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Kevin K.
Dokumentation
Kindeswohl

Das kurze Leben des Kevin K.

Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" der Bremer Bürgerschaft, Gericht und weitere Presseberichte

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Bremen beschließt Obduktionspflicht

Kinder werden bei unklarer Todesursache untersucht

Von Michael Brandt

Kinder im Alter bis zu sechs Jahren werden in Bremen künftig bei unklarer Todesursache automatisch obduziert. Eine entsprechende Gesetzesänderung hat die Bürgerschaft gestern mit großer Mehrheit beschlossen. Bremen nimmt damit unter den Bundesländern eine Vorreiterrolle ein. Dem Gesetz liegt der Verdacht zugrunde, dass viele Kindstötungen in der Vergangenheit nicht entdeckt worden sind.

In Bremen wird eine Obduktionspflicht für Kinder unter sechs Jahren eingeführt.Die Obduktionspflicht ist eine direkte Folge des Falles des damals zweijährigen Kevin, der im Oktober 2006 tot in einer Wohnung gefunden worden war, im Kühlschrank seines drogenabhängigen Ziehvaters. Kevin hatte unter staatlicher Obhut gestanden. Ein weiterer Fall, der jetzt in den Unterlagen wieder auftaucht, stammt aus dem November 2009. Der Totenschein eines zwei Monate alten Säuglings war zunächst auf plötzlichen Kindstod ohne Erklärung ausgestellt worden. Bei einer anschließenden Obduktion entdeckten die Ärzte dann eine Schädelfraktur.

Nach Auskunft der Gesundheitsbehörde liegt die Zahl der jährlichen Fälle von sogenanntem plötzlichen Kindstod in Bremen im einstelligen Bereich. Unklar ist, wie hoch der Anteil gewaltsamer Todesfälle daran ist. In den Unterlagen zur gestrigen Entscheidung beruft sich das Gesundheitsressort auf verschiedene Untersuchungen in Europa. So geht zum Beispiel eine Untersuchung davon aus, dass auf eine entdeckte Kindstötung in Deutschland zwei unentdeckte kommen. Eine österreichische Studie kommt zu dem Schluss, das zwischen fünf und zehn Prozent der plötzlichen Kindstode tatsächlich auf Gewalteinwirkung zurückgehen.

"Wir gehen von einer Dunkelziffer aus", sagte Gesundheits- und Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) in einer Debatte, die im Parlament betont sachlich und zurückhaltend geführt wurde. Innere Blutungen infolge eines Schütteltraumas könnten zum Beispiel nur durch eine Obduktion erkannt werden, schilderte die Senatorin. Auch der Tod durch Erstickung fällt in diese Kategorie.

Im Gesetz ist eine Widerspruchsmöglichkeit für die betroffenen Eltern enthalten. Sie müssen innerhalb von 24 Stunden nach dem Tod ihres Kindes von einem Richter gehört werden und können sich dabei gegen die Obduktion wenden. Dieses Passus ist im Laufe der vergangenen Monate verändert worden. Zunächst sollte es keine Möglichkeit für die Eltern zur Stellungnahme geben. Eine Handlungsanweisung für alle beteiligten öffentlichen Stellen soll noch erarbeitet und demnächst der Gesundheitsdeputation vorgelegt werden. Damit soll geregelt werden, wie das Gesetz im Detail umgesetzt wird. Und Ende 2013 soll überprüft werden, ob die neue Regelung greift.

Mit der Obduktionspflicht werden zwei Ziele verfolgt. Zum einen geht es darum, ein mögliches Geschwisterkind zu schützen. Zum anderen setzen die Gesetzgeber auf eine präventive Wirkung. Die CDU-Abgeordnete Sibylle Winther erklärte dazu: "Wir müssen uns fragen, was wir tun können, um diese Fälle zu vermeiden. Wenn durch diesen Automatismus auch nur ein Kinderleben gerettet werden kann, hat sich das Gesetz gelohnt." Sie geht davon aus, dass die Bundesländer sehr genau beobachten werden, ob sich die neue Regelung in Bremen bewährt.

Bereits im Juni hatte die Bürgerschaft der Obduktionspflicht in erster Lesung zugestimmt. Vorangegangen war eine lange Auseinandersetzung unter anderem mit Elternverbänden. Kritik kam zum Beispiel vom Kinderschutzbund, von dessen Warte aus das Gesetz die Eltern unter Generalverdacht stelle. Selbst der Senat hatte wegen der gegensätzlichen Positionen eine Entscheidung zunächst ausgesetzt. Im Herbst hatte außerdem der Rechtsausschuss der Bürgerschaft Experten zu einer Anhörung eingeladen.

Monique Troedel (Linke) beschrieb gestern das Spektrum der Einschätzung mit knappen Worten: "Zwischen Klarheit und Generalverdacht." Sie sieht das Gesetz als Chance, Kinderleben zu sichern. Und Winfried Brumma (SPD) fasste die Diskussion der vergangenen Monate so zusammen: "Wir haben sehr sorgfältig gearbeitet." Das Bremer Gesetz, ist er sicher, werde Vorbildfunktion für die Länder haben.

Dem Gesetz stimmten gestern alle Fraktionen zu. Die Gruppe der FDP stimmte dagegen. Sie hält nach Worten des Vorsitzenden Oliver Möllenstädt den staatlichen Eingriff in diesen privaten Bereich für unverhältnismäßig. Das Gesetz tritt nach der amtlichen Veröffentlichung in Kraft, voraussichtlich in rund zwei Wochen.

 Weser Kurier  vom 26.01.2011

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Kevin-Urteil ist rechtskräftig

Das Urteil gegen Kevins Ziehvater ist rechtskräftig. Laut Landgericht haben weder Verteidigung noch Staatsanwaltschaft Revision gegen die Entscheidung des Schwurgerichts II eingelegt. Bernd K. war vergangene Woche wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie der vorangegangenen Kindesmisshandlungen zu zehn Jahren Haft verurteilt worden.

Wie lange der 43-Jährige tatsächlich im Gefängnis sitzen wird, ist jedoch offen. Denn das Gericht hat Bernd K., der eine jahrzehntelange Karriere als Drogen- und Alkoholabhängiger hinter sich hat, auferlegt, sich einer Therapie zu unterziehen. Zunächst muss der 43-Jährige drei Jahre absitzen, dann folgt die Therapie, die nach Einschätzung des vom Gericht bestellten psychiatrischen Gutachters etwa zwei Jahre dauern wird. Sollte die Therapie erfolgreich verlaufen, wird Bernd K. anschließend aus der Haft entlassen. Bricht er die Therapie dagegen ab, muss er zurück ins Gefängnis.

Kevins Leiche war am 10. Oktober 2006 stark verwest im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden worden.

Weser Kurier  vom 14.06.2008

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Freundlicher Händedruck - und Schweigen 

Der Prozess gegen Kevins Ziehvater im Geflecht der Paragrafen - ein Rückblick auf 29 Verhandlungstage

Foto: dpaNach 29 Prozesstagen gestern nun das Urteil: Zehn Jahre Haft für Kevins Ziehvater. Es waren lange Prozesstage, teilweise zäh, bestimmt von Gutachtern, juristischen Auseinandersetzungen, die nicht nur das Publikum ermüdeten. Es war das Eintauchen in eine Welt, die dem normalen Bürger weitgehend verschlossen ist. Unser Mitarbeiter Volker Junck blickt zurück auf eine mühsame Wahrheitssuche im Gerichtssaal.

Die meiste Zeit fand der Prozess im großen Schwurgerichtssaal 218 statt - im Rücken die rumpelnde Straßenbahn, die manches Gesagte übertönt. Gegenüber den Presseplätzen der Angeklagte Bernd K. Er sagte, bis auf ein Schlusswort des Bedauerns, nichts.

Mit seinen 13 Jahren Knast, der Hepatitits, der jahrzehntelangen Alkohol- und Drogensucht sieht er gar nicht wie ein Schwerkrimineller und auch nicht so kaputt wie andere Junkies aus der Szene aus. Und schon gar nicht wie dieses grausame Monster, das die Öffentlichkeit vor Augen hat. Mit dem Zöpfchen im Nacken wirkt er eher wie ein übrig gebliebener Hippie.

Reglos wie eine Statue sitzt er all die Prozesstage ab, nur einmal bricht seine oft beschriebene Aggressivität durch, als ihn ein Fernsehteam von Buten & Binnen filmt. Da greift er sich eine Lampe und leuchtet dem Kameramann in die Linse. Ungepixelte Veröffentlichungen vom Angeklagten sind untersagt, als es die Bild-Zeitung einmal "aus Versehen" tut, erhält sie vom Gericht Fotoverbot im Saal. Die Richter machten wahr, was sie im Vorfeld den Redaktionen mehrfach ausdrücklich angedroht hatten.

Es ist die Routine der Prozesstage. Kaum sind die Handschellen abgenommen, begrüßen ihn die beiden Pflichtverteidiger mit freundlichem Händedruck. Rechtsanwalt Thomas Becker hat ihn schon früher vertreten und deshalb mit Jörg Hübel auch die Pflichtverteidigung zum Tagessatz von rund 350 Euro übernommen. 350 Euro - für Normalbürger eine Menge Geld. Aber so mancher Rechtsanwalt könnte das Geld wohl auch leichter verdienen, als den ganzen Tag in so einem Prozess zu sitzen.

Ein Job wie jeder andere

Für die Anwälte ist es ein Job wie jeder andere, den sie nach den Regeln ihres Berufsstandes erledigen und dabei auch alle Möglichkeiten der Strafprozessordnung nutzen. Das sieht dann so aus, dass Hübel aufwändige toxikologische Gutachten von Kevins Haarproben anzweifelt, nach denen der kleine Junge auch Kokain, Methadon und Ritalin bekam.

Er fordert den hundertprozentigen Nachweis der Substanzen über ihre Abbauprodukte. Auch das gehört zu einer Verteidigung mit allen Finessen.

Über die beiden ständig anwesenden Sachverständigen aus Hannover und Hamburg - ihr Stundensatz beträgt 70 Euro - geht der Blick nach vorn zum Schwurgericht II mit dem Vorsitzenden Helmut Kellermann, den beiden Berufsrichterinnen und den beiden Schöffen. Einer droht öfter einzunicken, erleidet auch einen Schwächeanfall, und alle Beobachter bangen, ob er denn bis zum Ende durchhält. Er schafft es - und mit ihm ein paar Stammzuhörer auf den harten Bänken hinter der Barriere. Die Zeichnerin ist fast immer dabei, ebenso ein Herr im blauen Blazer.

Zeugen aus Kanada

Vorsitzender Kellermann mit seinen meterdicken Aktenbergen behält meist die Ruhe, zieht das Verfahren mit unendlicher Geduld durch. Schließlich will er zu einem wasserdichten Urteil ohne Aussicht auf Revision kommen - koste es was es wolle. Zeugen, die schon da waren, werden auf Verlangen von Verteidigung oder Anklagevertreter noch einmal gehört.

Die meisten haben schon im Untersuchungsausschuss ausgesagt, doch ihre Einlassungen dürfen vor Gericht nicht verwendet werden. Es hat schon Unterhaltungswert, wenn der Vorsitzende von seinen vergeblichen Versuchen berichtet, eine nach Kanada entschwundene Zeugin aufzuspüren. Sie bleibt unauffindbar.

Die Verteidiger und Staatsanwalt Daniel Heinke geraten sich einige Male heftig in die Wolle. Für den Ankläger, der inzwischen das Büro des neuen Innensenators Ulrich Mäurer leitet, ist es der letzte große Auftritt vor Gericht. Man spürt, dass er sich einen nachhaltigen Abgang verschaffen will. Unbeirrt hält er bis zum Plädoyer am Mordvorwurf fest. "Mutig", finden einige Kollegen. Andere werfen ihm vor, eher die öffentliche Gefühlslage bedienen zu wollen. Denn bei aller Grausamkeit des Verbrechens - der juristische Nachweis einer vorsätzlichen Tötungsabsicht ist ein Drahtseilakt im Geflecht der Paragrafen.

Seltsam mattes Verteidiger-Plädoyer

Und die Gegenseite? "Freispruch - was denn sonst", hatte Thomas Becker noch zur Verfahrenshälfte die Richtung der Verteidigung angegeben. In einem seltsam matten Vortrag plädierte er nun auf "maximal Körperverletzung mit Todesfolge" und öffnete damit immerhin einen Strafrahmen von drei bis 15 Jahren für seinen Mandanten. Vielleicht war er einfach nur froh, es erst einmal hinter sich zu haben.

Weser Kurier  vom 06.06.2008

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CDU mahnt Verbesserungen an

Kritik: Personalmangel im Jugendamt

Von Elke Gundel

Das Sozialressort müsse "endlich aus dem Fall lernen", betonte die Vize-Chefin der CDU-Bürgerschaftsfraktion, Rita Mohr-Lüllmann, gestern nach dem Urteil gegen Kevins Ziehvater. Das Ende des Prozesses rufe "das schreckliche Martyrium, das der Junge durchmachen musste, wieder in Erinnerung". Für sie sei entscheidend, dass das Sozialressort und Senatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) aus dieser Katastrophe Konsequenzen zögen. "Das kann ich bisher nicht feststellen." Noch immer, betonte Mohr-Lüllmann, beklagten Sachbearbeiter eine zu dünne Personaldecke im Jugendamt. Zudem habe es viel zu lange gedauert, bis das Notruftelefon geschaltet war und dessen Nummer beworben wurde. "Ich fürchte, dass noch längst nicht alles getan worden ist, damit sich der Fall Kevin nicht wiederholen kann."

Rosenkötter dagegen betonte, die Verbesserung des Kinderschutzes und die Bekämpfung von Kinderarmut seien weiter ihre wichtigsten Anliegen. Mittlerweile seien viele Initiativen zur Verbesserung des Kinderschutzes auf den Weg gebracht worden. Dieses Jahr würden dafür knapp 1,6 Millionen Euro und 2009 gut 1,8 Millionen Euro bereitgestellt. Unter anderem seien 30 Mitarbeiter mehr im Bereich Kinderschutz tätig. Zudem habe im April das Projekt "TippTapp - Gesund ins Leben" begonnen, dessen Ziel es ist, Eltern von Neugeborenen zu Hause zu besuchen und zu unterstützen.

Weser Kurier  vom 06.06.2008

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"Arbeit in einem Hochrisikobereich"

Der Berliner Erziehungswissenschaftler Reinhart Wolff über die Kinder- und Jugendhilfe in Bremen

Nach Kevins Tod hat Bremen im Herbst 2007 ein bundesweit beispielloses Qualifizierungsprogramm zum Thema Kinderschutz gestartet. Für die Mitarbeiter des Jugendamtes ist es verpflichtend; eingeladen sind aber auch die Beschäftigten der freien Träger, Polizei, Kinderärzte, Hebammen und Familienrichter - und die Eltern. Der Berliner Erziehungswissenschaftler Reinhart Wolff (68) hat das Programm mit seinem Team des Kronberger Kreises für Qualitätsentwicklung gestaltet. Unsere Redakteurin Elke Gundel sprach mit ihm darüber.

Frage: Was ist Ihnen bei Ihren Schulungen in Bremen aufgefallen?

Reinhart Wolff Bild aus hart aber fairReinhart Wolff: Es gibt ein riesiges Bedürfnis sich auszutauschen, voneinander zu lernen und besser zu werden - trotz der extrem schwierigen Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig gibt es aber auch Ängste und Zweifel, ob es diese Chance auf Austausch und Weiterentwicklung in Bremen noch einmal gibt. Die Mitarbeiter befürchten, dass Veränderungen nicht möglich sind, weil sie erlebt haben, wie Bremen in den vergangenen 20 Jahren die realen Möglichkeiten der Jugendhilfe dramatisch beschnitten hat.

Sie beziehen sich auf den Spardruck?

Ja. Bremen hat kein Geld. Deshalb haben sich in den vergangenen Jahren die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter in der Jugendhilfe drastisch verschlechtert. Parallel dazu hat sich die Lebenssituation der Familien in den Problem-Stadtteilen verschärft. Problemdichte und Hilfebedürftigkeit sind also gestiegen; die Möglichkeiten zu helfen, sind aber stark eingeschränkt worden.

Die Sozialarbeit in Bremen wurde umstrukturiert: Die Mitarbeiter im Jugendamt wurden zu Fall-Managern, die konkrete Arbeit in den Familien übernahmen freie Träger. Was halten Sie davon?

Das ist ein bürokratisches Sparkonzept, das wortreich als modern verkauft wurde. Die Realität ist: Das regional organisierte Jugendamt hat viele Stellen verloren. Neue Leute wurden lange Zeit nicht eingestellt. Mussten Stellen wiederbesetzt werden, haben Mitarbeiter aus anderen Bereichen des Amtes für Soziale Dienste diese Posten übernommen - obwohl sie dafür nicht speziell ausgebildet waren. Die Fall-Manager hat man zwar so genannt, aber nicht ausreichend für ihre neue Aufgabe geschult. Moderne Konzepte des Fall-Managements sehen eine zweijährige Weiterbildung vor - sie umfassen auch die konkrete Arbeit in Krisensituationen und den ersten Kontakt mit hilfebedürftigen Familien. Ein fundiertes Fall-Management konnte sich so in Bremen nur in Ansätzen entwickeln. Es wurde im wesentlichen ein Sparprogramm umgesetzt, dabei entstand eine strukturelle Lücke.

Was für eine?

Eine Lücke zwischen Jugendamt, freien Trägern, Familien, Polizei, Familiengericht. Man kann nicht davon ausgehen, dass die Mitarbeiter dieser verschiedenen Einrichtungen von heute auf morgen dazu in der Lage sind, miteinander zu kooperieren. Das muss man gemeinsam entwickeln. Das ist in Bremen lange nicht geschehen. Es gab in Bremen keine Kultur einer tragfähigen Kooperation, und es gab auch keine Methodik dafür. Wir versuchen das in unserem Qualifizierungsprogramm nachzuholen.

Ist die mangelnde Kultur der Kooperation in der Jugendhilfe eine Bremensie?

Nein, das ist überall so. Das Besondere an Bremen ist aber, dass es das ärmste Bundesland, das Armenhaus der Nation ist. Das heißt auch, dass sich in Bremen bestimmte problematische Entwicklungen früher und schärfer abzeichnen, als in reicheren Gegenden Deutschlands. Die Erfahrung der Katastrophe, das katastrophale Versagen bei Kevin, ist eine Warnung für die gesamte Jugendhilfe in Deutschland.

Man muss aus der Katastrophe lernen?

Es gibt keinen anderen Weg. Erstaunlicherweise gibt es aber in Deutschland keine wissenschaftliche Untersuchung einer solchen Katastrophe. Weder bei Kevin, noch bei einem anderen Kind, das vernachlässigt und misshandelt worden ist, bis es starb.

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Dass ein fundiertes System der Qualitätssicherung in den Jugendämtern eingeführt werden muss, möglichst mit wissenschaftlicher Begleitung von außen. Man muss sich klarmachen: Die Mitarbeiter der Jugendhilfe arbeiten in einem Hochrisikobereich. Sie sollen Familien unter schwierigsten Bedingungen und oft in höchster Not helfen. Dabei muss man seine Arbeit ständig reflektieren, um sicherzustellen, ob man richtig liegt. In anderen Hochrisikobereichen, zum Beispiel im Luftverkehr, ist so etwas wie die Flugsicherung selbstverständlich. Alles andere wäre auch nicht zu verantworten. Und wenn McDonald’s wegen schlechten Fleischs in die Kritik gerät, starten die eine Qualitätsoffensive - und sind inzwischen in ihrem Bereich führend, was die Bewältigung einer schweren Unternehmenskrise betrifft. Auch die Jugendhilfe braucht eine Qualitätsoffensive. Und nicht nur einmal, sondern ständig. Denn schließlich verändert sich auch unsere Gesellschaft ständig - und mit ihr die Familien, die Hilfe brauchen.

Von welchen derzeitigen Problemen haben Ihnen die Mitarbeiter der Bremer Jugendhilfe berichtet?

Dass der Druck auf beiden Seiten enorm zugenommen hat. Die Eltern spüren, dass jetzt genauer hingeschaut wird und ihnen die Kinder früher weggenommen werden. Die Zahl der Fremdplatzierungen ist in Bremen nach dem Tod von Kevin um die Hälfte gestiegen. Das sorgt schon jetzt für eine Haushaltslücke. Bisher ist nicht klar, wie das finanziert werden soll. Und es gibt bei Drogenabhängigen, die ein Kind bekommen, die Tendenz, nicht mehr in Bremen zu entbinden, sondern im Umland. Weil es in Bremen die Verabredung gibt, Kinder von drogenabhängigen Eltern früher aus der Familie zu nehmen als bisher. Das alles hat die Belastung der Mitarbeiter weiter erhöht. Es sind zwar neue Kollegen eingestellt worden, aber nicht in dem Maße, wie die Fallzahlen gestiegen sind.

Weser Kurier  vom 06.06.2008

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Bremer Jugendamt ist rund um die Uhr erreichbar

Kinder- und Jugendschutztelefon wird abends und am Wochenende von freien Trägern betreut - Fachleute suchen Familien notfalls auch nachts auf - Geringe Bezahlung

Von Rose Gerdts-Schiffler

Die Mutter ist es leid. Endgültig. Ihre Kinder sollen weg, bloß weg. Das schreiende Baby mit den blauen Flecken am ganzen Körper drückt sie der Nachbarin in den Arm, das Kleinkind einer Bekannten. Dann verschwindet sie. Aufgelöst meldet sich die Nachbarin beim Kinder- und Jugendschutztelefon, das rund um die Uhr sieben Tage die Woche besetzt ist.

"Manchmal frage ich mich, was eigentlich vor der Einrichtung dieser Notrufnummer mit solchen Kindern passiert ist", sagt Janine Habbe. Die Sozialpädagogin arbeitet beim Mädchenhaus. Im Wechsel mit ihren Kolleginnen betreut sie das Telefon am Wochenende. Werktags meldet sich tagsüber an diesem Telefon ein Behördenmitarbeiter. Ab 16.30 Uhr bis zum nächsten Morgen sind es Fachleute des Kinderschutzzentrums und am Wochenende die Frauen vom Mädchenhaus. Ein ineinander abgestimmtes Hilfesystem - eines, dem angeblich die Behördenmitarbeiter abhanden kommen.

Nach Dienstschluss beim Jugendamt stehen nämlich nicht nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kinder- und Jugendschutztelefons bereit, um zu beraten, zu beruhigen oder schnelle Hilfe zu organisieren. Zudem haben auch zwei Fachkräfte Bereitschaftsdienst, um sofort zu den betroffenen Familien rauszufahren. Dieses Duo setzt sich zusammen aus einem Behördenmitarbeiter und der Fachkraft eines freien Trägers.

"Die meisten sind unglaublich engagiert", sagt Karin Dölling vom Mädchenhaus überzeugt. Doch nach Informationen unserer Zeitung soll die Zahl derjenigen Behördenmitarbeiter schrumpfen, die bereit sind, nachts in krisengeschüttelte Familien zu gehen, und am Morgen danach wieder ihren normalen Dienst anzutreten. "So etwas geht nicht nebenbei", heißt es immer wieder intern. Petra Kodré, Sprecherin der Sozial- und Jugendbehörde, widerspricht der mehrfach geäußerten Kritik. "Die Zahl der Behördenmitarbeiter ist in den vergangenen Monaten stabil geblieben und wir versuchen, den Kreis der Kollegen sogar noch zu erweitern."

