Brechmittel ausgesetzt
Der Bremer Innensenator Thomas Röwekamp (CDU) hat bisher nur einer
"Aussetzung" der zwangsweisen Vergabe von Brechmitteln zugestimmt, nicht
der Abschaffung. Darauf hat Wolfgang Grotheer, Rechtspolitiker der SPD,
hingewiesen.
Seit Jahren
ist er umstritten, der so genannte Brechmitteleinsatz: Dealern
werden zwangsweise Medikamente verabreicht, damit sie
Drogenpäckchen wieder ausspucken. Zwei Todesfälle gab es dabei
schon. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nun
einen Schlussstrich gezogen
Kotzen ist Menschenrecht
Europäischer Gerichtshof verurteilt Deutschland wegen
Brechmitteleinsatz. Ein Drogenkurier bekommt Schadenersatz
Sirup mit Todesfolge
In Bremen und Hamburg kamen zwei Schwarzafrikaner bei
gewaltsamen Brechmitteleinsätzen ums Leben. Doch nur an der
Weser wurden daraus Konsequenzen gezogen: Drogendealer werden
dort inzwischen aufs Klo gesetzt, ein Polizeiarzt muss sich vor
Gericht verantworten
Das schmeckt zum Kotzen
Ipecacuanha-Sirup heißt das Brechmittel, das im Wuppertaler Fall
verwendet wurde, aber auch sonst in Deutschland verbreitet zum
Einsatz kommt.
Der Europäische Gerichtshof hat gesprochen:
Die zwangweise Vergabe von Brechmitteln ist menschenunwürdig. Wer so
behandelt worden ist, hat Anspruch auf Schmerzensgeld. Ein Urteil,
bezugnehmend auch auf den Todesfall im Bremer Polizeigewahrsam.
11.05.06
taz
Brechmittel-Tod vor Gericht
Die Bremer Staatsanwaltschaft will einen Polizeiarzt vor Gericht
bringen. Er hatte einem afrikanischen Kleindealer so lange Brechmittel
und Wasser eingeflößt, bis er daran erstickte. Wäre er weiß gewesen,
hätte er gerettet werden können
11.05.06
Weser Kurier
"Sorgfaltspflicht verletzt"
Staatsanwalt im Brechmittel-Fall: Mediziner soll vor Gericht /
Verteidiger sieht Verschulden auch im System
Brechmittel-Opfer ertrunken
Gutachter sind sich einig: Wasser in der Lunge führte zum Tod.
Staatsanwaltschaft prüft Anklage gegen Not- und Polizeiarzt. Auswertung
des Drogenklos verzögert sich
Röwekamp
angezeigt
"Vorstellungen des Innensenators über Umgang mit Verdächtigen
widersprechen Strafprozessordnung"
25.01.05
taz
Kanzlerbrief out, Röwekamp in
Koalition einigt sich auf eine Fortsetzung des guten Klimas: Brechmittel
werden nur noch freiwillig getrunken. Scherf teilt am Freitag mit, dass
bei den Gesprächen über den Kanzlerbrief kein Geld raussprang. Mit
öffentlicher Kritik halten sich alle zurück
So bleibt
Röwekamp im Amt
Ein Signal der Nachdenklichkeit müsse CDU-Innensenator Thomas Röwekamp
setzen, wenn er beim Misstrauensantrag ihre Stimmen erhalten wolle, hat
die SPD gefordert. Die taz ahnt, dass dem das eher schwer fällt. Ein
paar Formulierungshilfen
22.01.05
taz
"Enge
sachliche Zusammenarbeit"
Am Sonntag berät der Bremer Koalitionsausschuss über die mögliche Abkehr
von der zwangsweisen Brechmittelvergabe. Ein Konflikt, den man in Bayern
nicht kennt: "Es kommt doch sowieso alles heraus"
19.01.05
taz
CDU will
Brechmittel - vielleicht
Haltung der CDU-Fraktion zum SPD-Antrag gegen Brechmittelvergabe noch
offen. Kastendiek: "Wir werden nicht um des lieben Friedens willen alles
mitmachen"
18.01.05
taz
Koalition
unter Hochspannung
Die SPD verlangt von Innensenator eine klare Abkehr von der
Brechmittelvergabe, bevor sie ihre Haltung zum Misstrauensvotum der
Grünen festlegt. Die Unzufriedenheit mit der großen Koalition eskaliert
17.01.05
taz
1.000 in
Trauer und Wut Aufgebracht, aber friedlich: Demonstranten protestieren gegen
Brechmittel-Politik
Keine
"zwangsweise Magenspülung"
Rechtsfragen bei der Brechmittelvergabe: Das BVerfG hat schon 2001
angemahnt, "im Hinblick auf das Grundrecht auf körperliche
Unversehrtheit" seien "verfassungsrechtlich relevante Fragen zu klären".
