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Fussballwahn ?

Inhalt

Zidane – vom Täter zum Opfer?

Von Gottlieb F. Höpli

© picture-alliance/ dpaWenn die Franzosen an diesem Quatorze Juillet schon nicht eine Weltmeisterschaft feiern können, so feiern sie doch einen Fussballhelden: Zinédine Zidane, den Staatspräsident Jacques Chirac nicht nur als Fussballgenie feierte – was er ja wohl ist –, sondern auch als «Mann mit Herz, Engagement und Überzeugung». Dafür liebt ihn nicht nur der Präsident, dafür lieben ihn auch die Immigrantenkinder der Banlieues – nach dem berüchtigten Kopfstoss im WM-Final sogar mehr denn je.

Zidane: "Ich bitte um Verzeihung bei allen Kindern, die das gesehen haben. Dafür gibt es keine Entschuldigung... Materazzi hat die schlimmen Worte mehrmals wiederholt. Man hört das einmal und versucht wegzugehen. Dann hört man das ein zweites Mal und noch ein drittes Mal... Ich entschuldige mich außer bei den Millionen Kindern auch bei den Menschen und Erziehern, die versuchen, den Kindern zu lehren, was gut ist und was schlecht ist. Aber ich kann meine Handlung nicht bedauern. Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann das nicht sagen. Würde ich es sagen, würde das heißen, dass Materazzi Grund hatte, das zu sagen. Aber er hatte kein Recht dazu."

Materazzi: "Ich habe Zidane beleidigt... Ich habe ihn aber sicher nicht als Terroristen bezeichnet. Ich bin ein unwissender Mensch, da weiß ich doch nicht, was ein islamischer Terrorist ist. Ich habe aber bestimmt nicht Zidanes Mutter erwähnt. Für mich ist eine Mutter heilig... Ich hatte ihn für einige Sekunden am Trikot festgehalten, dann schaute er mich in einer super-arroganten Art von oben bis unten an und meinte: 'Wenn du mein Trikot wirklich haben willst, dann kannst du es nach dem Spiel haben.' Danach habe ich mit der Beleidigung reagiert. Ich habe etwas gesagt, das Dutzende Male gesagt wird und auf dem Fußball-Feld einfach mal rausrutscht."

Dass Zizou zuschlug, nachdem Italiens Raubein Materazzi ihn, und möglicherweise seine Mutter und / oder Schwester, verbal beleidigt hatte, das gefällt all den halbwüchsigen Immigrantensöhnen auf Frankreichs (und Europas) Strassen. In bester Macho-Manier argumentierte Zidane, er könne seine Tätlichkeit nicht bedauern, denn «würde ich das sagen, würde das heissen, dass Materazzi Grund hatte, das zu sagen». Mit anderen Worten: Wer mit Worten beleidigt wird, hat das Recht, zurückzuschlagen. Und natürlich entscheidet jeder selbst darüber, wann er sich beleidigt fühlen darf. Nebenbei: Zidane, der Beleidigte, hat in seiner Karriere doch wohl nie einen Gegenspieler beleidigt?

Immer mehr Stimmen erheben sich derzeit, die Zidane als Opfer einer verbalen Aggression sehen, dessen Reaktion man zwar nicht billigen könne, aber verstehen müsse. Das erinnert fatal an eine überwunden geglaubte Phase der Gesellschaftsdiagnostik, die für jede Untat die Gründe überall suchte, nur nicht beim Ausgangspunkt: beim Täter. Eine Generation von Erziehern, Krimino-, Sozio- und anderen -logen machte so aus Tätern Opfer «der Gesellschaft», was aber weder die Gesellschaft noch die Täter wirklich weiterbrachte. Dass eine solche «problematisierende» Denkart keine positiven Vorbilder fördert, versteht sich von selbst. Höchstens solche, die zuschlagen. gf.hoepli@tagblatt.ch  

St.Galler Tagblatt vom 16.07.2006

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Wie ein Widder

Von Thomas Hauschild

Zidane hat uns ein Rätsel aufgegeben

Zidane hätte Materazzi boxen, treten oder schlagen können, er hat aber aus ganz bestimmten, für Mittelmeerethnologen nicht überraschenden Gründen, einen Kopfstoß vollzogen. Damit erzeugte er eine der emblematischsten und faszinierendsten Szenen der jüngsten Kulturgeschichte. Fast alle Konfliktlinien, die die Gegenwart prägen, lassen sich dort studieren.

Zidane, in seiner Heimat, dem Viertel La Castellane in Marseille, nach wie vor als Yazid bekannt, bedauert nachträglich vor allem, dass so viele "Kleine" seinen Gewaltakt hätten mit ansehen müssen. Aber er schildert sein Verhalten auch als Zwang, er habe es tun müssen. Dazu passt, dass Materazzi schwört, das Ganze habe "nichts mit Religion, Politik oder Rassismus zu tun". Es geht um Mütter und Schwestern, um Kinder und um Männer, die in tragischer Weise zum Handeln gezwungen sind - also um Ehre, Familienehre, genauer genommen.

Denken in Kategorien von Ehre und Schande

Somit haben wir zunächst gute Gründe, den beiden Männern aus dem Mittelmeerraum das Denken in Kategorien von Ehre und Schande zuzuweisen. 

Doch womöglich liegen Ehre und soziale Klasse eben doch dichter beieinander, als man zunächst glauben möchte, wenn man in Kategorien wie "Kultur" denkt. Mir ist das in dieser Hinsicht vor vielen Jahren aufgefallen, als ein Student in meinem Seminar zur Ethnologie des Mittelmeerraumes daran erinnerte, dass man Ehrkonflikte auch gut in den von Deutschen frequentierten Kneipen und Kirmessen in Köln-Poll beobachten könne. Das Problem der Ehre scheint nämlich gerne Zeit und Raum zu überwinden, um in immer neuen mediterranen und nichtmediterranen Verkleidungen in der "modernen Welt" aufzukommen - vergessen wir nicht das Kohlsche "Ehrenwort", das vor einigen Jahren unser Land beschäftigt hat. Am besten erforscht ist freilich nach wie vor der mediterrane Ehrbegriff, und darin spielt der Kopfstoß eine entscheidende Rolle.

Pflichten und Ideale an die Familie zurück delegiert

Vor 25 Jahren, vor Beginn der kritischen Selbstreflexion in den Kulturwissenschaften, veröffentlichte der niederländische Ethnologe Anton Blok seine bis heute singulären vergleichenden Studien zur mediterranen Hornsymbolik und zu symbolischen Kämpfen um Ehre und Schande im Mittelmeerraum. Die familistische Kultur des Südens schrieb man damals oft einer ererbten Mentalität zu. Anton Blok aber war nicht an Ererbtem gelegen, sondern an Situativem und an zu Symbolen geformten Erinnerungsbeständen, die mediterrane Familienstruktur hielt er für ein Ergebnis des "schwachen Staates", dem man in mediterranen Gesellschaften ja tatsächlich oft begegnet. Ist der Staat schwach, halten sich die Menschen an die Familie und ihre Ehre.

Auch in Deutschland kann man heute beobachten, wie immer mehr Pflichten und Ideale an die Familie zurück delegiert werden sollen. Mediterrane Handgesten und Hornamulette, die Sprache der Hirten und Bauern, aber begleiten solche Prozesse, wenn es um die Abgrenzung der Familien untereinander geht. "Figlio di putana", Hurensohn, wird dann zu einer beliebten Beschimpfung, und diese Beschimpfung war in sozial weniger gesicherten Bevölkerungsschichten auch in Deutschland lange Zeit beliebt. Auch die aufstrebenden bürgerlichen Milieus machten sich damals, bis zur Einführung der Antibabypille, nicht wenige Sorgen um die Ehre ihrer Töchter.

Der Widder passt auf sein Weibchen auf

Bäuerliche und Hirtenpopulationen signalisieren das kräftig und eindeutig mit Hinweisen auf Horntiere, denn da gibt es einen wichtigen Unterschied: Der Widder passt auf seine Weibchen auf, der Ziegenbock nicht.

Die zum Ziegengehörn gereckten Finger signalisieren, dass das Gegenüber sich benimmt wie ein Ziegenbock - die mächtigeren Böcke lassen nach der Begattung auch jüngere Männchen an ihre Weibchen heran. Ein Klatscher der linken Hand gegen den rechten Oberarm, manchmal verbunden mit nach hinten gebogenen Fingern aber signalisiert den Widder. Sein Kopfstoß ist bei Hirten zu Recht gefürchtet und trifft jeden, den er zu nah bei seinen Weibchen sieht.