Beim Kinderschutzzentrum betreuen nachts Honorarkräfte das Kinder- und Jugendschutztelefon. "Das sind alles erfahrene Psychologen und Sozialpädagogen", betont Doris Bendig. Viele seien dem Kinderschutzzentrum schon seit Jahren verbunden. Doch ab 23 Uhr erhalten die Fachleute nur noch 4,50 Euro für ihre Rufbereitschaft. "Das ist in Ordnung, wenn sich in der Nacht niemand meldet. Aber wenn jemand drei, vier Krisengespräche in der Nacht hat und noch die Berichte bis zum nächsten Morgen schreiben muss, ist die Bezahlung nicht mehr angemessen", gibt Geschäftsführer Hinrich Länger zu bedenken.

Es war Kevins Tod, der zur Einrichtung des Kinder- und Jugendschutztelefons in Bremen führte. Ob im Untersuchungsausschuss oder bei den öffentlichen Debatten, immer wieder mussten sich Vertreter des Jugendamtes anhören: "Sie sind ja tagsüber nie zu erreichen." Statt ausgebildeter Pädagogen mussten sich nachts überforderte Polizisten der verstörten Kinder und Jugendlichen annehmen, Krisen beurteilen und über weitere Schritte entscheiden.

Mit der verbesserten Erreichbarkeit des Amtes wird nun auch das Leid vieler Bremer Kinder sichtbar. Kaum eine Noteinrichtung hat zurzeit noch einen freien Platz anzubieten. Ganz schlecht sieht es bei der Unterbringung von gefährdeten Säuglingen aus. "Wir überlegen gerade, zwölf weitere Plätze vorübergehend in Bremen einzurichten", sagt Behördensprecherin Petra Kodré auf Nachfrage.

Damit nicht ein einzelner Mitarbeiter über das weitere Schicksal eines gefährdeten Kindes entscheidet, gilt seit Kevin an vielen Stellen im Amt das Vier-Augen-Prinzip.

Die Mitarbeiter des Hintergrunddienstes rücken nachts jedoch stets aus, ohne sich Informationen über den prügelnden Vater, die betrunkene Mutter oder den psychotischen Bruder besorgen zu können. Damit erhöht sich das Risiko, etwas zu übersehen oder gar selbst zum Opfer zu werden. So wie im Falle einer Sozialarbeiterin, die wegen einer Kindeswohlgefährdung in eine kriminell stark belastetete Familie fahren wollte. Um sich sicherer zu fühlen, bat sie um zwei Polizeibeamte als Begleitschutz. Sie bekam mehr: "Unter zwölf Leuten gehen wir da nicht rein", belehrte sie ein Polizeiführer.

Das Kinder- und Jugendschutztelefon ist rund um die Uhr mit Fachleuten besetzt. Es ist erreichbar unter der Bremer Telefonnummer : 6991133

Weser Kurier  vom 06.06.2008

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Strukturen im Jugendamt schuld an Kevins Tod

Nach Auffassung des Bremer Untersuchungsausschusses zum Fall Kevin sind strukturelle Defizite im Jugendamt schuld am Tod des Kleinkindes.

Zwar habe das persönliche Versagen des Fallmanagers und des Amtsvormundes des Jungen eine große Rolle gespielt, sagte der Vorsitzende des Ausschusses, Helmut Pflugrath (CDU), einen Tag vor Veröffentlichung des Abschlussberichtes am Donnerstag auf ddp-Anfrage. Das individuelle Versagen sei aber nur möglich gewesen, weil die Strukturen im Amt dies ermöglicht hätten.

„Hätte die Dienst- und Fachaufsicht funktioniert, hätten dem Fallmanager und dem Amtsvormund solche gravierenden Fehler auf Dauer nicht unterlaufen können“, fügte er hinzu. Zwar gebe der Bericht des Ausschusses auch die Empfehlung, künftig mehr Personal einzusetzen. Fakt sei aber, dass der Fallmanager von Kevin nicht überarbeitet war. Es habe kein quantitatives, sondern ein qualitatives Problem gegeben. „Er war mit dem Fall überfordert“, sagte der CDU-Politiker. „Dabei hätten die Vorgesetzten eingreifen müssen.“

Kevin war am 10. Oktober 2006 tot im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden worden. Der Junge, der unter staatlicher Obhut stand, war vermutlich schon Ende April oder Anfang Mai an den Folgen schwerster Misshandlungen gestorben. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss hatte mehrere Monate die Hintergründe des Falles aufgeklärt und legt am Freitag seinen Abschlussbericht vor.

Welt im Spiegel vom 19.04.2007

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Staatsrat Schuster: "Im Moment will ich alles"

Mehr Personal in den Sozialzentren, einen Krisendienst, mehr Familienhebammen - die Finanzierung ist ungeklärt

eib

17 zusätzliche Stellen in den sechs Bremer Sozialzentren sind nach einer Studie des Essener Instituts für Sozialplanung und Organisationsentwicklung (INSO) notwendig, damit die Case-Manager sich so für Kinder und Jugendliche einsetzen können, wie es ihr Job verlangt. Dazu gehörten unbedingt Hausbesuche, um die Familien kennen zu lernen und sinnvolle Maßnahmen bei freien Trägern in Auftrag geben zu können, formulieren die INSO-Gutachter im September vergangenen Jahres. Einen Monat bevor Kevin tot aufgefunden wurde. Danach ließ es kaum ein Politiker aus zu betonen, wie notwendig Hausbesuche sind - für die den Case-Managern aber nicht nur im Fall Kevin keine Zeit geblieben war.

Der Personalrat der Amts-MitarbeiterInnen fordert jetzt, endlich Konsequenzen aus dem von der Sozialsenatorin in Auftrag gegebenen Gutachten zu ziehen, das den Personalbedarf in den Sozialzentren ermitteln sollte. Ob tatsächlich alle 17 Stellen bewilligt werden, sei nicht entscheidend, so Personalrat Wolfgang Klamand. "Aber es muss etwas passieren."

Dieser Ansicht ist auch Sozial-Staatsrat Joachim Schuster (SPD). Nur: Über Zahlen will er nicht sprechen. Wie viele Stellen geschaffen werden können, hänge davon ab, wie viel Geld bewilligt würde, sagt er. Und wie viel von diesem übrig bleibt, wenn die anderen Maßnahmen umgesetzt werden, die Schuster gestern ankündigte. So möchte er für das Gesundheitsamt so viele Familienhebammen und Kinderkrankenschwestern haben, dass alle Kinder in Problemstadtteilen drei Mal im ersten Lebensjahr besucht werden können. Das würde etwa 25 Prozent der Bremer Bevölkerung betreffen. Weiteres Geld braucht er für den Krisendienst, der nachts und am Wochenende Familien aufsuchen soll, in denen Kinder gefährdet sein könnten. Welche Prioritäten er setzen wird, wenn er nicht genügend Mittel für alle drei Maßnahmen bekommt, konnte Schuster nicht sagen. "Im Moment will ich alles." Akuten Bedarf sieht er auch in der Trennungs- und Scheidungsberatung - "die findet faktisch nicht statt" - und in der Erziehungsberatung, die vor drei Jahren zusammengestrichen wurde.

Das INSO-Gutachten hat die Arbeit der Case-Manager in Bausteine zerlegt und verspricht eine genaue Aussage darüber, welche Auswirkungen Personaleinsparungen auf die Qualität der Arbeit haben. Klamand und Schuster sind sich darin einig, dass die Personalausstattung kaum schlechter sein kann.

taz vom 02.03.2007

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Rosenkötter sieht "erhebliche Defizite im Jugendhilfesystem"

Senatorin kündigt neue Kultur im Amt an - Anhörungen beendet

Von Rose Gerdts-Schiffler

Der Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" hat gestern seine öffentlichen Anhörungen beendet. In einer ersten Wertung sagte der Vorsitzende Helmut Pflugradt (CDU): "Die Vernehmungen von 82 Zeugen in zweieinhalb Monaten haben organisierte Verantwortungslosigkeit und strukturelles Versagen im Amt für Soziale Dienste und im Jugendamt aufgezeigt." "Starb Kevin, der sich zum Zeitpunkt seines gewaltsamen Todes unter staatlicher Vormundschaft befand, aufgrund individuellen Versagens oder aufgrund struktureller Mängel im Amt für Soziale Dienste? Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) mochte gestern darüber nicht urteilen, sah aber erhebliche Defizite im Jugendhilfesystem. "Mangelhafte Aktenführung, Probleme im Casemanagement, schlechte Erreichbarkeit des Amtes, mangelnde Dienst- und Fachaufsicht und eine eingeschränkte Kommunikation mit Freien Trägern sowie anderen Behörden", zählte die 53-jährige Senatorin im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" gleich mehrere Schwachstellen auf. Nach der Analyse der Probleme, in die auch die Ergebnisse des Ausschusses mit eingeflossen seien, werde sie sich nun mit aller Kraft dafür einsetzen, die Mängel zu beheben und einen zweiten "Fall Kevin" zu verhindern, kündigte Ingelore Rosenkötter mit fast schon feierlicher Stimme an. Die Führungskräfte sollten zudem darin geschult werden, ihre Mitarbeiter zu fordern, zu führen, zu unterstützen und wenn nötig, sich auch in ihre Arbeit einzumischen. Ihr Staatsrat Joachim Schuster, der Arnold Knigge im vergangenen Jahr im Amt folgte, skizzierte vor dem Ausschuss, was sein Ressort bislang umgesetzt hat. Jede Meldung einer Kindeswohlgefährdung durch Nachbarn oder Angehörige einer Familie würden demnach während der Bürozeiten im Amt zentral angenommen. Abends, nachts oder an den Wochenenden liefen die Anrufe beim Kinder- und Jugendschutztelefon des Bremer Kinderschutzzentrums auf. Dort säßen kompetente Gesprächspartner, die im Notfall sofort die Polizei einschalten würden. Alle Fremdmeldungen müssen an die Stadtteilleitung weitergegeben und in den Wochenkonferenzen vorgestellt werden. Die Sozialzentren seien ebenso personell aufgestockt worden wie das Familienhebammenprogramm und die Erziehungsstellen. "Als Sofortmaßnahme haben unsere Mitarbeiter 1000 Kinder in Risikofamilien besucht oder sich fachkundige Einschätzungen von Erziehern und Lehren eingeholt, die die Kinder täglich sehen", berichtete der Staatsrat. In acht Fällen seien geplante Hilfsmaßnahmen beschleunigt worden. Nur zwei Kinder habe das Amt aus ihren Familien nehmen müssen. "Zwei weitere Kinder hätten allerdings gereicht, Bremen in die Weltpresse zu bringen", kommentierte Hermann Kleen (SPD) trocken. Nach Überzeugung seines Parteigenossen Joachim Schuster zeigten die Zahlen allerdings, dass bei der Masse der betroffenen Kinder die bisherigen Hilfsangebote ausreichten. Zudem liege die Schwelle, ein Kind aus einer belasteten Familie herauszunehmen, "nach Kevin" deutlich niedriger. Am Rande bestätigte Ingelore Rosenkötter, dass der frühere Amtsleiter Jürgen Hartwig in Kürze eine Stelle an der Hochschule antreten werde. Dabei solle sich Hartwig mit der demografischen Entwicklung sowie mit den Aufgaben der Länder nach der Föderalismusreform beschäftigen.

Weser Kurier  vom 02.03.2007

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Röpke sieht "Einzelfall"

Zum Abschluss seiner Aufarbeitung der Hintergründe des Falles Kevin hat der Untersuchungsausschuss gestern "Kindeswohl" die Sozialsenatorin Karin Röpke und den Staatsrat Arnold Knigge befragt. Sie sei "persönlich erschüttert" gewesen von dem tragischen Tod des Kindes Kevin, erklärte Röpke, es handele sich aber um einen "Einzelfall". Für den Tod von Kevin könnten "keine finanziellen Hintergründe" verantwortlich gemacht werden. Knigge erklärte, er könne "systemische Fehler" nicht erkennen.

taz vom 01.03.2007

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Ex-Senatorin Röpke vor dem Kevin-Ausschuss

Kein Fehler an der Spitze?

Das war schon eindrucksvoll: Die Spitze des Sozialressorts hat alles richtig gemacht. Das ist die gemeinsame Auffassung von Ex-Senatorin Karin Röpke, Ex-Staatsrat Arnold Knigge und Ex-Sozialamtsleiter Jürgen Hartwig. Die CDU-Abgeordnete Rita Mohr-Lüllmann im Ausschuss brachte das auf die Formel, offenbar müsse es sich dann um ein "kollektives individuelles Versagen" gehandelt haben.

Kommentar von Klaus Wolschner

Klaus WolschnerAusdrücklich hatte sich Röpke hinter den Sozialamtsleiter Jürgen Hartwig gestellt, der habe "viel aushalten müssen" und einen "sehr schweren Job" gehabt, im Umgang mit MitarbeiterInnen eben nur einen Mangel an "Empathie". Der lange Jahre für den Sozialbereich verantwortliche Staatsrat Knigge, der aufgrund des Klinikskandals - wenige Wochen bevor die Leiche von Kevin entdeckt wurde - zurückgetreten war, meinte, Struktur und Stategie der Neuorientierung der bremischen Sozialpolitik unter seiner Regie seit 1999 seien richtig gewesen.

Als wäre es nicht ein Problem der Leitung, wenn MitarbeiterInnen in großer Zahl ihre Arbeitsbedingungen genauso ablehnen wie Fachaufsicht. Da kann man nur hoffen, dass die neue Führung im Sozialressort ahnt, dass drei Finger zurück auf den zeigen, der mit einem Finger auf die Untergebenen zeigt.

taz vom 01.03.2007

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"Der 10. Oktober war wie ein Albtraum" 

Untersuchungsausschuss befragt die frühere Sozialsenatorin Karin Röpke und ihren Ex-Staatsrat Arnold Knigge

Von Rose Gerdts-Schiffler

 Bei der Frage nach dem 10. Oktober 2006, dem Tag, an dem Kevins Leichnam im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde, droht die Stimme der Zeugin im Ausschuss zu brechen. "Das war ein Albtraum", sagt Bremens frühere Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) schließlich und quält sich dann durch die Erinnerungen an einen Tag, an dem ihre Kolleginnen sie morgens weinend im Büro begrüßten. Eine Stunde zuvor hatten Sozialarbeiter und Polizisten den zweijährigen Kevin aus der Wohnung seines Ziehvaters an der Kulmer Straße in Gröpelingen holen wollen. Doch sie kamen zu spät. Nicht Tage, sondern Monate. Dass das tote Kind aus dem Kühlschrank der kleine Junge war, bei dessen Fall Karin Röpke Anfang Januar 2006 auf Bitten von Bürgermeister Jens Böhrnsen persönlich nachgehakt hatte, wurde der Senatorin nach ihren gestrigen Aussagen erst im Laufe des 10. Oktober klar - der zweite Schock nach der bitteren Erkenntnis, dass ein Kind unter staatlicher Vormundschaft grausam zu Tode gekommen war. Vor dem Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" schildert die 51-jährige Sozialdemokratin, wie sie am späten Nachmittag den Entschluss fasste, zurückzutreten. "Bis heute bin ich fassungslos, dass so etwas passieren konnte, obwohl der Amtsleiter und die Senatorin an dem Fall dran waren." Doch der Fallmanager habe falsche Berichte angefertigt. Darin sei unter anderem von Hausbesuchen die Rede gewesen, die nie stattgefunden hätten, nennt Karin Röpke ein Beispiel. Die direkten Vorgesetzten wiederum hätten den Fallmanager nicht kontrolliert. Nach ihrer Überzeugung gab es nämlich gleich mehrere Gründe, warum Kevin aus der Familie hätte genommen werden müssen. "Die Eltern hatten mehrfach getroffene Vereinbarungen mit dem Amt nicht eingehalten." Im gleichen Atemzug bricht Karin Röpke eine Lanze für ihre früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. "Die große Mehrheit hat in dem Spannungsfeld zwischen Hilfe, Kontrolle, Unterstützung und vor dem Hintergrund des Spardruck sehr engagiert gearbeitet." Und dann fügt sie hinzu: "Ebenso wie Amtsleiter Jürgen Hartwig. Der hatte einen unheimlich schwierigen Job." Rund 90 Prozent des Budgets im Sozialressort seien nicht verhandelbar, sondern müssten aufgrund gesetzlicher Ansprüche ausgezahlt werden. "Dennoch musste ich mich wiederholt öffentlich dafür rechtfertigen, dass ich angeblich meine Hausaufgaben nicht gemacht und nicht genug gespart habe", sagt die Ex-Senatorin bitter. Dabei hatte Karin Röpke gemeinsam mit ihrem damaligen Staatsrat Arnold Knigge abenteuerliche Spardebatten abzuwehren. Angeblich 93 Millionen Euro könnte die Senatorin einsparen, hieß es in dem Papier einer Projektgruppe. "Völliger Unsinn", urteilt der frühere Staatsrat Arnold Knigge, der gestern ebenfalls als Zeuge geladen war. Auch die 40 Millionen Euro, die seine Senatskollegen wenig später immerhin noch zu entdecken meinten, seien aus der Luft gegriffen gewesen. "Das lief so ähnlich wie beim Schlachter. Darf es gerne noch etwas weniger sein?". Sein früheres Ressort habe unter größten Anstrengungen zwölf Millionen Euro, gestreckt über zwei Jahre, als gerade noch machbar errechnet. Da andere Ressorts im Haushaltsnotlageland ebenso zu kämpfen gehabt hätten, sei oft heftig im Senat gestritten worden. "Das war nicht vergnügungssteuerpflichtig", beschreibt der ehemalige Staatsrat das Klima in der Runde. Der Tod des kleinen Jungen habe jedoch nichts mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu tun gehabt, ist Arnold Knigge überzeugt. Die Kontrolle im Sozialzentrum Gröpelingen allerdings habe versagt - wie auch der Fallmanager des Jungen. Mit seinem Fazit, dass er im Amt keine "systemischen Schwächen oder strukturelle Fehler" erkennen könne, ruft Arnold Knigge den heftigen Protest der Ausschussmitglieder hervor. Klaus Möhle (Bündnis 90 /Die Grünen) erinnert den Zeugen daran, dass keine vernünftige Vertretungsregelung existierte. Hermann Kleen (SPD) zählt auf, dass es bei Risikomeldungen kein Vier-Augen-Prinzip und kein geordnetes Berichtswesen gegeben habe. Auch die Fachaufsicht sei nicht geregelt gewesen. Rita Mohr-Lüllmann (CDU) stellt fest, dass das System "immerhin kollektives individuelles Fehlverhalten" zugelassen habe, und der Ausschussvorsitzende Helmut Pflugradt resümiert: "Es gab strukturelle Fehler im Amt."

Weser Kurier  vom 01.03.2007

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Antworten in Technokraten-Deutsch

Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" vernahm gestern den ehemaligen Amtsleiter Jürgen Hartwig

Von Rose Gerdts-Schiffler

Jürgen HartwigDer Untersuchungsausschuss im Fall Kevin begann gestern mit einem kleinen Eklat. Der Personalrat hatte anlässlich der Vernehmung des früheren Amtsleiters Jürgen Hartwig zu einer Versammlung im Raum II in der Bürgerschaft aufgerufen und damit die Platzkapazitäten gesprengt. Ordner zwangen schließlich einige Zuhörer, den Raum wieder zu verlassen.

Viele Mitarbeiter des Amtes für soziale Dienste waren bereit, dicht gedrängt an der Wand zu stehen, um die Vernehmung ihres früheren Amtsleiters mitzuerleben. Trotz der spürbar kritischen Grundhaltung gegen den 55-Jährigen, blieben Zwischenrufe oder diskreditierende Bemerkungen aus. Dennoch bestand Ausschussvorsitzender Helmut Pflugradt (CDU) darauf, dass einige Zuhörer, die auf dem Boden Platz genommen hatten, den Raum wieder verließen. "Der Tod von Kevin hat mich sehr erschüttert", leitete der versteinert wirkende ehemalige Amtsleiter Jürgen Hartwig seine persönliche Erklärung ein.

Dann ging es bis 16 Uhr nur um Reformen, Privatisierungen, Prozesse und Strukturen im Amt. Der 55-jährige Zeuge beschrieb in nüchternen Sätzen, dass er ab seinem ersten Arbeitstag 1999 das Amt komplett umbauen sollte. Dies habe eine Höchstbelastung von allen abverlangt. "Da gab es keine Zeit zum Luftholen und keine Möglichkeit, die Theorie mit der Wirklichkeit vor Ort in persönlichen Gesprächen zu überprüfen", ließ der Ex-Amtsleiter erstmals Selbstkritik durchklingen. Trotz des Personalmangels sei die Kindeswohlsicherung aber stets vorgegangen. "Und wie?", wollte der Vorsitzende wissen.

"Durch Prioritätensetzung und Abschichtung der Arbeit", lautete die kryptische Antwort. Zweimal will Helmut Pflugradt wissen, ob der Ex-Amtsleiter etwas über die damalige Stimmung im Amt sagen könne. Die Antwort des Zeugen erschöpft sich im Zitieren von Studien und der Beschreibung von Leitbildern und Konzepten.

Ein Technokratendeutsch das viele Sätze gebiert wie: "Wir mussten die Qualitätsbeschreibungen verpreisen." Oder: "Bei den Hilfen zur Erziehung hatte ich die Produktgruppenverantwortung." Der Ausschussvorsitzende unterbricht den Zeugen schließlich mit einer rhetorischen Frage: "Haben Sie gar nicht mitbekommen, dass zwischen Ihren sicher hervorragenden fachlichen Weisungen und der Wirklichkeit an der Basis Welten klafften?"

Damit spielte Helmut Pflugradt auf die innere Verweigerung vieler Sozialarbeiter an, zu "Fallmanagern" zu werden. Eine klare Antwort erhielt er nicht. Am Nachmittag ging es schließlich um Kevins Schicksal. Den Namen des Kindes hatte Jürgen Hartwig erstmals im Januar 2006 von der Sozialsenatorin Karin Röpke gehört. Er forderte eine Chronologie an, in der die verstorbene Mutter als der gewalttätige Elternteil beschrieben wurde.

Diese Festlegung sorgte beim Ausschuss für Verwunderung, da auch der Ziehvater des Kindes als Gewalttäter bekannt war. Deutlich wurde, dass sich der Amtsleiter auf die positiven Kurzberichte zu Kevin aus dem Sozialzentrum verlassen und den Führungskräften vertraut hatte. Erstaunt stellte Hermann Kleen (SPD) fest, dass Jürgen Hartwig nicht auf die Einhaltung der eigenen Weisung zum Umgang mit drogenabhängigen Eltern bestanden hatte.

Weser Kurier  vom 28.02.2007

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Leserbriefe

Betr.: "Rätsel um vorgeführten Kevin", taz bremen vom 16.02.2007 "Familienrichterin kritisiert Jugendamt", taz bremen vom 09. 02.2007

Leserbrief von JAN BLECKWEDEL aus Bremen , er arbeitete 20 Jahre als Psychologe und Therapeut in der Familien- und Lebensberatung und ist seit 1998 selbständig als Supervisor:

Betrachten wir nun nüchtern, was der Untersuchungsausschuss bisher zum Fall des Systems der Bremer Kinder- und Jugendhilfe ans Licht gebracht hat: 1. Das System ist systematisch kaputt gespart worden. 2. Die Strategien und Konzepte des Sparens erweisen sich als nicht Ziel führend, produzieren enorme gesellschaftliche Folgekosten und sind zum Teil gesetzeswidrig. 3. Die Organisation zeigt sich chaotisch, die Kommunikation erscheint gestört, handwerklich gibt es enorme Mängel. 4. Leitungen und Mitarbeiter beschreiben sich als unzureichend fortgebildet, überfordert, desorientiert, demotiviert, krank oder ausgebrannt. Es gibt genügend Engagement und Kompetenz im System, dieses kann sich jedoch nicht durchsetzen. Vertrauen, Motivation und Wertschätzung werden im System systematisch verbrannt. 5. Es gibt weder eine funktionierende Kontrolle noch eine Evaluation. 6. Die Spitzenbeamten und die verantwortlichen Politiker haben von all dem gewusst oder mussten es wissen. Es gab und gibt nachweislich jede Menge detaillierte Hinweise, Anzeigen, Kritiken und Warnungen von innen und außen. Das alles wurde nicht gehört, nicht beantwortet, schöngeredet, unterdrückt oder im System bis zur Unkenntlichkeit wegdiskutiert. Stattdessen wurden teure fachfremde Berater dafür bezahlt, ein dysfunktionales System wider alle Regeln guter Organisationsentwicklung durchzusetzen und ideologisch zu rechtfertigen. 7. Man hat sich selbst belogen und die Öffentlichkeit über die wahren Zustände getäuscht. Werden die verantwortlichen Spitzenpolitiker sich zu ihrer Verantwortung bekennen und sich für den Trümmerhaufen, den sie hinterlassen, entschuldigen? Das würde den Weg frei machen für einen Neuanfang, die Aufräumarbeiten werden allerdings Jahre dauern.

