Gaebler Info und Genealogie

Home neu • Genealogie • Christoph Gäbler • Hannelore  Schwedes • Indien • Ökumene • Politik • Bildung • Kunst • Was noch? • Privat • Kontakt • Suchen
 

Terror
Dokumentation
Dokumente 1
Dokumente 2
Dokumente 3
Dokumente 4
Osama Bin Laden
Terrorismusgeist
Rechtsdemontage
Autoritäre Versuchung
Terror + Gegenschläge
Ungleichheit + Terror
Islam-Staat in Europa
Islamkritik
Dalai Lama
Israel - Libanon
Irakischer Widerstand
Dear Mr. Bush

Die autoritäre Versuchung - Die Fernwirkungen des Terrors

Wilhelm Heitmeyer zu den Folgen des 11. Septembers 2001 für die liberale Republik

Der Terrorismus trifft nicht nur Menschen und Gebäude, sondern verändert auch Mentalitäten und wirkt tief in Gesellschaften. Wie dies funktioniert, und welche Gefährdungen damit einhergehen, hat Wilhelm Heitmeyer analysiert. Der Autor ist Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Wir dokumentieren eine vom Autor aktualisierte Fassung seines Vortrages bei den Frankfurter Römerberg Gesprächen.

1. Terror und die autoritäre Versuchung

Terrorismus zielt auf die Herausforderung von politischer Macht und auf Panik in der Gesellschaft. Auch wenn dieses Optimum - insbesondere was großflächige und nachhaltige Panik angeht - kaum erreicht wird, sind die unmittelbaren Auswirkungen menschlich dramatisch und zumeist auch sächlich kostspielig. Selten gibt es Terrorereignisse, die über lokale und regionale Grenzen hinaus auch Fernwirkungen auslösen, die verschiedene Gesellschaftstypen in ihren Grundfesten durchrütteln und die politische Struktur und Kultur in Treibsand verwandeln.

Dann treffen sie bei dramatischen Ausmaßen nicht nur Menschen und Gebäude, sondern auch das Selbstverständnis, Regelwerk, soziales Klima und die Moral von Gesellschaften. Welche Folgen sie zeitigen, hängt vom politischen System der jeweiligen Gesellschaften ab. Für totalitäre Varianten kann der Terror auf Grund des starren herrschenden Systems zum Einsturz und damit zu Chancen auf Liberalisierung führen - oder zur Verstärkung der vielfach ohnehin vorhandenen Gewaltsamkeit. Beide Entwicklungsrichtungen sind möglich.

Für liberale Gesellschaften indes, die sich zumeist auch als integrationsoffen für Menschen fremder kultureller oder religiöser Herkunft begreifen, ist die Erweiterung von Liberalität nicht zu erwarten, sondern nur die entgegengesetzte Richtung: die autoritäre Versuchung.

Die Frage richtet sich deshalb darauf, ob diese Annahme von den Fernwirkungen der terroristischen Gewalttaten zutrifft. Über welche Faktoren "vermitteln" sie sich in die gesellschaftliche Realität als Gefühle der Angst und Verunsicherung einerseits und der Aktivierung von staatlichen Gegenreaktionen andererseits?

Da der Terror des 11. Septembers insofern ein singuläres Ereignis ist, da es sich auf Grund der visuellen Intensität, technischen Präzision und des kaum berechenbaren Ausmaßes für zentrale Symbole einer ganzen Kultur, des westlichen Kapitalismus, in das kollektive Gedächtnis der Weltgeschichte einbrennen wird, muss genauer analysiert werden, ob der Terror des "11. Septembers" nur ein "Mehr vom Gleichen" ist oder eine neue Qualität sichtbar geworden ist.

nach oben

2. Der islamistische Terrorismus - die andere Dimension des Zerstörerischen

Bisher waren die historischen Formen der Entgrenzung von Gewalt in staatlicher Regie zu Recht als singuläres Ereignis mit dem Fakt und Symbol "Auschwitz" verbunden.