Zidanes Widderstoß wandelt ein klassisches Thema

Nicht in irgendwelchen seelischen Kollektivsubstanzen, sondern in solchen Bildern sind Reserven der traditionalen Kultur gelagert, die in Notsituationen mobilisiert werden können, in immer neuen "Erfindungen der Tradition" oder besser: Fundsachen aus dem Fundus der Tradition werden in immer neuen Situationen abgewandelt und realisiert.

Zidane verpasste also dem Italiener einen Widderstoß: Zidanes Kopfstoß wandelt die klassischen Themen der Ehrsymbolik virtuos in ein internationales Fußballdrama um. Aber bedeutet das auch, dass er es tun musste, dass er unter Zwang handelte? Und kann man, schlimmer noch, einen solchen kulturellen Automatismus auch in Fällen von Gewalt gegen Frauen wegen vermuteter Untreue im Migrantenmilieu voraussetzen? 

Zidanes Zeichen gelten den Kindern der Banlieus

Letzteres ist offensichtlich nicht der Fall, denn die Familienbeziehungen etwa bei Muslimen in Deutschland sind eher von einer Fülle von Kompromissen und Kraftproben geprägt, aber auch von Durchbrüchen und Fortschritten und weniger von infamen Morden an Schwächeren. Virtuos hat Zidane Tradition und Moderne, Risiko des Spiels und Überforderung durch einen nervigen, vielleicht auch nach Absprache und mit Hintersinn so handelnden Gegner zu seinem Gestus verbunden. Er hat vielleicht gehandelt wie ein algerischer Hirte, aber er hing dabei nicht am langen Faden der Tradition, sondern er hat als moderner selbstbewusster Aufsteiger gehandelt, der am Endpunkt seiner Karriere Zeichen setzt. Die Zeichen gelten nicht islamischen Moralaposteln, sondern in paradoxer Weise auch einem Teil jener Kinder, derentwegen er sich nun wieder so schämen muss.

Es sind die Kinder aus den Banlieues. Es sind also nicht die auf ihre Ehre bedachten Kinder der algerischen Hirten, um die es geht, und der Verweis auf die Mutter steht nicht mehr nur für tribale und familiäre Ehre, sondern auch für die Herkunft als solche, die Herkunft aus Algerien. La Castellane, der von Migranten und ihren Nachfahren bevölkerte Vorort von Marseille, aus dem Zidane stammt, ist der primäre räumliche Bezugspunkt seines Aktes im Olympiastadion, nicht Algerien allein oder der Mittelmeerraum an sich.

Als "beur" kann man sich wehren

Im Februar haben die "Kinder" aus den Banlieues mit ihrer unpolitischen Revolte die Moderne für sich eingefordert, im Interview beriefen sich die "casseurs" immer wieder auf "fraternite" und "egalite" der Republik. Die alte Mittelmeerethnologie, in der man "Ehre und Schande" essentialistisch dem Süden zuschrieb, ist schon lange am Ende, es blieb eine vorsichtige Forschung an Traditionen und Traditionsbrüchen in einem geographisch, staatspolitisch und geostrategisch prekären Gebiet.

Der große französische Sozialanthropologe Pierre Bourdieu hat das mit seinen Essays über die Dynamik des Ehrenhaften in der Kabylei exemplarisch vorgeführt, seine Daten stammten aus der algerischen Heimat von Zidanes Familie, aber die Anwendung als "Theorie der Praxis" ging um die Welt. Dessen hirtenhafter Kopfstoß setzte in paradoxer Weise und Bourdieus Vorahnungen entsprechend die alten Bilder in etwas Neues um, weil er allen Franzosen und der Welt gezeigt hat, dass man sich als "beur" nicht alles gefallen lassen muss, dass man sich wehren kann. 

Virtuos und in immer neuen Kombinationen aus alten und neuen Reserven des Widerstandes hat er es getan, gegen eine völlig verregelte und den Wirtschaftsmächten ausgelieferte Weltgesellschaft. Er hat vorgelebt, dass auch inmitten eines mediatisierten, hochkapitalisierten und globalisierten Spektakels der einzelne durch Rückgriff auf vormoderne, langlebige kulturelle Reservoirs bestimmte Räume zu schützen vermag, dass das Unvorhergesehene, und doch Altbekannte, noch eine mögliche Dimension subjektiver Äußerung ist. Dass er dafür einen hohen Preis entrichtete, statt den Triumph die Beschämung erleben musste, trägt zur Verdichtung dieser Episode bei, in der sich im kleinen die tellurischen Bruchlinien unserer Zeit abgebildet haben.

Thomas Hauschild lehrt Ethnologie des Mittelmeerraumes an der Universität Tübingen
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 16.07.2006

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Kotau vor Zizou

Kommentar von Gerd Schneider

Ein Kopfstoß macht Karriere. In Frankreich spielen die Radiosender einen Song rauf und runter, von dem es heißt, er habe das Zeug zum Sommerhit: "Coup de boule", Kopfnuss, so lautet sein Titel, und im Refrain besingt die Band namens La Plage ihren Helden ganz direkt: "Zidane il a frappe, Zidane il a tape", Zidane hat geschlagen, Zidane hat geschubst. Im Internet werden Computeranimationen von Zinedine Zidanes Attacke gegen den Italiener Marco Materazzi im WM-Finale wie ein Kettenbrief verschickt. So ist aus der hässlichsten Szene der Fußball-Weltmeisterschaft ein Slapstick geworden.

Dazu passt nun das Urteil, das der Internationale Fußball-Verband (Fifa) am Donnerstag sprach: Es ist zum Lachen. Drei Spiele Sperre für Zidane, zwei für den Provokateur Materazzi, das stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Natürlich wissen wir nicht, was sich wirklich abgespielt hat, bevor Zidane rotsah; vermutlich wird man das auch nie erfahren. Es gab ein Wortgefecht, und gewiss ist, daß Materazzi den Franzosen mit einigen Häßlichkeiten eingedeckt hat. Die Beschimpfungen seien aber, wie Materazzi versichert hat, nicht rassistischer Natur gewesen. Dennoch sah das Sportgericht der Fifa beide Verhaltensweisen als nahezu gleich verwerflich an: die Provokation und die Tat.

Materazzi am Pranger, Heiligenschein für Zidane

Der Kopftreffer des Finales  © REUTERSFür Zinedine Zidane kommt das Urteil, auch im moralischen Sinn, einem Freispruch gleich: Wohl noch nie wurde ein Nationalspieler für einen derart rohen Angriff so milde bestraft. Nach der WM ist Zidane zurückgetreten, da wird er mit der Sperre leben können. Damit stellt sich dieselbe Instanz, die den deutschen Nationalspieler Torsten Frings wegen einer Lappalie um das Halbfinale gebracht hat, vollends bloß. Ihr Urteil ist ein Kotau vor der französischen Fußball-Majestät.

Die Sportrichter folgten übrigens der öffentlichen Debatte, die Zidane zunehmend einen Heiligenschein verpasste und statt dessen Materazzi an den Pranger stellte. Selbsternannte Fußballintellektuelle wollten den Kopfstoß gar als Ausdruck menschlicher Größe erkannt haben, wie einst im Fall des früheren Stürmerstars Eric Cantona, der bei einem Spiel seines Klubs Manchester United einen gegnerischen Fan mit einem Kung-Fu-Tritt Richtung Kopf niedergestreckt hatte.

Trash talk, die "Kunst der Beleidigung"

Wer solche Ansichten vertritt, hat keine Ahnung, was sich beim Fußball - und nicht nur da - in Wirklichkeit abspielt. Trash talk, so der englische Begriff dafür, gehört zum Geschäft. Manche Sportler wie das Boxidol Muhammad Ali oder der Tennisstar John McEnroe waren in dieser "Kunst der Beleidigung" (Tagesspiegel) wahre Meister. Man muss die Beschimpfungskultur auf dem Spielfeld nicht gut finden. Aber wenn die Fifa ernsthaft dagegen vorgehen wollte, dann müsste sie es systematisch tun; und vermutlich hätte sie es längst getan. Doch in Wahrheit werden die verbalen Scharmützel unter den Spielern seit je stillschweigend geduldet.

Zidanes Abgang von der Fußballbühne wird seine Karriere nicht schmälern. Aber er wird das Bild verfestigen von einem großen Fußballer, der zu oft Rot sah. Am Ende steht ein Blackout der Fifa-Richter. Ihr Urteil ist ein Skandal.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.07.2006

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Kubas Diktator Castro bricht eine Lanze für Zidane

"Bin nicht damit einverstanden, dass sie den Algerier bestraft haben"

Der kubanische Staats- und Parteichef Fidel Castro hat eine Lanze für den von der FIFA für seinen Kopfstoß im WM-Finale bestraften französischen Fußball-Star Zinedine Zidane gebrochen. "Ich bin nicht damit einverstanden, dass sie den Algerier bestraft haben", sagte Castro am Donnerstagabend (Ortszeit) am Rande des Gipfels des südamerikanischen Handelsblocks Mercosur im argentinischen Cordoba. Zidane entstammt einer Familie algerischer Einwanderer.