REINHOLD BECKMANN, ehemaliger Sozialarbeiter im Amt für Soziale Dienste, aus Bremen:

Auch Senatsdirektoren und Staatsräte hatten ihre Hände im Spiel, wenn es darum ging, die Kosten der Jugendhilfe zu drücken und Stelleneinsparungen durchzusetzen. Niemals hätte ein Amtsleiter dies von sich aus gewagt. Alle haben ihren Amtseid geleistet, versprochen, die Gesetze zu achten und Schaden abzuwenden. Das genaue Gegenteil haben sie getan: gesetzliche Bestimmungen durch eigene Anweisungen ausgehebelt. Ihre Fürsorgepflicht gegenüber den eigenen Mitarbeitern völlig vergessen, sie vielmehr zu Straftaten im Amt nicht nur verleitet, sondern sogar genötigt. Den sozialpädagogischen Fachkräften haben sie im Widerspruch zum Gesetz die Fachkompetenz zur Entscheidung über die Hilfegewährung entzogen und fachfremden Mitarbeitern übertragen. Der gesetzliche Anspruch der Eltern auf Hilfe in erzieherischer Not wurde mit einem Federstrich beseitigt. Der Datenschutz - die Grundlage jeder vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Hilfesuchenden - wurde den wirtschaftlichen Interessen bedenkenlos geopfert. Jede fachliche Kommunikation zwischen Amtsleitung und Fachkräften wurde total unterbunden. Alle Hinweise auf rechtswidrige Abläufe im Amt wurden stets ignoriert. Alles dies geschah nicht erst jetzt, sondern seit mindestens 1991.

taz vom 26.02.2007

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Das schlechte Gefühl beim Chef

Der Ex-Leiter des Amtes für Soziale Dienste, Jürgen Hartwig, sagt im Untersuchungsausschuss, er habe selbst zu wenig Luft gehabt, um sich um Mitarbeiter-Sorgen kümmern zu können

Von Eiken Bruhn

Der Saal ist voll. So voll, dass diejenigen, die keinen Stuhl mehr ergattern konnten, sich auf den Boden setzen oder stehen bleiben. Die meisten der Neugierigen arbeiten oder arbeiteten im Amt für Soziale Dienste und sie wollen ihren Ex-Chef sehen, der gestern als Zeuge im Untersuchungsausschuss "Kevin" vernommen wurde: Jürgen Hartwig. Seit 1983 ist der ehemalige Soldat und promovierte Erziehungswissenschaftler im öffentlichen Dienst Bremens beschäftigt, von 1999 bis 2006 leitete der 55-Jährige das Amt für Soziale Dienste. Nachdem am 10. Oktober vergangenen Jahres ein zweijähriger Junge tot im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde, wurde Hartwig vom Dienst suspendiert. Das Kind Kevin war kein unbekanntes, es stand unter Aufsicht des Jugendamtes. Die wegen des Falls zurückgetretene Senatorin Karin Röpke hatte Hartwig gebeten, sich um den Jungen zu kümmern, nachdem sie Hinweise erhalten hatte, dass das Amt seiner Arbeit nicht nachkam.

Noch bevor er Angaben zu seiner Person macht, schiebt Hartwig eine Erklärung vorweg. Als hätte er Sorge, dass er sie später vergessen könnte. "Kevins Tod hat mich sehr betroffen gemacht", sagt er. Äußerlich anzumerken ist ihm diese Betroffenheit nicht, von zehn bis 17 Uhr wird er vernommen, in der ganzen Zeit bleibt seine Stimme gleich bleibend ruhig, frei von jeglicher Emotion.

Hartwig weiß, dass ihm wenige im Raum wohl gesonnen sind, nicht wegen Kevin, sondern wegen seiner von vielen als autoritär empfundenen Amtsführung und der rigiden Umsetzung eines politisch gewollten Sparkurses. Im Untersuchungsausschuss wollen die Abgeordneten herausfinden, inwiefern der finanzielle Druck, den sie mit zu verantworten haben, Umstände begünstigen, unter denen ein Kind zu Tode kommen kann - obwohl es sogar der Senatorin bekannt ist, dass es misshandelt wird.

Ob er im Nachhinein denke, er habe in seiner Amtszeit irgendetwas falsch gemacht, wollen die Abgeordneten mehrfach von ihm wissen. "Diese Frage stellt sich mir nicht", lautet Hartwigs Antwort. Er schildert die Vielzahl der Umstrukturierungen im Amt, die er nach politischen Vorgaben "umzusetzen hatte", die Programme, die er "einführen musste". Ob er nicht mitbekommen habe, dass die Konzepte von seinen Untergebenen nicht umgesetzt wurden, dass es eine tiefe Kluft zwischen ihm und den Mitarbeitern vor Ort gab? Hartwig antwortet auf kaum eine Frage mit "ja" oder "nein". Meistens holt er zu umständlichen Erklärungen aus über "Steuerungsmodelle" und "Produktgruppen-Management". Nach zwei Stunden gesteht er erstmals etwas "selbstkritisch" ein: "Die qualitative Betrachtung im Feld durch mich hätte intensiviert werden müssen", sagt er. Und meint, dass er keine Ahnung hatte, unter welchen Umständen die Leute im Amt arbeiten und seine Vorgaben umsetzen. Allerdings treffe ihn dafür keine Schuld, erklärt er. Er selbst habe so viel zu tun gehabt, dass er dafür einfach "keine Luft" hatte. Immerhin gibt er zu, dass die Einsparungen zu viel Personal gekostet haben, eine Einsicht, die ihn aber erst in den letzten zwei Jahren ereilte. Er habe sich nie an die Presse gewandt, sondern weiter seinen Job gemacht und das Gespräch mit der Senatorin und dem Staatsrat gesucht. Offenbar ohne einschneidende Ergebnisse.

Auf die Frage, ob er gemerkt hat, dass Leute Angst vor den Gesprächen mit ihm hatten, bei denen sie ihre Arbeit legitimieren mussten, sagt er: "Man hat doch immer so ein schlechtes Gefühl, wenn man zum Chef muss, das ging mir auch so, wenn ich zum Staatsrat musste."

taz  vom 28.02.2007

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Einzelfall im fehlerhaften System 

Untersuchungsausschuss "Kevin" geht in die letzte Runde

Von Volker Junck

Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" zum Todesfall Kevin geht in die Schlussphase. Vom 27. Februar bis 1. März sind noch der suspendierte Leiter des Amtes für Soziale Dienste, Jürgen Hartwig, Heidemarie Rose, Abteilungsleiterin "Junge Menschen und Familie" in der senatorischen Behörde, Ex-Staatsrat Arnold Knigge, Ex-Senatorin Karin Röpke und ihre Amtsnachfolgerin Ingelore Rosenkötter in den Zeugenstand geladen.

Anschließend zieht sich der Ausschuss zur internen Beratung zurück und wird dann seinen Abschlussbericht vorlegen. Ohne dem Gremium vorgreifen zu wollen, kann als Ergebnis der umfangreichen Zeugenbefragungen festgestellt werden: Beim Fall Kevin handelt es sich um ein außergewöhnliches Einzelschicksal, bei dem so ungefähr alles schief gelaufen ist, was schief laufen kann. Das tragische Versagen Einzelner - allen voran des Fallmanagers - ist allerdings eingebettet in ein System der Jugendhilfe, bei dem vieles nicht stimmt. Zeugen berichteten von einem Klima der Angst, wenn die fiskalischen Zielvorgaben nicht erreicht wurden. Alle organisatorischen Umbauten in den Sozialzentren seit 2001 hätten letztlich nur das Ziel von Einsparungen gehabt.

Das bestritt der Leiter des zentralen Controllings auch gar nicht. Er berichtete vom ewigen Kampf mit den erst zwölf, dann sechs Sozialzentren, das vorgegebene Budget einzuhalten. Ständig sei mehr Geld ausgegeben worden, als im Haushalt eingesetzt war - im Jahr 2003 etwa 74 statt 64 Millionen Euro und im vergangenen Jahr auch wieder 75 Millionen statt 69,5 Millionen Euro. Vor diesem Hintergrund bekommen die positiven Meldungen aus dem Statistischen Landesamt, nach denen Bremens Einwohnerschwund endlich gestoppt sei, eine ganz andere Wertung: Die Zahlen aus dem Sozialressort belegen einen überdurchschnittlich hohen Zuzug hilfebedürftiger Familien und Einzelpersonen aus anderen Bundesländern.

Im Klartext: Das kleinste Bundesland bekommt immer mehr Probleme aus der gesamten Republik aufgehalst, für die es zahlen muss. So auch für Kevins Ziehvater, der über das Straffälligen-Hilfesystem einer privaten Organisation nach Bremen gekommen war und derzeit in der forensischen Abteilung des Klinikums Bremen Ost untergebracht ist.

Auch im Einzelfall Kevin wurde nicht gespart: Den drogenabhängigen Eltern ist alle erdenkliche Hilfe - von der Familienhebamme über eine Tagesmutter bis zur Einzelförderung des zurückgebliebenen Kindes - angeboten worden. Theoretisch gab es ein dichtes Netzwerk von ambulanten Hilfen, das allerdings zurückgewiesen wurde. Zu den großen Versäumnissen des Fallmanagers gehörte beispielsweise, dass ein schriftlicher Kontrakt, wie ihn die Dienstanweisung für den Umgang mit substituierten Eltern zwingend vorschreibt, nie geschlossen wurde. In den Akten fehlt auch der vorgeschriebene Hilfeplan.

Zu all dem hätte sich der Fallmanager vor dem Untersuchungsausschuss äußern sollen, ließ sich aber als dauerhaft krank entschuldigen. Die Parlamentarier hätten ihn zum Beispiel gern gefragt, weshalb er über Hausbesuche bei Kevins Eltern berichtete, die nachweislich nie stattgefunden haben. Da die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelt, hätte er wahrscheinlich ohnehin von seinem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch gemacht. Doch nach dem Untersuchungsausschuss steht das strafrechtliche Verfahren gegen Kevins Ziehvater an, und da wird die Justiz notfalls auf eine medizinische Begutachtung zurückgreifen, um den Fallmanager zur Aussage zu zwingen.

Der Ausschuss hat nicht nur die Aufgabe, alle Umstände bis zu Kevins Auffinden im Kühlschrank des Ziehvaters am 10. Oktober vergangenen Jahres aufzuklären, sondern stellt auch immer wieder die Frage: Wie lässt sich ein ähnlich tragischer Fall künftig verhindern? Die Sozialbehörde hat inzwischen neue Sicherungen bei Schwachstellen eingebaut. Es wurden "Dienstanweisungen zum Umgang mit Dienstanweisungen" verfügt. Ab Jahresmitte wird mit einer neuen Software endlich die elektronische Akte eingeführt. Einige dringend benötigte Stellen - zum Beispiel bei Amtsvormundschaften - wurden trotz des geltenden Stellenstops besetzt.

Doch Bremen ist und bleibt nun einmal ein Haushaltsnotlageland und kann nur versuchen, seine Ressourcen in der Jugendhilfe zu optimieren. Trotz des engen Finanzrahmens, das zeigt der Ausschuss, scheint da noch einiges möglich zu sein.

Weser Kurier  vom 17.02.2007

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Rätsel um vorgeführten Kevin

Die Stadtteilleiterin in Bremen-Gröpelingen erinnert sich an ein gesundes Kind, das ihr als "Kevin" vorgestellt wurde

Hat der Ziehvater des toten Kevin das Amt für Soziale Dienste getäuscht, indem er im April mit einem anderen, gesunden Kind zu einem Dienstgespräch kam? Die zuständige Stadtteilleiterin Ulla Hempel hat diesen bösen Verdacht entstehen lassen. "Das Kind, was ich am 20. April 2005 in meinem Dienstzimmer auf dem Schoß hatte, ist auf mich zugelaufen und hatte blau-grüne Augen", da ist sie sich sicher. Als sie nach dem Tod von Kevin ein Foto von einem Jungen mit braunen Augen in der Zeitung sah, habe sie spontan schon gedacht: Das ist nicht Kevin. Vollends ins Grübeln gekommen war sie, als ihr der SPD-Ausschussvertreter Hermann Kleen entgegenhielt: "Sie sind die einzige, die jemals Kevin haben laufen sehen." Auch die Kripo geht nach der Obduktion davon aus, dass Kevin nur krabbeln konnte. Aber die Stadtteilleiterin blieb gestern bei ihrer Aussage und verwies auf ihr gutes visuelles Gedächtnis. Sie ist diejenige, die in den Monaten nach dem April der Amtsleitung mitgeteilt hatte, Kevin gehe es gut.

Die Aussage wirft diverse Fragen auf, denn zum Beispiel waren sowohl Amtsvormund wie Casemanager dabei in der betreffenden Besprechung. Aber die hatten Kevin auch nicht so oft gesehen, das ist eines der Probleme in der von den Unternehmensberatern von Roland Berger inspirierten Organisationsform des "Amtes für Soziale Dienste": Die Mitarbeiter und Casemanager sollen vom Schreibtisch aus den Fall verwalten, die "Dienstleistungen" der freien Träger von Sozialhilfe koordinieren und auf die Kosten achten, aber Sozialarbeit im eigentlichen Sinne sollen sie selbst nicht leisten.

Der derzeit amtierende stellvertretende Amtsleiter war gestern als Zeuge vor dem Ausschuss geladen und brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, dass "zu 98 Prozent gute Arbeit gemacht wird im Amt für soziale Dienste". Nach dem Tod von Kevin herrsche eine "extreme Sensibilität", und es seien verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet worden, um Mängel der Organisationsstruktur und der Kommunikation zu besprechen. Eine funktionierende Fachaufsicht scheint es allerdings bis heute nicht zu geben - "wenn ich das per ordre de mufti mache, bringt uns das nicht weiter", sagte der Amtsleiter. kawe

taz vom 16.2.2007

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Abteilungsleiter nimmt seinen Hut

Konsequenz aus Missständen im Amt für Soziale Dienste - Suspendierter Leiter Hartwig kommt nicht zurück

Von Volker Junck

Von einem "wilden Aktionismus" als Reaktion auf den Todesfall Kevin berichteten Mitarbeiter vom Amt für Soziale Dienste (AfSD) beim Untersuchungsausschuss "Kindeswohl". Einige neue Stellen wurden genehmigt. Doch bei der Jugendhilfe liege immer noch vieles im Argen, wie es gestern Frank Lammerding beschrieb. Er ist Noch-Abteilungsleiter "Junge Menschen und Familie" sowie stellvertretender Leiter des Jugendamtes. Der hochrangige Bedienstete hat inzwischen den Job gekündigt und wechselt als Abteilungsleiter zum Landesinstitut für Schule (LIS). Dort wird er unter anderem für Qualitätssicherung und Organisation des Zentral-Abiturs zuständig sein. Als Begründung für seinen Ausstieg bei der Sozialbehörde führt er Kompetenzgerangel zwischen Ressortspitze und Amt für Soziale Dienste, zu geringe Haushaltmittel oder die schlechte Personalausstattung an. So würden vakante Stellen - wenn überhaupt - nur intern durch fachfremde Mitarbeiter aus anderen Behörden ersetzt. Auch auf der Leitungsebene seien erhebliche Defizite durch die Besetzung von freien Stellen mit Sachbearbeitern entstanden. Laut Lammerding gebe es auch immer noch recht unterschiedliche Interpretationen dazu, was ein Case-Manager (Fallmanager) eigentlich sei. Im Fall von Kevin, das stellte der Ausschuss gestern noch einmal nachdrücklich fest, war dessen Fallmanager vor allem ein Lieferant laufender Fehlentscheidungen, die zum unsagbaren Leid und Tod des Zweijährigen geführt hatten. Inzwischen ist die Position von Jürgen Hartwig, der kurz nach dem Auffinden von Kevins Leiche am 10. Oktober vergangenen Jahres von seinen Posten als Leiter des Amtes für Soziale Dienste (AfSD) und des Jugendamtes suspendiert wurde, bundesweit ausgeschrieben. Der promovierte Erziehungswissenschaftler soll einen Forschungsauftrag an der Hochschule erhalten. Da ihm bisher keine persönliche Mitschuld am Tod von Kevin oder schwere Dienstvergehen nachgewiesen wurden, erhält er seine vollen Beamtenbezüge der Besoldungsgruppe B 3 (6.172 Euro pro Monat) zumindest bis September 2009. Bis dahin läuft sein befristeter Vertrag bei der Sozialbehörde. Kommissarischer Amtsleiter ist sein Stellvertreter Frank Nerz, den der Untersuchungsausschuss gestern ausgiebig befragte. Er berichtete, gerade von einer Personalversammlung des Amtes zu kommen, auf der die Mitarbeiter ihre tiefe Verunsicherung als Folge der Berichterstattung über den Fall Kevin geäußert hätten. Die meisten von ihnen stünden unter einem enormen Arbeitsdruck. So sei auch die Anzahl der Überlastanzeigen seit dem 10. Oktober "sprunghaft angestiegen." Nerz bekannte, mitverantwortlich für die Einsparungen beim Personal gewesen zu sein. "Da wurde der Bogen überspannt, da sehe ich meinen Anteil am Tod von Kevin." Auch er forderte eine Qualifizierungs-Offensive bis in die Führungsebene des Amtes. Derzeit stünden dafür aber lediglich zwölf Euro pro Jahr und Mitarbeiter zur Verfügung. Mit Spannung wurde am Abend der zweite Auftritt der Stadtteilleiterin "Junge Menschen" im Sozialzentrum Gröpelingen /  Walle erwartet. Sie hatte beim ersten Mal angegeben, dass Kevin bei einer Fallkonferenz auf sie zugelaufen sei. Dabei blieb sie auch gestern, obwohl der Junge nachweislich nur krabbeln konnte. Damit hatte sie auch bei der Kripo den Verdacht ausgelöst, Kevins Ziehvater sei im Amt mit einem fremden Kind erschienen.

Weser Kurier  vom 16.02.2007

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Präsentierte der Ziehvater statt Kevin ein fremdes Kind?

Mitarbeiterin des Jugendamts äußert schweren Verdacht / Sozial-Staatsrat Schuster: Nicht auszuschließen - Fallmanager bleibt heute fern

Von Volker Junck

Der Fall Kevin wird immer bizarrer. Inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass der Ziehvater schon während der letzten Lebensmonate des Zweijährigen und nach dessen Tod im Mai vergangenen Jahres mit einem fremden Kleinkind unterwegs war.

Für einiges Erstaunen hatte die Aussage einer Zeugin im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" gesorgt, der Zweijährige sei während einer Fallkonferenz im Jugendamt Walle / Gröpelingen auf sie zugelaufen. Andere Zeugen hatten dagegen übereinstimmend berichtet, das stark entwicklungsgestörte Kind einer drogenkranken und HIV-infizierten Mutter sei nie gelaufen, sondern nur gerobbt.

Nun bestätigte die Zeugin gegenüber unserer Zeitung ihren auch schon bei der Kripo zu Protokoll gegebenen Verdacht, dass sie im April vergangenen Jahres nicht Kevin, sondern ein ganz anderes Kleinkind auf dem Arm gehabt habe. Dieses Kind sei völlig normal entwickelt gewesen und hatte nach ihrer Erinnerung auch eine andere Augenfarbe als der in verschiedenen Medien abgebildete Kevin.

Vor dem Untersuchungsausschuss hatte auch der substituierende Arzt von Kevins Ziehvater angegeben, den Mann im Juni vergangenen Jahres - also eindeutig nach Kevins Tod - mit einem Kind gesehen zu haben. Er könne sich aber auch irren.

Doch der Verdacht, dass der Ziehvater ein fremdes Kind zur Vertuschung von Kevins schweren Misshandlungen und der Verwahrung der Leiche in seinem Kühlschrank benutzt haben könnte, wird durch verschiedene Aussagen gestärkt. So werden dem Ziehvater ein außergewöhnliches schauspielerisches Talent und großer Trickreichtum im Umgang mit Sozialeinrichtungen bescheinigt. "Er hat uns alle reingelegt", sagte eine Zeugin vor dem Untersuchungsausschuss. Sozial-Staatsrat Joachim Schuster meinte gestern zu dem Verdacht: "Wir haben keine Beweise, können es aber nicht ausschließen". Zumindest würde es einige Ungereimtheiten erklären.

Der Mann, der heute im Untersuchungsausschuss am ehesten etwas dazu sagen könnte, wird dies nicht tun. Kevins "Fallmanager" hat dem Ausschuss mitgeteilt, dass er wegen Krankheit nicht erscheinen wird und dazu auch ein amtliches Attest vorgelegt. Er ist seit dem Auffinden der Kindesleiche im Oktober vergangenen Jahres dienstunfähig. Gegen ihn ermittelt auch die Staatsanwaltschaft.

