eine Tochter aus zweiter Ehe.

Hamburger Abendblatt vom 28.04.2003

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LINKE IRRTÜMER SIND STETS IRRTÜMER GUTEN GLAUBENS

Die Theologin und Friedenskämpferin Dorothee Sölle ist 73-jährig gestorben. Sie hat ein streitbares Leben geführt

Von Peter Dittmar

Die Nachricht vom Tod Dorothee Sölles überrascht, weil sie noch allenthalben präsent war, auf Demonstrationen, bei Debatten mit theologischem Dekorum wie mit politischem. Und zugleich sieht man sich einem Zwiespalt ausgeliefert, weil man das "de mortuis nil nisi bene“ verinnerlicht hat. Dem steht jedoch ein streitbares Leben gegenüber, in dem sich eine gewisse Naivität der Weltdeutung mit dem Glaubensatz paarte: "Ich denke, dass wir alle nicht ganz zu Hause sind in der Kirche, in der wir leben. Wirkliche Kirche braucht Visionen, Aufbruch, das Volk Gottes wandert, es hockt nicht in römischen Palästen. Ecclesia semper reformanda.”

Und sie beanspruchte, dass ihr die Erkenntnis gegeben sei, wie die Kirche reformiert werden müsse. Das verraten schon die Titel ihrer Bücher. "Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“ schrieb sie 1965, "Atheistisch an Gott glauben“ drei Jahre später. Und wenn sie den Titel "Die Wahrheit ist konkret“ wählte, griff sie auf einem Satz zurück, der Lenins Lieblingssentenz gewesen sein soll, wie auch Sölles "Die revolutionäre Geduld“ Lenins "Kritik der revolutionären Ungeduld“ paraphrasiert.

Dorothee Sölle, 1929 in Köln geboren - der Historiker Thomas Nipperdey war ihr Bruder - studierte in ihrer Heimatstadt wie in Freiburg und Göttingen Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft. Während sich ihre Dissertation noch mit einem literarischen Thema beschäftigte, der "Struktur der Nachwachen des Bonaventura“, untersuchte sie in ihrer Habilitationsschrift 1971 bereits "das Verhältnis von Theologie und Dichtung“. Ihren Berufsweg begann sie im Schuldienst, ehe sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Dabei rückte ihre politische Theologie immer stärker in den Vordergrund. Denn ihr Damaskus war 1972 eine Reise nach Nordvietnam, der später eine zu den Sandinisten nach Nicaragua folgte. Sie forderte einen "anderen Protestantismus“, lehrte eine "Entmythologisierung“ der Bibel, denn Theologie im 20. Jahrhundert sei eine "Theologie nach dem Tode Gottes“. Das schlug sich bei ihr in vielerlei politische Aktivitäten außerhalb des Öffiziösen nieder. Sie war bei den Demonstrationen 1983 in Mutlangen genau so dabei wie sie kürzlich gegen den drohenden Irak-Krieg auftrat. "George Bush junior lässt sich zwar nicht Kaiser oder Cäsar nennen, aber er verlangt immer klarer absoluten Gehorsam und unbedingte Solidarität, um den wachsenden Wohlstand der Reichen in seinem Land zu sichern“, erklärte sie. Und fuhr fort: "Das Beste, was diesem Kaiser passieren konnte, geschah am 11. September 2001. Der Terroranschlag hat ihn ermächtigt. Seine Beliebtheit verdoppelte sich. Seine Einteilung der Welt in ‚gut’ und ‚böse’ setzte sich in den USA zunächst durch, gemeint ist mit gut immer ‚gut für uns’.“ Ihre Absage an die Gewalt korreliert mit einer Theorie des Ursprungs der Gewalt, die alle Revolutionäre für sich beanspruchen: "Wir leben in einem Kreislauf der Gewalt und sind in ihm gefangen. Unser Gefängnis ist sicher das best tapezierteste der Weltgeschichte, aber gefangen sind wir doch im Kreislauf der Gewalt, die Gegengewalt erzeugt. Terror fordert Gegenterror. Gibt es denn keine Freiheit mehr, aus dem Zirkel auszubrechen ?“ Den Ausweg sah sie nur am linken Rand des politischen Spektrums. Sie unterschrieb die "Erfurter Erklärung“, die für ein Bündnis von SPD, Grünen und PDS eintrat. Sie gehörte zu denen, die Manfred Stolpes Stasi-Verstrickung als Bagatelle abtat, weil linke Irrtümer stets Irrtümer guten Glaubens sind. Ihr politisches Ziel war "Widerstand gegen Staatsterrorismus“, den sie in den westlichen Demokratien am Werk sah. Dorothee Sölle machte es darum ihren Anhängern wie ihren Feinden leicht. Die einen lobten sie, weil sie "das Prinzip Hoffnung mit dem Prinzip Verantwortung" zu verbinden versünde. "Kirche und Staat sind vielleicht trennbar, doch der Geist des Glaubens und der Politik nicht“, war eine ihrer Thesen, die doch auf ein vorreformatorisches Politikverständnis zurückweist. Die, die sie ablehnten, sahen in ihrer Politisierung der Theologie vor allem jene sehr deutsche Verachtung jeglicher Politik verkörpert, die alle Kompromisse ablehnt und darum zu konstruktivem politischen Handeln unfähig ist. Diese Gegensätze lassen sich nicht überbrücken. Sie werden jedoch, weil sie die Welt in gut und böse aufspalten, dafür sorgen, dass Dorothee Sölle vorerst nicht vergessen wird.

Die Welt vom 28.04.2003

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DIE SCHWACHE, STARKE POESIE DER HOFFNUNG

Dorothee Sölle ist im Alter von 73 Jahren während einer Tagung in Bad Boll gestorben - Theologin ohne Kirchenbindung

Von Paul Kreiner

Der zweite, der tödliche Herzinfarkt ereilte Dorothee Sölle ausgerechnet während der Tagung "Gott und das Glück“. Die evangelische Theologin, die das Leiden der geschundenen Kreatur zu ihrem Thema gemacht, die in einer unnachgiebigen, geradezu penetranten Weise zum Kampf gegen das Unglück in der Welt aufgerufen hat, starb am Wochenende, während sie mit ihrem Mann Fulbert Steffensky an der Evangelischen Akademie Bad Boll über das Glück philosophierte.

Aber Glück von Gott? Das erwartete Dorothee Sölle nicht. Für die 1929 in Hamburg geborene Theologin war Gott als Geber alles Guten, als Herrscher über die Welt tot. Nach Auschwitz konnte er nur tot sein. Selbst an ein alles besiegendes Glück im ewigen Leben mochte Sölle nicht glauben. Wenn das Christentum eine Botschaft hatte, dann die: Hier gilt's, auf der Erde. Und wenn die Menschen eine Verheißung hatten, dann die: Gottes Menschwerdung unter ihnen sicherzustellen.

Die Bergpredigt ist das Zentrum von Sölles Theologie, die sich zwar in vielen Büchern, nicht aber in geschlossenen akademischen Systemen niedergeschlagen hat. Nie wurde Sölle, die meistgelesene deutsche Theologin, auf einen universitären Lehrstuhl berufen. Die evangelische Kirche in Deutschland hatte sich 1983 formell von ihr distanziert, weil Sölle die Bergpredigt unmittelbar, geradezu fundamentalistisch ruhestörerisch als Aufruf zu Taten las. Sie wollte nicht Theologin sein, sondern "Theologie treiben“. "Selig die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich“ - das hieß für Sölle, so aufzustehen gegen den Kapitalismus, wie einst die Bekennende Kirche gegen Hitler aufgestanden war.

"Es klebt Blut an den Palästen der Banken“ rief sie. Die "barbarische“ Globalisierung, der Druck der Ökonomie auf die Politik fördere die Verelendung der Dritten Welt. "Wir leben unter einem neuen Totalitarismus, der weit cleverer und geschickter ist als die beiden anderen totalitären Herrschaftsformen, die wir kennen gelernt haben. Er brüllt nicht Kommandos herum, er spricht mit softer Stimme und beherrscht doch alles.“

Sölles Widerstandsgeist erwachte um 1968 im Zuge der "Politischen Nachtgebete“, die sie in Köln ausrichtete, als sie sich nicht mit einer rein betrachtenden Bibelauslegung abfinden wollte. Sie lernte in Vietnam die Folgen des Krieges kennen und die Kraft der Befreiungstheologie in Lateinamerika. Mit diesen Erfahrungen und ihrer eindringlichen Beredsamkeit wurde sie in Deutschland zum Aushängeschild der Friedensbewegung um 1979, um die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses. Natürlich blockierte auch sie das Raketendepot Mutlangen und wurde gerichtlich verurteilt. Sie kämpfte für Fische und Bäume ebenso wie für die von Wessis nach der Wende übervorteilten Ostdeutschen.

Mit ihren Vorträgen und Bibelarbeiten füllte Dorothee Sölle größte Hallen auf allen Kirchen- und Katholikentagen. Aber eben nicht, weil sie als "radikal-demokratische Sozialistin“ politische Propagandareden hielt und den Zuhörern ein schlechtes Gewissen einimpfte, sondern weil sie - die es schon in Auftreten und Tonfall beinahe verstand, das Weltleid physisch zu verkörpern - eine Art Poesie der Hoffnung entfaltete. "Mystik und Widerstand, du stilles Geschrei“ heißt eines ihrer Hauptwerke.

Sölle war Feministin, Pazifistin, Befreiungstheologin; ihre sanfte, sehr ästhetische, aber alles andere als unverbindliche Poesie der Hoffnung nährte sich aus der Bibel: aus ihr konnten die Schwachen stark werden. Aus der Bibel, so bekannte sie, lerne sie zum einen, wie klein, unscheinbar, größenwahnsinnig die Menschen doch seien, aber auch welche Wunder sie wirken könnten: "Mein Buch macht mich immer furchtloser.“ Weltuntergangsstimmung hat Sölle nie verbreitet; der endlose Kampf der Menschen um diese Welt war für sie nie sinnlos, nie absurd, sondern immer getragen von einem Gott, der sich in Jesus den Menschen gleich gemacht hat - und der deshalb seine Pappenheimer kennt, von unten sozusagen.