"Ich habe es (den Kopfstoß, Anm.) gesehen, und es muss eine schlimme Beleidigung gewesen sein, weil er so reagierte. Ich erweise diesem Fußballer der früheren Kolonie (Algerien war bis 1962 Teil Frankreichs, Anm.) meine Ehre", sagte der 79-jährige Langzeit-Diktator nach Angaben der argentinischen Tageszeitung "Clarin" (Internetausgabe) auf Journalistenfragen.

Zidane war am Donnerstag von einer Disziplinarkommission des Weltfußballverbandes FIFA für seinen Kopfstoß gegen den Italiener Marco Materazzi mit einer Sperre von drei Spielen und einer Geldstrafe von rund 4.800 Euro belegt worden. Materazzi muss zwei Spiele aussetzen und 3.200 Euro zahlen. (APA)

Der Standard vom 21.07.2006

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Schrecklichste Hauptsache

Soccer? Sucker! Öffentlichkeit und Fußball-Erfahrung

Von Michael Rudolf

Vor zwanzig Jahren mochte Eckhard Henscheid mit seinem lichtschönen Diktum »Geld und Liebe sind die Säulen unseres Lebens. Das dritte aber ist der Fußball, ja er hat möglicherweise die Liebe schon überholt« noch partiell recht gehabt haben. Mochte der Fußball einst ein Zeichensystem gewesen sein, welches Zuflucht bot vor einer als bedrohlich empfundenen bösen Wirklichkeit, ist Fußball heute längst selbst zur bösen Wirklichkeit geworden. Mochte er früher die vielleicht schönste Nebensache der Welt gewesen sein, in der modernden Moderne ist er die schrecklichste Hauptsache. Mochte Josi Ratzinger einst behaupten dürfen: »Fußball ist das Heraustreten aus dem versklavten Ernst des Alltags in den freien Ernst dessen, was nicht sein muss und deshalb so schön ist.« Jetzt muß er sein, und er ist pisspotthässlich. Mochte die frische Hemdsärmligkeit der Fußballverehrung früher sympathisch gewirkt haben, heute ist sie nur noch ärmlich. Mochte einst das Auswendigwissen sämtlicher Bundesligaergebnisse und Spielerbiographien als sympathisches Aufbegehren gegen den bürgerlichen Stinkekanon gegolten haben. Jetzt ist es Herrschaftswissen und die Stadionjahreskarte der dazu passende Ariernachweis.

Es gibt nur noch eine schweigende Minderheit, die resistent ist gegen das allgegenwärtig suppende Großklappengemisch aus Journalistendarstellern, Politikimitatoren, Wirtschaftssimulatoren und Werbeagenturen. Zu dieser Minderheit bekenne ich mich. Die nach unten offene Schiedsrichterskala ist zum Gradmesser der Regression eines komplett rasenden Gemeinwesens geworden und Fußball zum Straßenbegleitgrün auf dem Weg ins Verderben. Eine stützstrumpffarbene Elementarnull wie Franz Beckenbauer gilt ohne ironischen Kommentar als zitierfähige Person. Die Beckenbauerisierung ist längst abgeschlossen und hat wie ein Zweikomponentenkleber alles zu- und seine Klone in jedem Fach festgekleistert: Guido Knopp als Historiker, Günter Grass als Literaten, Claudia Roth als Politikerin, Harald Schmidt als Humoristen, Wladimir Kaminer als Medienrussen, Peter Sloterdijk als Philosophen, Heidi Klum als Frau, Tomte als Musiker, Tim Mälzer als Koch, den Spiegel als Nachrichtenmagazin und Ben Becker als Schauspieler.

Es ist wie mit der christlichen Religion. Die Fußball­apostel geben sich gern als Verfolgte, obwohl sie überall den Ton angeben. Von der rotzreaktionären FAZ über die dümpeldumme BILD und die Schlafwagenkellner von Die Zeit bis zur »alternativen« taz greift die Gleichschaltung, reicht die Infiltration des Schaumer-mal-Klerus. Berge überflüssiger Fußballbücher türmen sich selbst in der letzten Kleinstadtklitsche. CDU-re(di)gierte Radiosender kommen sich zum Platzen hip vor, wenn sie Fußballgedichte durch den geschundenen Äther wuchten. Mit ihnen paktiert außerdem die auf spaßig getrimmte Gegenaufklärung der das Land überziehenden unbequemen Mietbischöfe, Orgasmusvortäuscher und verbeamteten Spaßmacher. Durch öffentliche wie private Sendeanstalten wankelt eine endlose Karawane von Wichtigkeitsraunern und Nanoexperten, die den Fußballorkus als kognitive Behindertenauffahrt zu einer einkommenssicheren D-Prominenz nutzen. Und keiner bindet ihnen die Klappe zu oder Finger und Beine zusammen.

Aus dem politisch bedingten, ehedem auch mit Fußball flankierten Zusammengehörigkeitsgefühl einstiger proletarischer Milieus ist längst ein schwammiges Dazugehörigkeitsgefühl geworden. Heute steht Fußball für Gegenkultur von oben. Wer nicht mitzieht, wer sich nicht alltäglich zum Konsum­idioten und Fußballjubelperser vertrimmen lässt, mit dem reden sie nicht (mehr). Die logische Folge ist eine verordnete Karnevalisierung und Verweihnachtsmarktung, die zwangsläufig verlangt, es solle überall zugehen wie zu bestimmten Zeiten im Rheinland oder vor den jahresendzeitlichen Geschenkemassakern: Immer anmaßend, laut, pöbelig, erdrückend, bundeswehrsoldatisch. Aber niemals leicht, unbeschwert, offen und komisch. Oder gar schön. Wie jeder Fan, versteht auch der Fußballfan keinen Spaß, vor allem gegenüber Nichtfußballfans. Der Fußballfan sucht die Öffentlichkeit, wo er ungestört alle Nichtfußballfans Kaputtspielen kann.

Fußball ist die spätkapitalistische Form der Zwangskollektivierung mit dem wesentlichen Unterschied zur sozialistischen: sie zeigt Erfolg. Von der Ich-AG bis zu den Wir-sind-Papst-Komparsen. Auch weil sie die Bedingungen schafft, dass Außenseiter keinen Erfolg haben dürfen und meistens auch nicht haben können. 

Und doch bleibt alles eigenartig ambivalent. Zuviel Nähe schadet auch. Also muß das verjauchte, am Selbstekel beinah erstickende Bürgertum samt seiner kleinbürgerlichen Bierholer gallonenweise Häme über die Klingeltongrammatik eines italienischstämmigen Trainers oder über die Tattoos einer fremdsprachschwachen Spielergattin auskübeln. Es lustig zu finden, dass sich minderbegabte Menschen öffentlich unbeholfen ausdrücken, ist billig und fällt auf die davon amüsierten Kraft-durch-Schadenfreude-Kretins zurück.

Was also tun? Erst mal boykottieren. Die dumme WM ist dafür eine prima Gelegenheit. Kaufen Sie nicht beim Bäcker, der Ihnen WM-Brötchen andrehen möchte! Essen Sie keine Fußballklöße, keine Elfmeter-Wurst! Wenden Sie Ihr Antlitz beschämt ab, wenn Sie in die Nähe des als Fußball verkleideten Berliner Fernsehturms geraten! Kaufen Sie keine Fußballbücher! Besuchen Sie keine Schiedsrichter-Ausstellungen! Schauen Sie kein Fußballtheater an! Gehen Sie pinkeln oder spazieren, wenn Ballack, Völler und Co. Werbung im TV machen! Sollen sie an ihrem Kick-it!-Würstchen, Fußball-Frikadellen, Biß-Kick-Joghurt oder unter ihren FIFA-World-Cup-Cocktail-Kissen ersticken! Verminen Sie sämtliche Public-Viewing-Plätze mit Fußeisen! Schieben Sie Sportpfarrer in ein unsicheres Zweitland ab! Von nun wird nicht mehr Zurückgeschossen. Wir behalten die Bälle einfach. "Nicht mal ignorieren!" (F.W. Bernstein) Das trifft sie am meisten. Weglaufen geht ja nicht. Wohin denn?

Junge Welt vom 13.06.2006

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Der "Klinsmann-Deutsche" und der "Rembrandt-Deutsche"

MEDIALE WM-NACHLESE

Der ultimativ-nationale Imperativ heißt "Schwarz-Rot-Geil"

Von Rudolf Walther

Nach vier Wochen Fußball und über fünf Wochen Dauerberichterstattung ist eine Beschimpfung fällig - eine Mediensportbeschimpfung wohlverstanden. Über deren Erfolgsaussichten muss man sich keine Illusionen machen - diese Aussichten sind etwa so groß wie das bäuerliche Beten gegen Hagelschlag.