Weser Kurier  vom 13.02.2007

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Lautstarke Vorwürfe an den Amtsleiter

Ausschuss-Vorsitzender sieht Versagen auf der ganzen Linie / Verdacht über Kindestausch erhärtet

Von Volker Junck

Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" wurde es gestern laut. Ungewöhnlich laut sogar: Der sonst um moderate Töne bemühte Vorsitzende Helmut Pflugradt nahm sich den Zeugen Erwin Böhm, Leiter des Sozialzentrums Gröpelingen / Walle, ordentlich zur Brust und warf ihm Versagen auf der ganzen Linie im Fall Kevin vor. Keine Kontrolle der ihm unterstellten Stadtteilleiterin "Junge Menschen", keine ordentliche Dienstaufsicht über den für Kevin direkt verantwortlichen Fallmanager, keine Akteneinsicht zum Drama um den Tod des Zweijährigen. Helmut Pflugradt konnte es nicht fassen, wie der Amtsleiter für den Bereich Gröpelingen / Walle den Fall so schluren lassen konnte. "Sie haben den Amtsleiter (Jürgen Hartwig) für Soziale Dienste hinters Licht geführt", donnerte er dem Zeugen am Ende einer vielstündigen Vernehmung entgegen. Die für die damalige Senatorin Karin Röpke verfasste Chronologie der Ereignisse bis zu Kevins Auffinden in der Kühltruhe des Ziehvaters am 10. Oktober vergangenen Jahres sei erlogen, weil sie auf falschen Berichten der Stadtteilleiterin Junge Menschen und Kevins Fallmanagers beruhten. "Ich musste annehmen, dass die Berichte der unmittelbar Beteiligten stimmen", verteidigte sich Böhm. Pflugradt wunderte sich auch lautstark, warum Böhm zu dem ihm bekannten Gerücht, Kevins Ziehvater habe der Behörde ein falsches Kind präsentiert, keine Aktennotiz angefertigt habe. "Das ist ja schließlich keine Kleinigkeit." Wie gestern berichtet, hatte die Stadtteilleiterin bei der Kripo angegeben, dass Kevins Ziehvater zu einer Fallkonferenz im April vergangenen Jahres ein Kind mitgebracht habe, das auf sie zugelaufen sei. Da der stark entwicklungsgestörte Kevin aber nach übereinstimmenden Aussagen nur kriechen konnte, müsse es ein fremder Junge gewesen sein. Dieser Verdacht findet sich auch in den Akten der ermittelnden Staatsanwaltschaft gegen Kevins Ziehvater. Weitere Nahrung erhielt der ungeheuerliche Verdacht gestern durch einen Hinweis von Ausschuss-Mitglied Klaus Möhle, dass Kevin laut Obduktionsbericht fast nie das Tageslicht gesehen habe. Verschiedene Menschen in Gröpelingen - so die Pastorin der evangelischen Gemeinde - haben den Ziehvater nach eigener Aussage aber des öfteren mit einem munteren Kind beim Einkaufen und auch sonst in der Öffentlichkeit gesehen. Inzwischen wurde auch bekannt, dass der Ziehvater nach dem Tod von Kevins drogenkranker und HIV-infizierter Mutter Ende 2005 eine neue Freundin mit einem Kind hatte, was zumindest den vertrauten Umgang bei der Fallkonferenz erklären würde. Auch eine nach dem Tod der Mutter eingesetzte Familienhelfern hatte keine Auffälligkeiten an dem Kind entdeckt. Laut Obduktionsbericht war Kevin bis zu seinem Tod im Mai vergangenen Jahres aufs Schwerste misshandelt worden und wies zahlreiche Knochenbrüche und Blutergüsse auf.Zu all dem wird der Ausschuss wohl die Stadtteilleiterin befragen, die für morgen Nachmittag noch einmal in den Zeugenstand geladen wurde. Bei ihrem ersten Auftritt hatte sie unter Tränen eingeräumt: "Ich bin von einem Junkie aufs Kreuz gelegt worden." Nun muss sie sich auch noch den Vorwurf gefallen lassen, für Kevins Fallmanager unstimmige Berichte geschrieben und die Dienstanweisung der senatorischen Behörde zum Umgang mit substituierten Eltern umgangen zu haben. Diese schreibt strenge Kontrollen von Eltern und Kindern auf Drogen mit Urin- oder Haarproben vor, wie gestern Herbert Holakovsky, Leiter im Referat Erzieherische Hilfen bei der senatorischen Behörde, erläuterte. Sein Chef Frank Lammerding, Abteilungsleiter Junge Menschen und Familie im Amt für Soziale Dienste, hat inzwischen seinen Abschied genommen. Der Ausschuss-Vorsitzende zitierte gestern aus einem Brief Lammerdings an alle Mitarbeiter, nach dem eine moderne Jugendhilfe bei den derzeitigen Strukturen in Bremen nicht möglich sei. Der für gestern geladene Fallmanager legte dem Ausschuss eine amtliche Bescheinigung vor, dass er krank sei. Wie sein Amtsleiter bestätigte, hatte er erhebliche Alkoholprobleme, die er aber in den Griff bekommen habe.

Weser Kurier  vom 14.02.2007

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Familienrichterin kritisiert Jugendamt

Untersuchungsausschuss "Kevin": Richterin vermisst Entscheidungsstärke bei Amts-MitarbeiterInnen 

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Mangelnde Entscheidungsfähigkeit attestierte gestern die Bremer Familienrichterin Sabine Heinke einem Großteil der MitarbeiterInnen im Bremer Jugendamt. Viele wüssten gar nicht, welche Kompetenzen sie hätten oder vertrauten der eigenen Einschätzung einer Familiensituation nicht, sagte Heinke, die seit 1978 als Juristin im Familienrecht tätig ist und vor dem Untersuchungsausschuss "Kevin" aussagte. Häufig würden die SozialarbeiterInnen sie und ihre KollegInnen fragen, was in einem Fall geschehen solle, anstatt selbst aktiv zu werden. "Dabei sind das doch die Fachleute", kritisierte Heinke. Als Juristin sei sie auf die Einschätzungen der Jugendamtsleute angewiesen, die sie in Berichten oder während einer Verhandlung einfordere. "Doch nur wenige beziehen tatsächlich eine fachliche Position", sagte Heinke.

Häufig würden die FallmanagerInnen aber auch den FamilienrichterInnen Entscheidungen überlassen, weil sie keine Hoffnung hätten, dass eine Maßnahme von den Vorgesetzten genehmigt würde. "Wenn ich das anordne, können sie nicht anders." Ein Dauerkonflikt sei etwa der begleitete Umgang, wenn Kinder ein getrennt von ihnen lebendes Elternteil nicht alleine sehen sollen. Statt direkt beim Amt darum bitten zu können, dass eine Sozialarbeiterin bei einem Treffen dabei ist, müsse erst ein Prozess geführt werden. Außerdem fehle immer noch eine verlässliche Trennungs- und Scheidungsberatung.

Nur mit Geldnot ließe sich die Untätigkeit vieler Jugendamtsmitarbeiter nicht erklären, glaubt Heinke. "Die Probleme gab es schon immer, auch vor den Sparrunden", außerdem kenne sie eine Reihe von MitarbeiterInnen, die immer noch mit Engagement die Interessen der Kinder vertreten würden. Besonders gute Erfahrungen habe sie mit dem Sozialzentrum Hemelingen gemacht. Als Positiv-Beispiele nannte sie außerdem die Jugendämter in Bremerhaven und Osterholz-Scharmbeck, in denen ihres Wissens nach klarere Hierarchien und Arbeitsanweisungen bestünden.

Der Leiter des Sozialzentrums Vahr, Erich Ernst Pawlik, gab gestern den Schwarzen Peter, der derzeit beim Jugendamt liegt, an die Abgeordneten zurück. Die Sparrunden hätten dazu geführt, dass Kinder und Jugendliche nicht das bekommen würden, was sie bräuchten, sagte er. "Dafür sind Sie verantwortlich."

taz vom 09.02.2007

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Zuständig für über 70 Fälle mit gut 130 Kindern

Gröpelinger Sozialarbeiterin sieht sich als Einzelkämpferin - "Vorgesetzte haben keinen Überblick"

Von Arno Schupp

Wie wird im Amt für Soziale Dienste die Fachaufsicht für die Fallmanager wahrgenommen? Diese Frage stand gestern im Mittelpunkt des parlamentarischen Untersuchungsausschusses "Kindeswohl". Die Antwort einer 53-jährigen Sozialarbeiterin war ernüchternd. "Die Vorgesetzten können keinen Überblick über unsere Arbeit haben. Wir sind eigentlich eher Einzelkämpfer."

Die Wochenkonferenzen der Casemanager würden sich im Sozialzentrum Gröpelingen / Walle im Wesentlichen mit der Bewilligung von kostenpflichtigen Maßnahmen beschäftigen. An die letzte Dienstbesprechung, bei der fachliche Weisungen besprochen worden sind, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Eine Fachberatung mit der Leitungsebene gebe es in Gröpelingen gar nicht, gab sie zu Protokoll.

Auch zum Austausch mit den Kollegen bleibe allenfalls "zwischen Tür und Angel" Zeit. Mehr lasse die enorme Arbeitsverdichtung im Sozialzentrum am Schiffbauerweg nicht zu. "Ich betreue 60 Kostenfälle, habe zehn Beratungsfälle sowie zehn Vorgänge aus dem Familienrecht. Das sind unterm Strich rund 130 Kinder", rechnete sie dem Ausschuss-Vorsitzenden Helmut Pflugradt (CDU) und den anderen Mitgliedern des Gremiums vor. Wo bleibe bei dieser Arbeitsbelastung noch Zeit für Gespräche mit den Kollegen? Auch eine feste Vertretungsregelung, wie sie in anderen Sozialzentren umgesetzt wird, gibt es nach Angaben der 53-Jährigen in Gröpelingen nicht - oder "nur in Notfällen". Für ein genaues Studium der betreffenden Akte fehle dann wiederum die Zeit.

Und selbst wenn die Gelegenheit da sein sollte, ist das Aktenstudium offenbar schwieirig. "Im Sozialzentrum Süd werden nicht alle Akten sauber geführt", erklärte gestern eine Mitarbeiterin der Innenrevision des Amtes für Soziale Dienste. Unübersichtliche handschriftliche Vermerke, ein nicht verlässlich funktionierendes System der Wiedervorlage sowie Akten mit inaktuelle Angaben zu einzelnen Personen machte die 33-Jährige als Mängel aus.

Beinahe Bestnoten gab sie dafür einer Akte des Casemanagers von Kevin, die sie als sehr geordnet beschrieb. Diese Akte spielte für die Innenrevisorin eine Rolle beim Ausarbeiten einer Chronologie des Falls Kevin, die den Zeitraum Januar 2004 bis Februar 2006 umfasst. Nach Kevins Tod am 10. Oktober habe sie diese Chronologie ergänzt, wobei ihr der Inhalt im Beisein des inzwischen suspendierten Amtsleiters Jürgen Hartwig diktiert worden sei.

Dass die Gröpelinger Probleme nicht alleine an den Strukturen der Sozialen Dienste liegen können, wurde gestern bei der Vernehmung eines dritten Zeugen deutlich. Der 57-jährige Fallmanager aus dem Sozialzentrum Süd klagte zwar auch über eine hohe Arbeitsbelastung, gleichwohl funktioniere die Zusammenarbeit mit der Leitungsebene, an der er "absolut keine Kritik" habe. Auch an der Kooperation unter den Fallmanagern, die ein funktionierendes Vertretungssystem praktizierten, gebe es nichts auszusetzen. Ob sich im Sozialzentrum Süd ein Kollege diesem Kreis entziehen könne, wie es Kevins Casemanager in Gröpelingen gemacht habe, wollte Pflugradt wissen. "Nein. Das kann bei uns mit Sicherheit nicht passieren."

Weser Kurier  vom 08.02.2007

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Richterin verlässt sich nicht mehr auf Atteste zur Drogenfreiheit 

Konsequente Überprüfung ergab: Bescheinigungen waren falsch - Untersuchungsausschuss fordert weitere Unterlagen an

Von Elke Gundel

"Von manchen Mitarbeitern bekommt man keinen Bericht. Nie. Die muss ich vorladen." Sabine Heinke (50), Familienrichterin, schilderte dem Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" gestern, welche Erfahrungen sie in fast 30 Jahren mit dem Jugendamt gesammelt hat. Es gebe einige Mitarbeiter, die sich engagiert für die Interessen von Kindern und Jugendlichen einsetzten. Gleichzeitig erlebe sie aber häufig Kollegen, die die Kinder, denen sie helfen sollen, gar nicht kennen. Kritik übte Heinke auch an den Berichten, mit denen die Jugendamts-Mitarbeiter ihre Anträge vor Gericht begründeten. "Eine fachliche Stellungnahme fehlt darin sehr oft." Häufig hapere es schon bei den Formalien. So vermisse sie immer wieder Angaben zum Vater, zu weiteren Verwandten und deren Lebensverhältnissen. "Hätte ich zum Beispiel gewusst, dass Bernd K. nicht der Vater von Kevin ist, wäre ich an die Sache ganz anders herangegangen." Habe sie es mit drogenabhängigen Eltern zu tun, überrede sie diese inzwischen grundsätzlich dazu, sich einer Drogenkontrolle zu unterziehen. Anordnen könne sie das nach geltendem Recht nicht. Ergebnis: Alle ärztlichen Atteste, die bescheinigten, die Süchtigen würden keine illegalen Drogen mehr nehmen, waren falsch. Sie gehe davon aus, betonte Heinke, dass die Atteste nicht wissentlich falsch ausgestellt wurden: Die Ärzte seien von den Junkies betrogen worden. "Viele geben fremden Urin ab." Sie habe den früheren Jugendamtsleiter Jürgen Hartwig mehrfach schriftlich über die Probleme informiert. "Ich habe keine Antwort bekommen." Als Kevins Mutter im November 2005 starb, habe das Jugendamt beantragt, einen Amtsvormund für den Jungen zu bestimmen. Das habe sie getan: Ein Behörden-Mitarbeiter bekam das volle Sorgerecht. Damals, berichtete Heinke, habe sie nichts über den Fall gewusst, außer: "Mutter tot, Vater im Krankenhaus, das kleine Kind im Heim." Der Antrag des Jugendamtes habe vier Zeilen umfasst, als Vater sei Bernd K. genannt worden. Rolf-Dieter von Bargen, Leiter der Innenrevision im Sozialressort, hat Kevins Schicksal für die Ressortspitze rekonstruiert. In seinem Bericht gibt er vielen die Mitschuld am Tod des Kindes - auch Sabine Heinke. Die Richterin, findet von Bargen, hätte merken müssen, dass Bernd K. nicht der "juristische Vater" war: Er taucht in der Geburtsurkunde nicht auf, und Kevins Mutter hat ihn nie als dessen Vater anerkannt. Hätte die Richterin darauf hingewiesen, so von Bargens Logik, hätte der Amtsvormund die Feststellung der Vaterschaft konsequenter betrieben - und Kevin wäre nicht wieder in der Obhut des süchtigen, gewalttätigen Bernd K. gelandet. Die Abgeordneten schüttelten den Kopf: "Ich halte das für richtig falsch, was Sie da schreiben", polterte Hermann Kleen (SPD). Schließlich habe Sabine Heinke dem Amtsvormund das volle Sorgerecht übertragen. Der habee damit alle Möglichkeiten gehabt, Kevin im Heim zu lassen und die Vaterschaft zu prüfen. Empört reagierten die Abgeordneten auch auf eine andere Information: Von Bargen hatte für seinen Bericht unter anderem mit Kevins Fallmanager gesprochen. Von diesem Gespräch wie von allen anderen gebe es Protokolle, sagte er. Die Protokolle aber sind nicht bei den Unterlagen, die das Rathaus an den Ausschuss weitergeleitet hatte. Das soll nun nachgeholt werden. Und das Rathaus, kündigte Ausschuss-Vorsitzender Helmut Pflugradt (CDU) an, erhalte einen Beschwerdebrief.

Weser Kurier  vom 09.02.2007

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Tränen, emotionale Ausbrüche und Selbstvorwürfe

Befragung der Stadtteilleiterin im Jugendamt Walle/Gröpelingen ließ viele Fragen offen - Konnte Kevin wirklich laufen

Von Volker Junck

Tränen im Untersuchungsausschuss. Mit einem hoch emotionalen Auftritt der Stadtteilleiterin "Junge Menschen" des Amtes für Soziale Dienste Walle / Gröpelingen ging gestern die Wahrheitssuche im Fall Kevin weiter. "Ich mache mir die schwersten Vorwürfe. Wie konnte das nur passieren?", schluchzte die unmittelbare Vorgesetzte des Fallmanagers von Kevin. Wie konnte es bis zum grauenvollen Tod des Zweijährigen kommen, der am 10. Oktober vergangenen Jahres im Kühlschrank seines Ziehvaters gefunden wurde? Warum wurde ein Hilfeplan ohne Erwähnung der schweren Verletzungen des misshandelten Jungen und seiner Entwicklungsstörungen aufgestellt? Warum hat Kevins Fallmanager sich nie in den wöchentlichen Fallkonferenzen geäußert? Wie ist es zu erklären, dass seine Vorgesetzte dem Amtsleiter noch von einem sich normalisierenden Leben bei dem Ziehvater berichtete, als Kevin schon längst tot war? Warum akzeptierte das Jugendamt die Ablehnung einer Tagesmutter durch den Ziehvater mit der Begründung, dass die Frau Ausländerin sei und sein Kind ein ordentliches Deutsch lernen solle? Der Ausschuss-Vorsitzende Helmut Pflugradt und die anderen Mitglieder des Gremiums stellten etliche Fragen und ernteten neben Tränen und dramatischen Ausbrüchen viel Schulterzucken bei der Zeugin. Die 51-Jährige führte die katastrophale personelle und materielle Ausstattung im Amt für ihr Versagen an. Sie verwies immer wieder auf den Amtsvormund, dem sie voll vertraut habe. Zum Erstaunen des Ausschusses stellte sie sich vor den ihr unterstellten Fallmanager, der normale Arbeit geleistet und keine Alkoholprobleme gehabt habe. Pflugradt erinnerte sie daran, dass die Innenrevision der Behörde ein ganz anderes Bild vom Fallmanager gezeichnet habe: Berge unerledigter Akten oder frei erfundene Hausbesuche bei Kevins Ziehvater. Für Verwunderung sorgte auch ihre Schilderung, dass Kevin bei einer Fallkonferenz im April vergangenen Jahres auf sie zugelaufen sei. Hermann Kleen: "Sie sind die einzige, die Kevin jemals laufen gesehen hat." Bisher hätten alle Zeugen berichtet, dass der als Frühchen einer drogenkranken und HIV-infizierten Mutter geborene Junge nur krabbeln konnte. Auf die Frage von Klaus Möhle, wie es zu einer so gravierenden Fehleinschätzung von Kevins Ziehvater kommen konnte, brach es aus der Zeugin heraus: "Er hat uns alle geleimt und mit seinem schauspielerischen Talent gegeneinander ausgespielt." Dabei habe er allerdings auch auf die Unterstützung seines substituierenden Arztes Detlef Schäfer bauen können. Der sei nicht nur Arzt, sondern auch Vertrauter gewesen. Als Beispiel für das Lügengebäude von Kevins Ziehvater führte sie dessen Geschichte vom Tod seines Vaters und den Besuchen bei der trauernden Mutter in der Nähe von Kassel an. Deshalb sei sie ziemlich fertig gewesen, bei einer Nachfrage im September vergangenen Jahres den durchaus lebendigen Vater am Telefon zu haben und von der Mutter zu erfahren, dass ihr Sohn seit Weihnachten nie mehr da gewesen sei, weil er seinen Halbbruder zusammengeschlagen hatte. "Passen Sie gut auf sich auf, sonst macht er ein Sieb aus Ihnen", habe die Mutter sie noch gewarnt. "Und was ist nach dem 10. Oktober passiert, als Kevin tot im Kühlschrank gefunden wurde?", wollte der Ausschuss wissen. "Ein ganzer Stadtteil in Hysterie", antwortete die Zeugin. Jeder habe jeden wegen Kindesmisshandlung angezeigt. Sie selbst sei nicht nur im Amt, sondern auch Zuhause bedroht und beleidigt worden. Das Schicksal Kevins verfolge sie unaufhörlich, weshalb sie froh sei, nun eine andere Aufgabe zu erhalten.

Weser Kurier  vom 02.02.2007

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Ging Budgetplanung vor Kindeswohl?

Innenrevision durchleuchtet Amtsstrukturen im Fall Kevin - Auch die Vorgesetzten des Fallmanagers haben versagt

Von Rose Gerdts-Schiffler

Mit Spannung wird am kommenden Donnerstag die Zeugin Ulla H. vor dem Ausschuss "Kindeswohl" in der Bürgerschaft erwartet. Als Stadtteilleiterin war sie die direkte Vorgesetzte von Kevins Fallmanager. In einem vertraulichen Bericht der Innenrevision wird der Stadtteilleiterin "eine gefilterte und unvollständige" Berichterstattung vorgeworfen.

Auf 90 Seiten analysiert der Innenrevisor die "Verwaltungsstrukturen und Ablaufprozesse" im Bereich der Erziehungshilfen unter Berücksichtigung des tragischen Endes des kleinen Jungen. Lediglich eine Seite widmet er dem Amtsvormund von Kevin.

Es sei unverständlich, warum dieser keine Vaterschaftsfeststellungsklage eingereicht habe, wunderte sich der Revisor. Die Antwort gab eine nichtöffentliche Sitzung des Ausschusses. Dort erfuhren die verblüfften Mitglieder kürzlich, dass der Amtsvormund sehr wohl wusste, dass Bernd K. nicht Kevins leiblicher Vater war. Detlef Schäfer, Arzt von Bernd K., gab an, er habe den Amtsvormund persönlich darüber informiert.

Dennoch blieb der Junge nach dem ungeklärten Tod seiner Mutter weiter in der Obhut von Bernd K. Als "nicht nachvollziehbar" wertete der Revisor die Begründung für diese Entscheidung des Amtsvormundes. Dieser hatte ausgeführt, der Mann sei ansonsten selbstmordgefährdet.

Verwunderung und Kritik klingen auch hinsichtlich der Rolle von Ulla H. durch. Die Stadtteilleiterin war laut Aktenlage seit Februar 2006 in den Fall Kevin eingebunden. "Es fällt auf, dass die von ihr verfassten Berichte nicht immer vollständig den tatsächlichen Sachverhalt widerspiegelten", schreibt der Revisor. So habe sie dem Amtsleiter mitgeteilt, dass Kevin im Programm "Frühe Hufen" betreut werde. Zugleich verschwieg die Stadtteileiterin jedoch, dass die Eingangsuntersuchung für die "Frühen Hufen" gar nicht stattgefunden hatte, da Bernd K. gleich drei Termine versäumt hatte und somit die Unterstützung für den kleinen Jungen gar nicht anlaufen konnte.

Selbst nachdem sie erfahren hatte, dass Bernd K. das Amt von hinten bis vorne belogen habe, dauerte es noch vier Wochen, bis Kevin endlich aus der Wohnung geholt werden sollte, rügt der Prüfer.

Kritik auch am Sozialzentrumsleiter: Bernd K. sei eine "tickende Zeitbombe", hatte sein Arzt Detlef Schäfer in einem Schreiben an den Sozialzentrumsleiter gewarnt und auf die prekäre finanzielle Situation des Mannes hingewiesen. "Aus der Akte geht nicht hervor, dass der Sozialzentrumsleiter auf diese bedrohliche Situation reagiert hat", heißt es in dem Bericht.

In dem Prüfbericht findet sich auch ein Schriftstück von September 2005, das zu belegen scheint, dass das Kindeswohl der Budgetplanung untergeordnet wurde und nicht anders herum. Es handelt sich um einen Brief an die Fallmanager: "Liebe Kollegin, lieber Kollege, bis zum Jahresende gibt es keine stationären Heimaufnahmen mehr. Neufälle werden nur nach Fallgruppe 1 genehmigt " (geringerer Unterstützungsbedarf als Fallgruppe 2, Anm. der Redaktion). Als Begründung heißt es in dem Brief lapidar, dass die "vereinbarten Zielvorgaben zwischen Amtsleiter und Sozialzentrumsleitung" nicht eingehalten werden konnten.

Weser Kurier  vom 31.01.2007

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"Brutalität" vom Amts wegen

"Wir sind gedrillt worden, auf Kosten zu gucken": Wie die Sparvorgaben im Amt für Soziale Dienste durchgesetzt wurde, das berichteten gestern Zeugen vor dem Untersuchungsausschuss Kindeswohl

Von Klaus Wolschner

"Es war ein Alptraum", "nicht auszuhalten". Mit diesen Worten beschrieb die Leiterin der Abteilung "Wirtschaftliche Hilfen" im Sozialzentrum Gröpelingen / Walle, Marianne Riesenberg, gestern vor dem Untersuchungsausschuss "Kindswohl" die Controlling-Sitzungen im Amt für Soziale Dienste. Amtsleiter Jürgen Hartwig habe die Sparvorgaben durchgesetzt - rücksichtslos. "Dafür habe ich ihn gehasst." Oft sei sie heulend aus den Controlling-Sitzungen herausgegangen, berichtete sie, und gesagt: "Das kann Bremen doch nicht wollen, eine Sozialpolitik in dieser Brutalität." Gesetzlicher Auftrag der sozialen Dienste? "Jetzt hieß es Budget!" Wer behauptet, es sei nicht um die Kosten gegangen? "Wir sind gedrillt worden, auf Kosten zu gucken", formulierte Riesenberg.

Sozialarbeiter L., der zuvor als Zeuge vernommen wurde, hatte berichtet, seit dem Tod von Kevin sei alles anders geworden. Notwendige kostenträchtige Hilfsmaßnahmen gingen ohne Probleme durch. Der Bürgermeister habe gesagt, Geld dürfe da keine Rolle spielen. Das Hermann-Hildebrand-Haus für die Notunterbringung von Kindern, das 2005 einen dramatischen Rückgang an zugewiesenen Kindern verzeichnen hatte, sei übervoll.