Stuttgarter Zeitung vom 28.04.2003

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ICH BIN, WAS ICH TUE

Atheistisches Glaubensbekenntnis: Zum Tod der theologischen Schriftstellerin Dorothee Sölle

Von Alex Rühle

Die Radikalität dieser Frau war berühmt und berüchtigt. "Ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Welt kommt; einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte“, begann sie 1983 ihren Vortrag vor dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Vancouver, der einen Skandal auslöste. "Reich ist die Welt, in der ich lebe, vor allem an Tod und besseren Möglichkeiten zu töten“, hieß es darin weiter. Nichts böten wir den Kindern als "Konsum-Sand“. Die westliche Welt? "Verödete Zentren der Kultur“. Die dritte Welt – "ein Dauer-Auschwitz“.

Als mutige Kritikerin eines verkrustet - selbstgefälligen Glaubensverständnisses galt Dorothee Sölle den einen, als schrille Brandrednerin und peinliches Ärgernis den anderen. Sie war früh ein Star der Friedensbewegung und der Oppositionellen in der Kirche – und sie war gleichzeitig isoliert: Einen Lehrstuhl gab es für die politische Theologin nicht in dieser Republik, mehr als zehn Jahre ist sie in die USA gependelt, wo sie als Dozentin am renommierten "Union Theological Seminary“ in New York lehrte.

Neben Germanistik studierte Dorothee Sölle in den fünfziger Jahren Theologie – und rieb sich früh an einem Gott, "der da oben in aller Herrlichkeit thronen soll und solche Dinge in Auschwitz mitveranstaltet hat“. Hier zeigt sich jenes Verständnis von zeitgemäßer Theologie, das sie später als "atheistischen Glauben an Gott“ beschrieb. In Anlehnung an Dietrich Bonhoeffer und Rudolf Bultmann hielt Sölle an Christus fest, "ohne die Beruhigung und den Trost, den eine solche Vorstellung schenken kann: eine Art Leben also ohne einen metaphysischen Vorteil vor den Nicht-Christen, in dem trotzdem an der Sache Jesu in der Welt festgehalten wird.“

Sie wurde dafür angegriffen, dass sie sich in ihren Büchern gegen das Bild eines allmächtigen Gottes stellte, der sich für die Menschen nicht interessiert, und damit auch gegen den "theologischen Zynismus“, der noch die schrecklichsten Geschehnisse achselzuckend als gottgewollt hinnimmt. Eine Theologie aber, die den Menschen nicht auf später vertröstet, muss sich zwangsweise politisieren. Im Nachhinein wirkt es deshalb ganz selbstverständlich, dass Sölle in den sechziger Jahren zu den Mitbegründern des "Politischen Nachtgesprächs“ in Köln gehörte, jenes Kreises, der hierzulande zum Nukleus des theologisch beflügelten politischen Denkens wurde. Die Orthopraxie, das rechte Tun, rückte in den Mittelpunkt ihrer Schriften. Es sei Aufgabe der Christen, "das Veränderbare zu benennen und als veränderbar zu kennzeichnen“.

Sölles "Angst, dass meine Stimme schrill wird unter dem Druck zu ersticken“, war wohl nicht ganz unbegründet. Aber die Stimmen ihrer Gegner in der Amtskirche waren nicht minder schrill, wenn sie sie als "fanatische“ Kämpferin für eine "obskure“, weil "linke“ Sache verschrien.

Die 73-jährige Dorothee Sölle, die als freie Schriftstellerin in Hamburg lebte, war vergangenes Wochenende mit ihrem Mann auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, als sie einen Herzinfarkt erlitt und kurz darauf starb. Thema des Seminars: "Gott und das Glück“. In einem Gespräch, das sie vor einigen Jahren mit ihrem Mann führte, sagte sie: "Glück ist mein Grundgefühl, es trägt mich. Es ist immer schon da. Die schönste Formel für das Glück ist für mich der mystische Satz: Ich bin, was ich tue.“

Süddeutsche Zeitung vom 28.04.2003

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Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache
Führ mich aus dem lügenhaus
wasch meine erziehung ab
befreie mich von meiner mutter tochter
nimm meinen schutzwall ein
schleif meine intelligente burg
Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache
Reinige mich vom verschweigen
gib mir die wörter den neben mir zu erreichen
erinnere mich an die tränen der kleinen studentin in göttingen
wie kann ich reden wenn ich vergessen habe wie man weint
mach mich naß
versteck mich nicht mehr
Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache
Zerschlage den hochmut mach mich einfach
laß mich wasser sein das man trinken kann
wie kann ich reden wenn meine tränen nur für mich sind
nimm mir das private eigentum und den wunsch danach
gib und ich lerne geben
Gib mir die gabe der tränen gott
gib mir die gabe der sprache
gib mir das wasser des lebens

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DOROTHEE SÖLLE HAT MIT IHREN PROVOKATIONEN DIE KIRCHE VORANGEBRACHT

Margot Käßmann, Bischöfin der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Hannover

Man nannte sie gern unbequem, streitlustig und furchtlos. Gemeint ist die evangelische Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle. Gestern ist sie im Alter von 73 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Fragen an Margot Käßmann, evangelische Landesbischöfin in Hannover.

NDR Info: Frau Käßmann, wie haben Sie denn Frau Sölle kennen gelernt?

Käßmann: Intensiver kennen gelernt habe ich sie 1983 bei der Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver. Da hat sie eines der großen Referate gehalten. Und da kann ich sagen, das war streitlustig. Die deutsche Delegation, daran erinnere ich mich gut, fühlte sich ziemlich provoziert von ihr, weil sie auch die Situation der deutschen Kirche ziemlich angegriffen hat.

NDR Info: Was hat die evangelische Kirche mit ihr verloren?

Käßmann: Ja, diese Frau, die auf wichtige Art und Weise provoziert hat - das hat unsere Kirche denke ich auch voran gebracht. Viele Frauen haben die Frau verloren, die ganz zentral dazu beigetragen hat, dass überhaupt feministische Theologie in Deutschland ein Begriff wurde. Und ich denke, viele haben auch diese liebevolle Frau - die ist ja oft gar nicht im Blick - verloren, eine Große Poetin. Dorothee Sölle hat wunderbare Gedichte geschrieben. Das ist vielleicht ihre schönste Theologie. Und ihr großes Alterswerk von 1997 geht zum Thema Mystik. Und ich glaube, sie hat tatsächlich die Mystik neu geöffnet für viele Protestanten.

NDR Info: Bekannt wurde die Hamburgerin vor allem durch ihr Engagement in der Friedensbewegung und, wie gesagt, durch ihre provokanten politischen Nachtgebete. War ihre Arbeit von Vorteil für die evangelische Kirche?

Käßmann: Ich denke das in jedem Fall. Also, viele hat das natürlich gestört, wenn sie provoziert hat mit so etwas wie: "Gott ist tot." Damit meinte sie ja nicht den Tod Gottes sondern, wie sie immer gesagt hat, den Abschied von der "Papa-wird’s-schon-richten-Theologie". Aber so etwas ist gerade in der evangelischen Kirche ja wichtig, um Menschen zum Nachdenken zu bringen. Ich muss als einzelne Person über Gott nachdenken, ich kann mir nicht alles vorsetzen lassen. Und da hat sie sicher viele Menschen ungeheuer angeregt, wenn sie auch bestimmt nicht immer einfach war für ihre Kirche.

NDR Info: Wieso?

Käßmann: Ich glaube, das "Richtige" und "alles bleibt, wie es ist und ist schön ausgewogen", das hat sie nicht zugelassen. Das hat sie geärgert, nervös gemacht und dann dazu gebracht, auch ziemlich steile Thesen beispielsweise zur Frage Arm und Reich, die dritte Welt und unsere reiche Kirche, anzubringen, die unbequem sind in einer Kirche, aber ich würde sagen, ihr gut tun.

NDR Info: Wenn sie jetzt an Frau Sölle denken. Welche Situation, welches Erlebnis ist denn besonders charakteristisch für sie?

Käßmann: Also für mich ist eines charakteristisch: ein schöner Abend beim Kirchentag in München 1993, wo diese Frau, die immer so als hart und streitbar von ihren Gegnern gezeichnet wurde, unwahrscheinlich lustig über ein Gedicht sprechen konnte, dass sie zum Aufräumen der Zimmer ihrer Töchter geschrieben hat. Und diese liebevolle Seite von Dorothee Sölle, "räumt doch eure Zimmer auf", die wurde immer viel zu wenig in den Auseinandersetzungen wahrgenommen.

NDR Info: Was bleibt von der Theologin?

Käßmann: Erst einmal ein ganz großes Werk. Ich habe das gestern Abend noch bei amazon.de versucht: 90 Bücher können Sie von Dorothee Sölle lesen. Da ist ein anregendes theologisches Werk zum Nachdenken für die Kirche auch im 21. Jahrhundert. Und das Schönste, was bleibt, neben all diesen Anregungen für die Theologie, ist, glaube ich, tatsächlich ihre Poesie.

NDR am 28.04.2003

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GOTT WILL NICHT ALLEIN SEIN

Für die einen war sie eine Heilige, für die anderen ein rotes Tuch: An der evangelischen Theologin Dorothee Sölle schieden sich die Geister

Von Reinhard Mawick

Irgendwann hat sie es aufgegeben. Irgendwann ging sie dazu über, "Schriftstellerin“ statt "Theologin“ in die Formulare von Tagungsstätten oder Hotels einzutragen, in denen nach dem "Beruf" gefragt wurde. Zwar verstand sich Dorothee Sölle natürlich als Theologin - in dem Sinne, dass sie nachdachte über Gott und die Welt, und zwar mit einer ganz tiefen Verbundenheit zur jüdisch-christlichen Tradition. Aber ihr Geld hat sie im Gegensatz zu den meisten anderen Theologinnen und Theologen in Deutschland nie bei der Kirche verdient. Sölle: "Ich war da nie angestellt, weder bei der Kirche noch als ordentliche Professorin an einer deutschen theologischen Fakultät.“

Als Dorothee Sölle das feststellte, tat sie es ohne Bitterkeit. Sie sei froh, dass ihr viel Ärger und Schreibkram erspart geblieben sei, den so eine ordentliche Professur mit sich bringe. Über solche Dinge habe sie ihren Mann Fulbert Steffensky, bis 1998 Professor für Religionspädagogik in Hamburg, oft stöhnen hören. Und trotz dieser erzwungenen Abstinenz von der deutschen Universität hatte Dorothee Sölle auch immer wieder befristete Lehraufträge wahrgenommen, zum Beispiel in Mainz und Basel. 1975 bis 1987 war sie Professorin am “Union Theological Seminary” in New York. Aber für eine ordentliche Professorin Sölle war der deutsche Theologiebetrieb wohl einfach nicht reif.