Trotzdem ist es legitim, zunächst einmal zu fragen, mit welcher Gesellschaft man es zu tun hat, wenn sich ein großer Teil davon freiwillig und ausgesprochen energisch einen Monat lang ein mediales Sonderspektakel antut, mitmacht beim allgemeinen Fähnchenschwingen und sich zu Hunderttausenden bei 30 Grad im Schatten vor Großleinwänden pünktlich zum kollektiven Sehen und Saufen einfindet. Sport ist eine feine Sache, für den Alltag des Autors eine unentbehrliche. Aber ist Fernseh-, Radio- und Zeitungssport, also Mediensport, überhaupt Sport?

Mediensport ist Unsport, und der verhält sich zum Sport ungefähr so wie Pornographie zur Sexualität. Mediensport ist für den Körper, die Gefühle und das Denken bestenfalls Erfahrung aus dritter Hand, kurzum eine Ersatzbefriedigung, medial vermittelter Ramsch. Einer, der selbst im Mediensportbetrieb tätig ist, verriet freiwillig dessen Betriebsgeheimnis: "Fußball ist, wenn wir alle reden." Wer das biedersinnig mit Demokratie in Verbindung bringt, verwechselt diese allerdings mit Stammtisch-Gerede und Biergarten-Geschwalle.

Mediensport wäre nur jämmerlich, wenn dabei nicht Selbsterniedrigung und Selbstvertrottelung die Hauptrollen spielen würden. Was ist von mediensportlich imprägnierten Bürgern - und offenbar der Zahl nach zunehmend auch Bürgerinnen - zu erwarten? Menschen also, die der Erfahrung das Surrogat, dem Leben den Bilderfirlefanz, dem Wein das Wasser vorziehen? Schwer zu sagen. Aber wenn sie nur halb so werden, wie ihre medialen Vorbeter jetzt schon denken, reden und vor allem schreiben, kann es ziemlich ungemütlich werden.

Mit Bild wurden "wir" Papst, laut FAZ sind "wir" jetzt "Weltmeister der Herzen", und "deutsches Fußballvolk und Nationalmannschaft" unterhalten "eine Liebesbeziehung". Zugegeben, das ist etwas weniger monströs als die "Liebe zum Vaterland", für das zu sterben "süß und ehrenvoll" sei. Darauf pflegte Gustav Heinemann - der am meisten unterschätzte Bundespräsident - zu antworten, er liebe kein Land, sondern seine Frau. Nun also sind die Klinsmänner dran, massenhaft "geliebt" zu werden. Das Gute an diesen Männern - im Vergleich zum Vaterland - ist der Umstand, dass ihretwegen niemand wirklich sterben muss. Intellektuelle und emotionale Selbstverstümmelung bilden jedoch allemal die solide Basis einer solchen "Liebesbeziehung". Der Rest ist Privat- und Geschmacksache.

Wenn man allerdings sieht, wie das regierende Personal darauf erpicht ist, seine "Liebesbeziehung" zu den verschwitzten Helden öffentlich zu zelebrieren und den Fernsehsport für sich zu instrumentalisieren, muss man schon sehr naiv sein, um noch zu sagen, das ganze schwarz-rot-goldene Ersatztheater habe politisch gar nichts zu bedeuten und sei nur der Ausdruck von fortschreitender "Normalisierung". Die Bild-Zeitung brachte das aktuelle Geschehen auf den ultimativ-nationalen Imperativ: "Wir machen weiter! Schwarz-rot-geil!", womit die intime Beziehung von Fernsehsport und Pornographie von unbestrittenen Experten ebenso geadelt wie die Ansicht des "Philosophen Helmut Kohl" bekräftigt wird, "der einmal sagte, dass wir nichts klar erkennen, wenn wir es nicht von hinten betrachten" (Franz Josef Wagner in Bild). Von hinten sieht "Anna" aus wie von vorn - arschgesichtig sozusagen - könnte man Tucholsky zitieren.

Was droht, ist keine Wiederkehr des alten Nationalismus, sondern dessen Verwandlung in eine schmierige Farce - mit dem "Klinsmann-Deutschen" in der Hauptrolle, der weiß, "was es heißt, Schicksale zu wenden", so Frank Schirrmacher in der FAZ (Ausgabe vom 6. 7. 2006). Der "Klinsmann-Deutsche" ist Schirrmachers Klon des "Rembrandt-Deutschen". Der Romancier August Julius Langbehn (1851-1907) schrieb 1890 einen Roman ("Rembrandt als Erzieher"), in dem er den herrisch, stumpfdeutsch und vergleichsweise reich gewordenen wilhelminischen Kleinbürger porträtierte, der auch nur einen "Platz an der Sonne" suchte wie die "Wir-sind-wieder-wer-Party-Patrioten" mit den geflaggten Mittelklassewagen. Denen gab Oliver Bierhoff das Losungswort in stahlhartem Klinsmann-Deutsch: "Die Welt hat wieder Angst vor uns." Die Projektion hatte sprichwörtlich kurze Beine. Denn der wirkliche Klinsmann hat offensichtlich keine Lust mehr, Schirrmachers "Klinsmann-Deutschen" zu spielen.

Wie normal alles schon geworden ist, hat Helmut Digel, Vizepräsident des Leichtathletik-Weltverbandes, nach dem Besuch eines Vorrundenspiels beschrieben. Das Fernsehen und fast alle Zeitungen haben darüber nichts berichtet: " ›Steh auf, wenn Du ein Deutscher bist!‹, ›Sieg, Sieg, Sieg!‹, grölt die Masse. Wenige Minuten vor dem Anpfiff ereignet sich in der Ostkurve des Olympiastadions etwas äußerst Eigenartiges. Über eine Länge von mehr als hundert Metern wird ein Tuch entrollt, darauf ist zu lesen: ›Auf des Adlers Schwingen werden wir den Sieg erringen.‹ Und plötzlich wird die gesamte Tribüne zu einem lebenden Motiv, ein schwarzer Adler." Man hofft jedenfalls, aus dem "millionenfachen Dialog" mit der Klinsmannschaft erwachse dereinst "ein neues patriotisches Grundschwingen". Ob zwischen "des Adlers Schwingen" von rechts und dem erhofften "Grundschwingen" aus der Mitte mehr als ein paar Blatt Papier passen? 9.000 Fußballfans wurden in den vergangenen vier Wochen verhaftet, 7.000 Straftaten registriert. So viel zur Verharmlosung der schweren chauvinistischen Walze, die durchs Land zog.

Es kann ja sein, dass der "kraftmeierische und bierselig laute Pop- und Party-Patriotismus" (Neue Zürcher Zeitung) so schnell verraucht wie der Kater am Morgen danach. Was nicht so schnell vergessen werden sollte, ist die unnachahmlich deutsche - akademische wie journalistische - "Laber- und Interpretationsindustrie in den Medien" (Kurt Kister, SZ). Rund zwei Hundertschaften universitäre und journalistische Bierdeckel-Philosophen und Weißbier-Lyriker boten sich eine intellektuelle Unterbietungsschlacht sondergleichen. Bestritten wurde sie von Elchen aus den hinteren Reihen; sie würden gern nach vorne - am liebsten ins Fernsehen - rücken, getreu der Devise: die schärfsten Kritiker der Elche wären gerne selber welche. Verglichen mit diesen Ego-Pirouetten bilden jüngste Peinlichkeiten der Bären-Experten und Freizeit-Brunologen ein geistig hochstehendes Genre.

Alle großen Zeitungen, denen es wirtschaftlich schlecht geht, produzierten während der WM täglich acht bis zwölf Sonderseiten - das ergab zusammen zwischen 120 und 140 Seiten pro Zeitung. Einzelne Blätter sahen aus wie Fußballvereinsmagazine. Angesichts der desolaten ökonomischen Lage vieler Zeitungen wäre zu fragen: Was haben diese Ausschweifungen gekostet und wie viele Leser fanden sie? Und wie sieht die Bilanz aus? Wie viele Neu-Abonnenten wurden gewonnen, wie viele zusätzliche Anzeigenkunden? Wenn es noch Redakteurinnen und Redakteure gibt, die nicht mediensportlich besoffen sind, sollten sie diese Fragen ihren Chefs und Geschäftsführern stellen. Die Aussichten, darauf seriöse Antworten zu erhalten, stehen genauso schlecht wie die Chancen der Steuerzahler, wollten sie erfahren, was der enorme Sicherheitsaufwand - 250.000 Polizisten waren im Einsatz - und der elektronische Großbildwahnsinn auf den Fan-Meilen, den sie bezahlt haben, gekostet hat.