Sehr konkret beschrieb L., wieso die Mitarbeiter im Amt so unzufrieden mit dem Zustand ihrer Institution nach diversen Strukturreformen sind: Früher habe er einen kleinen Bezirk gehabt, habe dort präsent sein können und seine Problemfamilien gekannt. Er habe sogar mal einen Jugendlichen mit zu sich nach Hause genommen, wenn der für einen Tag versorgt werden musste. Sozialarbeit sei eben "Beziehungsarbeit". Heute sei er "Case Manager" - "leider". Zu zwei Dritteln müsse er am Schreibtisch arbeiten, Tabellen ausfüllen, Anträge schreiben. Die konkrete Sozialarbeit müsse er an freie Träger delegieren. "Das ist eine Sache, die mir nicht passt." Das Wort "Hausbesuche" sucht man in den Dienstanweisungen für "Case Manager" vergeblich.

Offenbar ist L. nicht der einzige, der die derzeitige Organisationsform innerlich ablehnt. Teilweise haben sich alte Arbeitsstrukturen informell erhalten, Fachaufsicht "brauche ich eigentlich nicht", sagte L. Und er lehne es ab, bei der fachlichen Beurteilung von Maßnahmen die Kostenschere im Kopf zu haben. Aber es sei eben so, "dass wir uns damit auch infiziert haben", bekannte er.

Als der Tod von Kevin bekannt wurde, habe er einen Antrag auf vorzeitigen Ruhestand gestellt, weil ihm klar geworden sei, dass er eigentlich nicht verantworten wolle, was er jeden Tag nicht tun könne.

Wie der Kostendruck vom zuständigen Staatsrat Arnold Knigge ins Sozialamt kam, das schilderte anschließend Marianne Riesenberg. Wenn etwa in Tenever die Krause-Wohnungen abgerissen würden, berichtete sie, frage niemand, wohin die Menschen zögen: nach Gröpelingen, weil es da preiswerten Wohnraum gebe. Dann stiegen dort die Fallzahlen an - und in der Controling-Sitzung werde das den dortigen AbteilungsleiterInnen als persönliches Versagen vorgehalten. Riesenberg war gestern noch empört darüber. "Ich bin keine Versagerin", versicherte sie dem Ausschuss, "soll ich denn das Trinkwasser vergiften in Walle?"

Amtsleiter Hartwig habe noch ein anderes Druckmittel zur Senkung der Fallzahlen gehabt: Vakante Stellen wurden nicht oder nicht so schnell besetzt.

taz vom 01.02.2007
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Wer schützt das Sozialamt vor dem Sparzwang?

Der Fall Kevin hatte System

Beobachter des Untersuchungsausschusses Kevin haben ab und an darüber spekuliert, ob am Ende die Schuld für die schlimme Kindesmisshandlung von Staats wegen nur den kleinen Mitarbeitern angelastet werden.

Kommentar von Klaus Wolschner

Nach dem gestrigen Vernehmungstag sind solche Befürchtungen gegenstandslos. Da ist eine Referatsleiterin mit einer Klarheit und einem beeindruckenden Engagement aufgetreten. Und einer bewundernswerten Vorstellung von der Aufgaben einer Führungskraft. Und nachdem sie den Ausschuss auf diese Weise für sich eingenommen hatte, beschrieb sie die politisch gewollte Struktur, die die Sozialarbeit in Bremen vor die Hunde gehen ließ. Selbst der Amtsleiter, den sie für seinen Job "gehasst" habe, habe eben nur perfekt funktioniert für seine Auftraggeber, erklärte sie dem Ausschuss. Der Ausschussvorsitzende war so perplex von diesem Vortrag, dass er nur kurz meinte: "Ich habe keine Fragen mehr."

Noch hat niemand ausgerechnet, was das Wort des Bürgermeisters "Auf Geld darf es nicht ankommen" in der Umsetzung durch die Sozialzentren in den letzten Monaten gekostet hat. Die Stunde der Wahrheit für die Parlamentarier kommt aber, wenn der Sozialhaushalt 2007 um den erforderlichen Betrag korrigiert werden muss.

taz vom 01.02.2007

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Morgens mit Bauchschmerzen zur Arbeit

Personalratsmitglied Wolfgang Klamand berichtete Ausschuss von einem "verheerenden Klima" im Bereich Ambulante Dienste

Von Rose Gerdts-Schiffler

Mehrfach fiel gestern im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" der Name der verstorbenen Sozialsenatorin Hilde Adolf. "Seit ihrem Tod wurde im Amt nicht mehr inhaltlich entschieden, sondern hauptsächlich nach fiskalischen Gesichtspunkten", sagte Wolf gang Klamand, Personalratsmitglied im Amt für Soziale Dienste.

Über drei Stunden lang gewährte der frühere Sozialarbeiter den Ausschussmitgliedern tiefe Einblicke in den Sozialdienst Junge Menschen. So habe eine Mitarbeiterbefragung bereits vor einigen Jahren ergeben, dass das Klima nicht nur schlecht, sondern "verheerend" sei. Damals hätten 71 Prozent keine Perspektive mehr für sich im Amt gesehen. " Ging es dabei um einen möglichen beruflichen Aufstieg ?", will der Vorsitzende Helmut Pflugradt von dem Zeugen wissen. Doch der winkt ab. "Es ging im wesentlichen darum, nicht morgens mit Bauchschmerzen zur Arbeit und nachmittags mit Kopfschmerzen wieder nach Hause zu gehen." Das Ergebnis der Befragung sei auch deshalb so fatal gewesen, weil Sozialarbeit von der hohen Motivation des Einzelnen lebe. Doch eben diese habe drastisch gelitten. So hätte es im Jahr 2001 im Bereich "Ambulante Dienste Junge Menschen" noch 150 Stellen gegeben. "Heute sind es noch 103 Stellen." Viele Teilbereiche der Arbeit seien privatisiert und ausgegliedert worden. "Das wurde den Mitarbeitern als Arbeitsentlastung verkauft. Doch viele Sachbearbeiter sagen, dass sie mehr Arbeit haben als zuvor." So räumte der 57-Jährige auf Nachfrage unumwunden ein, dass bei Krankheit keine tägliche Erreichbarkeit der Fallmanager oder seines Teams gewährleistet sei.

Der Sozialarbeiter von heute solle als Fallmanager die Hilfen für die Familien koordinieren und dazu auf ein Netz von Trägern zurückgreifen können. Ein theoretisches Konstrakt, das nach Ansicht von Klamand nicht viel mit der Bremer Wirklichkeit zu tun habe. Viele seiner Kollegen - aber auch einige Vorgesetzte aus den Sozialzentren - hätten immer wieder signalisiert, dass das "Fallmanagement" so nicht funktioniere. Denn: "Sozialarbeit ist Beziehungsarbeit und lebt von persönlichem Kontakt zu den Klienten", betonte das Personalratsmitglied und fügte hinzu: "Wir kannten früher unsere Familien im Stadtteil, konnten präventiv eingreifen und mussten nicht vom grünen Tisch aus arbeiten und entscheiden." Doch alle quaüfizierten Stellungnahmen zu den Umstrukturierungen seien im Sande verlaufen. Ebenso wie die Überlastungsanzeigen seiner Kollegen. "Die Amtsleitung hat solche Anzeigen zurück an die Leiter der Sozialzentren geschickt, und dann wurden nur die Arbeitsabläufe der Sachbearbeiter überprüft." Mehr Personal habe es nicht gegeben.

Nach dem Tod der früheren Sozialsenatorin Hilde Adolf hätten sowohl der Personalrat als auch die Mitarbeiter im Amt hauptsächlich mit Staatsrat Arnold Knigge zu tun gehabt. "Dem ging es mehr um fiskalische als um inhaltliche Themen." Damit seien Sparvorgaben erfüllt worden, die zuvor von der Politik beschlossen worden seien, wandte sich der Zeuge an die Politiker der unterschiedlichen Parteien im Ausschuss.

Von dem früheren Amtsleiter Jürgen Hartwig hätten sich die Mitarbeiter jedoch gewünscht, dass er ab einem bestimmten Punkt der Sparvorgaben gesagt hätte: "Bis hierhin und nicht weiter."

Weser Kurier  vom 31.01.2007

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"Hartwig vertrat brutale Sozialpolitik"

Führende Mitarbeiterin eines Sozialzentrums kritisiert ihren mittlerweile suspendierten Amtsleiter

Von Rose Gerdts-Schiffler

An Courage mangelt es dieser Frau nicht. Gebannt lauschten gestern die Mitglieder des Untersuchungsausschusses "Kindeswohl" den temperamentvollen Ausführungen einer Mitarbeiterin aus dem Sozialzentrum Gröpelingen / Walle. Für die Controllinggespräche mit ihrem Amtsleiter Jürgen Hartwig fand Marianne R. nur eine Bezeichnung: " Der Albtraum." Während die Referatsleiterin für wirtschaftliche Hilfen spricht, schlägt sie immer wieder mit der Handkante auf den Tisch. 25 Mitarbeiter sind ihr unterstellt. "Und ich will, dass es denen gut geht. Denn nur dann können Menschen gut arbeiten." Die Belastung im Amt sei aber so mörderisch, dass man nicht gesund alt werden könne. "Das ist doch pervers", ereifert sich die Zeugin. Auch der damals geforderte Umgang mit den Klienten regt sie bis heute auf. Als Marianne R. (51) von Hermann Kleen (SPD) gefragt wird, wie ihr Verhältnis zum inzwischen suspendierten Amtsleiter Jürgen Hartwig war, sucht sie lange nach Worten. "Herr Hartwig hat seinen Job perfekt gemacht", tastet sie sich mühsam an ein offenbar hoch emotionales Thema heran. "Aber er stand für eine brutale Sozialpolitik." In den Controllinggesprächen mit ihm hätten sich die Vertreter des Sozialzentrums "wie auf der Anklagebank" gefühlt, wenn einmal wieder mehr Kinder als geplant in teure Maßnahmen untergebracht werden mussten. Ende April 2006 hatte die Referatsleiterin ihre erste und einzige Begegnung mit Kevins Ziehvater Bernd K. Der Name des drogenabhängigen Mannes habe mit 170 anderen auf einer so genannten Krankenkassenliste der Bagis (Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales) gestanden. Alle seien als erwerbsunfähig eingestuft worden. Bernd K. sei einer der wenigen gewesen, die sich gegen diesen Status gewehrt hätten. "Und er hatte Recht. Schließlich hatte die Bagis ihn damit von jeder Förderung abgeschnitten." An dem Freitagnachmittag vor dem langen Mai-Wochenende 2006 habe Bernd K. völlig aufgelöst vor ihr gestanden. Ihm sei der Schweiß in Strömen ausgebrochen, und er habe immer wieder gestammelt, dass er endlich dringend Geld brauche. Zu dem Zeitpunkt hatte die Bagis die Zahlungen an Bernd K. eingestellt. "Dabei waren die verpflichtet, zu zahlen", erinnert sich Marianne R. wütend. Als die Referatsleiterin erfuhr, dass Bernd K. zu Hause auch noch ein Kind zu versorgen hatte, nahm sie sich kurzentschlossen des Falles an und fand schließlich in einem der Büros auch noch einen Ansprechpartner. Wenig später hielt Bernd K. eine Chipkarte für einen Geldautomaten in der Hand. "Ich habe anschließend die Bagis-Leitung aufgefordert, dass so etwas nicht noch mal passieren darf." Der Teamleiter der Bagis, Stefan G., sollte gestern die Argumentation seiner Behörde vortragen, meldete sich aber krank. Wie berichtet, hatte die Bagis Kevins Ziehvater vom 1. bis zum 28. April kein Arbeitslosengeld II mehr überwiesen. Er und Kevin waren somit in dieser Zeit völlig mittellos. Inwieweit die finanzielle Krise eine Rolle bei Kevins Tod spielte, ist noch offen. Laut Obduktionsbericht soll Kevin zwischen Ende April und Anfang Mai an den Folgen von diversen Misshandlungen gestorben sein. Während der Teamleiter der Bagis krankheitsbedingt passen musste, sagte ein 62-jähriger Fallmanager aus dem Bremer Westen aus. Deutlich distanzierte sich der erfahrene Sozialarbeiter von dem Begriff und vor allem der Arbeitsweise des heutigen "Casemanagers". Die Organisationsform sei den Sozialarbeitern übergestülpt worden. "Früher habe ich zwei Jungs, deren Mutter plötzlich ins Krankenhaus musste, einfach mal mit nach Hause genommen. So eine Beziehungsarbeit gibt es nicht mehr. Heute sitzen wir fast nur noch am Schreibtisch und schieben Hilfen hin und her."

Weser Kurier  vom 01.02.2007

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"Es hat niemanden interessiert"

Amtsvormund war für 230 Kinder zuständig - Mitarbeiter schlugen vergeblich Alarm

Von Rose Gerdts-Schiffler

Der ehemalige Amtsvormund von Kevin ist gestern von einem regelrechten Blitzlichtgewitter im Haus der Bürgerschaft empfangen worden. Nicht gekommen war dagegen der stark in die Kritik geratene Fallmanager. Er hatte angekündigt, nicht aussagen zu wollen und ein ärztliches Attest vorgelegt, um sich den kurzen, öffentlichen Auftritt ganz zu ersparen.Gegen beide Männer laufen zur Zeit strafrechtliche Ermittlungen. So erklärte denn auch der 64-jährige Amtsvormund in Begleitung seines Anwaltes Gerhard Baisch, dass er über Kevin keine Aussagen vor dem Ausschuss machen wolle. Spannend wurden seine Ausführungen dennoch.Im März 2000 hatten Amtsvormünder aus ganz Deutschland auf einer Fachtagung in Ostdeutschland Standards für ihre Arbeit formuliert. Von den Leitlinien der "Dresdner Erklärung", konnten die Bremer Amtsvormünder aber nur träumen. So heißt es darin: "Eine persönliche Beziehung zum Mündel ist unablässig." Um dies gewährleisten zu können, sollte ein Vormund nicht mehr als 50 Fälle betreuen. Andernorts, so der 64-Jährige gestern, würden Fallzahlen zwischen 60 und 70 Kindern noch als akzeptabel angesehen. In Bremen betreuten die drei Amtsvormünder mit 2,75 Stellen jedoch insgesamt 640 Mädchen und Jungen. "Bei 95 Prozent dieser Kinder ging es um den Entzug des Sorgerechts - also keine leichten Fälle", betonte der Sozialpädagoge, der versetzt wurde und zur Zeit keine Mündel mehr betreut. Zuletzt habe er rund 230 Fälle auf dem Tisch gehabt. Ruhig schilderte der Mann, wie oft seine Kollegen und er die Amtsleitung auf die Missstände aufmerksam gemacht hätten. "Wir haben allen nur denkbaren Gremien gesagt, dass dies zu viele Mündel pro Person sind. Wir haben Überlastungsanzeigen geschrieben und es öffentlich dem Amtsleiter auf einer Personalversammlung vorgehalten - aber es hat niemanden interessiert." Heftiges Nicken seiner beiden Kollegen, die gestern Nachmittag als Zuhörer mit im Raum saßen. Mit so vielen Mündeln habe er sich auf die Fallmanager und die beteiligten Institutionen verlassen müssen, sagte der 64-Jährige. Insgesamt habe er mit 104 Einrichtungen wie dem Familiengericht, Schulen, Vereinen sowie Freien Trägern in Kontakt gestanden. Da den Amtsvormündern keine Schreibkraft zur Verfügung stehe, habe er den halben Tag am Computer zugebracht, um alle Vorgänge festzuhalten. Ein Gutachten des Bremer Erziehungswissenschaftlers Jürgen Blandow mit Vorschlägen, wie Amtsvormünder entlastet werden könnten, sei in "schwarzen Löchern" des Amtes verschwunden. Nach einem erneuten kritischen Vorstoß einer Kollegin habe ihn der frühere Amtsleiter Jürgen Hartwig mit den Worten angesprochen: "Jetzt kann ich Ihre Nörgelei etwas besser verstehen." Geändert habe sich aber nichts. Das scheint erst jetzt der Fall zu sein. So hatte, wie berichtet, Sozialstaatsrat Joachim Schuster Anfang Januar angekündigt, die 2,75 Stellen der Bremer Amtsvormünder auf 6,5 Stellen aufzustocken. Anschließend hörte der Ausschuss noch eine 57-jährige Fallmanagerin aus dem Bremer Westen. Auch sie sprach von einer großen Arbeitsbelastung, die den Mitarbeitern keine Zeit lasse, Akten von Kollegen vor einem Hausbesuch durchzusehen oder die eigenen Akten bis in alle Details ordentlich zu führen. Sie selber sei nur halbtags beschäftigt: "Mehr könnte ich nicht verarbeiten."

Weser Kurier  vom 18.01.2007

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Familienrichterin kritisiert Jugendamt

Bert K. hatte das Sorgerecht für Kevin und überließ ihn einem Fremden. "Kein Einzelfall", sagt die Familienrichterin
Binnenschiffer war er, bei der Marine diente er, dann das Studium. "Diplom-Sozialarbeiter" sei er, gab Bert K. gestern vor dem Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" an, und bis vor kurzem hatte der 64-Jährige als Amtsvormund das Sorgerecht für etwa 240 Bremer Kinder und Jugendliche inne. Auch für Kevin, den Polizeibeamte am 10. Oktober tot im Kühlschrank seines Ziehvaters Bernd Kk. fanden.

Warum der Vormund, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen Verdachts auf Vernachlässigung der Fürsorgepflicht ermittelt, den Jungen monatelang seinem Ziehvater überließ, ist unklar. Gestern vor dem Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" verweigerte er dazu jede Aussage. Klar dagegen ist: Der Ziehvater war - entgegen seiner Behauptungen - weder biologischer noch rechtlicher Vater Kevins. Und als Pflegevater wäre er niemals in Frage gekommen.

Der Amtsvormund, dem das Familiengericht nach dem Tod von Kevins Mutter im November 2005 das Sorgerecht übertrug, hätte den Umgang des Ziehvaters mit Kevin demzufolge jederzeit und sogar ohne jeden Gerichtsbeschluss unterbinden können. Zweifel am Vater-Status von Bernd K. kamen dem Amtsvormund allerdings erst im Frühjahr 2006. Der Ziehvater müsse seiner Vaterschaft beurkunden lassen, andernfalls wolle er eine Aberkennungsklage einreichen, hält der Vormund da fest. Weder das eine noch das andere geschah. Im Sommer 2006 erkennt der Vormund, dass der Ziehvater gar nicht der Vater Kevins ist - weswegen auch die von ihm geplante Klage auf Aberkennung der Vaterschaft keinen Sinn machte. Kevin ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot.

Als weder rechtlicher noch biologischer Vater habe Bernd K. eigentlich "null Besitzrecht am Kind" gehabt, sagt Sabine Heinke, die Familienrichterin, die den Fall betreute. Fehlentscheidungen im Sorge- und Umgangsrecht, die auf mangelnden Informationen beruhten, seien allerdings "kein Einzelfall". Schuld daran sei unter anderem das Bremer Jugendamt, das häufig "keine ordentlichen Infos" liefere, was Elternschaften und Verwandtschaften angehe. "Die achten da nicht drauf, kucken da nicht hin", klagt Heinke, es gebe "kein systematisches Vorgehen" und "keine vernünftigen Datenstammblätter" für die Kinder mit Informationen über Eltern und Verwandte - "ein Saftladen."

Bert K. verwies gestern auf die hohe Arbeitsbelastung der Amtsvormünde in Bremen. Klagen darüber seien stets auf taube Ohren gestoßen. sim

taz vom 18.01.2007

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Akten blieben nach "Super-Gau" vier Wochen liegen

Vorgesetzte von Kevins Fallmanager geraten zunehmend in die Kritik - Fälle des Amtsvormundes sind bis heute nicht überprüft

Von Rose Gerdts-Schiffler

Das Versagen der Behörde im Fall Kevin ging, so scheint es, weit über den Tod des kleinen Jungen hinaus. Am 10. Oktober wurde sein Leichnam im Kühlschrank des Ziehvaters gefunden. Am selben Tag machte der Begriff vom "Super-Gau" im Amt die Runde. Doch es dauerte noch vier Wochen, bis jemand die übrigen Akten des Fallmanagers überprüfte. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" hatte gestern den Innenprüfer Gisbert Tümmel als Zeugen geladen. Der erfahrene Verwaltungsangestellte hatte am 6. November vergangenen Jahres damit begonnen, alle Akten von Kevins Fallmanger zu sichten, zu sortieren und zu bewerten. Wie berichtet, sah er in elf Fällen "dringenden Handlungsbedarf. " Wiederholt hakte Hermann Kleen (SPD) nach, wann dem 45-jährigen Prüfer die Tragweite des Falles Kevin klar geworden sei. "Am selben Tag, als Kevin tot aufgefunden wurde", lautete die prompte Antwort. Drei, vier Mal habe er die Akte durchgeblättert und sofort bemerkt: "Das ist ein Super-Gau". So sei den Verantwortlichen schnell klar gewesen, dass der zuständige Fallmanger an vielen Stellen höchst unprofessionell oder gar überhaupt nicht gehandelt habe. Fassungslos stellte Kleen fest: "Dennoch hat fast vier Wochen keine aktive Durchsicht der anderen Akten stattgefunden." Zögernd nickt der 45-jährige Zeuge und versucht das fehlende Handeln mit einem Schock aller Beteiligten zu erklären. Kevins Akte liefere noch einen der am besten dokumentierten Fälle des Sachbearbeiters, sagte Tümmel dann. Bei anderen Kindern sei Post nicht bearbeitet oder beantwortet worden, Hilfepläne von den Eltern nicht unterschrieben oder Formblätter nicht komplett ausgefüllt worden. In 19 seiner insgesamt 78 Fälle war der Sachbearbeiter nie tätig. Andere Akten hatte er nicht an Kollegen weitergereicht, obwohl diese ab einem bestimmten Alter für die Kinder zuständig gewesen seien. Tümmels vernichtendes Fazit: "Der Casemanager hat keine aktive Fallsteuerung betrieben, sondern nur ereignisbezogen reagiert. Und das sogar oft nur nach wiederholten Mahnungen." Mit anspruchsvolleren Fällen sei er nicht klar gekommen. Auf Drängen des Ausschussvorsitzenden Helmut Pflugradt rang sich Tümmel zu der Aussage durch, dass der Vorgesetzten des Mannes "solche Missstände eigentlich nicht über zwei Jahre hätten verborgen bleiben dürfen". Auch die Tatsache, dass der Fallmanager nie einen problematischen Fall im Team vorgestellt habe, hätte auffallen müssen. Mehrfach unterstreichen sich die Journalisten das, was dann kommt: "Eine Regelprüfung hat im Sozialdienst Junge Menschen nie stattgefunden." Selbstkritisch merkte Tümmel an, dass ihm dies als Mitarbeiter der Innenprüfung nicht aufgefallen sei. Mit Kopfschütteln quittierten die Ausschussmitglieder am Ende der Befragung, dass die Fälle von Kevins Amtsvormund bis heute nicht überprüft wurden. Das Argument, gegen den Mann liefen zur Zeit strafrechtliche Ermittlungen, lassen sie nicht gelten: "Schließlich geht es doch um weitere mögliche Kindeswohlgefährdungen. "

Weser Kurier  vom 17.01.2007

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Kevin nicht allein - weitere Kinder betroffen

Innenrevisor Gisbert Tümmel stellt gravierende Mängel in der Arbeitsweise von Kevins Sozialarbeiter fest

Von Nina Kim Leonhardt

Der Innenrevisor des Amtes für Soziale Dienste, Gisbert Tümmel, entdeckte 15 weitere Akten von Kindern, bei denen dringend notwendige Hilfsmaßnahmen unterblieben. Er war nach dem Fund von Kevins Leiche damit beauftragt, alle 79 Akten des zuständigen Fallmanagers zu prüfen und wurde gestern vom parlamentarischen Untersuchungsausschuss dazu befragt.