Im Zuge der sukzessiven Entstaatlichung des Terrors und des Krieges in verschiedenen Weltregionen, die nicht mehr mit den herkömmlichen transnationalen und militärischen Mitteln beendet, sondern bestenfalls zeitweilig stillgelegt oder auch nur, bei Weiterexistenz, aus der medial vorsortierten Aufmerksamkeit gezerrt werden konnten, ist mit "New York" eine nicht vergleichbare, aber andere Form der Entgrenzung sichtbar geworden.

Es sind nicht die verdeckten, nichtöffentlichen Strategien zur Durchführung von Gewalt, die nun für schockartige Aufmerksamkeit sorgen, sondern die offensiven Inszenierungen, also auf optimale Öffentlichkeit geradezu ausgerichteten Strategien, quasi zur besten Sendezeit. Sie werden nicht, wie im historischen Zuschnitt, in vollem Ausmaß erst zeitverzögert sichtbar als angebliche Überraschungen und Verunsicherungen mitsamt ihren zwischenzeitlich entwickelten Verdrängungsleistungen, sondern bestimmen zeitverdichtet die Gestalt des Zerstörerischen - und erzeugen ein Mehrfaches an unmittelbarer Verunsicherung, weil diese geballte Wucht auf zentrale, materialisierte Symbole der westlichen Welt nicht mehr möglich schien.

Die andere Singularität ergibt sich durch die Qualität, dass nun alles denkbar wird. Alle Terroroptionen sind nun möglich und nehmen via Medien unabhängig von technischer Realisierbarkeit jetzt fantasiereiche Varianten an. Eine Vervielfachung von angstbesetzten Realitäten tritt ein, denen auf der Seite von Strategen und Akteuren dagegen nur wenige Bedingungen gegenüberstehen.

Derzeit scheint plausibel, dass im Wesentlichen wohl drei Voraussetzungen für diese neue Qualität gegeben sind: erstens die Durchmarktung des Terrorismus, indem er sich der Logiken und Strategien des Kapitalismus in geradezu ausgeklügelter Weise bedient. Dies sind die Aufgaben der Strategen. Die ideologische Komponente scheint durch die totalitäre Heilserwartung bestimmt, in der Empathie abgetötet ist, kombiniert mit dem Umstand, dass sich die Akteure auch weltlich unsterblich machen könnten - mit Erfolg.

Drittens schließlich ist eine geradezu asoziale Kommunikationsstruktur mitsamt moderner Ungebundenheit aufgebaut worden, die es schwer machen, diesen Zusammenhang aufzubrechen. Das durch diese Konstellation möglich gewordene Ausmaß des Terrors hat gravierende Fernwirkungen.

nach oben

3. Kontrollverluste: Die neue Qualität der Fernwirkungen

Als besonders gefährliche Fernwirkungen betrachte ich die sichtbar gewordenen Kontrollverluste. Dies ist m. E. eine zentrale Kategorie, mit deren Hilfe man einen Blick sowohl auf die politischen Auswirkungen für die Verfasstheit der Republik als auch auf die sozialen Auswirkungen für die Gesellschaft riskieren kann.

Der Begriff der Kontrolle wird hier nicht in der klassischen soziologischen und kriminologischen Auffassung verstanden. Hier geht es um das fundamentale gesellschaftliche Selbstverständnis, also um die individuellen, kollektiven und institutionellen Überzeugungen, über eigene Planung, eigene Lebensweisen, eigene Symbole, eigene Territorien verfügen zu können bzw. auf deren weiteren Entwicklungsverlauf selbst den entscheidenden Einfluss zu haben. Dadurch entstehen Selbstbewusstsein, Identität, Sicherheit und auch Macht.

Insofern scheint ein Kontrollbewusstsein von zentraler Bedeutung im Leben von Individuen und Gruppen zu sein ebenso wie für das Funktionieren von Institutionen und das gelassene Agieren ihrer Funktionsträger.

Die erste These ist, dass die zentralen Fernwirkungen des Terrors in tief reichenden Kontrollverlusten bestehen und die Mittel zur Wiedergewinnung von Kontrollbewusstsein umso knapper sind, desto stärker die Regelhaftigkeit der Gewalt außer Kraft gesetzt ist. Genau diese Außerkraftsetzung der Regelhaftigkeit von Gewalt, die auch terroristischen Aktionen immer wieder innewohnt, scheint eingetreten.