Der Verlierer des Mediensportspektakels ist immer der Zuschauer. Und wie heißt der Sieger? "Klarer Sieg für Bier, Würstchen und Flaggen", schrieb die FAZ in einem lichten Moment und vergaß nur die Hauptgewinner - die weder einer Kontrolle, geschweige denn einer demokratischen Legitimation unterworfenen, global agierenden Cliquen DFB und Fifa. Für Frau Merkel sprangen ein paar Freikarten heraus und für den geldmäßig schlauen Biedermann Blatter Sepp aus Zürich das Bundesverdienstkreuz. Dieses hat der vorgesehene Nachfolger Beckenbauer Franz schon gekriegt. Ersatzweise gibt´s dann wahrscheinlich eine über Steuern finanzierte Dienstvilla mit Fahrer, Gärtner, Koch und ein paar Dutzend Gorillas für die Bewachung von Frau(en) und Kindern.

Freitag vom 20.07.2006

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Für meine Schwester!

Kaum etwas beschäftigte die Fußballfans so sehr wie der Kopfstoß Zinedine Zidanes gegen Marco Materazzi. Schließlich ging es um die Verteidigung der Familienehre.

Von Elke Wittich

Eine kurze Drehung aus dem Stand, ein etwas längerer Anlauf mit gesenktem Kopf, Rumms und Aus. So lässt sich die letzte Aktion des französischen Fußballnationalspielers Zinedine Zidane grob zusammenfassen. Die Folgen seines Kopfstoßes gegen den Italiener Marco Materazzi sind dagegen dauerhafter. Noch in der vergangenen Woche lag das Stichwort »Zidane Headbutt Video« im Suchmodus »Google-Zeitgeist« weit vor aktuellen politischen Schlagwörtern wie Israel oder Libanon auf dem ersten Platz, »youtube« wurde folgerichtig zur am meisten angeklickten Seite. Gleichzeitig machten mehr oder weniger witzige Mails mit selbst gemachten Persiflagen die Runde, immer ein Zeichen dafür, dass ein Thema die Öffent­lichkeit sehr beschäftigt.

Das Interesse an Zidanes Foul rief zusätzlich Cyber­kriminelle auf den Plan, wie der Viren-Warndienst Websense am vergangenen Wochenende mitteilte. So wurde eine gefälschte Webpage über die Fußball-WM gezielt benutzt, um einen Trojaner in Umlauf zu bringen. Wer auf die Titelgeschichte klickte, die weitere Einzelheiten über den berühmtesten Kopfstoß der Fußballgeschichte versprach, fing sich den tückischen Virus ein.

Drehung, Anlauf, Rumms und Aus – Zidanes Foul wurde darüber hinaus auch politisch verwertet. Der iranische Parlamentarier Alaeddin Boroujerdi beglückwünschte Zidane schriftlich zu seiner »logischen Reaktion« und der gelungenen Verteidigung gegen Beleidigungen seiner »menschlichen und islamischen Identität«. Die iranische Tageszeitung Kayan brachte unter der Titelschlagzeile »Zidanes stolzer Abschied – Der beste Spieler der WM verteidigte seine islamische Identität« zwei Fotos des Fouls auf der Titelseite. Dass Zidane sich selbst als »nicht praktizierenden Muslim« bezeichnet, mit einer Christin, die früher als Tänzerin arbeitete, verheiratet ist und die gemeinsamen Söhne keine arabischen Vornamen tragen, interessierte vermutlich weder den Parlaments­abgeordneten noch die Zeitungsmacher.

Zidane saß währenddessen bereits in einem Fern­sehstudio und gab ein rund halbstündiges Interview. »Glauben Sie denn auch nur eine Minute lang, dass ich nur zehn Minuten vor Schluss eines Matchs mich aus nichtigem Grund zu einer solchen Tat hätte hin­reißen lassen?«, fragte er rhetorisch. Die einzige logische Antwort darauf wäre ein Ja. Denn in seiner Karriere brachte es der Spieler Zidane seit 1993 schließlich auf insgesamt 14 Platzverweise, »zwei mehr als Vinnie Jones«, der für seine überaus harte Spielweise berühmte britische Profi, wie englische Kommentatoren süffisant anmerkten. Die Liste der Fouls Zidanes umfasst dabei mit dem Versuch, einen Elfmeter zu schinden, nur ein einziges harmloseres Vergehen, ansonsten besteht sie aus rotwürdigen Regelverstößen wie Wegstoßen, Schlägen und bewusstem Nachtreten. Und einen Gegner per Kopfstoß auszuknocken, war durchaus auch schon vor dem diesjährigen Finale gegen Italien Bestandteil des Zidaneschen Repertoires. Im August 1995 schlug er dem damaligen Karlsruher Spieler Thorsten Fink ins Gesicht. Bei der Weltmeisterschaft 1998 trat er dem am Boden liegenden saudischen Kapitän Fuad Amin vorsätzlich auf den Knöchel und erhielt zusätzlich zur Roten Karte später noch eine Sperre für zwei Spiele. Als Juventus-Spieler im Cham­pions-League-Match gegen den Hamburger SV im Oktober 2000 rammte er Jochen Kientz gleichermaßen grundlos wie bewusst den Kopf in den Bauch und wurde für fünf Spiele gesperrt. Und bei der diesjährigen WM ­verpasste er das dritte Spiel der Gruppenphase gegen Togo wegen einer Gelbsperre aufgrund eines unnötigen Fouls.

Was dem Kopfstoß voranging, bleibt der Öffentlichkeit weiterhin verschlossen. Gleich nach dem Abpfiff engagierten Fernsehsender wie die brasilianische Station Globo und Zeitungen wie der britische Mirror Lippenleser, aber die kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Fest steht nur: Marco Materazzi hat nicht Zidane, sondern wohl dessen Schwester beleidigt, über den genauen Wortlaut schweigen sich beide Akteure jedoch bis heute aus.

Und so kursieren verschiedene Versionen dessen, was vielleicht gesagt wurde, die, je nachdem, ob man Zidane nun mag oder nicht, von den Fans geglaubt werden und als Entschuldigung für das Verhalten des Stürmers gelten. Wobei die gleichen Fans Woche für Woche auf Fußballplätzen herumstehen und dort wahllos alles und jeden beleidigen. Vor allem Schiedsrichter, für die gesungene Gewalt­an­dro­hungen zum Alltag gehören. Falls die Referees davon eines Tages genug hätten und konsequent nach der allerersten persönlichen Beleidigung oder Bedrohung abpfeifen würden, wären die Chancen nicht schlecht, dass bis hinunter zur Kreisklasse kein einziges Match regulär beendet werden würde.

Wobei die Spieler ein solches Verhalten der Schiedsrichter sicher ebenfalls nicht verstehen würden, denn den Gegner mit gemeinen persönlichen, allerdings nicht rassistischen Sprüchen aus dem Konzept zu bringen, ist ein durch­aus anerkanntes taktisches Mittel. Selbst Schuld, wer sich dadurch aus dem Konzept bringen lässt, meinen viele Trainer und Fußballer, und einen Versuch sei so eine gezielte Provokation durchaus wert.

Ende vergangener Woche gab die Fifa die Strafen für die beiden Nationalspieler bekannt: »Zidane 3, Materazzi 2«, titelte die Singapurer Zeitung ENT. Und fragte, ob die Sperren und »die lächerlich geringen Geldstrafen« wirklich abschreckenden Charakter hätten, »und, vor allem: Wird jetzt wirklich jede Provokation vor die Fifa-Gerichte gebracht?« Dürfte »beispielsweise Wayne Rooney, wenn ihn jemand ›hässlich‹ nennt, zuerst das Gesetz des Dschungels anwenden und sich dann später offiziell beschweren?« Und könnte er mit der Hilfe der zuständigen Institutionen rechnen, die auch für diesen Fall eigens ein Hearing ansetzen würden? »Sagt eigentlich irgendjemandem das Wort peanuts noch etwas?« fragt der Kommentator abschließend.

Was wäre eigentlich gewesen, wenn, sagen wir, Sebastian Schweinsteiger einem Gegenspieler den Kopf in die Magengegend gerammt und hinterher erklärt hätte, das Foul täte ihm zwar leid, aber er würde es jederzeit wieder genau so begehen? Und wenn kurz danach Mutter Schweinsteiger mit den Worten zitiert worden wäre, sie sei stolz auf ihren Sohn, der die Familienehre verteidigt habe, und im Übrigen müsse man seinem Gegenspieler die Eier abschneiden?