Tümmel stellte in seinem Bericht gravierende Mängel in der Aktenführung und Arbeitsweise des Fallmanagers fest. Viele Dokumente waren doppelt vorhanden, vorgegebene Formblätter waren unvollständig ausgefüllt und Akten nicht ordnungsgemäß weitergeleitet worden. Sobald die Kinder das Alter von 12 Jahren überschritten und damit nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich des Sozialarbeiters fielen, wurden ihre Akten nicht mehr von ihm bearbeitet. Der Fallmanager habe zudem durchgängig Angaben Dritter vertraut und sich kein eigenes Bild von der Situation der Kinder verschafft. Er sei immer nur dann aktiv geworden, wenn andere Ämter oder SozialarbeiterInnen an ihn herangetreten seien. Je komplexer der Fall, so Tümmel, desto mangelhafter die Bearbeitung seitens des Fallmanagers.

Wie es möglich war, dass dieser über Jahre hinweg so chaotisch arbeiten konnte, ohne dass es jemandem auffiel - trotz wöchentlicher Konferenzen sowie der Dienstaufsichtspflicht der Sozialbehörde - konnte auch Tümmel nicht beantworten. Das Amt sei über sich selbst erstaunt. Die sonst üblichen Regelprüfungen hätten im Sozialdienst für junge Menschen "nicht stattgefunden", weil die Prüfungen anlässlich konkreter Beschwerden so häufig vorkamen, sagt Tümmel. Bei Stichproben wäre eventuell aufgefallen, dass der Sozialarbeiter sogar Polizeiberichte über unhygienische Wohnverhältnisse und plötzlichen Kindstod in einer anderen Familie ignorierte. Tümmel selbst hatte nach seiner Revision einige der schwierigen Fälle an andere Sozialarbeiter weitergeleitet. Von den restlichen Akten sei anzunehmen, dass sie jetzt von der Nachfolgerin von Kevins-Fallmanager bearbeitet würden. Weitere Maßnahmen, zum Beispiel zur Verbesserung der internen Kommunikation, seien ihm noch nicht bekannt.

taz vom 17.01.2007

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"Familiensituation ist wichtig"

Dafür, dass durchs Sparen in Bremen das Kindeswohl gefährdet ist, sieht Helmut Pflugradt (CDU) "keine Anhaltspunkte".

Der Vorsitzende des Kevin-Untersuchungsausschusses im taz-Interview 

Interview: Eiken Bruhn

taz: Herr Pflugradt, der Untersuchungsausschuss geht in die dritte Woche. Wie zufrieden sind Sie mit dem Verlauf?

Helmut Pflugradt: Zufrieden ist nicht das richtige Wort. Bei vielem, was ich bisher gehört habe, ist deutlich geworden, dass an vielen Stellen eine Dienstaufsicht fehlt und dass die Kooperation und Koordination zwischen den Dienststellen nicht funktioniert. Zum Beispiel zwischen der PiB (Pflegekinder in Bremen, Anm. d. Red.) und Jugendamt oder Bewährungshilfe und Jugendamt. Da gab es im Fall Kevin viele Puzzle-Teile, die nicht zusammengesetzt wurden.

Aber es läuft doch darauf hinaus, dass der verantwortliche Fallmanager alles wusste - und nichts unternommen hat.

Das ist richtig, aber ein solches individuelles Versagen ist nur bei strukturellen Mängeln möglich, wie ich sie gerade geschildert habe. Ich möchte aber auch ganz deutlich sagen, dass es bisher keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass finanzielle Gründe dabei eine Rolle gespielt haben. Es ist keine Maßnahme unterblieben.

Außer das Kind rechtzeitig aus der Familie zu nehmen. Der Leiter des Kinderheims, in dem Kevin zweimal kurz war, hat 2005 nur noch halb so viele Kinder in Obhut bekommen wie die Jahre davor.

Aber er hat keinen einzigen Fall nennen können, bei dem einem Kind diese Inobhutnahme verweigert wurde.

Wie hätte er das auch tun sollen, da er ja nur die Kinder sieht, die von Polizei oder Jugendamt gebracht werden?

Ich bleibe dabei, es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass finanzielle Gründe dabei eine Rolle gespielt haben.

Im Untersuchungsausschuss geht es sehr viel um die Familienverhältnisse. Haben Sie ein Bild davon gewinnen können, wie es in Kevins Familie ausgesehen hat?

Es ist recht eindeutig, dass der Ziehvater von Kevin das Problem in der Familie war. Der hatte offenbar schauspielerische Fähigkeiten. Das haben nicht alle gemerkt, die mit der Familie zu tun hatten. Ich erwarte aber von professionellen Helfern, dass sie erkennen, wenn ihnen etwas vorgespielt wird.

Wozu müssen Sie sich eigentlich die Beziehung von Kevins Eltern erklären lassen? Schließlich soll doch geklärt werden, wie ein Kind unter staatlicher Aufsicht zu Tode kommen kann.

Die Familiensituation ist sehr wichtig für den Gesamteindruck.

Auch ob die Mutter während ihrer Schwangerschaft angemessene Muttergefühle hatte?

Eine solche Frage habe ich nie gestellt.

Aber auch Sie haben nachgefragt, wenn es um die Persönlichkeiten der Eltern ging. Ist das nicht eher in den Gerichtsverfahren interessant, in denen die individuelle Schuld und Motive geklärt werden?

Ich sage es noch einmal, im Untersuchungsausschuss geht es um die Strukturen im Jugendhilfesystem, aber auch um den Fall Kevin. Den muss man insgesamt ausleuchten.

Werden denn auch noch Zeugen gehört, die nichts zu Kevin zu sagen haben, sondern zu den Zuständen in der Jugendhilfe?

Ja, selbstverständlich.

Bürgermeister Jens Böhrnsen hat vergangene Woche gesagt, dass Geld keine Rolle spielen soll, wenn es um Verbesserungen im System geht. Nun haben Sie gerade gesagt, dass es keinen finanziellen Mangel gibt. Steht da ein Koalitionsstreit bevor?

Das habe ich so nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass es bisher keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass in Bremen das Kindeswohl gefährdet ist, weil gespart wird. Sollte sich herausstellen, dass bestimmte Maßnahmen erforderlich sind, dann muss man das Geld dafür bereitstellen.

Auch für mehr Mitarbeiter im Amt für Soziale Dienste?

Dazu muss man erst einmal klären, welchen Bedarf es konkret gibt.

taz vom 15.01.2007

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Keine Verzahnung, keine Kontrolle

Helfer ohne Infos in hoch problematische Familien geschickt - Untersuchungsausschuss legt Probleme offen

Von Rose Gerdts-Schiffler

Kevins Tod hat alle führenden Medien Deutschlands beschäftigt. Über Wochen suchten Scharen von Journalisten nach immer neuen Abgründen - und wurden fündig. Der Untersuchungsausschuss versprach denn auch nicht viel Neues. Doch die meisten Beobachter wurden überrascht. Eine Zwischenbilanz.

Mehr als 30 Zeugen und Zeuginnen mussten seit dem 18. Dezember im Saal 2 der Bürgerschaft Platz nehmen. Oft unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen. Darunter Frauen und Männer, die sich weit über das normale Maß hinaus um das Schicksal des kleinen Jungen gesorgt, immer wieder Alarm geschlagen und sich wiederholt bei der zentralen Stelle, dem Fallmanager des Kindes, gemeldet hatten. Dort, so scheint es bislang, wurden sie aber lediglich vertröstet, abgewimmelt oder gar belogen.

Wichtigen Akteuren, wie dem Arzt von Kevins Ziehvater Bernd K. oder dem Leiter des Kinderheimes Hermann Hildebrand soll der Fallmanager gar vorenthalten haben, dass der Junge schwer misshandelt worden war. Die Aussagen des Fallmanagers stehen noch aus.

Was die bisherigen Ergebnisse des Gremiums so erschreckend macht, ist jedoch nicht al lein das krasse Fehlverhalten eines Einzelnen. Viele Beteiligte waren nah an dem süchtigen Paar dran. Viele sahen, dass es Tag für Tag nur mühsam eine Fassade von Normalität aufrecht hielt, hinter der sich Gewalt und Sauf-Exzesse verbargen. Und mittendrin ein Kind. "Drogen-Baby", nannten manche Zeugen Kevin und beschrieben in der Sprache der Insider mit diesem Begriff ein Kind, das problematisch und gesundheitlich schwer angeschlagen ist. Trotz dieser tiefen Einblicke schauten einige dieser Fachleute dem Elend wochen- oder gar jahrelang zu. Sie mahnten, appellierten, aber "stampften nicht mit dem Fuß auf ", wie es sich der stark in die Kritik geratene Arzt von Kevins Ziehvater inzwischen selber anlastet. Deutlich zeigten die Zeugenaussagen, dass die Dienstanweisungen im Amt gut waren. Ihre Umsetzung im Fall Kevin aber war katastrophal, die Kontrolle durch Vorgesetzte gleich Null. Erschreckend auch, mit wie wenigen Vorinformationen die unterschiedlichsten Helferinnen in diese höchst problematische Familie geschickt wurden und sich schicken ließen. Eine professionelle Verzahnung der Akteure scheint in Bremen bislang zu fehlen.

Deswegen auf dem Berufsstand "Fallmanager" herumzuhacken, verbietet sich. Viele ringen sehr engagiert um ihre Schützlinge. Und zwar, wie deutlich wurde, unter miserablen personellen Bedingungen. Im März 2006 schlugen einige Sozialarbeiter an der Behördenspitze vorbei Alarm und prangerten in unserer Zeitung an, dass nun auch noch der Fachdienst  "Aufsuchende Familienberatung" für Eltern mit "maximalen Problemen und minimalen Hoffnungen" eingestellt werden sollte. Ihr Appell verpuffte. Die Kinder- und Jugendhilfe war zu diesem Zeitpunkt zu einem rein finanzpolitischen Thema verkommen.

Weser Kurier  vom 13.01.2007

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Praxis durchsucht und Akten beschlagnahmt

Bremer Arzt soll Kevins Ziehvater einen illegalen Medikamentencocktail verschrieben haben

Von Rose Gerdts-Schiffler

Der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung will diesen Monat darüber entscheiden, ob der Bremer Arzt Detlef Schäfer süchtige Patienten weiter mit dem Drogenersatzstoff Methadon substituieren darf. Die Staatsanwaltschaft bestätigte, dass die Praxisräume des Arztes im Ostertor wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz durchsucht und Patientenakten beschlagnahmt worden sind.

Bei zehn Patienten soll der Mediziner mehr Mittel als üblich verschrieben haben. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft prüft zur Zeit ein Sachverständiger, ob die Verschreibungen medizinisch indiziert sind oder gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen. Zumindest im Fall von Kevins Ziehvater soll Schäfer nach Informationen unserere Zeitung einen brisanten und illegalen "Cocktail" über einen langen Zeitraum verschrieben haben. Wie mehrfach berichtet, handelt es sich dabei um den Drogenersatzstoff Methadon sowie Diazepam und Ritalin. Ritahn, ein Stimulat, das bei so genannten ADS-Kindern paradoxerweise beruhigend wirkt, darf an Erwachsene nicht verschrieben werden. Nach Auskunft eines mit der Substitutionsbehandlung vertrauten Arztes nehmen aber manche Süchtige Beruhigungsmittel wie Diazepam, um nachts schlafen zu können, und morgens ein Stimulat, um wieder auf die Beine zu kommen. Ein gefährlicher Medikamentencocktail, der Menschen, je nach Dosierung, unruhig, aufgedreht und aggressiv werden lässt sowie ihre Frustrationstoleranz und Impulskontrolle stark einschränken kann. In Kombination mit Methadon sei eine solche Verschrei-bung entgegen aller Vorschriften.

Die Methadonkommission hatte bereits empfohlen, dem Arzt die Erlaubnis zur Substitution zu entziehen. Die endgültige Entscheidung darüber will am 22. Januar der Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung fällen.

Weser Kurier  vom 13.01.2007

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Wunsch nach einer "Rama-Familie"

Eine Bewährungshelferin schildert Kevins Eltern als unauffällig - auch in ihrem Bemühen um einen guten Eindruck 

Von Eiken Bruhn  

"Eine Familie wie aus der Rama-Werbung" habe Bernd K., der Ziehvater des verstorbenen Kindes Kevin darstellen wollen, sagte gestern im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" die damalige Bewährungshelferin der etwa ein halbes Jahr vor Kevin gestorbenen Mutter des Kindes.

Bei einem Besuch im April 2005 sei ihr aufgefallen, dass die Familie sich sehr angestrengt habe, einen "normalen Eindruck" zu machen. Ein solches Verhalten erlebe sie in ihrer Arbeit sehr oft, so die Bewährungshelferin. Vor allem die Männer würden versuchen, einen guten Eindruck zu hinterlassen. "Wenn die Frauen alleine sind, sind sie auch bereit, über Probleme zu sprechen." An Kevin sei ihr nichts Ungewöhnliches aufgefallen, er habe nicht schüchtern oder gar verängstigt gewirkt, erinnerte sich die Frau, deren Aufgabe es ist, die Einhaltung von Bewährungsauflagen zu kontrollieren. Obwohl es keinen konkreten Anlass gab, wandte sich die Bewährungshelferin dennoch an das Jugendamt. Das würden sie und ihre Kolleginnen bei suchtkranken Frauen routinemäßig machen - um sicher zu gehen. Eine offizielle Vereinbarung gebe es jedoch nicht. Der Mitarbeiter im Jugendamt habe ihr im Fall Kevin gesagt, dass man alles im Griff habe.

Als unauffällig beschrieb auch ein Arzt die Familie, der sie zweimal zur Entgiftung in einer Klinik in Heiligenhafen hatte. Er machte sehr deutlich, dass er substituierten Drogenabhängigen nicht generell die Fähigkeit absprechen würde, ihre Kinder aufzuziehen. Er stimmte allerdings der Überzeugung einer zuvor gehörten Sozialarbeiterin zu, dass eine Substituierung alleine nicht ausreiche. "Nur mit Chemie geht das nicht."

Mit Verweis auf seine Schweigepflicht verweigerte gestern Thomas Becker, Anwalt von Bernd K., die Aussage. Er soll eine maßgebliche Rolle dabei gespielt haben, dass Kevin nicht ins Heim oder zu einer Pflegefamilie kam. Bernd K. befindet sich in Untersuchungshaft. Am 10. Oktober wurde Kevins Leiche in seinem Kühlschrank gefunden. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er an Misshandlungen durch Bernd K. starb.

taz vom 12.01.2007

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Das Bild von einer "Rama-Familie" 

Bewährungshelferinnen blickten schnell hinter die mühsam aufrecht erhaltene Fassade von Kevins Eltern

Von Rose Gerdts-Schiffler

Keine Fotos. Keine Filmaufnahmen. Rechtsanwalt Thomas Becker bestand gestern vor dem Untersuchungsausschuss darauf, nicht abgelichtet zu werden und berief sich zugleich auf seine Schweigepflicht. So konnten die Ausschussmitglieder seine Rolle in dem endlosen Drama Kevin nur aus den Akten nachvollziehen. Nach Aussagen einer Zeugin hatte Thomas Becker als Anwalt von Kevins Ziehvater nach der Geburt des Jungen vehement die Rechtsauffassung vertreten, dass das Kind trotz der großen Bedenken der Klinikärzte den suchtkranken Eltern überlassen werden müsse. Doch da ihn Bernd K. bis gestern nicht von der Schweigepflicht entbunden hatte, war die Befragung des Notars und Rechtsanwalts schnell zu Ende. Dafür sagten gestern zwei Bewährungshelferinnen vor dem Untersuchungsausschuss aus. Die erste Zeugin hatte Kevins Mutter Sandra K. ab 2004 "betreut und kontrolliert". Die Mutter habe stets schläfrig und sehr verlangsamt gewirkt, erinnerte sich die Bewährungshelferin. So langsam, dass die Windel ihres Kindes vermutlich längst wieder voll gewesen sei, bis sie sie endlich gewechselt habe. Besorgt stattete sie ihrer Klientin im April 2005 einen angemeldeten Hausbesuch ab. Die Wohnung war aufgeräumt und "das Paar versuchte höflich und normal wie eine Rama-Familie rüberzukommen. Bernd K. machte auf besonders nett. Es wirkte nicht authentisch", fasste die 48-Jährige ihren damaligen Eindruck zusammen. Diesen teilte sie auch dem Fallmanager vom Jugendamt mit. Das Telefonat sei von ihm jedoch schnell beendet worden. Die Bewährungshelferin plädierte für eine enge Zusammenarbeit der Bewährungshilfe und des Jugendamtes im Rahmen eines Kooperationsvertrages. Denn: "Wenn Kinder im Spiel sind, müssen alle hingucken, ob es klappt und sich darüber austauschen." Bei ihrem Hausbesuch habe sie Kevin auf dem Schoß gehabt und mit ihm gespielt. "Der Junge war schmal und klein. Aber sonst fiel mir nichts Ungewöhnliches an ihm auf." Ihre Kollegin kümmerte sich ab Sommer 2005 um Bernd K., der zu diesem Zeitpunkt vom Amtsgericht zu einem Jahr und sechs Monaten wegen Diebstahls und räuberischer Erpressung zur Bewährung verurteilt worden war. "Bernd K. war wortgewandt, wollte alles richtig machen und vermittelte den Eindruck, dass er sich um die Dinge kümmerte." Wenige Wochen nach dem Tod von Sandra K. saß Bernd K. im Januar 2006 im Flur der Bewährungshilfe. "Er war außer sich, sehr aggressiv und weinte, da er Angst hatte, dass man ihm das Kind wegnehmen könnte." Der Frau gelang es, Bernd K. zu beruhigen. "Aber er vermittelte den Eindruck, Amok zu laufen, wenn er das Kind verlieren sollte." Hoch besorgt alarmierte die Bewährungshelferin den Fallmanager, der ihre Einschätzung geteilt und sie beruhigt habe, dass "gerade weiter überlegt werde". Die Bewährungshelferin bat den Fallmanager, sie auf dem Laufenden zu halten. Als sie mehrere Wochen lang nichts hörte, meldete sie sich im März 2006 bei dem Mann. Wieder habe der Fallmanager auf "geplante Maßnahmen" verwiesen. Wie ihre Kollegin hielt sie jedes Telefonat in einer schriftlichen Aktennotiz fest. Nach März 2006 habe sie sich nicht mehr bei dem Fallmanager gemeldet. "Es ist ja auch nicht meine Aufgabe, das Jugendamt zu kontrollieren."

Weser Kurier  vom 12.01.2007

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"Vernünftige Ansätze"

Reaktionen auf geplante Änderungen

Von Elke Gundel

Verhaltener Applaus von der CDU, Kritik von den Grünen - das sind die Reaktionen auf die geplanten Umstrukturierungen im Jugendamt. Sie enthielten "vernünftige Ansätze", erklärte der jugendpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Michael Bartels. Das gelte vor allem für die Frage, ob Kinder bei drogenabhängigen Eltern bleiben können.

Die CDU plädiere dafür, "immer zu Gunsten der Sicherheit und Gesundheit des Kindes zu entscheiden und nicht nach dem therapeutischen Mehrwert für den Drogenentzug der Eltern". Mit Blick auf das geplante Kinder-Nottelefon sagte Bartels, seine Fraktion habe der SPD schon vor einem Monat einen Antrag zugeleitet, in dem es um die Einrichtung einer solchen Hotline ging. "Ich verstehe nicht, warum die SPD-Fraktion bis heute nicht zugestimmt hat."

Jens Crueger, jugendpolitischer Sprecher der grünen Fraktion, gehen die Veränderungen im Jugendhilfesystem dagegen nicht weit genug. "Die Finanzierung ist bislang völlig ungeklärt", kritisierte er. Der Senat müsse "endlich ein vernünftiges Personal- und Finanzierungskonzept" vorlegen.

Weser Kurier  vom 10.01.2007

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Amtsvormund versetzt

Disziplinar- und Strafverfahren laufen

Von Elke Gundel

Der Mitarbeiter, der die Amtsvormundschaft von Kevin übernommen hatte, ist mittlerweile in einem anderen Bereich der Sozialbehörde tätig. Das bestätigte Sozialstaatsrat Joachim Schuster (SPD) auf Nachfrage. Hintergrund: Gegen den Mann laufe ein Disziplinarverfahren.

Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen möglicher Verletzung der Fürsorgepflicht. Wie berichtet, hatte das Amtsgericht das Jugendamt als Vormund für Kevin bestellt, nachdem dessen Mutter im November 2005 gestorben war. Auch gegen den für Kevin zuständigen Sachbearbeiter läuft laut Schuster ein Disziplinarverfahren. Zudem ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Verletzung der Fürsorgepflicht. Der Mitarbeiter sei momentan krank geschrieben, hieß es.

Wenn im Bereich der Amtsvormundschaften demnächst 6,5 Stellen geschaffen sind, müssten sich die einzelnen Mitarbeiter im Schnitt um etwa 100 Mündel kümmern, erklärte Schuster. Das entspreche dann in etwa dem bundesweiten Durchschnitt, der bei 80 bis 100 Fällen pro Amtsvormund liege. Zwar gebe es Länder, in denen die Fallzahlen niedriger lägen. "Als Haushalts-Notlageland müssen wir uns aber am Durchschnitt des Bundes orientieren", sagte der Staatsrat.

Kevins Leiche ist am 10. Oktober im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters gefunden worden. Zu diesem Zeitpunkt war der Zweijährige nach den bisherigen Erkenntnissen knapp ein halbes Jahr tot. Der Junge starb an den Folgen schwerer Misshanalungen. Die Ermittler halten seinen Ziehvater für den Täter.

Weser Kurier  vom 10.01.2007

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Kevin sollte seinen Vater "stabilisieren"

Untersuchungsausschuss befragt Sozialarbeiterinnen und den Leiter des Hermann Hildebrand Hauses

Von Rose Gerdts-Schiffler

Mit Grauen erinnerte sich eine Sozialarbeiterin an ihre Arbeit im Jugendamt. "Viele Kollegen waren ständig überlastet, aber zugleich sprach man nur noch von Kunden, Produkten und Case-Managern." Gemeinsam mit einer Kollegin sowie Joachim Pape, dem Leiter des Hermann Hildebrand Hauses, sagte sie gestern im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" aus.

Die Sozialarbeiterin wechselte im Jahr 2002 frustriert in die "Pflegekinder in Bremen GmbH". In diesem Zusammenhang lernte sie Kevins Familie erstmals 2005 kennen. Um endlich eine Unterschrift der Eltern für eine in Anspruch genommene Kurzzeitpflegestelle zu erhalten, suchte sie das Paar zu Hause in Gröpelingen auf. "Die Mutter war betrunken und der Mann strömte ein Gewaltpotential aus. Die Familie war nicht okay. Ich hatte den Eindruck: Hier stimmt gar nichts."

Wenige Monate später meldete sich Kevins Fallmanager bei ihr und bat sie, eine Tagespflege für den Jungen zu finden. Die Mutter des Kindes sei verstorben und der Vater mit der Situation überfordert. Empört will sie den Mann darauf hingewiesen haben, dass eine Tagespflege für das Kind nicht ausreiche. Auf ihre Skepsis habe der Fallmanager nur mit den Worten reagiert: "Der Vater muss jetzt stabilisiert werden."