Denn Dorothee Sölle hatte sich zeitlebens wenig um Etikette gekümmert. Sie konnte nie etwas anfangen mit der sauberen Trennung zwischen Theologie als Wissenschaft auf der einen und christlicher Lebenspraxis auf der anderen Seite. Es ist über dreißig Jahre her, dass Dorothee Sölle zum ersten Mal in das Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit rückte. In Köln traf sich regelmäßig ein Kreis von evangelischen und katholischen Theologen, die über das Glaubensbekenntnis diskutieren wollten. Dorothee Sölle: "Irgendwann dämmerte es uns, dass wir uns nicht nur theoretisch mit theologischen Fragen beschäftigen durften, sondern dass diese Beschäftigung in eine Art Praxis einmünden muss.“ Eines Tages beschloss die Gruppe, eine Prozession durch Kölns Innenstadt zu machen unter dem Motto "Vietnam ist Golgatha“. Das Credo der Gruppe: Jeder theologische Satz muss zugleich ein politischer sein. Das Aufsehen war groß, denn damals war die Öffentlichkeit solche Aktionen von Christen überhaupt nicht gewohnt.

Als die Gruppe ihre spezielle Liturgie im Jahre 1968 auf dem Katholikentag in Essen halten wollte, schoben die Organisatoren die Veranstaltung auf 23 Uhr abends. Aus dieser Not machte die Gruppe eine Tugend und nannte ihre Gottesdienste "Politisches Nachtgebet“. Fortan galt Dorothee Sölle in weiten Kreisen als linksradikal.

Bereits 1965 hatte sie mit ihrer ersten größeren Veröffentlichung "Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes" aufhorchen lassen. Der provokante Titel, dem andere wie "Atheistisch an Gott glauben“ (1968) folgten, schreckte Traditionalisten ab. Als Sölle dann 1969 Fulbert Steffensky, einen Benediktinermönch, heiratete, war für viele das Maß voll. "Niedergefahren zur Sölle!“ - so urteilten in grimmiger Umdichtung des Glaubensbekenntnisses konservative Christen über sie und ihre Gedanken. Auf solche Kritik angesprochen, zuckte sie mit den Schultern: "Die Hauptangriffe habe ich von Leuten erfahren, die nie eine Zeile von mir gelesen haben und mich einfach so abstempelten, weil sie gehört hatten, ich würde eine Gott-ist-tot-Theologie vertreten.“

In einem rastlosen Aktivismus sah allerdings auch Dorothee Sölle kein Heil. Gerade der untrennbare Zusammenhang zwischen Engagement und Glauben war es, der sie umtrieb. "Mystik und Widerstand“ hieß ihr großes Werk, das 1997 erschien. Dort sichtete sie die großen mystischen Traditionen, und zwar nicht nur die christlichen. Mit konfessionellen Gegensätzen konnte Dorothee Sölle sowieso immer weniger anfangen. So schrieb sie: "Die Anhänger der verschiedensten Religionen werden angezogen von diesem X im Herzen der Welt, dem sie Namen wie Allah, Urmutter, der Ewige, Nirwana, das Unerforschliche gegeben haben." Wieder so ein Satz, mit dem sich die streitbare Theologin in gewissen Kreisen keine Freunde machte. Aber für sie, für die Theologie immer ganz eng mit Erfahrung verknüpft war, wurden Begriffe sowieso immer unwichtiger. Eins allerdings fand sie schade: dass - obwohl die meisten ihrer Bücher sich gut verkauften und bereits Generationen von Pfarrerinnen und Pfarrern mit Sölles theologischem Denken aufgewachsen sind, obwohl Tausende ihre Bibelarbeiten auf Kirchentagen gehört haben -, dass Teile der Fachtheologie sie trotzdem ignorierten.

Die Tageszeitung vom 28.4.2003

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Rede bei einer Demonstration in Hamburg am 26.10.2002

Von Dorothee Sölle

Liebe Freundinnen und Freunde, vor vielen Jahrhunderten gab es einmal eine große Weltherrschaft, die sich PAX ROMANA nannte, weil sie von Rom ausging. Sie nannte sich "Frieden" und meinte damit die absolute Herrschaft über die damalige antike Welt. Das bedeutete Ausbeutung der Schätze der unterworfenen Völker, Karthago in Nordafrika wurde zerstört, weil es dort billiges Korn gab. Im Interesse der Reichen wurden die Armen zu Sklaven gemacht und das nationale Recht der Stämme und kleinen Staaten mit Füßen getreten. Es gab nur noch ein Recht, das ius romanum, nur noch einen Frieden, die pax romana, weil es nur ein imperium romanum gab. Jeder Krieg diente dieser sich für zivilisiert haltenden Welt und ihren Gewinnern.
Heute leben wir in einer vergleichbaren Welt, der PAX AMERICANA. Dieser Ausdruck stammt nicht von mir, sondern von Bürgern der USA, die sich gegen diese Art von angeblichem Recht und Ausbeutungsfrieden stellen. George Bush, Junior, lässt sich zwar nicht Kaiser oder Cäsar nennen, aber er verlangt immer klarer absoluten Gehorsam und unbedingte Solidarität, um den wachsenden Wohlstand der Reichen in seinem Land zu sichern.

Das Beste, was diesem Kaiser passieren konnte, geschah am 11. September 2001. Der Terroranschlag hat ihn ermächtigt. Seine Beliebtheit verdoppelte sich. Seine Einteilung der Welt in "gut" und "böse" setzte sich in den USA zunächst durch, gemeint ist mit gut immer "gut für uns". Der Außenminister Colin Powell sagte vor kurzem, dass Präsident Bush, unabhängig von allen UNO Resolutionen "die Autorität und das Recht" habe, "für das amerikanische Volk und unsere Nachbarn in Selbstverteidigung zu handeln." (taz 19./20.10.2002) Das Völkerrecht wird umgangen.

Amerikanische Freunde von mir haben schon in den 70er Jahren ihr eigenes Land ironisch "God`s own country" genannt. Es steht Gott so nah, dass es, um nur einige Beispiele zu nennen, nie Verträge unterschrieben hat, die Atomwaffen und ihre Lieferung kontrollieren. Die Ächtung der Landminen wurde abgelehnt, ebenso wie die Kontrolle der Biowaffen, und nur konsequent, der Internationale Strafgerichtshof. All das ist, was Bush heute den "uneingeschränkten Krieg" nennt, es ist das Recht, an jedem Ort und zu jeder Zeit militärisch einzugreifen.

Seine Behauptung, dass die vom Irak ausgehende Bedrohung einen Krieg rechtfertige, ist nach Ramsey Clark, der jahrelang Justizminister der USA war und einer der schärfsten Kritiker der US-Außenpolitik, schlicht falsch. "Achtzig Prozent der militärischen Kapazitäten des Iraks wurden im Golfkrieg 1991 zerstört- das sagt das Pentagon! Neunzig Prozent der Ausrüstung, die man benötigt um Massenvernichtungswaffen herzustellen, wurden von den UN-Inspektoren während der acht Jahre dauernden Inspektionen zerstört. Der Irak war einmal militärisch stark - im Jahre 1990. Heute ist er ein schwacher Staat mit einer Bevölkerung, die unter den Sanktionen leidet. Eins von vier Kindern, die im Irak geboren werden, wiegt weniger als 2 Kilo. es hat ein schweres Leben vor sich." (Clark, Publik Forum, 2002, Nr.19)

Hunderttausende von Amerikanern haben in den letzten Wochen gegen den Krieg protestiert. Heute werden zigtausend Demonstranten zum "Nationalen Marsch auf Washington" erwartet. "No blood for oil" konnte man in San Francisco auf den Strassen lesen, aber auch, und das gegen die Demokraten im Parlament "No vote for oil".

"Nicht in unserem Namen" ist ein Aufruf von Intellektuellen, den indessen 10 000 Menschen unterschrieben haben. Sie erklären, dass "die Exekutive langsam aber sicher Aufgaben und Funktionen an sich gerissen hat, die eigentlich in den Bereich der übrigen Regierungsinstanzen gehören. Gruppierungen können mit einem einzigen Federstrich des Präsidenten zu ´Terroristen` erklärt werden."

NOT IN OUR NAME. Wir weigern uns, mit diesen Kriegen irgendetwas zu tun zu haben." Die Gruppe beruft sich auf die großen Widerstandstraditionen in der Geschichte der USA, von den Revolten gegen die Sklaverei bis zum Vietnamkrieg.

Der israelische Schriftsteller Uri Avnery, Träger des Alternativen Nobelpreises, sagt über den Krieg gegen den Irak; "Das hauptsächliche Ziel der US-amerikanischen Wirtschaft (und infolgedessen der dortigen Politik) gilt dem Öl des Kaspischen Meeres. Die Erforschung und Förderung der dortigen gigantischen Ölreichtümer - der größten der Welt - hat noch gar nicht richtig angefangen. Deren Kontrolle wird die USA in die Lage versetzen, billiges Öl auf Jahrzehnte zu kontrollieren. Bush, ein typischer Öl- Interessenvertreter, der die alternativen umweltfreundlichen Energiequellen verachtet, betrachtet dies als Hauptziel."