Ganz einfach: So etwas wäre nicht passiert, weil die Beleidigung der Ehre weiblicher Angehöriger für die wenigsten Spieler bei einem derart wichtigen Match wie dem Finale der Fußballweltmeisterschaft so wichtig wäre. Im Übrigen sind Schwestern schon seit einigen Jahrzehnten selber in der Lage zu entscheiden, ob sie beleidigt wurden, und können etwaige Idioten ganz allein mit ein, zwei gezielten Ohrfeigen zur Räson bringen

Jungle World vom 26.07.2006

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Wir sind Helden

Klimawandel - Eine "Generation 2006" weist jubelnd unglücklich machende Anforderungen zurück

Von Thomas Ahbe

Was sich am 9. Juli 2006 während der Fußball-Weltmeisterschaft auf der so genannten "Fan-Meile" westwärts vom Brandenburger Tor ereignet hat, ist gerade auch für Fußball-Ignoranten, zu denen sich der Autor dieser Zeilen zählt, bemerkenswert. Wenn später einmal markante Zäsuren für die jüngere Kulturgeschichte der Berliner Republik aufgezählt werden, so dürften die Berliner Geschehnisse dazu gehören. Möglicherweise kann man mit etwas Abstand in ihnen das erkennen, was die Gesellschaftsgeschichte retrospektiv als "generationsbildendes Ereignis" beschreibt.

Verschiedene Vorgänge gingen dem voraus. Erstens, dass eine junge, unbekannte und bislang wenig erfolgreiche Mannschaft nicht nur über ihre sportlichen Gegner, sondern auch über die üble Nachrede der heimischen Etablierten triumphierte. Schließlich war ihr Trainer noch im März von den in diesem Bereich Tonangebenden - beispielsweise durch das bayerische, oft als Fußball-Mafia bezeichnete Netzwerk und durch die Bild-Zeitung - rigide heruntergemacht worden.

Zweitens gehörten zur Vorgeschichte die Wochen eines perfekt organisierten Kindergeburtstages. Bei bestem Sommerwetter konnte der erlebnisorientierte Teil der Bevölkerung, vor allem die Teenager und Twens, zu Hunderttausenden auf öffentlichen Plätzen, wo er vom Bier übers Hütchen bis zur Fahne gut versorgt war, beim Tanzen, Zittern und Jubeln dionysisch in der Masse aufgehen. Bei dieser Dauerparty identifizierte man sich mit jenem jungen Team, das gegen alle Vorschuss-Miesmacherei der inländischen Meinungsführer mehr und mehr Erfolge errang. Die Begeisterung wuchs und wuchs, und die Erwartung, dass Deutschland im Finale um die Weltmeisterschaft kämpfen wird, auch.

Aber dann passierte etwas Bemerkenswertes. Als klar geworden war, das ihre Mannschaft weder ins Finale einziehen noch Weltmeister werden würde, entschieden sich die Fans dafür, dass es Wichtigeres als Fußball-Resultate gibt. Die Massen standen vor der Wahl: Entweder die Weltmeisterschaft ernst zu nehmen und die Party zu beenden oder der Mannschaft weiter zuzujubeln. Entweder sich nur mit dem Gewinner zu identifizieren oder Mühe, Anstrengung und Leidenschaft der eigenen Mannschaft auch dann zu feiern, wenn sie nicht zum Sieg führt. Der Schwarm wandte sich der zweiten Richtung zu. Die Leute wollten nicht schon wieder die Versager sein - Fans einer geschlagenen Mannschaft und jene Arbeitsbevölkerung, der die wirtschaftlichen und politischen Eliten permanent vorwerfen, nicht genug Anstrengung, Gefügigkeit und Aufopferung zu zeigen und statt dessen zu große Ansprüche.

Wie die Mentalität der jüngeren Bevölkerung durch jene Diskurse, die seit einem Jahrzehnt die so genannte "Reform"-Politik vorbereiteten und begleiteten, beeinflusst worden ist, kann man an den Texten ablesen, die auf dieser Fußball-Party inbrünstig gesungen wurden. Der Sänger Xavier Naidoo, so alt wie die älteren unter den Spielern, sang auf der Party-Bühne noch einmal den Song, den die Spieler, wie sie sagten "immer in der Kabine" gehört hatten: "Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer". Und in dem Mit-Klatsch-WM-Gelegenheits-Hit des Trios Sportfreunde Stiller, das auf der nämlichen Veranstaltung ebenfalls im Massenchor gesungen wurde, heißt es: "Für uns´ren langen Weg aus der Krise / und aus der Depression".

Diese Signalwörter entsprechen der Lebenserfahrung der jungen Leute, die sich an jenem Tag in Berlin wechselseitig auf der Bühne und davor zu Helden erklärten. Sie sind in den Siebzigern bis Mitte der achtziger Jahre geboren. Von den für die Identität Deutschlands als wichtig erklärten Zäsuren haben sie nur die von 1989 und die auch nur als Kinder oder Jugendliche erlebt. Ihre politische Sozialisation wurde vom Scheitern der Versprechungen und Erwartungen in die Deutsche Einheit grundiert. Ältere Generationen konnten sich die Rede vom Milliardengrab Ostdeutschland, von den Ostdeutschen als deformierte Versager mit Affinität zu Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit damals noch als "Anfangsschwierigkeiten" schönreden. - Für die Jungen aber war der Krisendiskurs um Dauer- und Jugendarbeitslosigkeit, das Rentensystem und um Deutschland als Industrie- und Wohlstandsstandort der basso continuo jener Zeit, in der sie mit erwachendem politischen Verständnis Beobachter der innenpolitischen Debatten waren. 1997 forderte Bundspräsident Roman Herzog, einem über seine schlampige Truppe verärgerten General gleichend, dass "ein Ruck" durch das Land gehen müsse. Und seit 2003 bestimmt die Agenda 2010 - sowohl in Form von Gesetzen und Bestimmungen, wie auch durch den begleitenden Diskurs - ein Klima des Heruntermachens, Antreibens und Enteignens großer Teile der Bevölkerung. Es wäre also nicht überraschend, wenn sich die jüngeren Jahrgänge unter der Hand davon verabschieden würden, weiter nach diesen Regeln und in dieser Chancenstruktur zu leben.

Neue Generationen bilden sich, in dem bestimmte Jahrgänge die allgemeine Problemlage einer Gesellschaft in ganz spezifischer Weise wahrnehmen und bewerten. Sie bilden dabei Haltungen heraus, die nur für die nämlichen Jahrgänge und deren Zukunft - die eben nicht die Zukunft der älteren Jahrgänge ist - funktional sind. Indem sich mehr oder weniger große Teile dieser Jahrgänge zu einer Generation finden, sich mit spezifischen Werthaltungen, Songs, Texten und Stilen identifizieren, distanzieren sie sich auch von den älteren Generationen. Die Kontinuität wird unterbrochen, das Erbe ausgeschlagen.

Die Aufbau-Generation der DDR und die 68er der Bundesrepublik taten das, indem sie sich mit den Opfern des Nationalsozialismus identifizierten und die Verantwortung dem "präfaschistischen System" in der frühen Bundesrepublik oder gleich allen "über dreißig" zuschoben. Die heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen treten auf eine andere Art aus einer belastenden Kontinuität aus - nämlich aus der fordernden Hochleistungs-Hybris, in die sie die Eliten dieses Landes stellen wollen. Nein, sagen sie, ehe wir uns schon wieder schämen müssen, dass wir schon wieder nicht Spitze waren, und ehe wir gar nicht feiern, dann feiern wir doch lieber jetzt und auch mal einen dritten Platz.

Denn - und das spüren die jüngeren Jahrgänge viel besser als die älteren, die sich immer noch an der alten Bundesrepublik orientieren, - das Jahrhundert, in dem Deutschland in so vielen "Disziplinen" der Meister der Welt war, ist vorüber. Und das Leben, und insbesondere das Arbeitsleben, vollzieht sich auch nicht mehr nach den Regeln, die in den vier Jahrzehnten seit 1948 galten. Anstrengung sichert keinen Wohlstand mehr - und Reichtum erscheint mehr und mehr als Effekt eines glücklich aufgegangen spielerischen Kalküls, der Fügung oder der Gabe, im richtigen Moment an der richtigen Stelle gewesen zu sein. Die Arbeitswelt zeigt sich für die Jungen immer weniger als eine, in der man mit Planung, Anstrengung und Verzicht eine Laufbahn absolviert, sondern als eine, in der man dem Pech ausweichen und das Glück suchen muss - eine Gesellschaft, in der sich plötzlich bietende Gelegenheiten genutzt werden müssen. Auch die Gelegenheit, jetzt eine euphorische Party zu feiern: "Wer jetzt nicht lebt, wird nichts erleben / bei dem jetzt nichts geht, bei dem geht was verkehrt. - Wer sich jetzt nicht regt, wird ewig warten / es gibt keine Wahl, und kein zweites Mal." Das ist der Text, den am 9. Juli auf der Fan-Meile diese Generation auf sich selbst sang, er stammt aus Grönemeyers WM-Hymne Zeit, dass sich was dreht.