Dazu gehören zumindest zwei Elemente. Erstens ist dies der Umstand, dass keine Forderungen oder Bekenntnisse mitgeliefert werden. Dies dient der Verstärkung des Kontrollverlustes, wozu auch noch der Umstand beiträgt, dass bisher keine eindeutigen, etwa juristisch stichhaltigen Belege für die Verantwortung bin Ladens veröffentlicht worden sind, die einem Verfahren vor einem Internationalen Gerichtshof standhalten.

Das zweite Element zur Grenzenlosigkeit der immateriellen Verstörung kommt zu Stande, weil durch die Öffnung aller Terroroptionen die Antizipierbarkeit von Bedrohungen abhanden kommt. Antizipierbarkeit schafft Ruhezeiten, Ruhezonen und Strategien des Vermeidungsverhaltens.

Der Kontrollverlust dokumentiert, dass die Bedrohung auf Dauer gestellt worden ist, indem auch die antizipations-relevante Zeitstruktur (z. B. der Vorwarnungen) aufgehoben wurde, die nun in hilfloser Weise durch eine Armierung des Zivilen, also z. B. durch Raketen zum Schutz von Kernkraftwerken, zurückgewonnen werden soll.

Die Ordnung der privaten Lebenswege und -planungen ist gestört. Nach einer Emnid-Umfrage schaffen es zwei Drittel der Bundesbürger nicht, "ihr Leben weiterzuleben wie bisher". Auch das soziale Zusammenleben scheint verändert. Mehr als die Hälfte der Befragten aus ebengenannter Untersuchung denken, dass die Toleranz in der Gesellschaft zurückgeht. Ebenso viele befürchten neue Anschläge, was die eingeschliffene Ordnung des staatlichen Handelns unter Druck setzt, weil massenhafte Unsicherheitsgefühle für jede Regierung gefährlich werden kann.

Kontrollverluste, seien sie individueller, kollektiver oder politischer Art, die Verluste von Ordnung signalisieren, führen - und das ist die zweite These - mit hoher Wahrscheinlichkeit in autoritäre Richtungen bzw. Abschließungen / Grenzziehungen, eben zur Wiederherstellung oder Neujustierung von Ordnung. Wie sehen die veränderten privaten, sozialen und öffentlich-politischen Ordnungen aus?

In den USA scheint man über Kollektivrituale einen Weg gefunden zu haben, um weitverbreiteten Kontrollverlusten entgegenzuwirken. Es ist der fast grenzenlose Patriotismus. Was nun sozial für Beruhigung sorgen mag, muss dagegen politisch beunruhigen.

nach oben

4. Politische Auswirkungen: Gibt es eine Gefährdung der liberalen Republik?

Für Norman Birnbaum, einen der wenigen im Herbst 2001 aktiven kritischen amerikanischen Intellektuellen, wirkt die US-Demokratie wie stillgelegt. Ein fast devotes Verhältnis zur Regierung sei eingezogen, eine radikale Entpolitisierung auf dem Vormarsch, die formierte Öffentlichkeit hergestellt.

Dies ist beunruhigend, weil damit Vorbereitungen von Einschränkungen der Civil Rights zu beginnen scheinen. Über Folter wird ernsthaft nachgedacht, und die Aburteilung von Tätern vor geheimen Militärgerichten ist geplant.

Alle diese Entwicklungen in den USA verweisen auf ein strukturelles Problem. Es besteht in der ungleichen Flexibilität von staatlichen, an rechtsstaatliche Verfahren gebundenen Maßnahmen einerseits und kleinen, an keine Verfahren, sondern nur auf rücksichtslose Optimierung der Gewalt ausgerichtete Terrorgruppen andererseits. Dies schafft eine prinzipielle Ungleichzeitigkeit von Entwicklungsvorsprüngen für diese Gruppen.