Das Imperium braucht Öl. Und es braucht nicht mehr Verbündete, sondern Vasallen, die zur Verfügung stehen. Wir Europäer sollten uns nicht dazu machen lassen. Verbündet sind wir mit denen, die gegen Bush und Co. aufstehen. Die USA verlangen das Recht auf einen Präventivkrieg, sie drehen das "Recht auf Verteidigung" um in "das Recht auf Selbst-Verteidigung durch präventives Handeln." (1941 berief sich Hitler gegen die Sowjetunion auf das Recht zum Präventivkrieg.) "Dass sich kein Staat in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischt", gehört zu den bisherigen Grundlagen des Völkerrechts. Damit ist die internationale Ordnung, wie sie sich unter der Führung der Vereinten Nationen nach dem Ende des 2.Weltkriegs entstanden war, begraben. Dass Washington die Weltherrschaft anstrebt, wurde bisher als "primitiver Antiamerikanismus" abgewehrt. Jetzt wird dieser Anspruch von den Falken in der Bush-Administration in aller Offenheit erhoben."(Monde dipl. 11.10.).

NOT IN OUR NAME.

Wir sind mit dem anderen Amerika verbündet.

Der Kampf geht weiter.

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DER GEWALT DEN BODEN ENTZIEHEN

Von Dorothee Sölle

Wir leben in einem Kreislauf der Gewalt und wir sind in ihm gefangen. Unser Gefängnis ist sicher das best tapezierteste der Weltgeschichte, aber gefangen sind wir doch im Kreislauf der Gewalt, die Gegengewalt erzeugt. Terror fordert Gegenterror, der wiederum den ersten Terror steigert. Gibt es denn keine Freiheit mehr, aus dem Zirkel auszubrechen? Müssen wir Kopfnicker und Zuschauerinnen bleiben, wenn die Gewalt täglich zunimmt und das Leben der Mehrheit der Menschen, der Mitgeschöpfe und unserer Mutter der Erde bedroht?

Vom baum lernen
der jeden tag neu
sommers und winters nichts erklärt
niemanden überzeugt
nichts herstellt
einmal werden die bäume
die lehrer sein
das wasser wird trinkbar
und das lob so leise
wie der wind an einem septembermorgen

Ich zitiere aus einem Interview mit Jean Ziegler, dem Genfer UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, über die Welthandelsorganisation, die WTO, sagt er: "Sie ist der inkarnierte Neoliberalismus. Das sind Fundamentalisten, die von der absoluten Marktmobilität die Lösung aller Probleme erhoffen. Das Verschwinden der normativen Kräfte des Staates soll Frieden, Freiheit und Wohlbefinden für alle bringen - eine total absurde, irrationale Vorstellung." In Wirklichkeit bringt diese Zerstörung aller Rechtsregeln neue Formen der Sklaverei, denken Sie an die Näherinnen, die unsere T-Shirts so wunderbar billig machen, der Verelendung.

Meine in Bolivien lebende Arzttochter erzählte mir gerade, dass die Hälfte der Todesfälle im andinen Hochland jetzt auf Selbstmord zurückgeführt wird, die Verelendung ist so groß, dass die jüngeren Leute aus den Dörfern in die städtischen Slums fliehen, also in Betteln, Prostitution oder Drogenhandel, und die älteren Zurückbleibenden keinen Sinn mehr im Weitervegetieren sehen.

Der Konsens der Herren dieser Welt , also die Übereinstimmung von WTO, der Weltbank, dem internationalem Währungsfond mit den wichtigsten Wirtschaftsnationen, den G 8, beruht nach Jean Ziegler auf "drei Prinzipien: Privatisierung, totale Mobilität und Entstaatlichung." (taz, 07.11.2001) Wir leben unter einem neuen Totalitarismus, der weit cleverer und geschickter ist als die beiden anderen totalitären Herrschaftsformen, die wir kennen gelernt haben. Er brüllt nicht Kommandos herum, er spricht mit softer Stimme und beherrscht doch alles.

Die Hauptfrage ist in den letzten Jahren eine einzige geworden, die "ob es sich rechnet".

Bundeskanzler Schröder hat von einer "Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt" gesprochen. Die Vokabeln gehen auf Samuel Huntingtons Zusammenstoß der Kulturen, den "clash of cultures" zurück. Aber ist es möglich die Reichen mit dem steinernen Herzen als "zivilisiert" und die Verelendeten als "unzivilisiert" zu bezeichnen ? Oder um es gleich mit George Bush zu benennen, gibt es jetzt den "monumentalen Kampf, den das Gute gegen das Böse" zu führen hat ? Welches Herz spricht denn da ?

Unser fleischernes Herz weiß doch, mindestens manchmal, wie es um die verelendete Welt steht. Und wir ahnen vielleicht , das, was angesichts dieser barbarischen Katastrophe verlangt wird. Es ist nicht militärische Vergeltung, sondern eine Kurskorrektur unserer Lebensweise, ein überprüfen der Werte, die unser Handeln bestimmen, ein Eingeständnis eigener Schuld am Leiden, am Elend, an der Demütigung derer, die in uns ihre Feinde sehen. Es wird in diesen Tagen vom ersten Krieg im 21. Jahrhundert geredet. So barbarisch der Mord an 6.000 Zivilisten ist, wir sollten unsere Augen nicht schließen vor der Tatsache, dass Krieg doch schon ist: der wirtschaftliche Krieg der Starken und der Stärksten gegen die Schwachen und Schwächsten. Dieser Krieg muss endlich aufhören, er erzeugt nichts als Hass und den Vernichtungswillen der starken, technologisch perfekt Ausgebildeten, die in der Elendswelt keine Hoffnung mehr sehen können. "Selbstmordattentäter" ist ein neuer und grauenvoller Begriff, früher hat man es auf den weniger gewalttätigen Satz gebracht "Macht kaputt, was euch kaputt macht." Dagegen hilft keine Überlegenheit, weder technologisch, noch wirtschaftlich, noch militärisch. Wir sind als Menschen und als offene Gesellschaft verletzlich, und solange der wirtschaftliche Krieg weitergeht, werden die Bedrohungen zunehmen für uns. Das Fenster der Verwundbarkeit lässt sich nicht schließen, das ist ein grundlegender Irrtum, der in der Reagan-Bush-Tradition absolut verklärt und üblich ist.

Noam Chomsky, einer der schärfsten Kritiker der USA seit dem Vietnamkrieg, sagte, das Attentat auf die Twin Towers sei ein "niederschmetternder Schlag für die Palästinenser, für die Armen und Unterdrückten, weil es ihre legitimen Ängste und Klagen in den Hintergrund gedrängt hat... Wenn die US-Regierung Bin Ladens Gebete erhört (ein wunderbar ironischer Satz!) und einen massiven Angriff auf Afghanistan oder irgendeine andere muslimische Gesellschaft ausführt, dann wird genau das passieren, was Bin Laden und seine Verbündeten wollen- eine Mobilmachung gegen den Westen." (taz, 20.09.2001)

Weisheit der Indianer

Jeden Tag die Erde mit den Füßen berühren
am Feuer sich wärmen
ins Wasser fallen
und von Luft gestreichelt sein

Wissen - ein Tag ohne die vier
Schwester Wasser und Bruder Feuer,
Mutter Erde und Vater Himmel
ist ein verrotteter Tag

Ein Tag im Krieg,
den wir gegen alles führen

Ich frage mich manchmal, wer eigentlich der Terrorist ist . Ich möchte hier gern noch einige andere Stimmen des "anderen Amerikas" zu Wort bringen, weil bei uns die amerikanische Opposition gegen Bush und Co. so unbekannt ist. Sie hat den Begriff des Terrorismus aufgenommen und fragt sich, wer eigentlich die Terroristen sind, die in Kolumbien, Palästina, Kosovo, Rwanda, Bosnien und im Kongo morden, welche Geldgeber und Interessen dahinterstecken. Wer kämpft denn gegen den Terror der Ökonomie, es sind doch im wesentlichen landlose Bauern in Brasilien, indische Frauen, die gegen die Biopiraterie von Monsanto aufstehen, fromme Christen, die noch wissen, dass auch wir unsern Schuldnern vergeben sollen. Die große wachsende Bewegung gegen die Globalisierung von oben ist gewaltfrei - und es sind umgekehrt die Herren dieser Welt, die sich in Genua von den Polizeiterroristen beschützen ließen.

Ein amerikanischer Freund, Theologieprofessor, schrieb nach dem 11. September einen Rundbrief über "unser geliebtes Amerika", "Wir sind gewalttätig, Zuhause und im Ausland. Wir sind führend dabei, Waffen herzustellen und sie gut zu verkaufen. Wir haben einige der schlimmsten Unterdrückungssysteme der Welt unterstützt, wir haben ihnen bei Terroraktionen gegen die eigene Bevölkerung geholfen. Wir haben für uns einen Lebensstil kultiviert, der die Verelendung anderer benötigt." (Tom Driver)

Vor vielen Jahren hatte ich ein Gespräch mit einem amerikanischen Freund über die Aufrüstung, in dem er einen Satz sagte, der von zwei verschiedenen hochverehrten Götzen unserer Welt handelte. Er nannte sie Mammon, das Geld, und Mars, des Gott des Krieges. "Mammon kills more little children than Mars." Dieser Satz vom Mammon , der mehr kleine Kinder umbringt, ist indessen immer wahrer, immer gültiger geworden. Wir leben ja in einer neuen Epoche, die in vielen Hinsichten barbarischer geworden ist als die früheren Formen des Kapitalismus.