Von den alten Regeln, seine Meriten zu gewinnen und Anerkennung von den Alten zu bekommen, sollte man also in diesen Zeiten sein Selbstbewusstsein nicht mehr abhängig machen. Dass im Jahr 2001, fünf Mittzwanziger ihrer gerade gegründeten Pop-Band den Namen Wir sind Helden gaben, wirkt heute wie ein früher Hinweis auf die Selbstbejubelung im Juli 2006 hinter dem Brandenburger Tor. Das junge Publikum und die junge Mannschaft machten sich auf der Fan-Meile wechselseitig zu Helden. Die Fans jubeln der Mannschaft zu und die Mannschaft den Fans, die Fans fotografieren die Mannschaft und die Mannschaft fotografiert die Fans, die Fans bedanken sich, dass die Mannschaft ihnen so viel geschenkt habe, und die Mannschaft bedankt sich bei den Fans und erklärt diese per Spruchband zum "Fan-Weltmeister". Xavier Naidoo gibt hinter der Bühne Autogramme für die Fußballer, und diese geben ihm welche. Alles wirkt neu und sauber und verheißend, wie immer, wenn sich eine Generation von der Schwerkraft der Vergangenheit löst: Die Fußballer sind noch keine arrivierten Profis, der strahlende, zuvor gescholtene Trainer gehört nicht den einflussreichen Netzwerken an, die Sänger auf der Bühne zeigen keine Starallüren - und keiner von den Alten und Wichtigen ist da.

Dieses gegenseitige und gemeinsame Abheben der jüngeren Jahrgänge vom alten Deutschland wird derzeit vor allem als Phänomen eines neuen Nationalismus oder Patriotismus diskutiert. Die Debatte orientiert sich stark an der Vorstellungswelt aus dem vorigen Jahrhundert. Nach 1945 wurde - in Ost- und Westdeutschland in unterschiedlichen Rhythmen und Perspektiven - eine anti- oder anationalistische Tendenz durchgesetzt und gehütet. Das war völlig angemessen. Der 2006 anlässlich der sommerlichen Vielvölkerparty aktualisierte Gelegenheitspatriotismus der jüngeren Jahrgänge ist jedoch kein Sieg des Revisionismus über die Aufarbeitung der Geschichte, sondern eher ein Normalitätszeichen. Es wird der Integration der jungen Deutschen in Europa nur dienlich sein. Zudem ist dem Nationalismus vorläufig auch deswegen viel seines destruktiven Potenzials genommen, weil in der globalisierten Welt und im sich integrierenden Europa die Interessen der Eliten und des Kapitals transnational orientiert sind. Die Angehörigen der jüngeren Generation in Deutschland werden sich weniger mit Nationalismus beschäftigen, sondern damit, dass nach Schwarz-Gelb, Rot-Grün und Schwarz-Rot alle Varianten des Alten ausgeschöpft sind, und sie sich für ihr Leben in dem neuen gesamteuropäischen Gesellschaftstyp ganz neuen Umgangsweisen und Konzepten zuwenden müssen.

Freitag vom 27.07.2006

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Das sagte Materazzi zu Zidane

Jetzt scheint das Rätsel endgültig geklärt: Die französische Illustrierte "Paris Match" veröffentlich in ihrer aktuellen Ausgabe jene Aussagen von Marco Materazzi, die im WM-Finale zwischen Italien und Frankreich zum Ausraster von Zinedine Zidane führten. Mariella Balsamo, Dozentin am Nationale Institut für Gehörlose im italienischen Messina hat den Wortwechsel rekonstruiert. Balsamo ist Spezialistin für Zeichensprache und Lippenlesen.

Nachdem Materazzi seinen Gegenspieler Zidane am Trikot gezogen hatte, sagte der: "Wenn du es haben willst, schenke ich es dir nachher." Daraufhin antwortete der italienische Verteidiger: "Lass mich, du Schwuchtel. Du, mit deiner Nutten-Schwester. Scheiße." Anschließend drehte sich der französische Superstar um und musste sich erneut wüste Beleidigungen an seiner Schwester anhören. "Deine Schwester, diese Nutte", sagte Materazzi. Dann näherte sich Zidane seinem Kontrahenten und bekam von ihm zu hören: "Ich reiße dir den Arsch auf." Was wiederum zur Folge hatte, dass Zidane ausrastete und seinen Kopf in Materazzis Brust rammte.

T-online vom 28.07.2006

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Das Materazzi-Prinzip

Von Rüdiger Suchsland

Sommer in Italien - Fußball, Korruption und die italienische Gesellschaft

Auf den ersten Blick ist es wie jeden Sommer in Italien: Sonne, Strand und Dolce Vita, noch ein Campari, noch ein Sprung ins kühlende Meer. Doch während die meisten Italiener derzeit Ferien machen und viele noch siegestrunken und ausgelassen den überraschenden WM-Sieg vor drei Wochen feiern, erreichte vergangene Woche der italienische Fußballskandal neue ungeahnte Gipfelpunkte. Dabei ist er nur der repräsentativste einer ganzen Kette von Korruptionsaffären und Unsauberkeiten, offenen Manipulationen und kaum versteckten Betrügereien, die derzeit die italienische Gesellschaft erschüttern.

Von wegen drakonische Strafen. Genau eine Woche hat es gedauert, dann war alles vergeben und vergessen. Hatte man eben noch nach dem Nachweis diverser Manipulationen die gesamte Saison die Saison 2004/05 für "strukturell illegal" erklärt, 25 Funktionäre, Schiedsrichter, Vereinspräsidenten mit langen Sperren belegt, mit Juventus Turin, Lazio Rom und dem AC Florenz drei prominente Erstligaclubs in die zweite Liga zwangsversetzt und dort mit derart empfindlichen Punktabzügen belegt, dass an einen direkten Wiederaufstieg kaum zu denken war, und dem Berlusconi-Club AC Mailand die Champions League-Qualifikation versagt, soll nun alles doch nicht so schlimm gewesen sein. Ein Berufungsgericht korrigierte die Strafen deutlich nach unten. "Das macht doch nichts, es merkt ja keiner." Nun, ein paar hatten es doch gemerkt, also musste man den Dreck etwas umständlicher wieder unter den Teppich kehren, ohne zuviel Stab aufzuwirbeln.

Ein Sumpf aus Korruption war da aufgedeckt worden, eine Fußball-Mafia alttestamentarischen Ausmaßes hatte jahrelang ihr Unwesen getrieben. In Italien klagte man die Drahtzieher nicht allein des Sportbetrugs an, sondern der "Gründung einer kriminellen Vereinigung, Veruntreuung, Nötigung und Freiheitsberaubung". Von "Calcio-Gate" war die Rede und "Calciopoli", analog dem Politskandal "Tangentopoli", der 1990/92 eine ganze politische Klasse und ein Verfassungssystem hinweggefegt hatte.

Der Fußballskandal repräsentierte zugleich idealtypisch das ganze Geflecht aus Vetternwirtschaft und Bestechung, das Italien zur Zeit erschüttert: Der gigantische Bankenskandal um Zentralbankgouverneur Antonio Fazio, der Parmalat-Skandal um die kriminelle Unternehmensführung beim Lebensmittel-Multis "Parmalat", wo der Chef persönlich die Aktiva am Fotokopierer fälschte, Scheingeschäfte fingierte und die Verluste mit Anleihen in Höhe von 150-Millionen-Euro auf den Cayman-Inseln deckte, sind nur die schlimmsten Beispiele für ein System, das eine ganze Gesellschaft im Griff hält. Unter Ministerpräsident Berlusconi waren derartige Skandale deutlich ausgeufert - Ergebnis einer neuen Schamlosigkeit und einer Regierung, die die Justiz untergraben und das Prinzip, dass jeder sich selbst der Nächste sei, zur Staatsdoktrin erhoben hatte.

"Typisch Italien, wir haben es im Blut"

Nicht zufällig wurde der pensionierte Mailänder Staatsanwalt Francesco Saverio Borrelli Chefermittler, der schon das Korruptionsverfahren "Mani Pulite" (Saubere Hände) leitete. Doch dann kam das Skandalurteil von der vergangenen Woche. Lügen gestraft waren damit all jene, die geglaubt hatten, nun würde sich wirklich einmal etwas ändern im Calcio und damit auch in Italien. Die nicht eben kleine Fraktion der Italienversteher unter den deutschen Journalisten, allen voran Birgit Schönau, die etwas vorlaut in der "Zeit" behauptete, im italienischen Fußball werde "kein Stein auf dem anderen bleiben". Das Sportgericht, das die drastischen Strafen verhängt habe, mache erst den Anfang, konnte man auch lesen. Die Regierung habe nun auch anderen Lobbys und der Vetternwirtschaft allgemein den Kampf angesagt - etwa den Taxifahrern, "die den Markt blockieren". Pustekuchen: Die Taxifahrer streikten gegen Prodi und der Ministerpräsident hat seine laut angekündigte Reform schon wieder kleinlaut zurückgezogen. In allen ihren angekündigten Plänen ist die Regierung ins Stocken geraten, inklusive der wichtigen Mediengesetze, die künftigen Regierungen eine Beherrschung der öffentlichen TV-Sender a la Berlusconi unmöglich machen soll.