Verfahren und öffentliche Debatten einerseits und ausschließliche Optimierungsstrategien, die bei Selbstmordgruppen keinerlei Ablenkungen, sondern höchste Konzentration erlauben, sowie das Agieren im Geheimen andererseits schaffen eine strukturelle Asymmetrie zu Lasten des demokratischen Rechtsstaates. Dies steigert die Versuchung, mit überschießenden (Überwachungs-) Energien zu reagieren.

Aber selbst dadurch wird dieses strukturelle Problem nicht ausgehebelt, weil dies ein politischer Interaktionsprozess ist, in dem beide Seiten ständig voneinander lernen, was auch bedeutet, dass die Prozesse der Vorbereitungen des Terrors immer komplizierter werden. Lässt sich der demokratische Staat auf diesen Interaktionsprozess ein, dringt er zwangsläufig immer tiefer in das soziale Gewebe der Gesellschaft ein.

Damit drohen den Prinzipien einer liberalen Republik, also gesicherte Rechtsstaatlichkeit, persönliche Freiheits-rechte, prinzipiell freie Meinungsäußerung und selbst freie Presse, eine bedrohliche Aushöhlung, und sie tragen gleichzeitig nicht dazu bei, der neuen Qualität der Fernwirkungen gerecht zu werden.

Der Versuch, den Kontrollverlust im definierten Sinne durch Ausweitung von neuen Überwachungspolitiken mittels verstärkter Techniken nachhaltig zu sichern, muss daher scheitern. (. . .) Die im Zuge der Globalisierung verschobene Kontrollfähigkeit über finanzielle Transaktionen im "elektronischen Raum" weg von der Politik und hin zum Kapital schlägt jetzt zurück. Insofern ist für das erste genannte Kriterium der neuen Qualität, also die Durchmarktung des Terrors, die neue "Geographie der kapitalistischen Macht" wie geschaffen und offensichtlich hinreichend unorganisierbar, was beispielsweise wirkungsvolle transnationale Gesetze etc. angeht.

Darüber dürfen auch Sperrungen von Konten der Al Qaeda nicht hinwegtäuschen, denn zum ständig sich anpassenden System gehört es auch, jene Finanzressourcen zu sichern, die weder vom elektronischen System der Finanzkonten noch von Überwachungssystemen auf Flugplätzen etc. erfasst werden. Dies sind z. B. Diamantenkäufe großen Stils, scheinbar ein anachronistisches Vorgehen - jetzt aber weitsichtig ein hochfunktionales Vorgehen.

Für die beiden anderen genannten Kriterien der neuen Qualität, also totalitäre Heilserwartung und asoziale Kommunikationsstruktur, sind die auch in Deutschland hervorgebrachten Sicherheitskonzepte eher der Versuch einer Inszenierung von Überwachungsfähigkeit. Denn es wird unterschätzt, dass es sich nicht mehr um eine klassische Internationale des Terrors mit Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Herkünften handelt, wie es noch in den 70er Jahren der Fall war. Damals waren das Erlernen der radikalen ideologischen Formeln und die Bewährung durch eine Tat die Eintrittskarte in die Gruppen. Dies scheint jetzt verändert. Die Rückkehr von Traditionen und der kulturelle Habitus stehen im Vordergrund bei der Ausweitung internationaler Ziele. Damit verschlechtern sich die Chancen der Unterwanderung, es sei denn, die Täter sind käuflich. Bisher galten Traditionen für den Terrorismus als hinderlich, jetzt werden sie zu einer entscheidenden Voraussetzung für den Erfolg, hinter die das für jedermann erlernbare Handwerk des Terrors weit zurücksteht.

Außerdem wird die Dynamik solcher Prozesse insgesamt unterschätzt, d. h. die jeweiligen Akteure lernen voneinander, so dass auch Terroristen selbstverständlich ihre Strategien umstellen. Mit anderen Worten, die Gesellschaft droht insgesamt zum Sicherheitsrisiko zu werden, was offensichtlich zahlreiche Fantasien zur Ausweitung der Befugnisse frei werden lässt, die Dieter Grimm zur Aussage veranlasste: "Eine Polizei, für die keine Ermittlungsschranken mehr gelten, ist rechtsstaatlich am Ende."