Ich war eine leidenschaftliche Gegnerin des Adenauersystems, wegen der Aufrüstung, die der Preis für das Wirtschaftswunder war, aber heute ertappe ich mich manchmal in einer gewissen Nostalgie dem "rheinischen Kapitalismus" gegenüber, wie man das damalige System freundlich nennt, es verband Kapitalinteressen mit einer sozialen Fürsorge und einer Verantwortlichkeit für die Schwächeren.«

Genau das ist mit der Globalisierung von oben, dem Neoliberalismus, dem daher stürmenden Turbokapitalismus vergangen. Soziale Rücksichten sind überflüssig geworden. Die Selbstbereicherung der Reichen funktioniert am besten, wenn alles "dereguliert" wird, wie ein Lieblingswort der Weltbesitzer heißt. Alle Regeln und Einschränkungen wirtschaftlicher Art werden als Hindernis für den freien Handel angesehen und zusammengehend mit der Entmachtung des Staates- oder seiner "Verschlankung" wie unser dicker Kanzler sie schon anpries - abgeschlafft

Die Ökonomie wird immer totalitärer. Die wichtigste Frage im Leben ist die, ob es sich "rechnet", wenn man den Kindergarten eine Stunde länger offen lassen darf oder eine Halbtagskraft mehr im Altersheim anstellt. Geld wird gewinnbringend vermarktet, es dient nicht dazu, die Bedürfnisse der Menschen zu stillen. Warum sollte man es in die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse sozialer, pädagogischer, ökologischer Art stecken, wenn die Gewinner es doch zu mehr Geld machen können?

Margret Thatcher, eine glühende Vertreterin des Neoliberalismus hat das auf eine prägnante Formel gebracht, der für alle, die zu den Gewinnern gehören, wunderbar ist. "There is no alternative." Wenn Sie die vier ersten Buchstaben dieses einfachen Satzes zusammenstellen, dann nennt man dieses Denken "das TINAsyndrom" An dieser Krankheit leiden wir alle, dieses alternativlose Denken beschädigt uns mehr als unsere vielen Hautallergien.

Es gibt aber Alternativen. Und ich denke, der Widerstand gegen diesen neuen Totalitarismus der Ökonomie wächst weltweit. Gegner der falschen Globalisierung die sich seit Seattle, Prag, Davos, Quebec, Genua immer klarer, immer öffentlicher gezeigt haben. Die 200.000 Menschen in Genua und ihre Organisation ATTAC haben einen wunderbaren einfachen Satz geprägt, den ich in Übereinstimmung mit der jüdisch-christlichen Tradition finde. "The world is not for sale." Die Welt, die Luft, das Wasser, die Sexsklavinnen sind nicht Waren, auf denen steht: "Zu verkaufen". Es gibt Sachen, die man weder kaufen noch verkaufen kann. The world is not for sale. Das Leben auf dieser von Gott geliebten Erde steht nicht zum Verkauf an.

Diese neue Bewegung möchte ich vergleichen mit den frühen Kämpfen für die Abschaffung der Sklaverei im 18. Jahrhundert: es war eine im Wesentlichen gewaltfreie , von Quäkern und anderen Christen initiierte Bewegung. Heute entsteht etwas Ähnliches, vor unsern Augen, auch bei uns. Wir können ja alle wissen, wie die Globalisierung von oben neue Formen der Sklaverei ermöglicht, die unsere T-Shirts so billig macht. Damals hat es 100 Jahre gebraucht, um die Sklaverei abzuschaffen, um Kinderarbeit zu beenden und Mindestlöhne einzuführen.

Dieser Kampf wartet auf uns. Wir können aus der Geschichte der Gewaltfreiheit für das, was heute notwendig ist, lernen. Mahatma Gandhi nannte diese Form der Freiheit "die größte Macht, die der Menschheit in die Hand gegeben ist, mächtiger als die mächtigste Zerstörungswaffe". Wir sollten versuchen, an diese Kraft zu glauben.

Eine der vielen neuen Bewegungen in den USA heißt "Justice, not Vengeance", Menschen wie Rosa Parks, Alice Walker, Gloria Steinen machen da mit. Großstädte wie San Francisco und Seattle erklären sich zu "hassfreien Zonen". Gerechtigkeit ist die Antwort auf den Terror, die wir brauchen. Gerechtigkeit ist langsam, nachdenklich, geduldig and langfristig, Rache ist oft schnell und ihre Ergebnisse allzu kurzfristig. Die Rachsucht hat keine Vision hinter sich und keine Zukunft vor sich. Das sind Botschaften, die wir aus Amerika hören und wir sollten sie hier einbürgern. Mit ändern Worten : Wenn wir uns nicht ändern, wird sich nichts bessern. Jesus meinte, wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert untergehen.

Die wesentlichen Lebensbedingungen in unserer Welt haben sich, für die 80% in einem Maß verschlechtert, das wir alle nicht mehr ertragen sollten.

Aufstehen für den Frieden! heißt heute "Aufstehen für die Gerechtigkeit", die die Grundbedingung für Frieden ist. 1983 war ich in Vancouver auf der ÖRK-Weltversammlung. Beeindruckend war für mich, dass die Menschen aus dem Süden uns auf die Reihenfolge aufmerksam gemacht haben: Gerechtigkeit und Frieden gehören zusammen, aber Gerechtigkeit kommt zuerst.

Die Globalisierung von oben ist ein barbarisches System der Verelendung der Mehrheit der Menschen und der Zerstörung der Erde.

Wir brauchen eine andere wirtschaftliche Globalisierung: Von unten. Im Interesse der Erde, im Interesse der Ärmsten.

Vortrag beim Politischen Nachtgebet in Hamburger am 18.11.2001

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EINE ANDERE WELT IST MÖGLICH

Von Dorothee Sölle

Mit dem Schlag vom 11. September ist die westliche Zivilisation ins Herz getroffen worden, so haben es viele empfunden. Ich auch. Ein Massenmord, in dem Zivilisten ermordet, erstickt, lebendig begraben worden sind. Manche mir nahstehende Freunde haben die Attentäter mit den Nazi-Massenmördern verglichen. Das konnte ich nicht mitvollziehen, weil diese ja nur Knöpfe für Gas drückten, ohne sich selber zu opfern. Aber das ändert nichts am Schmerz, am Entsetzen. Ich habe von einem Menschen gehört, der aus dem 94. Stockwerk zu Fuß eine halbe Stunde lang heruntergegangen ist und unten angekommen merkte, dass er sein Flugticket oben gelassen hatte. Er kehrte um und das Gebäude stürzte ein. Ich denke an diesen mir unbekannten Toten.

Aber wir müssen weiter denken, die Trauer schließt die Analyse nicht aus, sie braucht sie, um anders zu leben. Ins Herz der Zivilisation sind wir getroffen worden. Aber was ist das für ein Herz? Es ist das Finanzzentrum Manhattans dessen Wahrzeichen das World Trade Center war, das herausragende repräsentative Symbol der modernen Geschäftswelt.

Ist es nicht ein Herz aus Stein? Und das Pentagon, das Zentrum der militärischen Durchsetzung eben dieser Wirtschaftsmacht, der Macht dieser Welt, ist es nicht ein stählernes Herz? In der Trauer um die vielen Menschen, die hier ihr Leben verloren haben, im Mitleiden mit den Betroffenen und ihrer! Angehörigen, aber auch als selber Dazugehörige, die ja zu dieser westlichen Zivilisation gehören, spüren wir noch ein anderes Herz, das in uns schlägt, eine andere Kultur neben der aus Stein und Stahl, ein verwundetes und verwundbares Herz. Auf dieses pochende Herz zu hören, ist jetzt und heute notwendig.

Die Dinosaurier
haben sich während der letzten dreißigtausend Jahre
nicht verändert
ihre Waffentechnik war zu gut
kein Feind konnte ihnen
dank des Schuppenpanzers und ihrer
weitausgreifenden Arme etwas wollen.
Auch die Theorie des ersten Vernichtungsschlags
scheint ihnen bekannt gewesen zu sein.
Ihr Sicherheitsbedürfnis muss
unvorstellbar gewesen sein
so dass Intelligenz und Gefühl
in den relativ kleinen Gehirnen
sich nicht entwickeln konnten.

Das steinerne Herz und ganz konsequent das stählerne der Militärmacht ist ohne Gefühl für die Nöte der Menschen. Sie werden ja seit etwa 10 Jahren eingeteilt, es gibt eben winner und loser, 20 % der Menschen gehören zu den Gewinnern sie haben dass Recht gut zu leben, lang zu leben, neue Organe zu kaufen, wenn die alten nicht mehr funktionieren. 80 % der Menschen gehören zu den Verlierern, sie produzieren wenig Brauchbares und konsumieren auch nicht richtig, wozu sind sie also eigentlich da? So denkt und fühlt das steinerne Herz.

Die Ökonomie, in der wir leben, wird immer totalitärer. Sie unterscheidet sich sehr von den beiden totalitären Systemen, die wir aus dem vorigen Jahrhundert kennen, sie ist intelligenter und effizienter und vor allem "softer", sie brüllt nicht Kommandos, sondern wirbt mit zarter Stimme. Sie diktiert den Takt unseres beschleunigten Lebens, sie erzwingt tendenziell die politischen Entscheidungen der Verantwortlichen, Wirtschaft ist eben wichtiger als Politik. Das steinerne und das stählerne Herz ohne Gefühl für die Nöte und wirklichen Bedürfnisse der Menschen geben den Takt, die Zeiteinteilung, die Relevanz an. Manager und Klinikdirektoren müssen eben 60 Stunden pro Woche arbeiten, und Massenentlassungen lassen bekanntlich die Aktien steigen. Die wichtigste Frage in unserem Leben ist in den letzten Jahren eine einzige geworden, die "ob es sich rechnet".

Bundeskanzler Schroeder hat von einer "Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt" gesprochen. Die Vokabeln gehen auf Samuels Huntingtons Zusammenstoß der Kulturen, den "The Clash of Civilizations?" zurück. Aber ist es möglich die Reichen mit dem steinernen Herzen als "zivilisiert" und die Verelendeten als "unzivilisiert" zu bezeichnen? Oder um es gleich mit George Bush zu benennen, gibt es jetzt den "monumentalen Kampf, den das "Gute gegen das Böse" zu führen hat? Welches Herz spricht denn da?