Die Bremer Theorie trennte sauber zwischen der Gewalt der Polizei und
dem ärztlichen Vollzugs
Gewalt in
der Grauzone
Was wirklich passiert, wenn ein Afrikaner zwangsweise mit Brechmitteln
behandelt wird, dokumentiert niemand
"Blut
läuft aus der Nase"
Protokoll eines Gesprächs mit einem Afrikaner, dem zwangsweise
Brechmittel eingeflößt wurde (1994)
In Bremen
keine Folgen
Bremen wollte 2001 keine Brech-Pause einlegen - ungeachtet der laufenden
Ermittlungen in Hamburg
14.01.05
taz
"Ein
drittes Opfer darf es nicht geben"
Die Community der Afrikaner in Bremen wehrt sich gegen "Stigmatisierung
und Rassismus". Familie des toten Conde will als Nebenkläger vor Gericht
auftreten und fragt nach den Ermittlungen gegen die Polizei: Kriminologe
verweist auf Grundgesetz
"Ich habe
mir nichts vorzuwerfen"
Innendeputation der Bürgerschaft tagte zum Thema "Brechmittel-Skandal".
Die Grünen sehen alle Vorwürfe bestätigt und fordern den Rücktritt,
Innensenator Thomas Röwekamp (CDU) hat sich "nichts vorzuwerfen"
Ermittlung
auch gegen Notarzt
Wurde der Innensenator von seinen Beamten falsch informiert? Die Polizei
schweigt. Der per Magenspülung geradezu ertränkte Schwarzafrikaner liegt
nach wie vor im Koma
Notarzt-Diagnose: "Ertrinken"
Drogendealer im St.-Joseph-Krankenhaus ist wahrscheinlich hirntot.
Notarzt berichtet: Dem Mann wurde bei der Polizei so viel Wasser in den
Magen gepumpt, dass es in die Lunge drang. Innensenator stoppt
Brechmitteleinsatz bis auf weiteres
05.01.05
taz
Brechmittel-Koma
Seit einer Woche liegt ein Mann im Koma, nachdem er von der Polizei
Brechmittel verabreicht bekam
"Sorgfaltspflicht verletzt"
Staatsanwalt im Brechmittel-Fall: Mediziner soll vor Gericht - Verteidiger
sieht Verschulden auch im System
Von Bernd Schneider
Nun ist es offiziell: In der Brechmittel-Affäre hat die
Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. Das teilte gestern der Leitende
Oberstaatsanwalt Dietrich Klein mit. Der Mediziner, der im Dezember 2004 dem
Afrikaner Laye Alama C. Brechmittel verabreicht hatte, um im Auftrag der Polizei
verschluckte Drogen zu sichern, soll sich wegen fahrlässiger Tötung vor dem
Landgericht verantworten. Strafrahmen: Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
Geldstrafe. Klein rechnet im Falle einer Verurteilung mit einer Bewährungsstrafe
von maximal zwei Jahren. Die Entscheidung, ob das Verfahren eröffnet wird, liege
beim Gericht.Was der Oberstaatsanwalt dem 1963 geborenen und aus Kasachstan
stammenden Arzt vorwirft: Er habe seine Sorgfaltspflicht verletzt, indem er die
Behandlung mit dem Brechmittel und großen Mengen Wasser auch dann noch
weitergeführt habe, als der 35-Jährige schon "klare Anzeichen für ein getrübtes
Bewusstsein" zeigte. Damit habe er eine Dienstanweisung verletzt. Die "klaren
Anzeichen", die nach Kleins Auffassung zum sofortigen Abbruch der Behandlung
hätten führen müssen: Der Patient war kaum noch ansprechbar, seine engen
Pupillen zeigten keine Reflexreaktionen auf Licht. Zu diesem Zeitpunkt habe das
"schleichende Ertrinken" bereits eingesetzt: Das Blut des Afrikaners habe sich
stark verdünnt, weil die Lungen eingeatmetes Wasser ans Blut abgegeben hätten.