Ähnliches dürfte für die neuen Ausweise gelten. Demnächst wissen diejenigen, die sich ausweisen, gar nicht, worüber sie sich ausweisen, also welche Daten gespeichert sind. Die Ausweise sind nicht mehr lesbar im gewohnten Sinne. Dies ist eine andere Art des Kontrollverlustes, dessen Ausmaße nicht abzuschätzen sind. Auch hier scheint Rechtsstaatlichkeit am Ende, über die wir nicht reden, weil dieses Ende mit unserer Zustimmung zur Erhöhung von Sicherheitsgefühlen geschieht.

Noch viel schärfer müsste die Aussage zum Ende von Rechtsstaatlichkeit hinsichtlich angedachter Befugnisse des Verfassungsschutzes ausfallen. Die unbegreiflichen Zuspitzungen erfahren diese Kontrollpolitiken im Versuch, die Eintragungen von Religionszugehörigkeit in das Zentralregister zu denken. Damit werden Gruppenmarkierungen schlimmsten Ausmaßes gedacht, die massiv gegen Fremde gerichtet sind, zuerst wohl gegen Muslime. Würde dann auch "Jude" im Zentralregister stehen, weil es ja auch gefährliche jüdische Extremisten gibt?

Damit wird die Ideologie der Ungleichwertigkeit, bekanntlich bisher jenseits des demokratischen Konsenses beheimatet, in staatliches Denken hineinverlagert, weil nur von technischen Kategorien der Überwachungsstrategien her gedacht wird. Unsere Verfassung definiert aber die Freiheit von der Würde des Menschen her - und nicht durch die operationalisierbaren technischen Überwachungskategorien. Es ist ein großes Problem, wenn der Terror bekämpft werden soll, indem der Rechtsstaat eingeschränkt wird - ohne dass es Belege gibt, dass die angeführten Instrumente gegen die drei genannten Elemente der Terrorkonstellation effektiv sein können.

Stattdessen ist ein anderer Effekt anzunehmen, der negativ auf die Qualität des sozialen Zusammenlebens in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft wirkt.

nach oben

5. Soziale Auswirkungen: Verstärkte Spaltungen und gefährliche Desintegration?

Alle multiethnischen und multireligiösen Gesellschaften Westeuropas sind bisher nicht von massiven, schon gar nicht offenen kollektiven ethnisch religiösen Konflikten gekennzeichnet.

Seit dem 11. September drohen nun drei Entwicklungen zusammenzuwirken. Erstens ist es der Krieg, der bekanntlich auch die muslimische Zivilbevölkerung in Afghanistan trifft und dessen Ausmaß wir noch gar nicht kennen. Zweitens ist es die religiöse Einfärbung von fremdenfeindlichen Aktivitäten aus der Bevölkerung, und drittens sind es die Überwachungsaktivitäten des Staates, bei denen die ethnische Herkunft und religiöse Zugehörigkeit eine zentrale Rolle spielt.

Diese Konstellation ist deshalb besonders prekär, weil die muslimische Religionszugehörigkeit in besonderem Maße identitätsrelevant ist und weil dieses "kulturelle Kapital" das Einzige ist, über das Migranten und Migrantinnen autonom verfügen. Wenn nun dieses überlebenswichtige Kapital in staatlichen Generalverdacht gerät, entstehen Misstrauenspotenziale. Falls dann noch von islamistischen Organisationen wie z. B. Milli Görus die islamische Religionszugehörigkeit als Teil einer weltumspannenden "kollektiven Identitätspolitik" propagiert wird, entstehen weitere Solidarisierungspotenziale. Und Diskriminierungen bzw. Angriffe z. B. gegen kopftuchtragende Frauen oder gar Brände in Moscheen wie in den Niederlanden erzeugen weitere Abwendungspotenziale gegenüber der Mehrheitsgesellschaft.

Die ohnehin vorhandenen Spannungen werden so zu Spaltungen und gefährlicher Desintegration, die allerdings auch durch bereits vorhandene Problemlagen in den muslimischen Gemeinschaften beeinflusst werden. Das beginnt mit abschottender Identitätspolitik, zeigt sich in abgedichteten Milieus und aufklärungsbedürftigen Widersprüchen der religiösen Lehre.