Aber Berlusconis "Mediaset" zog offenbar auch beim jüngsten Fußballurteil hinter den Kulissen kräftig die Strippen: Fällige Raten des Konzerns wurden nicht an die Liga überwiesen und man drohte mit dem Ausstieg aus der Berichterstattung - wegen Werbeverlusten in Milliardenhöhe wäre das dem Konkurs der meisten Ligavereine gleichgekommen. In diesem Sumpf wird auch klaglos akzeptiert, dass bei Juventus Turin seit Jahren systematisch gedopet wird, dass die Milliarden für die Liga-Vereine - etwa in Parma, bei Milan oder Lazio Rom - offenkundig aus halblegalen bis kriminellen Kanälen kommen.

Dazu kamen noch schleppende Dauerkartenverkäufe. Und mit dem "Respekt für die Regeln", den man zuvor lauthals eingefordert hatte, war es schnell wieder vorbei. Am Schluss gab es einen netten Kompromiss, stellte im Corriere della Sera der frühere Mailänder Oberstaatsanwalt Gerardo D'Ambrosio fest, "wo hier und dort ein bisschen geändert wurde, um in der Substanz alles beim Alten zu lassen. Typisch Italien, wir haben es im Blut. Wieder eine verpasste Gelegenheit."

Weltmeister Mafia

Dass die Mafia ins Finale kam und Italien Weltmeister wurde, war das Schlimmste, was dem Land passieren konnte. Calcio-Gate ist nun zugedeckt, die Selbstreinigung auf die nächsten 20 Jahre verhindert. Ein bitterer Triumph. Eine moralische Niederlagen - unverdient errungen mit erbärmlich leichten Gegnern - Ghana, USA, Tschechien, Australien, Ukraine - und einer Mischung aus Fouls, destruktivem Spiel und Glück beim Elfmeterschießen. Weltmeisterspieler Materazzi ist deswegen eine Figur von ähnlichem Symbolwert wie Silvio Berlusconi, weil er in seiner Infamie die Lebenslügen der Italiener, den nach außen gern aufrecht erhaltenen glänzenden schönen Schein so deutlich zerstört, wie niemand sonst: "Wir können auch ohne Tricks gewinnen." Können sie eben nicht.

Darüber tröstet auch nicht das ein wenig verlegen-schelmisch-charmante Lächeln der Squadra Azzura hinweg, ihre Freude "wie die Kinder", so der italophile Beckmann, genauer gesagt, wie Mamas Lieblingsschwiegersohn, der sich beim Ausgehen mal wieder den besten Anzug bekleckert hatte und eben im Herzen doch ein großer Junge bleibt - so ist er halt. Genau. So sind sie.

Der Fußball zeigt aufs Neue, was Berlusconis Telekratie schon bewies: Italien ist eine Skandalrepublik, das schwarze Schaf Europas südlich der Alpen. Klar: Deutsche Ausfälle gegen Schlamperei, "Parasiten" (Der Spiegel), und "ölige" Italiener sind unangemessen. Aber wie soll man eigentlich einen Staat ernst nehmen, ein Volk schätzen und verteidigen, das die Korruption zur raison d'etre erklärt? Wozu überhaupt Gesetze? Wozu Regeln, wozu Statuten, in denen für das, was Juventus Turin nachweislich gemacht hat, nichts anderes vorgesehen war, als die Rückversetzung zu den Amateuren?

Fehlende Kulturrevolution

Muss nun die UEFA eingreifen und wenigstens im Fußball ein wenig Recht vor Gnade ergehen lassen? So wie die EU-Kommission, die seit Jahren die unsolide Finanzpolitik des Staates rügt, worauf dann auch nichts weiter passiert, außer dass sich aus Rom Politiker aus der zweiten und dritten Reihe zu Wort melden und "drohen", wenn sich Brüssel nicht benehme, werde man aus dem Euro aussteigen und zur Lira zurückkehren - genau so, wie jetzt die übelsten Funktionäre von Lazio und Florentina.

Italien braucht eine Kulturrevolution, eine Modernisierung der Köpfe. Zur Zeit herrscht das Materazzi-Prinzip, jene Handlungsweise, deren zugrundeliegende Prinzipien man recht gut beim italienischen Verteidiger beobachten konnte, der im WM-Finale Zinedine Zidane durch fortwährende Tritte und Beleidigungen zu seinem spielentscheidenden Kopfstoß provozierte: Erst Unrecht tun, dann verlegen lächeln und sich schließlich als Opfer darstellen - so wie jetzt die Hauptbeteiligten im Fußballskandal.

Italien ist unmoderner als viele glauben. Es braucht Unterstützung und Respekt, ganz sicher. Aber ein Land ernst zunehmen, heißt auch ihm nicht immer alles "noch ein letztes Mal" durchgehen zu lassen wie die Mama ihrem Lieblingsschwiegersohn. Einstweilen aber bleibt alles wie jeden Sommer in Italien.

Telepolis vom 31.07.2006

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Zidanes Kopfstoß stürmt die Charts

Von Jenny Hoch

Das Foul von Zinédine Zidane an dem italienischen Spieler Marco Materazzi war für den französischen Weltklassespieler ein bitterer Abgang. Drei Wochen später können die Franzosen wieder lachen: Das Spottlied "Coup de Boule" hat innerhalb von nur zwei Tagen die Hitparade erobert.

Sie sind zwar nicht Weltmeister geworden, doch die schmachvolle Niederlage gegen Italien ist für die Franzosen noch lange kein Grund, sich die Sommerlaune verderben zu lassen. Drei Wochen nach dem Foul Zinédine Zidanes an dem italienischen Spieler Marco Materazzi tanzt das ganze Land zu einem Song, der den unsportlichen Fehltritt des Vorzeigefußballers auf die Schippe nimmt.

"Coup de Boule" - Kopfstoß - heißt der eingängige Sommerhit, den drei junge Pariser Musikproduzenten, die sich La Plage nennen, am Tag nach dem Finale in nur 30 Minuten geschrieben haben. Ursprünglich hatten sie das Lied als Witz gedacht, mit dem sie ihre Freunde per E-Mail aufheitern wollten, doch innerhalb weniger Stunden breitete sich der Song im ganzen Land aus.

"Zidane il a frappé, Zidane il a tapé" ("Zidane hat den Ball getroffen, Zidane hat zugeschlagen") heißt es in dem ironischen Refrain von "Coup de Boule", das von Sendern im ganzen Land rauf- und runtergespielt wird. "Nur zwei Stunden nachdem wir den Song verschickt haben, war er schon im Radio zu hören", zitiert der britische "Guardian" Emannuel Lipszyc, einen der drei Schöpfer des "Kopfstoß"-Songs.

Was heißt Kopfstoß auf japanisch?

Nach dem Radio-Erfolg ging alles ganz schnell. Die großen Plattenlabels riefen in dem kleinen Studio an und überboten sich gegenseitig. Der französische Ableger des Warner-Konzerns bekam schließlich den Zuschlag, weil er sich bereit erklärte, innerhalb von 48 Stunden eine Single auf den Markt zu bringen. Unter normalen Umständen hätte das mindestens fünf Tage gedauert. "So etwas hat es in der Musikindustrie noch nie gegeben", freute man sich bei Warner, wo man bisher daran gewöhnt war, Sommerhits nach einem ausgeklügelten Marketingplan zu produzieren.

Doch diesmal ging es auch anders: Mit 17.000 verkauften Singles, geschätzten 12.000 Downloads und rund 48.000 verkauften Klingeltönen stieg der Radiohit zwei Tage später auf Platz zwei der französischen Charts ein. Allein mit den Handytönen, die für 1,55 Euro pro Stück verkauft werden, habe das Unternehmen 75.000 Euro verdient, rechnete die französische Tageszeitung "Le Figaro" vor.

Ob der Song ursprünglich als Witz gedacht war oder nicht, bei Warner nimmt man den musikalischen Kopfstoß sehr ernst: Italienische, spanische und japanische Versionen sind in Vorbereitung, insgesamt soll der Song in 20 Ländern herausgebracht werden. Die drei Jungs von La Plage freuen sich zwar über den plötzlichen Ruhm, machen sich aber Sorgen, dass ihr spöttischer Hit dem Fußballer Zidane übel aufstoßen könnte: "Hoffentlich ist er nicht sauer."

Manager Magazin vom 02.08.2006

 

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