Zudem seien sie nach und nach voll gelaufen, weil sie mehr Wasser aufgenommen
hätten, als sie an das Blut abgeben konnten. Der Arzt sei aber "schlicht
überfordert" gewesen, die Anzeichen des "schleichenden Ertrinkens" zu erkennen
und sie zu beherrschen. Gegen die beiden Polizeibeamten, die den Kopf und einen
Arm des Afrikaners festhielten, sei nicht ermittelt worden (wegen Beihilfe zur
fahrlässigen Tötung), ergänzte Klein. Als Nicht-Mediziner hätten sie die
gesundheitlichen Risiken der Behandlung erst recht nicht absehen können.Auch dem
Notarzt, der später hinzugerufen wurde, könne man keinen Vorwurf machen, sagte
der Leitende Oberstaatsanwalt. Deshalb habe man das Verfahren gegen ihn
eingestellt. Als der Zustand des Patienten sich so sehr verschlechtert hatte,
dass dieser ein Fall für den Notarzt wurde - der Herzschlag hatte sich unter
massivem Sauerstoffmangel deutlich verlangsamt -, sei es für eine Rettung schon
zu spät gewesen. Der Anwalt des Angeschuldigten, Erich Joester, will nun im
Vorfeld des Gerichtsverfahrens tätig werden: "Wenn eine Verurteilung nicht
wahrscheinlich ist, eröffnet das Gericht die Hauptverhandlung nicht", sagte er.
Das wolle er erreichen. Die Staatsanwaltschaft stütze ihre Anklage auf
widersprüchliche Gutachten. Dabei habe sie Entlastendes nicht ausreichend
gewürdigt. Der Anwalt: "Als Verteidiger muss ich fragen: Trifft meinen Mandanten
ein spezielles Verschulden." Zweifel daran seien berechtigt. Schließlich hätten
Ärzte und Anwälte stets gewarnt, die Vergabe von Brechmitteln sei medizinisch
nicht beherrschbar. Innenressort, Staatsanwaltschaft und Justiz - bis hinauf zum
Oberlandesgericht - hätten daran dennoch festgehalten. Erst nach dem Tod des
Afrikaners habe Bremen sich von dem Verfahren verabschiedet.