Unsere Bielefelder Befragung von fast 800 Muslimen türkischer Herkunft hat gezeigt, dass gerade die intensiven Moscheebesucher keinen Kontakt mit den Deutschen wünschen. Gleichzeitig gibt es einen engen Zusammenhang von Moscheebesuchen und Selbstethnisierung, d. h. die Bedeutung der Gruppengrenzen wird besonders hervorgehoben. Solche abgedichteten Milieus stellen aber erst dann ein besonderes Problem dar, wenn z. B. nicht klar ist, was in den Freitagsgebeten gepredigt wird. Dies ist besonders problematisch, wenn eine Religion politische Ansprüche vertritt. In einer offenen Gesellschaft muss sich jede Religion solchen Ansprüchen öffentlich präsentieren, um vor allem die Trennung von Religion und staatlichen Machtambitionen zu verdeutlichen.

Allerdings muss diese Gesellschaft auch die Gelegenheit dazu bieten. Dabei hilft es wenig, schematisch darauf zu verweisen, dass der Islam eine friedliche und nicht per se eine aggressive oder gar mörderische Religion sei. Es ist reichlich irritierend, dass ständig etwas dementiert wird, was so niemand behauptet. Also, warum wird ständig wiederholt, dass es den Islam nicht gebe, aber der Islam eine friedliche Religion sei? Die Forderung nach Differenzierung und Einheit des Islam werden so je nach Interessenlage hin- und hergeschoben. Es gibt daher viel Aufklärungsbedarf, der bisher durch eine bemerkenswerte Schematik und z. T. auch durch Opportunismus und Paternalismus gegenüber den religiösen Gemeinschaften verhindert wurde.

Für Änderungen stehen die Zeichen aber eher schlecht. Dies hat auch mit den schon angeführten staatlichen Aktivitäten zu tun, mit der Schematik von Verdacht einerseits und Absolution andererseits und vor allem mit der Konfliktangst in der Mehrheitsgesellschaft. Diese reicht so weit, dass selbst das kalkulatorische Verhältnis von Repräsentanten islamischer Verbände zum Grundgesetz und zum säkularen Rechtsstaat nicht zur Kenntnis genommen wird, wenn z. B. der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime die Frage nach dem säkularen Rechtsstaat als Grundlage beantwortet: Ja, solange Muslime in der Minderheit sind.

nach oben

6. Unheilvolle Dialektiken: Kontrollpolitiken und Solidarisierungsprozesse

Bisher wurden politische und soziale Entwicklungen separat betrachtet. Wie sind politische und soziale Faktoren vermittelt? Das Zusammenwirken speist sich erstens aus den verstärkten Überwachungen des Staates als Folge autoritärer Versuchungen vor allem gegenüber Migranten und religiösen Minderheiten mit untauglichen Mitteln, durch die das ohnehin vorhandene immense alltägliche Misstrauen einer großen Anzahl von Migranten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft gesteigert wird. Dies umso mehr, je religiöser die Menschen sind.

Zweitens muss man Dynamiken im Kleinen wie im Großen in Rechnung stellen. Das reicht bis zum Ansatz von Huntington. Der ist wegen seiner essenzialistischen Gegenüberstellung von homogenen Großkulturen zu Recht massiv kritisiert worden, denn zum Normalfall gehören kulturelle Differenzierungsprozesse und gesellschaftsinterne Konflikte. Die Kritik erweist sich aber auch insofern als statisch, weil Dynamiken durch singuläre Ereignisse ignoriert und weil eindimensional immer nur eine Entwicklungsrichtung angenommen werden.

Wir kennen den Effekt der Dynamik unkontrollierbarer Gewaltspiralen nicht genau, aber die Theorie sozialer Identität belehrt uns, dass bei tiefer Verunsicherung die gesellschaftsinternen Konflikte stillgelegt und stattdessen Großkollektive mit scharfen Grenzziehungen und Betonung von Unterschieden hervorgehoben werden: das Gute gegen das Böse; die Gläubigen gegen die Ungläubigen etc. Terrorismus der erlebten Grenzenlosigkeit bombt nun diese Verunsicherung herbei und setzt Dynamiken in Gang. Ob sie sich verstetigen, ist offen.