Unser fleischernes Herz weiß doch, mindestens manchmal, wie es um die verelendete Welt steht. Und wir ahnen vielleicht, das, was angesichts dieser barbarischen Katastrophe verlangt wird. Es ist nicht militärische Vergeltung, sondern eine Kurskorrektur unserer Lebensweise, ein Überprüfen der Werte, die unser Handeln bestimmen, ein Eingeständnis eigener Schuld am Leiden, am Elend, an der Demütigung derer, die in uns ihre Feinde sehen. Es wird in diesen Tagen vom ersten Krieg im 21. Jahrhundert geredet. So barbarisch der Mord an 6000 Zivilisten ist, wir sollten unsere Augen nicht schließen vor der Tatsache, dass Krieg doch schon ist: der wirtschaftliche Krieg der Starken und der Stärksten gegen die Schwachen und Schwächsten. Dieser Krieg muss endlich aufhören, er erzeugt nichts als Hass und den Vernichtungswillen der starken, technologisch perfekt Ausgebildeten, die in der Elendswelt keine Hoffnung mehr sehen können. " Selbstmordattentäter" ist ein neuer und grauenvoller Begriff, früher hat man es auf den weniger gewalttätigen Satz gebracht "Macht kaputt, was euch kaputt macht." Dagegen hilft keine Überlegenheit, weder technologisch, noch wirtschaftlich, noch militärisch. Wir sind als Menschen und als offene Gesellschaft verletzlich, und solange der wirtschaftliche Krieg weitergeht, werden die Bedrohungen zunehmen für uns. Das Fenster der Verwundbarkeit lässt sich nicht schließen, das ist ein grundlegender Irrtum, der in der Reagan-Bush-Tradition absolut verklärt und üblich ist.

Noam Chomsky, einer der schärfsten Kritiker der USA seit dem Vietnamkrieg, sagte, das Attentat auf die Twin Towers sei ein "niederschmetternder Schlag für die Palästinenser, für die Armen und Unterdrückten, weil es ihre legitimen Ängste und Klagen in den Hintergrund gedrängt hat. Wenn die US-Regierung Bin Ladens Gebete erhört ( ein wunderbar ironischer Satz!) und einen massiven Angriff auf Afghanistan oder irgend eine andere muslimische Gesellschaft ausführt, dann wird genau das passieren, was Bin Laden und seine Verbündeten wollen- eine Mobilmachung gegen den Westen." (taz 20.9.) Ich frage mich manchmal, wer eigentlich der Terrorist ist.

Kinderfragen

Es gibt viel Angst mein Jüngstes

die ich dir nicht nehmen kann
Großmutter ist gestorben
und Panzer brauchen sie für den Krieg

Es gibt viel ich kann nicht
wenn du mich fragst, mein Jüngstes
Großmutter schälte Kartoffelschlangen
Der Fried ist ein Hirsekorn klitzeklein

Die großen Jungs in den Panzern
fürchten sich auch und wollen lieber rein
das Reich Gottes ist noch winziger
als du warst und wird ein Baum sein.

Ich möchte hier gern noch einige andere Stimmen des "anderer Amerikas" zu Wort bringen, weil bei uns die amerikanische Opposition gegen Bush und Co. so unbekannt ist. Sie hat den Begriff des Terrorismus aufgenommen und fragt sich, wer eigentlich die Terroristen sind, die in Kolumbien, Palästina, Kosovo, Ruanda, Bosnien und im Kongo morden, welche Geldgeberund Interessen dahinterstecken. Und wer kämpft denn gegen den Terror der Ökonomie, es sind doch im wesentlichen landlose Bauern in Brasilien, indische Frauen, die gegen die Biopiraterie von Monsanto aufstehen, fromme Christen, die noch wissen, dass auch wir unsern Schuldnern vergeben sollen. Die große wachsende Bewegung gegen die Globalisierung von oben ist gewaltfrei- und es sind umgekehrt die Herren dieser Welt, die sich in Genua von den Polizeiterroristen beschützen ließen.

Ein amerikanischer Freund, Theologieprofessor, schrieb nach dem 11. September einen Rundbrief über "unser geliebtes Amerika", "Wir sind gewalttätig, zuhause und im Ausland. Wir sind führend dabei, Waffen herzustellen und sie gut zu verkaufen. Wir haben einige der schlimmsten Unterdrückungssysteme der Welt unterstützt, wir haben ihnen bei Terroraktionen gegen die eigene Bevölkerung geholfen. Wir haben für uns einen Lebensstil kultiviert, der die Verelendung anderer benötigt." (Tom Driver)

So wird der Terror der Ökonomie klar benannt. Der amerikanische Filmregisseur und Aktivist Tim Robbins hat im August über die neue Bewegung der Globalirungsgegner in den USA gesprochen, "es gibt eine neue breite Koalition von Studenten, Umweltschützern. Gewerkschaften, Bauern, Wissenschaftlern und anderen Bürgern, die sich als vorderste Front des Kampfes um die Zukunft dieses Planeten verstehen. "(taz 28.8. 01) Robbins vergleicht die neue Bewegung mit den frühen Kämpfen für die Abschaffung der Sklaverei im 18. Jahrhundert. Es war eine im wesentlichen gewaltfreie, von Quäkern und anderen Christen initiierte Bewegung. Heute entsteht etwas Ähnliches, vor unsern Augen, auch bei uns. . Wir können ja alle wissen, wie die Globalisierung von oben neue Formen der Sklaverei ermöglicht, die unsere T-Shirts so billig macht. Damals hat es 100 Jahre gebraucht, um die Sklaverei abzuschaffen, um Kinderarbeit zu beenden und Mindestlöhne einzuführen.

Dieser Kampf wartet auf uns. Wir können aus der Geschichte der Gewaltfreiheit für das, was heute notwendig ist, lernen. Mahatma Gandhi nannte diese Form der Freiheit "die größte Macht, die der Menschheit in die Hand gegeben ist, mächtiger als die mächtigste Zerstörungswaffe". Wir sollten versuchen, an diese Kraft zu glauben.

Eine der vielen neuen Bewegungen in den USA heißt "Justice, not Vengeance", Menschen wie Rosa Parks, Alice Walker, Gloria Steinen machen da mit. Großstädte wie San Francisco und Seattle erklären sich zu "hassfreien Zonen". Gerechtigkeit ist die Antwort auf den Terror, die wir brauchen. Gerechtigkeit ist langsam, nachdenklich, geduldig und langfristig, Rache ist oft schnell und ihre Ergebnisse allzu kurzfristig. Die Rachsucht hat keine Vision hinter sich und keine Zukunft vor sich.

Das sind Botschaften, die wir aus Amerika hören und wir sollten sie hier einbürgern. Mit andern Worten: Wenn wir uns nicht ändern, wird sich nichts bessern. Jesus meinte, wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert untergehen. Die wesentlichen Lebensbedingungen in unserer Welt haben sich für die 80 % in einem Maß verschlechtert, das wir alle nicht mehr ertragen sollten. Aufstehen für den Frieden! heißt heute "Aufstehen für die Gerechtigkeit" die die Grundbedingung für Frieden ist. Die Globalisierung von oben ist ein barbarisches System der Verelendung der Mehrheit der Menschen und der Zerstörung der Erde. Wir brauchen eine andere wirtschaftliche Globalisierung. Von unten. Im Interesse der Erde, im Interesse der Ärmsten.

"Da helfen Raketen und Bomben nichts..."

Rede in der Universität Hamburg am 03.10.2001

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Predigt bei der Ökumenischen Mahlfeier beim Katholikentag in Hamburg am 02.06.2000

Liebe Geschwister,
ich möchte mit einer persönlichen Erinnerung beginnen, die lange zurück liegt und meine ersten Erfahrungen mit dem gemeinsamen Abendmahl betrifft. In der Zeit des Politischen Nachtgebets in Köln (1966 bis 1972) war es bei uns Sitte, dass wir im inneren Kreis oft am Sonntag in den Gottesdienst gingen, gemeinsam mal zum katholischen, mal zum evangelischen. Es war selbstverständlich, dass wir an der Mahlfeier, der Eucharistie, teilnahmen, auch die Priester und Pfarrer duldeten das. Wir haben nie konfessionelle Schwierigkeiten empfunden.

Nach zwei Jahren der gemeinsamen Arbeit machten wir eine Tagung, um den größer gewordenen Kreis von etwa 60 Menschen besser kennen zu lernen. Es gab ein langes Vorstellgespräch mit erstaunlichen Überraschungen: "Ach, von Dir dachte ich immer, Du wärst evangelisch! Du - katholisch?" Oder umgekehrt. Es wurde uns immer klarer, dass die Trennungen des 16. Jahrhunderts nicht mehr unsere waren. Bei dieser Tagung feierten wir einen Gottesdienst mit gemeinsamem Abendmahl. Danach fragte eine Freundin, die katholische Journalistin Wilma Sturm, ob sie denn morgen am Sonntag noch zur Messe müsse. Viele von uns, ich auch, konnten diese Frage gar nicht verstehen. Wir hatten doch Christus miteinander geteilt!

Was uns ökumenisch gemeinsam ist - der Glaube an die gute Schöpfung Gottes, die Orientierung an den Benachteiligten, den Verlierern als den Lieblingskindern Gottes, die Nachfolge Christi in einer schwierigen und verwirrenden Welt, der Geist, der uns hilft, all das ist uns unendlich viel mehr und gewichtiger als das, was im Verständnis von Bibel, Sakrament und Amt noch trennt. In der entstehenden Praxis des Glaubens und Handelns war für uns die Trennung längst überwunden. Befreiende Theologie ist nicht nur katholisch oder protestantisch! Genau das empfinde ich auch heute, das gelebte Christentum in den Friedensgebeten, in der Erlassjahrkampagne, in der Zusammenarbeit für die Menschenrechte der Textilsklavinnen fragt nicht mehr nach dem traditionellen konfessionellen und dogmatischen Verständnis, und wenn vorsichtige Zögerer uns warnen und sagen "wir sind noch nicht so weit", so machen wir uns selber unglaubwürdig, wenn wir uns darauf einlassen.