"Ich habe meine Meinung nicht vehement genug vertreten. Das war mein Fehler", räumte die Frau aufgewühlt ein. Weniger selbstkritisch reagierte gestern ihre 56-jährige Kollegin. Die Sozialarbeiterin war zuständig für die Tagesmutter von Kevin. Nach nur drei Tagen hatte sich die Tagesmutter im März 2006 telefonisch bei der Sozialarbeiterin gemeldet und ihr von mehreren Verletzungen des Kindes berichtet. " Sie sagte mir, dass Kevin blaue Flecken am Rücken habe, sprach von einer offenen Wunde, einem geschwollenen Penis und möglicherweise einem gebrochenen Fuß." Da die Tagesmutter das Kind nicht wieder an den Vater herausgeben wollte, habe sie dringend um eine sofortige Entscheidung gebeten. Die Sozialarbeiterin erreichte den Fallmanager kurze Zeit später und schilderte ihm die Beobachtungen der Tagesmutter. Doch wie sich einige Tage später herausgestellt habe, habe der Fallmanager die Position des Vaters akzeptiert, das Kind nicht weiter zu der Tagesmutter zu bringen, da er sich nicht mit ihr verstehe. Damit habe sie mit dem Fall nichts mehr zu tun gehabt.

Fassungslos haken die Ausschussmitglieder nach: "Wie konnten sie mit dieser Entscheidung zufrieden sein?" Und: "Warum stand nicht die ärztliche Notfallversorgung des Kindes im Mittelpunkt?" Die Antworten der Zeugin blieben vage. Auch für ihre unvollständige, nur stichwortartige Aktenführung, die sie zum Teil selber nicht mehr lesen konnte, wollte sie keine Verantwortung übernehmen: "Bei der Arbeitsbelastung kann man die Akten nicht mehr so führen, wie es wünschenswert wäre."

Schließlich befragte der Ausschuss Joachim Pape, den Leiter des Hermann Hildebrand Hauses, in dem Kevin zweimal untergebracht war. Der 53-jährige Sozialpädagoge hatte in den vergangenen Monaten eine Schlüsselrolle in der Aufarbeitung des tragischen Falles eingenommen.

"Bei seinem zweiten Aufenthalt in unserem Haus hatte Kevin nur 500 Gramm in einem Jahr zugenommen und krabbelte trotz seiner 22 Monate nur auf den Unterarmen", erinnerte sich Pape. Vergeblich hat er darum gekämpft, den Jungen mehrere Wochen im Heim zu behalten, damit eine gründliche Diagnose erstellt werden kann. Der Fallmanager aber wollte Kevin kurzfristig entlassen. Zugleich beruhigte er Pape, dass im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter kein Fremdverschulden vorläge. Tatsächlich sind die Umstände bis heute nicht endgültig geklärt. Von Kevins Misshandlungen weiß Pape zu dem Zeitpunkt nichts. "Sonst hätte ich das Kind wohl nicht herausgegeben." Dafür wusste Pape, dass Sparen "ein wichtiges Ziel" in der Behörde war. So informierte er denn auch seinen Vorstand, als die Behörde im Jahr 2005 nicht mal mehr halb so viele Kinder wie in den Jahren zuvor in die Obhut des Heimes gab.

Weser Kurier  vom 10.01.2007

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Arzt: Kevin war "immer so still" 

Arzt wusste von Anfang an, dass Bernd K. nicht der leibliche Vater war und trat dennoch als sein Fürsprecher auf

Von Rose Gerdts-Schiffler

Detlef Schäfer vor dem Untersuchungsausschuss (Foto: Stoss)Warum trat der Arzt von Kevins Eltern über zwei Jahre lang als hoch engagierter Fürsprecher für ein Paar auf, dessen Begleitung er von Anfang an als "explosives Krisenmanagement" empfand? Gestern, so schien es, gab Detlef Schäfer im Untersuchungsausschuss erstmals eine Antwort darauf und wartete zugleich mit weiteren Überraschungen auf.So berichtete der 54-jährige Mediziner, der das Paar seit Jahren mit dem Ersatzstoff Methadon substituierte, dass er davon wusste, dass Bernd K. nicht Kevins Vater war. "Die Mutter hatte mir erzählt, dass Kevin einer Vergewaltigung entstammte." 

Dennoch setzte er sich auch nach dem Tod der Mutter im November 2005 dafür ein, dass der Junge beim Ziehvater blieb. Mehrfach deutete Schäfer gestern an, was ihn dazu bewegt hatte. "Mir ist auch schon mal ein Kind weggenommen worden. Ich wusste, wie sich das anfühlt." Im Gegensatz zu manch anderen Zeugen vermittelte der Mediziner gestern das Bild eines Mannes, den Selbstvorwürfe plagen. "Ich frage mich, wie blind war ich, dass ich diese vielen Knochenbrüche bei Kevin nie bemerkt habe."

Allerdings habe er Kevin auch "nie ausgepackt". Auffällig sei nur gewesen, wie still der kleine Junge stets gewesen sei. "Stillgestellt?", hakte der Ausschussvorsitzende Helmut Pflugradt nach. "Dies", so der Mediziner nachdenklich, "habe ich mich im Nachhinein auch gefragt." Schäfer wirft dem Jugendamt vor, ihn nicht gründlich informiert zu haben. "Ich wusste nichts von den Kindesmisshandlungen. Das wurde mir seitens des Paares und des Fallmanagers verschwiegen." Dafür wusste er, dass die Eltern von Anfang an viele als absolut notwendig erachtete Unterstützungsmaßnahmen boykottierten oder abbrachen, rückfällig wurden, dass die Mutter trank und dass vor allem der Fallmanager in diversen Situationen nicht reagierte.

Schäfer erinnerte sich daran, "mal entsetzt, "mal verwundert" gewesen zu sein oder die Situation als "unerträglich" empfunden zu haben. Doch er blieb bei seiner Entscheidung, den "relativ stabilen Vater" weiter darin zu unterstützen, das Kind zu behalten. Noch im April 2006 mahnte er schriftlich die Leitung des Jugendamtes an, sich bei der Bagis dafür einzusetzen, dass Bernd K. sein ihm zustehendes Geld bekomme. Der inzwischen allein erziehende Vater drohe sonst "zur tickenden Zeitbombe" zu werden. Eine düstere Prophezeiung. Gerichtsmediziner haben Kevins Tod auf Ende April bis Ende Mai datiert. Dem entgegen steht die Aussage des Arztes, Kevin noch am 5. Juli 2006 lebend gesehen zu haben.

Dies wiederholte der Mediziner auch gestern, fügte aber einschränkend hinzu: "Soweit ich mich erinnere." Für Verwunderung bei einigen Ausschussmitgliedern hatte zuvor der Auftritt des 61-jährigen Sozialarbeiters vom Verein "Ani avati" gesorgt. Der Mann hatte Kevins Eltern jahrelang psychosozial begleitet. Differenziert beschrieb er dem Ausschuss, dass Bernd K. zwar der Ruf eines "wilden, gewalttätigen Hauers" vorauseilte, dieser aber auch sehr weiche, sensible und bedürftige Seiten gehabt habe. An die Geburt von Kevin hätten sich die irrationalen Hoffnungen des Paares geknüpft, dass nun endlich "alles gut werde."

Kevin habe gerade Bernd K. "alles bedeutet". Er selber habe die Elternschaft des Paares als großes Unglück empfunden. In einem Schreiben an alle Beteiligten hatte der Mitarbeiter des Vereins im Jahr 2004 skizziert, unter welchen strikten Auflagen eine Elternschaft des Paares zu verantworten sei. Tatsächlich wurde kaum eine der Auflagen eingehalten. Erschütternde Einblicke in die Arbeit von "Fallmanagern" gab eine Sozialarbeiterin aus Gröpelingen. Der ständig thematisierte Kostendruck habe bei allen Mitarbeitern zu einer Veränderung geführt. Die Zahl der Krisenfälle sei gestiegen, die Zahl der Mitarbeiter gesunken.

"Man bemühte sich nur noch, die eigenen Sachen wegzukriegen. Die Feinfühligkeit für die eigenen Kollegen war nicht mehr da." So fiel denn auch niemandem auf, dass Kevins Fallmanager kaum eigene Fälle in den "Teamsitzungen" zur Beratung vorstellte. Eine Aufsicht durch eine Vorgesetzte gab es nur in der "Wochenkonferenz". Einziges Thema darin: Maßnahmen, die Geld kosteten. "Wie konnte in dieser Organisationsform eine Dienstaufsicht gewährleistet werden?", will Pflugradt von der Zeugin wissen. Die Frau schweigt lange. Dann ringt sie sich den Satz ab: "Das müssen sie meine Vorgesetzte selber fragen."

Weser Kurier  vom 11.01.2007

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Das Kind sehen, nicht die Akte

Bürgermeister und Sozialsenatorin kündigen Umstrukturierungen im Jugendamt an

Von  Elke Gundel

Kevins tragischer Tod führt nun zu weitreichenden Veränderungen im Jugendamt: Entscheidungen "nur nach Aktenlage" sind tabu, Kinder aus Risikofamilien müssen mindestens zweimal in der Woche "von Fachpersonal" gesehen werden, statt zwei soll es künftig 6,5 Stellen für Mitarbeiter geben, die Amtsvormundschaften übernehmen. Ein Leidensweg wie der von Kevin dürfe sich nicht wiederholen, sagte Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD).

Er stellte die Neuerungen gestern mit Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter und Sozialstaatsrat Joachim Schuster (beide SPD) vor. Drogenabhängigen Eltern, die mit dem Ersatzstoff Methadon behandelt werden, könne in der Regel nicht zugetraut werden, dass sie ein Kind verantwortungsvoll versorgen. So formulierte Böhrnsen die gültige Grundhaltung. Nur wenn sie sich als zuverlässig erwiesen, alle Auflagen erfüllten und keine illegalen Drogen mehr nähmen, könne ein Kind bei süchtigen Eltern bleiben - natürlich nur mit intensiver Unterstützung etwa eines Familienhelfers, einer Tagesmutter oder einer Familienhebamme. Auf dem Papier gilt diese Linie schon lange, wurde aber nicht immer strikt befolgt. Böhrnsen sprach in diesem Zusammenhang von " organisierter Unverantwortlichkeit": "Es wurde nicht konsequent genug hingeschaut."

Was die Finanzierung der eingeleiteten Umstrukturierung angeht, nannte der Bürgermeister keine Zahlen. Aber er betonte: "Das Kindeswohl steht über jeder Haushaltslage." Bremen werde das ausgeben, was nötig sei, um die Kinder- und Jugendhilfe effektiv zu verbessern.

Kevins Schicksal habe die Bevölkerung stark "sensibilisiert", sagte Ingelore Rosenkötter. Bei der Sozialbehörde seien "weit mehr" Hinweise auf möglicherweise vernachlässigte Kinder eingegangen als sonst. Das habe in rund 100 Fällen dazu geführt, die betroffenen Mädchen oder Jungen aus den Familien zu nehmen. Nun werde ein Notfall-Telefon geschaltet, über das das Jugendamt rund um die Uhr erreichbar sei. Demnächst soll außerdem ein Krisendienst die Arbeit aufnehmen, der Familien in akuten Schwierigkeiten sofort besuchen kann. Entscheidungen "nur nach Aktenlage" würden nicht mehr akzeptiert. "Die Mitarbeiter müssen wieder verstärkt in die Familien gehen", betonte Rosenkötter. Kinder aus Risikofamilien müssten mindestens zweimal wöchentlich von einer Fachkraft gesehen werden - zum Beispiel vom Sozialarbeiter der Behörde, einer Tagesmutter, einem Kita-Mitarbeiter oder einer Familienhebamme.

Für die Aktenführung würden verbindliche Standards eingeführt. Die Entscheidungen des jeweiligen Sachbearbeiters müssten "transparent und nachvollziehbar" sein. Nur dann sei gewährleistet, dass etwa eine Urlaubsvertretung oder die Vorgesetzten mit den Unterlagen arbeiten können. Jeder Verdacht auf Kindesmisshandlung müsse künftig gemeldet werden. Zudem wolle Bremen - notfalls auch im Alleingang - Regelungen zu verbindlichen Vorsorgeuntersuchungen von Kindern zwischen sechs Monaten und fünfeinhalb Jahren einführen.

Kevin war am 10. Oktober tot im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters gefunden worden. Bei der Obduktion der Leiche wurden 24 zum Teil ältere Knochenbrüche gefunden. Fazit der Gerichtsmediziner: Der Zweijährige wurde immer wieder misshandelt, bis er starb - die jüngsten Knochenbrüche habe der Junge höchstens 24 Stunden überlebt. Die Ermittler schreiben dem Ziehvater die Misshandlungen zu. Der Mann sitzt in Haft und schweigt.

Weser Kurier  vom 09.01.2007

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Kevin erlitt einen grausamen Tod

Die Staatsanwaltschaft hat die endgültigen Obduktionsergebnisse für den misshandelten Kevin veröffentlicht. Der Junge starb an den schrecklichen Verletzungen, die ihm sein Ziehvater zufügte. Noch 24 Stunden vor seinem Tod erlitt der Zweijährige nicht weniger als fünf Knochenbrüche.

Der zweijährige Kevin aus Bremen ist ohne Zweifel an den Folgen von Misshandlung gestorben. Der beschuldigte Ziehvater wird laut Staatsanwaltschaft voraussichtlich wegen schwerer Misshandlung und Totschlags oder sogar Mord durch Unterlassung angeklagt.

Das rechtsmedizinische Gutachten habe ergeben, dass Kevin maximal 24 Stunden vor seinem Tod fünf Knochenbrüche zugefügt worden seien, teilte die Bremer Behörde am Donnerstag mit. Als Folge sei Knochenmarkfett in die Lunge eingedrungen, was die feinen Verästelungen verstopft und letztlich zu Herzversagen geführt habe.

Alle fünf Brüche sind laut Obduktionsbericht an Stellen, die bereits früher schon einmal gebrochen waren. Insgesamt seien 24 Frakturen an 19 Körperstellen gefunden worden. Zudem gebe es den Verdacht auf die Misshandlung von Genitalien. "Wir können jetzt erahnen, welches Martyrium das Kind durchgemacht hat“, sagte Oberstaatsanwalt Dietrich Klein. Es übersteige aber noch immer jede Vorstellungskraft.

Der Todeszeitpunkt konnte durch die Obduktion nicht eindeutig geklärt werden. Rein medizinisch ist laut Staatsanwaltschaft nur klar, dass er Wochen vor dem Auffinden liegen muss. Kevin war am 10. Oktober 2006 tot im Kühlschrank des drogensüchtigen Ziehvaters gefunden worden, der wegen des Verdachts auf Totschlag verhaftet wurde.

Vermutlich liege der Todeszeitpunkt zwischen Ende April und Mai. Sozialarbeiter hatten Kevin zuletzt im April gesehen. Angaben vom Arzt des Vaters und der Großmutter mütterlicherseits, die das Kind angeblich noch im Juli gesehen haben wollen, würden derzeit überprüft.

Kevins Ziehvater Bernd K., der zu der Tat schweigt, befindet sich derzeit in der Psychiatrie und verbüßt eine ältere Strafe. Der Anklagezeitpunkt steht noch nicht fest. Zuvor muss der Mann psychiatrisch begutachtet werden.

Die Welt vom 04.01.2007

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24 Brüche an 19 Körperstellen

Weiter deckte eine Untersuchung Mängel bei der Arbeit des Sozialamtes auf. Kinderschützer fordern, langfristig umzusteuern.

Von Jenny Busche

Nur ein Bruchteil der Aufmerksamkeit, die jetzt dem Schicksal des kleinen Kevin aus Bremen zuteil wird, hätte ihm zu Lebzeiten ein Martyrium erspart. Dann wäre es nicht zu den brutalen Misshandlungen gekommen, die zum Tod des zweijährigen Jungen geführt haben.

"Fünf frische Knochenbrüche wurden Kevin maximal 24 Stunden vor seinem Tod zugefügt: rechter Oberarm, Speiche an den Unterarmen rechts und links, Oberschenkel links und Schienbein rechts", trägt Jörn Hausschild, Sprecher der Staatsanwaltschaft Bremen, aus dem gerichtsmedizinischen Gutachten vor. "Wir können jetzt erahnen, welches Martyrium das Kind durchgemacht hat", sagte Oberstaatsanwalt Dietrich Klein gestern bei der Vorstellung des Gutachtens in Bremen. Es übersteige aber noch immer jede Vorstellungskraft.

Alle fünf Brüche befinden sich laut Obduktionsbericht an Stellen, die bereits früher schon einmal gebrochen waren. Insgesamt seien 24 Frakturen an 19 Körperstellen gefunden worden. Zudem gebe es den Verdacht auf Misshandlung von Genitalien. Kevin war am 10. Oktober 2006 tot im Kühlschrank des drogensüchtigen Ziehvaters Bernd K. gefunden worden, der wegen des Verdachts auf Totschlag verhaftet wurde. Vermutlich liegt der Todeszeitpunkt zwischen Ende April und Mai. Sozialarbeiter hatten Kevin zuletzt im April gesehen.

Bernd K., der zu der Tat schweigt, befindet sich derzeit in der Psychiatrie und verbüßt eine ältere Strafe. Der Anklagezeitpunkt steht noch nicht fest, der Mann muss noch psychiatrisch begutachtet werden.

"Das gesamte Obduktionsergebnis macht mich tief betroffen", sagte die neue Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD). "Wir arbeiten mit Hochdruck an Verbesserungen im Jugendhilfesystem, damit sich eine solche Leidensgeschichte bei keinem anderen Kind wiederholt." Konkrete Maßnahmen dazu will sie nächste Woche präsentieren.

Dem Amt für soziale Dienste werden schwere Versäumnisse vorgeworfen. Der Ausschuss "Kindeswohl", der im Dezember mit der Vernehmung der Zeugen begann, brachte die mangelnde Vernetzung der Sozialbehörden zutage. Die damalige Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) war nach Kevins Tod zurückgetreten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen Verletzung der Fürsorgepflicht gegen Kevins Betreuer. Auch gegen den Amtsvormund wird straf- und disziplinarrechtlich ermittelt.

"Das Amt für soziale Dienste hat zu wenig Personal, um den Aufgaben nachzukommen", kritisiert Cornelia Bein, Bereichsleiterin der Stiftung Alten Eichen in Bremen. Zusätzlich zu den 73,45 Planstellen im Bereich "Junge Menschen" seien zwar inzwischen zehn neue Mitarbeiter eingestellt worden - allerdings befristet für ein Jahr.

Cornelia Bein beobachtet die Entwicklungen mit Skepsis. Zwar sei man wieder wacher geworden, was die Kindeswohlsicherung bedeute, doch bleibe abzuwarten, ob die Bewegung nachhaltig wirke. "Die Politik muss sich entscheiden, wohin sie Gelder schwerpunktmäßig verteilen will. Die richtige Hilfe ist auf Dauer gesehen volkswirtschaftlich gesehen nicht kostspieliger", so Bein. Als eine Ursache für das Versagen der Verantwortlichen sieht sie den Mangel an Kommunikation zwischen dem Amt für soziale Dienste und den freien Trägern sowie zwischen den verschiedenen Stellen innerhalb des Amtes.

Der Fall Kevin ist noch nicht abgeschlossen. Vom 9. bis 11. Januar vernimmt der Untersuchungsausschuss weitere Zeugen. Die Bremer Bürgerschaft will den Abschlussbericht noch vor der Landtagswahl am 13. Mai vorlegen.

Hamburger Abendblatt vom 05.01.2007

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Ein Leben voller Schmerzen

Drei Monate nach dem Fund der Leiche des zweijährigen Kevin liegt das rechtsmedizinische Gutachten vor: Danach ist der Junge eindeutig an den Folgen körperlicher Misshandlung gestorben

Von Eiken Bruhn

Das Kind Kevin ist an den Folgen körperlicher Misshandlung gestorben. Zu diesem Schluss kommen Bremer und Hamburger Gerichtsmediziner, deren gemeinsames Gutachten gestern von der Bremer Staatsanwaltschaft vorgestellt wurde. 24 Knochenbrüche zählten die Mediziner. Sechs datieren sie auf den September 2004, als der neun Monate alte Junge verletzt in die Klinik eingeliefert worden war. Die anderen Verletzungen sollen ihm in seinen letzten vier Lebensmonaten zugefügt worden sein, als Kevin mit dem Lebensgefährten seiner im November 2005 gestorbenen Mutter lebte.

"Als makabres Detail" wertete Oberstaatsanwalt Dietrich Klein die Erkenntnis, dass viele der Brüche so genannte Refrakturen waren. So waren Kevins linkes Schienbein, seine linke Ellenbogenspeiche, ein Oberarm dreimal, sein Schädel zweimal gebrochen. Solche Verletzungen seien typisch für misshandelte Kinder, so Klein. Bernd K. hatte behauptet, Kevin habe sich im Haushalt verletzt. Zustande gekommen sein könnten die Verletzungen durch Schlagen des Kopfes auf eine harte Fläche, durch Stauchen, Schlagen oder Verdrehen der Gliedmaßen. Die Rippenbrüche könnten von einem Zusammendrücken des Brustkorbs stammen, führte Klein aus. Dass Kevins Mutter ihren Sohn misshandelt haben könnte, schloss er aus. "Laut Zeugenaussagen war sie eine besorgte Mutter."

Zum Tode Kevins führten die letzten fünf Brüche, unter anderem des Oberschenkelknochens, die eine so genannte Fett-Embolie auslösten. Dabei gelangen Fetttröpfchen in die Blutbahn, bei Kevin kam es daraufhin zu einem Herzstillstand. Den Todeszeitpunkt konnten die Mediziner nicht bestimmen, da die Leiche des Kindes schon zu stark verwest war. Die Staatsanwaltschaft geht derzeit davon aus, dass Kevin im Zeitraum Ende April bis Ende Mai dieses Jahres gestorben ist. Gefunden haben ihn Polizisten im Oktober, als das Jugendamt Kevin in eine Pflegefamilie geben wollte - im Kühlschrank seines Stiefvaters. Näher eingrenzen ließe sich der Todeszeitpunkt nur in Zusammenhang mit weiteren Zeugenaussagen, so der ermittelnde Staatsanwalt.

Als unbrauchbar könnte sich dabei der Eintrag des Methadon-Arztes von Kevins Stiefvater herausstellen, der sich im Juli notierte, Kevin und Bernd K. gesehen zu haben. In seiner Zeugenbefragung habe der Arzt eingeräumt, dass die Notiz ein Falsch-Eintrag sein könne, so der ermittelnde Staatsanwalt Daniel Heinke. Auch gegen diesen Arzt, der sich stets dafür eingesetzt hatte, dass Kevin bei seinem Stiefvater bleibt, läuft ein Ermittlungsverfahren. Ihm wird ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz vorgeworfen, weil er Bernd K. zusätzlich zum Methadon noch andere, unerlaubte Präparate verschrieben hatte. Weitere Ermittlungsverfahren laufen gegen den für Kevin zuständigen Fallmanager im Jugendamt und den Amtsvormund, der das Sorgerecht für das Kind hatte.

Bernd K. befindet sich derzeit in Untersuchungshaft in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung im Klinikum Ost. Er wird verdächtigt, Kevin schwer misshandelt und Hilfe unterlassen zu haben. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft hat er sich bisher nicht zu den Umständen von Kevins Tod geäußert. Anklage kann erst erhoben werden, wenn ein psychiatrisches Gutachten zur Schuldfähigkeit vorliegt. Das Ermittlungsverfahren gegen Bernd K. zum Tod von Kevins Mutter wurde mittlerweile eingestellt. Der Verdacht, ihr tödlicher Milzriss sei auf Schläge ihres Freundes zurückzuführen, konnte nicht erhärtet werden.

taz vom 05.01.2007

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Rote Karte für den Arzt von Bernd K.?