Drittens schließlich sind die alten Versäumnisse in Rechnung zu stellen. Sie bestehen in einer Ignoranz und Abwehrhaltung gegenüber der islamischen Religionsausübung von Menschen fremder Herkunft einerseits und einem "schwärmerischen Dialog" mit politisch ambitionierten neuen Eliten andererseits, der z. T. zu politisch verantwortungslosen Formeln führt: "Der Islamismus ist eine gedankliche Konstruktion. Es lohnt nicht, darüber zu reden." Insbesondere politische, wissenschaftliche und religiöse Eliten auch dieser Gesellschaft haben den taktierenden Islamismus in eine Opferrolle hineingeredet und -geschrieben. Dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass fast jede kritische Äußerung auch zu verschiedenen Formen von Islamismus als Islamfeindlichkeit instrumentalisiert wurde, um so Kritik mundtot zu machen.

Es ist unklar, ob aus Unkenntnis oder Kalkül auch von deutschen Apologeten übersehen wird, dass Islamismus immer dann mobilisierend erfolgreich und gefährlich ist, wenn es seinen Eliten gelingt, "den" Islam als bedroht darzustellen. Ist eine solche "Realität" hergestellt, werden offensive Handlungsweisen von Abgrenzung, Feindseligkeit bis zur Gewalt als Verteidigung und Abwehr durch den Koran legitimiert. Nun zeigt sich aber, dass die islamische Religion diejenige ist, die sich am rasantesten in zahlreichen Weltregionen ausbreitete. Aber was sich ausbreitet, kann kaum gleichzeitig in seiner Existenz bedroht sein.

Das unheilvolle Zusammenwirken von Überwachungspraktiken einerseits und Solidarisierungsprozesse andererseits kann in parallelgesellschaftliche Strukturen führen bzw. sie verstärken. Sie sind allerdings erst dann gegeben, wenn eine ganze Reihe von Kriterien erfüllt werden und nicht schon deshalb, weil Menschen anders leben oder eine andere Religion pflegen.

Insofern gibt es auch eine politische Instrumentalisierung des schwierigen Zusammenlebens durch politische Eliten der Mehrheitsgesellschaft. Umso drängender stellt sich die Frage, wie eine integrationsfähige Gesellschaft unter diesen Bedingungen gesichert werden kann.

Wenn die These stimmt, und es spricht vieles dafür, dass moderne Gesellschaften nicht durch ein gemeinsames, homogenes Wertekorsett zusammengehalten werden, sondern eher mittels durchgestandener Konflikte, flankiert von Grundnormen wie Gleichwertigkeit und Gewaltfreiheit, dann gibt es im Verhältnis von Mehrheit und islamischen Gemeinschaften einen großen Nachholbedarf der offenen Auseinandersetzung. Konflikte haben dann eine produktive Funktion.

Es wäre viel gewonnen, wenn man sie aufmerksam prozessieren könnte auf der Basis von Hintergrundkonsensen (Gleichwertigkeit/Integrität), aktiver Institutionen und Menschen aller Gruppen auf unterschiedlichen Statuspositionen, um so zu Anerkennungen von Personen und Prinzipien zu gelangen.

Anerkennungsprozesse, die bekanntlich immer, im Gegensatz zu Toleranz, auf Wechselseitigkeit basieren, verlaufen in modernen Gesellschaften über Kritik und Konflikt. Toleranz ist dagegen die billigere Variante und schon deshalb ein Problem, weil Kritik und Konflikt abgedeckt werden.

Das bedeutet auch, dass weder die Überwachung durch den Staat noch die jetzt überall geforderte Toleranz neue Integrationsfähigkeiten dieser Gesellschaft erzeugen: Sie verschütten sie eher. Die Fernwirkungen sind sichtbar. (. . .)

 Frankfurter Rundschau vom 17.12.2001

 

 onmousedown="ET_Event.link('Link%20auf%20www.gaebler.info',