Die Hinhaltetaktik von oben verleugnet den, der uns das Einssein in ihm zuspricht, wir haben es gerade gehört: "Alle sollen eins sein. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast". Die Frage nach der Interkommunion interessiert heute außer Bischöfen und Theologieprofessoren keinen Menschen mehr, wir haben ernsthaftere Fragen zu stellen und zu lösen, z.B. die, wie wir als Christinnen und Christen mit der Globalisierung von oben und der darin angelegten Entmachtung aller sozialen und ökologischen Rechtsvorschriften umgehen.

Auch die Theologie des Abendmahls hat sich verändert. Die Eucharistie sollten wir, das haben Frauen in den letzten Jahren an vielen Stellen angemahnt, wieder mit seinem Ursprung im jüdischen Gemeinschaftsmahl verbinden, es ist ein Mahl zum Sattwerden und nicht nur eine Symbolhandlung. Auf dem Kirchentag in Stuttgart wurde die Parole formuliert "Mehr essen beim Abendmahl und mehr beten beim Essen." Es ist wichtig, dass das Abendmahl eine integrative Funktion hat und Randgruppen wie Obdachlose einbezieht, es hat was mit geteilter Freude zu tun. Der Brotsegen und der Bechersegen sind Segenshandlungen, in denen der Leib Christi geteilt wird. Und das Essen ist nicht einfach Nahrungsaufnahme, sondern immer auch ein Stück Selbstunterbrechung in Erinnerung an die Schöpfung, die wir zu loben lernen können.

Der Ritus hat etwas mit der Freude am Essen zu tun, ich betone das gegen die protestantische Tradition, die oft durch eine falsche Sündenideologie, ihre angstvolle Trauer und den ihr eigenen Individualismus geprägt ist. Wir haben noch viel zu tun, aber "wir decken schon mal den Tisch" und erinnern uns, dass die Privilegien der Satten von Paulus und der ursprünglichen Jesus-Gemeinschaft nicht geduldet wurden: die Gerechtigkeit ist nicht nur eine Sache der Einzelnen. Sie gehört ins Herz der Jesus-Gemeinschaft. Sie soll in unserer gemeinsamen Zelebration aufleuchten.

Ich denke, dass wir alle nicht ganz zu Hause sind in der Kirche, in der wir leben. Wirkliche Kirche braucht immer Visionen, Aufbruch, das Volk Gottes wandert, es hockt nicht in römischen Palästen. Ecclesia semper reformanda. Die Vielfalt von Ritualen, Sprachen und symbolischen Gesten ist ein Reichtum, von dem wir nur lernen können. Im Protestantismus gibt es zur Zeit ein massives Nachholbedürfnis nach Sinnlichkeit, Farben, Düften, Bewegungen. Menschen sehnen sich nach einem sinnlich sichtbaren, nicht allein auf das Wort bezogenen Glauben. Gott ist immer größer als unser Herz, und sicher größer als unsere Kirchenleitungen und unsere Theologien. Das Einssein in und mit Christus ist uns versprochen, kein Amt kann das stehlen und für sich beanspruchen.

Ich möchte Euch eine Enkelgeschichte erzählen, die mir viel bedeutet. Das dreieinhalbjährige Kind holt sich Porzellantassen aus dem Regal und baut sich unter meinen besorgten Augen ein Café auf. Es schenkt imaginären Kaffe an imaginäre Gäste aus. Nach einer Weile sagt seine Mutter, jetzt sei Zeit zum Essen und es solle aufräumen. Das Kind antwortet, ohne Trotz, aber mit deutlich kritischem Erstaunen: "Mama, du denkst immer nur in echt". Dieser verrückte Satz hilft mir, die Tradition etwas besser zu verstehen. Auch sie denkt auf zwei Ebenen, die eine ist die der beobachteten erfahrbaren Realität, die Ebene des "in echt". Die Ebene der Institution, ihrer Regeln und Gewohnheiten. Sie hat Angst vor Veränderungen, Angst davor, dass Gott sich an vielen Stellen versteckt und auf uns wartet. Die andere Ebene ist die, die wir brauchen und suchen, die wir erproben können. Man nennt sie auch Transzendenz. Lasst uns nicht im Echten stecken bleiben. Liebe Geschwister, wir brauchen Transzendenz!

Mein Gefühl sagt mir, dass wir vielleicht keine Zeit mehr haben, auf die lahmen Entenfüße der Institutionen zu warten. Der Niedergang der christlichen Tradition ist zu bedrohlich. Ich schließe mit einem neuen Lied, das 1989 in der früheren DDR entstanden ist, es könnte uns mehr Mut machen, als wir oft haben.

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ZWEI THEOLOGEN, EIN EHEPAAR: FÜR BEIDE IST DAS GLÜCK EIN GESCHENK

Doch es ist nicht immer leicht, es in Empfang zu nehmen

Von Monika Goetsch und Reinhard Mawick
Sie streiten gern, auch öffentlich. Wieviel Streit gehört zur Liebe?

Fulbert Steffensky: Wenn sich zwei Menschen in ihrer Verschiedenheit lieben, ist Streit selbstverständlich. Vor der Auseinandersetzung keine Angst zu haben halte ich geradezu für ein Zeichen von Liebe.

Dorothee Sölle: Dazu gehört allerdings der Schmerz, nicht übereinzustimmen. Dass ich dich zum Beispiel nie zum Jazz bekehren konnte... (lacht)

Steffensky: Und ich dich nie zur Gregorianik... Aber es gibt auch die Lust an der Nichtübereinstimmung. Lust am Streit.

Sölle: Nur in unreifen Beziehungen kann man nicht streiten, ohne dass es bitter und böse wird.

Was wäre ein geglückter Streit?

Sölle: Wenn beide der Wahrheit näherkommen, ohne sie besitzen zu wollen.

Steffensky: Das ist wie ein zweistimmiger Gesang.

Sölle: Und die Frage, wer recht hat, stellt sich gar nicht mehr.

Steffensky: Was wärst zum Beispiel du, Dorothee, ohne meine Bedächtigkeit, was wäre meine Bedächtigkeit ohne deinen Pfeffer? In der eher kleinbürgerlichen Umgebung, aus der ich stamme, hat man übrigens nicht gestritten.

Sölle: Auch nicht zu Hause.

Steffensky: Während deine Familie immer sehr lustig gestritten hat. Selbst bei Beerdigungen gab es Streit. Das geht. Streiten heißt doch: Auseinander sein, um wieder zusammenzukommen.

Steht am Ende eines Streits Verbundenheit oder Erschöpfung?

Sölle: Am Anfang steht schon die Verbundenheit. Wie zwei Monde, die sich im Weltall treffen und annähern, ohne sich zur Deckung zu bringen. Das gehört zum Geheimnis der Liebe.

Also eben nicht ganz zu verschmelzen?

Sölle: Ja. Nicht zu glauben, man habe einander ganz.

Sie, Frau Sölle, haben einmal geschrieben, zu einer Ehe gehöre auch eine gemeinsame Vision. Sehen Sie das genauso, Herr Steffensky?

Steffensky: Wir haben Kinder und vier Enkelkinder, das ist eine Vision. Kinder lassen einen Menschen produktiv von sich absehen. Nur wenn man die Fähigkeit hat, von sich abzusehen, gemeinsam auf etwas anderes zu sehen, kann eine Liebe bestehen.

Spielt Glück für Ihre Liebesvorstellung eine große Rolle?

Sölle: Glück ist mein Grundgefühl, es trägt mich. Wie ein Wind, der mir Flügel wachsen lässt. Es ist immer schon da. Die Jagd nach dem Glück dagegen empfinde ich als etwas Krankhaftes.

Steffensky: Unglück ist doch, sich ständig wahrnehmen zu müssen. Glück, sich vergessen zu können. Das Grundbild eines glücklichen Menschen sehe ich in unserem Enkelkind, das in ein Buch versunken ist.

Sölle: Während meines Studiums ging ich einmal mit einem jungen Mann im Wald spazieren. Als wir uns auf den Boden setzten, um uns zu küssen, piekste mich ein Stöckchen. Ich hatte Angst, das zu sagen und damit den Augenblick zu zerbrechen. Aber der war natürlich längst zerbrochen: weil ich neben mir stand. Eine schöne Formel für das Glück dagegen ist der mystische Satz: Ich bin, was ich tue. Ich empfinde das oft beim Singen oder Klavierspielen.

So dass Sie erst hinterher bemerken: Das muss ein glücklicher Zustand gewesen sein.

Sölle: Ja. Schiller sagte, der Mensch ist nur Mensch, wenn er spielt. Ein großartiger Satz!

Haben Sie darum Ihre Kindheit einmal als Paradies bezeichnet?

Sölle: Das mag sein. Dabei kann ich mich fast auf den Tag genau erinnern, wie es war, als ich aufhörte Kind zu sein.

Was geschah da?

Sölle: Wir waren in den Ferien immer in den Alpen. Eines Tages machte das der Krieg unmöglich. Da sah ich einen blühenden Kirschbaum und hatte Heimweh nach den Bergen und den Sternen. Es war ein Gefühl von Trauer und Sehnsucht. Nie mehr würde ich so einfach da sein wie vorher, das wusste ich. Die Sterne vermisse ich noch heute, weil sie so selten am Himmel stehen.

Sie sind ein sehr engagierter Mensch. Hat dieses Engagement mit Glück zu tun?

Sölle: Insofern es Versenkung ist, ja. Ich war einmal in Chile im Gefängnis während eines Hungerstreiks. Eine Frau dort erzählte mir von ihrem Leben. Ich weinte. Das war auch ein Augenblick von Glück, von Ganzheit.

Empfinden Sie im Leiden ein Glück?

Sölle: Natürlich nicht immer. Es gibt so furchtbare Formen des Leidens. Aber auch im Leiden bin ich von Gott untrennbar.

Sie fordern das intensive Leben. Ein Leben, das Leiden und Schmerz integriert.

Sölle: Leiden gehört zur Liebe. Liebe zieht uns ja die Kleider aus - ganz bestimmt die Rüstungen. Sie macht uns verwundbar. Das ist eine Urerfahrung.

Nach der Trennung von Ihrem ersten Mann haben Sie drei Jahre lang sehr gelitten. Wie fanden Sie aus dieser Krise heraus?