Weser Kurier vom 11.05.2006
Vor Richterschelte gewarnt
Landtagsdebatte über Beweissicherung von Drogenpäckchen
Von Peter Voith
Die zwangsweise Brechmittel-Vergabe dürfte nach dem Tod des
schwarzafrikanischen Tatverdächtigten vom Januar 2005 (siehe Artikel oben) in
Bremen Geschichte sein. Dass nach dem tragischen Vorfall die Vergabe des Mittels
nur noch auf freiwilliger Basis erfolgt oder Verdächtige auf die Drogentoilette
geschickt werden, ist gestern im Kern sowohl von CDU und SPD als auch von den
Grünen begrüßt worden. Unterschiede zeichneten sich indes bei der Frage ab, wie
man künftig mit jugendlichen Tatverdächtigen umgehen soll. Der Abgeordnete Rolf
Herderhorst (CDU) wies in der Debatte zur "Beweissicherung von Drogenpäckchen"
darauf hin, dass von April bis Dezember 2005 in 13 Fällen (von 45) jugendliche
Tatverdächtige weder Brechmittel nehmen noch die Drogentoilette benutzen
mussten, weil Jugendrichter diese Maßnahmen bei erstmals Auffälligen als
unverhältnismäßig einstuften. Der CDU-Politiker befürchtete, dass hier ein
"rechtsfreier Raum" entstehe und die Szene zunehmend dazu übergehen werde,
Jugendliche mit dem Dealen zu betrauen. Herderhorst: "Das darf nicht sein."
Wolfgang Grotheer (SPD) wiederum warnte vor einer Richterschelte. Denn es werde
lediglich dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen. Im Übrigen
könne sich niemand anmaßen zu beurteilen, ob die jeweilige Entscheidung der
Jugendrichter richtig oder falsch war, ohne die Einzelheiten zu kennen. Matthias
Güldner (Grüne) warb dafür, zu überlegen, ob nicht auch auf die Praxis der
freiwilligen Einnahme von Brechmitteln verzichtet werden könne. Er plädierte
mittelfristig dafür, nur noch die Drogentoilette einzusetzen. Justiz-Staatsrat
Mäurer indes warnte davor. Denn die Zeit, in der man auf die natürliche
Ausscheidung der Drogenpäckchen warten müsse, berge ebenfalls ein hohes
medizinisches Risiko und sei überdies mit hohen Kosten verbunden. Rolf
Herderhorst wiederum hatte sich zum Kostenproblem schon seine Gedanken gemacht.
Sein Vorschlag: Es solle geprüft werden, "ob man die Kosten bei den
Tatverdächtigen wieder eintreiben kann".
Weser Kurier vom 11.05.2006
Neue Debatte zum Brechmitteleinsatz
Reaktionen auf europäisches Urteil
Von Elke Gundel
Das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zum zwangsweisen Brechmittel-Einsatz hat jetzt auch die
politische Debatte in Bremen neu entfacht. Wie berichtet, war ein mutmaßlicher
Drogendealer, dem im Dezember 2004 unter Zwang Brechmittel eingeflößt worden
waren, kurz danach gestorben. Seit Anfang 2005 ist der zwangsweise
Brechmittel-Einsatz in Bremen deshalb ausgesetzt. Verdächtige, die den Brechreiz
auslösenden Sirup nicht freiwillig trinken, werden so lange im Gefängnis
festgehalten, bis sie verschluckte Drogenpäckchen auf natürlichem Weg
ausscheiden. Das, erklärte Justizstaatsrat Ulrich Mäurer (SPD), sei zwar
aufwändig, aber "im Interesse einer wirksamen Strafverfolgung" unverzichtbar.
Diese Praxis stehe außerdem im Einklang mit den Vorgaben des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte. Der hat entschieden: Die zwangsweise Vergabe
von Brechmitteln sei menschenunwürdig und verstoße gegen das Folterverbot.
Unterdessen hat die Bremer SPD-Fraktion Innensenator Thomas Röwekamp (CDU)
aufgefordert, nun endgültig vom zwangsweisen Brechmitteleinsatz abzurücken. Die
CDU-Fraktion dagegen forderte Justizsenator Jens Böhrnsen (SPD) auf, das Urteil
- es bezieht sich auf einen Fall aus Nordrhein-Westfalen - zu prüfen. Sollte es
generelle Wirkung entfalten, müssten die einschlägigen Erlasse auch in Bremen
angepasst werden,