Sölle: Ich habe mich an einem Bibelvers festgehalten, der hieß "Lass dir an meiner Gnade genügen". Der Vers half mir über diesen Schmerz eines gescheiterten Lebensentwurfs, einer verlorenen Ganzheit hinweg. Wie, das weiß ich auch nicht genau.

Hat die Krise Ihnen später Kraft gegeben?

Sölle: Diese Frage ist mir zu zweckhaft.

Steffensky: Ich frage mich aber doch, ob Lebensniederlagen nicht empfänglicher machen für das Glück und dankbarer. Und ob nicht ein neues Glück mit alten Niederlagen zu tun hat.

Sölle: Mich interessiert gerade etwas anderes: Ich glaube, viele Menschen verwechseln eine dickfellige Zufriedenheit mit Glück und sagen einfach: "Ich bin's zufrieden." Mir reicht das nicht. Zufriedenheit ist eine Reduktion der Fähigkeiten. Zum wirklichen Glück gehört, sich auch aufs Spiel zu setzen.

Meinen Sie, dass alle Menschen dazu Talent haben?

Sölle: Aber sicher. In allen steckt etwas von Gott, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.

Aber man kann doch auch mit etwas weniger zufrieden sein, oder nicht?

Sölle: Das wurde den Frauen gern beigebracht: zufrieden zu sein, sich zu begnügen und zu begrenzen und das Glück in einem gelungenen Mittagessen zu suchen.

Steffensky: Ein Mittagessen ist aber etwas sehr Schönes.

Sölle: Klar. Vor allem, wenn man es miteinander teilt. Aber so eingeschränkt kann keiner leben. Wir sind doch dazu da, zu fühlen und zu wachsen!

Es ist auch eine Sache der Herkunft und Bildung, ob man über sich hinauswachsen kann.

Sölle: Ich würde das nicht auf eine Bildungsfrage reduzieren.

Sie zeichnen einen ganz pathetischen Lebensentwurf. Extremes Leiden, extremes Glück und eben auch extreme Auseinandersetzungen.

Sölle: Ja. Pathos ist mir eine wichtige Kategorie.

Sind Sie damit nicht oft allein?

Sölle: Machtlos ja, allein fühle ich mich immer weniger. Es hat sich in der Kirche so viel getan! Abgesehen davon: Das Glück verschmilzt uns mit anderen. Und wenn wir allein sind, sind wir gar nicht so allein, wie wir denken.

Woher haben Sie die Kraft für Ihr Engagement genommen?

Sölle: Was soll ich darauf sagen? Ich mache morgens Gymnastik, gehe schwimmen... (lacht) Nein: Ich glaube schon, dass das Geheimnis des Lebens uns trägt. Das ist eigentlich die Frage nach Gott.

Zu den klassischen biblischen Themen zählt das Glück aber nicht.

Sölle: Die Fülle des Lebens zu haben, wie in der Bibel steht, ist doch nichts anderes als Glück. Sterben zu können gehört dazu. Als meine Mutter starb, sagte sie: Ich habe ein erfülltes Leben gehabt. Sie war dankbar und wollte gehen. Das hat mir sehr geholfen.

Steffensky: Ist das nicht eine Art Altersglück: dass nicht mehr alles auf dem Spiel steht? Wir haben am Anfang gesagt, zu wissen, dass man glücklich ist, störe das Glück. Im Alter dagegen kann man wissen, dass man eine Frau hat und Kinder und deshalb glücklich und dankbar sein.

Sölle: Dankbarkeit ist für mich auch sehr wichtig. Wirkliches Glück fließt ganz von selbst in eine große Dankbarkeit. Die Kategorien von Erfolg und Leistung verschmelzen mit denen von Geschenk und Gnade. Das ist mehr als das euphorische Gefühl, etwas geschafft zu haben. So entsteht Lebensfrömmigkeit.

Steffensky: Es gibt wohl zwei Formen des Glückes: ein eher auflösendes Glück, das mit Natur und Sexualität zusammenhängt. Zum Beispiel das Glück, frühmorgens in einem See zu schwimmen oder einen Sonnenuntergang zu sehen. Das Glück über etwas, das man geschaffen hat, ist anders. Man hat es bewusster.

Es ist eher eine Ichsteigerung.

Steffensky: Ja. Kein Sichverlieren. Im Alter gibt es das "Noch"-Glück. Das Glück, dass du, Dorothee, noch da bist, dass die Kinder noch da sind. Noch ist dann nicht negativ, sondern positiv gemeint.

Haben Sie Angst vorm Sterben?

Steffensky: Ich weiß, dass ich den Weg zu gehen habe. Aber man vergisst das auch. Glücklich sein heißt ja, nicht auf sich selbst verbannt zu sein. Wenn ich Menschen um mich habe, Arbeit...

Sölle: Zum Glück gehört auch das Staunen. Etwas zu sehen wie beim ersten Mal. Ein hinunterfallendes Blatt, einen bellenden Hund. Staunen können ist eine Form, das Leben in seinen vielen Gestalten zu lieben.

Des Lebens nicht müde zu werden.

Sölle: Ja, genau. Wie mein Sohn, der auf der Straße stehen blieb und sagte: Mama, guck doch mal, diese wunderbare 537. Er lernte gerade Zahlen lesen und hatte diese Hausnummer entdeckt: 537. Das war das Glück!

Bedroht die Gewohnheit das Staunen?

Sölle: Gewohnheiten sind Verfestigungen, schleifen ab. Aber natürlich habe ich auch Gewohnheiten.

Steffensky: Und es gibt Gewohnheiten, die glücklich machen: Die Regelmäßigkeit deines morgendlichen Kaffees, der mir zu schwach ist. Möglicherweise braucht das Glück Gewohnheiten. Vielleicht ist dann jeder Spül ein Liebesspiel! Ein Liebesspül! Ich glaube, man kann das Glück vertreiben, indem man es im Außerordentlichen ansiedelt. Bei dem Tod deines Bruders sagte seine Frau: Wir haben immer das Glück des Alltäglichen unterschätzt. Im Alter erkennt man dieses Glück besser.
Weil im Tod Alltag verloren geht.

Steffensky: Und weil man weiß: Es ist nicht mehr so viel da.

Sölle: Ich glaube, dass Glücks- und Angstfähigkeit miteinander zu tun haben.

Steffensky: Wer eine erotische Zugewandtheit zum Leben hat, treffbar ist von Schwermut und Zerstörungen und Trauer und Leid, ist auch treffbar von Glück.

Sölle: Vor vielen Jahren habe ich mal den Satz geschrieben: Ich halte Jesus für den glücklichsten Menschen. Er litt natürlich, aber er stimmte mit sich überein, hatte eine Urbeziehung zum Leben. Die Abwesenheit des Wortes Glück in der Bibel bedeutet nicht, dass das Glück dort nicht vorkommt. Das ewige Leben - was soll es denn sonst sein? Doch nicht irgendeine postmortale Existenz, sondern das Glück des Hier und Heute.

Steffensky: Aber verlangt die große Glückserfahrung nicht immer ein Ganzes ein? Glück ist unbescheiden. Ich glaube, das Dunkel lehrt einen weinen, das ist klar. Aber auch das Glück lehrt einen weinen, nach mehr verlangen. Glück ruft nach mehr Fülle.

Machen postmortale Vorstellungen nicht einfach glücklich?

Sölle: Damit sie glücklich machen, muss das Glück bereits im Menschen sein. Immanente Transzendenz ist für mich ein anderes Wort für Glück. Die heilige Theresa hat einmal Pudding gegessen, der ihr sehr gut schmeckte. Ein frommer Beichtvater neben ihr sagte: Ach, wir sündigen Menschen freuen uns am Pudding. Da sagte sie: Wenn schon dieser Pudding so gut schmeckt, wie wird es dann im Himmel sein?

Steffensky: Den schließt du aus, den Pudding des Himmels.

Sölle: Ich schließe ihn nicht aus!

Steffensky: Nicht nur das erfahrene, auch das abwesende Glück läßt doch den Menschen rufen: Einmal wird es sein! Die Bilder vom Jenseits sind große Glücksbilder. Beschneidest du nicht das Glück, wenn du sagst, das Leben nach dem Tod finde hier statt?

Sölle: Ich finde die Unsterblichkeitshoffnung problematisch.

Steffensky: Schon mit diesem Begriff diffamierst du die Hoffnung darauf, dass es ein Land gibt, in dem die Blinden sehen und die Lahmen gehen können.

Sölle: Das will ich auch. Aber Leben setzt voraus, einzuwilligen in Kommen und Gehen, in unsere Sterblichkeit. Diese Einwilligung müssen wir lernen.

Sie haben geschrieben, Sie könnten sich unter bestimmten Bedingungen auch Selbstmord vorstellen. Was sind die Bedingungen?

Sölle: Dazu möchte ich nichts sagen.

Warum dürfen wir denn über den Tod hinaus nichts hoffen?

Sölle: Ich glaube ja an das ewige Leben. Es geht weiter. Ich bin dann ein Tropfen in diesem Meer...

Steffensky: Wie herrlich!

Sölle: Ich brauche aber mein Ego nicht zu bewahren. Konkreter muss meine Vorstellung nicht sein.

Es geht Ihnen um Verwandlung.

Sölle: Ja. Zum Leben gehören Rhythmen.

Steffensky: Auch ich muss nicht wissen, was mit mir passiert. Aber ich kann wissen, dass ich nicht in eisige Abgründe stürze, sondern in der Hand Gottes bleibe. Viel mehr hat man wohl nicht. Trotzdem kann man ausspinnen: keine Mühe mehr, ewige Ruhe... Sölle: Aber warum opponierst du gegen das Bild des Meeres? Ich bin darin nicht verloren, ich habe Anteil am Ganzen.

Eigentlich passt das Bild von dem Tropfen im Meer sehr gut zu Ihrer Vorstellung von Glück.

Sölle: Mein Glück hat immer mit Ichlosigkeit zu tun. Das Ego irgendwann ganz loszulassen - weil diese Schöpfung gut ist.

Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt vom 11.09.1998

 

 

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