Lizenz zur Methadonvergabe gefährdet

Von Elke Gundel

Der Arzt, der Kevins drogenabhängigen Ziehvater Bernd K. mit dem Ersatzstoff Methadon behandelt hat, könnte nach Informationen unserer Zeitung schon bald die Genehmigung zur Methadonvergabe verlieren. Die Entscheidung darüber wird in den nächsten Wochen erwartet. Der Arzt war gestern in seiner Praxis nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. Alle Ärzte, die Drogenabhängige mit Methadon versorgen, werden dem Vernehmen nach unter anderem von einer Kommission kontrolliert, die von Kassenärztlicher Vereinigung (KV) Bremen und den Krankenkassen gebildet wird. Das Gremium überprüft die Mediziner stichprobenartig. Nach Informationen unserer Zeitung war der Arzt, der Bernd K. jahrelang betreut hat, dabei aufgefallen. Der damalige Verdacht: Er habe den Beigebrauch von illegalen Drogen bei Methadon-Patienten geduldet. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KV, Günter Scherer, gab dazu gestern mit Hinweis auf den Datenschutz keine Auskunft. Er bestätigte lediglich, dass die so genannte Qualitätssicherungs-Kommission "Methadon", ein Gremium der KV, kürzlich empfohlen habe, einem Arzt die Genehmigung zur Methadonvergabe zu entziehen. Wie berichtet, ermittelt nun auch die Staatsanwaltschaft wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz gegen den Mediziner aus dem Viertel. Hintergrund: Er hatte Bernd K. nicht nur Methadon verschrieben, sondern auch andere Präparate. Nun wird geprüft, ob das in diesem Fall zulässig war. Außerdem laufen Verfahren wegen Verletzung der Fürsorgepflicht gegen zwei Mitarbeiter der Sozialbehörde: gegen den für Kevin zuständigen Sachbearbeiter und den Amtsvormund des Kindes. Und Bernd K. dürfte sich in absehbarer Zeit wegen Kevins Tod vor Gericht verantworten müssen. Die Ermittler werfen ihm schwere Kindesmisshandlung und Tötung durch Unterlassen vor. Auch im Zusammenhang mit dem Tod von Kevins Mutter - sie war im November 2005 an einem Milzriss gestorben - ist gegen Bernd K. ermittelt worden. Das Verfahren ist jedoch inzwischen eingestellt worden. Laut Staatsanwaltschaft ließ sich der Verdacht, Bernd K. könnte gegenüber seiner Partnerin gewalttätig gewesen sein und den Milzriss so verursacht haben, nicht erhärten.

Weser Kurier  vom 06.01.2007

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Prüfbericht als Offenbarungseid

Kommentar von Rose Gerdts-Schiffler

Kevins Fallmanager scheint nicht nur im Fall des Zweijährigen auf fatale Art und Weise versagt zu haben, sondern auch bei anderen Kindern, die voll und ganz auf ihn angewiesen waren. Ein Strafverfahren wird im kommenden Jahr die individuelle Schuld des Fallmanagers zu klären haben.

Der jetzt vorliegende Prüfbericht aus der Behörde zeigt jedoch, dass neben den betroffenen Eltern weitere Menschen Verantwortung an dem Tod von Kevin und dem Leid vieler anderer Kinder mittragen.

Denn der Sachbearbeiter konnte sich eine chaotische Aktenführung leisten, peinliche Auftritte vor Gericht und eine oberflächliche Vorbereitung auf Wochenkonferenzen. Er konnte auf Hausbesuche gefährdeter Kinder verzichten, ohne sich jemals gegenüber Vorgesetzten rechtfertigen oder sich in seine Akten schauen lassen zu müssen. So scheint es, als habe die Dienstaufsicht gegenüber dem Sachbearbeiter völlig versagt. Ein strukturelles Problem, das schleunigst analysiert und behoben werden muss

Weser Kurier  vom 30.12.2006

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Weitere Kinder gelten als gefährdet

Behörde kontrollierte sämtliche Akten von Kevins Fallmanager - Elf Mal "dringender Handlungsbedarf"

Von Rose Gerdts-Schiffler

War das qualvolle Leben und der Tod von Kevin eine Verkettung unglücklicher Umstände und menschlicher Fehlentscheidungen? Die unserer Zeitung vorliegende Überprüfung aller Akten des Fallmanagers von Kevin widerspricht dem klar. In elf seiner 79 Fälle sieht die Innenprüfung "dringenden Handlungsbedarf" und eine Gefährdung der betroffenen Kinder. "Vertraulich" steht auf der brisanten Unterlage der Sozialbehörde. Dies wird sie wohl nicht lange bleiben. Zu massiv sind die fachlichen Fehlentscheidungen des Fallmanagers, seine Tatenlosigkeit in vielen Fällen, in denen er dringend hätte eingreifen müssen, und das scheinbar blinde Vertrauen auf die beschönigenden Aussagen der betroffenen Väter und Mütter. Der Innenprüfung lagen 79 Akten des Sachbearbeiters vor. Dabei fällt auf, dass rund 20 von ihnen seit Jahren längst abgeschlossen sind oder schon lange keine Arbeit mehr verursachen. "Eine Art Bodensatz, der wohl den Zweck hatte, nach außen stets ausgelastet zu wirken", vermutet ein Insider. Dabei hatten die Prüfer Mühe, manche Schicksale der Kinder überhaupt nachzuvollziehen. Im Fall eines zwölfjährigen Mädchens mussten sie die Unterlagen erst selber einsortieren, bei einem Jungen lag einer von drei Bänden ohne Aktendeckel auf einem Schrank im Zimmer des Sachbearbeiters. Mal hatte er sein hilfebedürftiges Klientel nach Vornamen in der Akte eingeordnet, mal nach den Nachnamen. "Dieser Bearbeitungszustand ist unakzeptabel", so das Fazit des Prüfers. Zu Beginn scheint sich der Fachmann noch über die Entscheidungen seines Kollegen zu wundern. Mehrfach merkt er an, dass der Fallmanager vor Gericht keine eigene Bewertung des Falles vornimmt, sondern lediglich die Haltung der Eltern wiedergibt. An anderer Stelle kritisiert er, dass lediglich die abgebrochenen Hilfsmaßnahmen seitens der Eltern gut belegt seien. Wiederholt äußert er "Zweifel am methodischen Vorgehen". Doch im weiteren Verlauf der Prüfung wird der Ton des Prüfers immer fassungsloser. So empfiehlt er im Fall eines elfjährigen Jungen, "die Sachlage neu aufzurollen". Hinsichtlich eines sechsjährigen Mädchens, dessen Mutter trotz "krisenhafter Entwicklungen in der Familie" niemanden an sich heran lässt, teilt der Fallmanager dem Familiengericht mit, eine Aussage zur aktuellen Situation sei nicht möglich, da kein Kontakt zur Mutter zustande komme. Als "Krönung" in diesem Fall bezeichnet der Prüfer, dass ein Gerichtstermin wegen der Erkrankung der Mutter zwar verschoben werden musste, dabei aber völlig ungeklärt blieb, wo das Kind in dieser Zeit blieb. Die Vorlage für eine Wochenkonferenz, in der über das weitere Schicksal zweier Brüder beraten werden sollte, beurteilt der Prüfer als "oberflächlich". Wiederholt moniert der Fachmann, dass bestimmte Kinder nie in Augenschein genommen und der Fallmanager trotz Hinweisen zur Gefährdung des Kinderwohls keine Hausbesuche gemacht habe. Die Kritik gipfelt in der Feststellung: "Die vorgetragene Position (des Fallmanagers, Anm. der Redaktion) in einem Scheidungsverfahren hält der Unterzeichner für schlicht peinlich." 

Weser Kurier  vom 30.12.2006

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Arzt aus dem Klinikum beruft sich auf Schweigepflicht 

Vermeintlicher Vater Bernd K. lässt Erklärung verlesen

Von Volker Junck

Parlamentarischer Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" zum Tode von Kevin: Ein geladener Zeuge aus dem Klinikum Bremen Ost berief sich vorgestern auf seine ärztliche Schweigepflicht und verlas eine Erklärung von Bernd K., die ihn ausdrücklich daran band. Der Ausschuss-Vorsitzende Helmut Pflugradt (CDU): "Das müssen wir akzeptieren." Er entließ den Zeugen unbefragt. Im Raum blieb bei manchem Beobachter die Frage offen, wieso andere Ärzte, Sozialarbeiterinnen, Polizisten, Drogenberater oder Familienhelferinnen detaillierte Angaben gemacht und sich nicht auch auf ihre berufliche Schweigepflicht berufen haben? Die Erklärung liegt in den besonderen Umständen: Aus Bernd K., der während der Ermittlungen zunächst als Kindesvater galt, ist inzwischen der "vermeintliche Kindesvater" geworden, weil eine DNA-Analyse ergab, dass er nicht Kevins biologischer Vater ist. Da er auch nicht mit der Mutter verheiratet war und kein Sorgerecht besaß, hat er rein juristisch keine Verbindung zu Kevin und gilt allein als Beschuldigter an dessen Tod. Bei der verstorbenen Mutter Sandra K. geht der Untersuchungsausschuss von einem "mutmaßlichen Willen zur Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht" aller Geheimnisträger aus. Dies lässt die geltende Rechtsprechung zu. Für den Jungen liegt dem Ausschuss eine Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht durch seine Großmutter und vom Amtsvormund vor.Der behandelnde Arzt von Bernd K. im Klinikum Bremen Ost teilte immerhin mit, dass dieser sicher verwahrt in der Forensik untergebracht sei. Wann und unter welcher Beschuldigung gegen ihn Anklage erhoben werden soll, steht nach Aussage der Staatsanwaltschaft erst fest, wenn das endgültige Gutachten zur Todesursache von Kevin vorliegt. Die Beteiligung verschiedener Institute gestalte dies ungemein aufwändig. Ein Strafverfahren gegen Bernd K. wegen der möglichen Beteiligung am Tod von Kevins Mutter ruhe derzeit. Laut rechtsmedizinischem Gutachten ist die HIV-infizierte und drogenkranke Sandra K. im November vergangenen Jahres eindeutig infolge eines Milzrisses verblutet. Die Ursache für diesen Milzriss ist bis heute nicht geklärt. Ein damals an dem Einsatz beteiligter Polizist hatte ausgesagt, dass Bernd K. die Rettungskräfte behindert habe und geflüchtet sei. Da er aber ziemlich betrunken gewesen war, hätte man ihn schnell wieder einfangen und fesseln können. 

Weser Kurier  vom 22.12.2006

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Kopfschütteln im Untersuchungsausschuss

Familienhelferin zeichnet das Bild einer heilen Welt - Erschütternde Aussagen der Tagesmutter

Von Volker Junck

Kopfschüttelnd verfolgten gestern Zuhörer und Parlamentarier die Vernehmung einer Sozialarbeiterin im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl". Ihnen wurde eine heile Welt geschildert, die mit den bekannten Fakten über Kevins kurzes Leben und sein qualvolles Sterben so gar nicht zusammenpassen wollte. Kevins Mutter war im November 2004 betrunken im Treppenhaus mit dem vernachlässigten Baby im Arm gefunden worden, woraufhin die Polizei den Jungen ins Hermann-Hildebrand-Haus brachte.

Nach Schilderung der Polizei wurde jedoch eine Sozialarbeiterin beim Familienkrisendienst ohne jede Information über die Familiensituation beauftragt, Kevin wieder nach Hause zu holen. In den folgenden sechs Wochen will sie weder etwas von den Alkoholproblemen des Paares noch sonstige Auffälligkeiten bemerkt haben. Sie schilderte eine intakte Welt mit großer Fürsorge für Kevin, der mit Bio-Kost ernährt worden sei und auch sonst viel Zuwendung erfahren habe.

Sie berichtete von Bernd Ks Bekehrung zum christlichen Glauben und akzeptierte auch seine Erklärung, die gerade verheilten Knochenbrüche stammten aus einer heftigen Umarmung durch eine Nachbarin." Haben sie das wirklich geglaubt?", fasste Ausschuss-Mitglied Birgit Busch (SPD) nach und Kollege Klaus Möhle (Grüne) zeigte sich "sehr verwundert" ob dieser Darstellung. Rita Mohr-Lüllmann (CDU): "Und die Unterernährung ist Ihnen auch nicht aufgefallen? "Ein anderes Bild zeichnete der Arzt Johann Ebend als Gutachter vom Gesundheitsamt, der den entwicklungsgestörten Kevin zum gleichen Zeitpunkt für eine Förderung durch "Frühe Hilfen" untersuchte.

Er schilderte die Mutter als kaum ansprechbar, da sie zum Methadon offenbar auch ständig Alkohol und anderen "Beigebrauch" konsumiert habe. "Mich hat sehr verwundert, wie das Kind in einer Familie mit dieser Vorgeschichte bleiben dufte", fasste er seinen Eindruck zusammen. Doch seine Anrufe beim Jugendamt hätten nichts bewirkt. Zwei Polizisten vom Gröpelinger Revier berichteten gestern von einigen Einsätzen in der Kulmer Straße, wenn die Streitigkeiten zwischen Kevins Mutter und Bernd K. eskalierten.

So mussten sie die betrunkene Sandra K. auch einmal zur Ausnüchterung mit auf die Wache nehmen. Der dramatischste Einsatz habe am 12. November vergangenen Jahres stattgefunden, als die Polizei von Rettungskräften zur Unterstützung gerufen wurde, weil sie der tobende Bernd K. daran hinderte, die sterbende Sandra K. zu versorgen. Bis heute ist nicht geklärt, ob sie an Aids, an einem Milzriss oder durch ihre allgemeinen Lebensumstände mit jahrelangem Drogenkonsum gestorben ist.

Nach ihrem Tod wurde ein Amtsvormund für Kevin bestellt. Doch gegen alle Warnungen auch aus dem Hermann-Hildebrand-Haus bekam Bernd K. den kleinen Kevin zurück. Mit leiser Stimme schilderte die aus Syrien stammende Tagesmutter Tagesmutter das weitere Martyrium Kevins. Zusammen mit einer befreundeten Frau stellte sie etliche Hämatome an Kevins Körper fest. Die Frauen fotografierten die blauen Flecken, einen wahrscheinlich gebrochenen Fuß und informierten den zuständigen Fall-Manager beim Jugendamt. Doch der erstattete nicht etwa Anzeige, sondern berichtete Bernd K. von den Anrufen der Frauen, die darauf von diesem so massiv bedroht wurden, dass sie nur noch Angst hatten. So verlief auch das Angebot der Tagesmutter im Sande, Kevin kostenlos in Pflege zu nehmen.

Ein als Zeuge geladener Arzt aus der Psychiatrie im Klinikum Bremen Ost verwies gestern auf seine Schweigepflicht und verweigerte jede Aussage. Zumindest ließ er wissen, dass Bernd K. in der geschlossenen forensischen Abteilung untergebracht ist..

Weser Kurier  vom 18.12.2006

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Nur die Spitze des Eisbergs

In Hannover hätte der Fall Kevin so nicht passieren können. Diesen Eindruck erweckte gestern ein Mitarbeiter des Jugendamtes Hannover. Denn da gibt es einen "Krisendienst", der sich rund um die Uhr bereit hält für akute Fälle. Und wenn es dringend ist, dann entscheidet der Sozialarbeiter vor Ort, ein Kind aus einer Familie herauszunehmen.

Kommentar von Klaus Wolschner

Kevin wäre diesem Krisendienst mehrfach begegnet. Dass ein offenbar überforderter Mitarbeiter des Amtes für Soziale Dienste über Monate alle Alarmzeichen ignorieren oder verdrängen und immer allein entscheiden kann, wäre in Hannover kaum vorstellbar. Eine Bremer Delegation wird demnächst nach Hannover pilgern, um sich das System des Krisendienstes erklären zu lassen. Dem Untersuchungsausschuss sei dank.

Aber was ist eigentlich mit der fachlichen Aufsicht im Bremer Amt? Wenn die "Akte Kevin" so katastrophal geführt wurde - wie sehen die anderen Akten aus? Wenn viele im Sozialamt wussten, dass der Case-Manager von Kevin überfordert war von seinem Beruf - warum passierte nichts? Wie sieht es mit der Fachaufsicht aus? Wie kann es sein, dass so viele Hinweise an das Amt versickerten? Offenbar kommt im Untersuchungsausschuss Kevin nur die Spitze eines Eisberges ans Tageslicht.

taz vom 21.12.2006

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Kevins vorletzte Chance

Vor dem Untersuchungsausschuss schildert die Pflegemutter ihre Erfahrung mit Kevin und dem Amt für Soziale Dienste

Am dritten Verhandlungstag des Untersuchungsausschusses "Kindeswohl" war die Tagesmutter als Zeugin geladen, die im Frühjahr 2006 eingeschaltet worden war. Der Stiefvater lehne die Tagesmutter ab, weil sie eine "Türkin" sei, steht in der Akte des Case-Managers von Kevin. Die Abgeordneten staunten gestern nicht schlecht, was passiert war - aus Sicht der Tagesmutter.

Die Frau, eine Syrerin, hat immer wieder Kinder aus schwierigen sozialen Umständen in Pflege. Zurückgeblieben, schwach, unterernährt sei Kevin gewesen. Sie sei entsetzt gewesen, wie eingeschüchtert sich das Kind gegenüber dem Vater zeigte. Der habe ihr ein Fläschchen mit aufgelösten Magnesium-Tabletten und Salzstangen für die Ernährung in die Hand gedrückt.

An ihrem dritten Pflegetag habe Kevin nicht längere Zeit stehen können. Eine andere Mutter war gerade zu Besuch, die beiden Frauen nehmen den Verband am Fuß ab - und entdecken einen offenbar gebrochenen Fuß. Dann blaue Flecken an mehreren Körperstellen, eine Verletzung an der Hand. Die beiden Frauen rufen beim Amt für Soziale Dienste an, erreichen lange Zeit niemanden, dann erzählen sie - eine Stunde lang - dem Pflegedienst von den Verletzungen, sagen, dass man dem Mann das Kind nicht anvertrauen dürfe. Antwort des Pflegedienstes, so die Tagesmutter: Es sei kein Geld da für eine Pflege. Sie habe so sehr Mitleid gehabt, dass sie dem Pflegedienst angeboten habe, Kevin so aufzunehmen. Sie erhalte ohnehin nur 50 Cent pro Stunde. Antwort des Pflegedienstes: Ohne Geld - das gehe nicht.

Die beiden Frauen erreichen dann doch den Case-Manager, erzählen von den Verletzungen, fragen, was sie machen sollen. Der habe erklärt, er kümmere sich. Ohne sofortige Hilfe werde Kevin bei seinen Verletzungen den nächsten Tag nicht überleben, habe sie gesagt, erinnert sich die Pflegemutter.

Offenbar hatte der Case-Manager den Stiefvater direkt von den Vorwürfen unterrichtet. Der holte jedenfalls Kevin überstürzt ab - und brachte ihn nie wieder. Dass Kevin einem Kinderarzt vorgeführt wurde, ist aus den Akten nicht ersichtlich. kawe

taz vom 21.12.2006

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Zu wenig Geld für Kinder in Not

Leserbriefe zu: "Der Tod war schneller als das Amt", taz  vom 11.10.2006

Leserbrief von SABINE WEBER, Geschäftsführerin Mädchenhaus Bremen e.V.:

Die Entscheidung, ob und wie in dieser Stadt ein Kind oder Jugendliche/r innerhalb der Jugendhilfe versorgt wird, ist schon seit längerem viel zu sehr geprägt von finanziellen Eckwerten und so genannten Zielzahlen. Die Fachlichkeit blieb immer mehr auf der Strecke, die Angst vor "dem ersten toten Kind" wurde immer größer.

Die politische Entscheidung, in der Jugendhilfe "ambulant vor stationär" zu steuern, hatte katastrophale Folgen. Natürlich ist die Familie für Kinder und Jugendliche der wichtigste Ort, aber leider ist er nicht immer der richtige. Es hat in der Vergangenheit auch in unserer Einrichtung viele Fälle gegeben, in denen Mädchen in ein Familiensystem zurückwollten, das extrem gestört und auch nicht mehr reparabel war. Diese Jugendlichen gehen zurück aus dem tiefen Bedürfnis heraus doch noch die Zuwendung und Geborgenheit zu bekommen, die ihnen in ihrem bisherigen Leben versagt wurde. Das sind die Kevins und Jessicas, die überlebt haben, die teilweise schwerst traumatisiert sind und denen in unserem Jugendhilfesystem zu wenig, zu spät oder gar nicht geholfen wird.

Was den Verantwortlichen aber auch immer bekannt ist, das sind die teilweise massiven Einwände der Fachkräfte der freien Träger, die mit diesen Familien arbeiten. Diese fachlichen Einschätzungen und Warnungen wurden in den letzten Jahren zunehmend ignoriert und übergangen. Und dies auch aus finanziellen Gesichtspunkten.

Leserbrief von CHRISTIANE RENZELMANN und WOLFGANG KLAMAND, Personalrat beim Amt für Soziale Dienste , Bremen:

Das Kind Kevin ist tot. Ihm gehört unsere Trauer und auch Scham darüber, dass so etwas möglich ist. Dafür Verantwortliche - egal an welcher Stelle - werden die Verantwortung mit den entsprechenden Konsequenzen übernehmen müssen. Es gibt aber noch die andere Seite derselben Medaille. Mit unglaublicher Hysterie wird eine ganze Berufsgruppe in der Luft zerrissen. Ein verdächtigter Mitarbeiter wird vor seiner Wohnung belagert. BehördenmitarbeiterInnen werden namentlich öffentlich gebranntmarkt, obwohl es mehr Fragen als sichere Antworten gibt.

Die KollegInnen im Ambulanten Sozialdienst Junge Menschen - übrigens nicht nur da! - arbeiten unter ungeheurem Druck. Fast jede/r KollegIn hat mehrere vergleichbar schwere Betreuungsfälle wie den von Kevin. Vor ca. zehn Jahren waren ungefähr 200 (!) SozialarbeiterInnen für Kinder und Jugendliche und deren Familien im Amt zuständig, heute sind es noch knapp 120. Die Budgetrahmen werden nicht von den MitarbeiterInnen im Amt, sondern auf politischen Ebenen entschieden. Die JugendamtsmitarbeiterInnen müssen die Vorgaben unter großem Druck und mit viel bürokratischem Aufwand einhalten.

Lesebrief von GERHARD TERSTEEGEN aus Bremen (früher Regierungsdirektor im Jugend- und Sozialressort):

Der kleine Kevin ist nicht zuletzt Opfer einer Lebenslüge der Bremer Jugendhilfepolitik geworden. Die Lebenslüge der vergangenen Jahre hieß: Budgets für Jugendhilfe-Maßnahmen und -Personal lassen sich stetig weiter absenken, ohne dass dies zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen und deren Familien gereicht.

Das Sparen in der Jugendhilfe verband sich stets mit Organisations-"Reformen", Personalabbau, Privatisierungen und Veränderungen der Regelwerke (=fachliche Weisungen). Die "Neujustierung" nach primär fiskalischen Vorgaben wurde in der Regel als fachlicher Fortschritt ausgegeben. Bis auf wenige Ausnahmen haben sich die Leitungskräfte im Jugend-Ressort und im Amt für soziale Dienste (=Jugendamt) diesen verfälschenden Sprachregelungen angepasst oder sie sich zu eigen gemacht.

Lesebrief von  PETER HARTUNG aus Nidda:

Jugendamtsleiter Jürgen Hartwig hat all diese Reformen mit Ehrgeiz und Vehemenz vorangetrieben, um - als ehemaliger Referent im Finanzressort - unter Beweis zu stellen, dass man Sparvorgaben des Senats auch im Jugendbereich organisatorisch auf stramme Weise exekutieren könne. 

Aufgrund steigender Fallzahlen sind in den letzten Jahren die Kosten für Heimunterbringung oder Inobhutnahme durch eine Pflegefamilie in den Kommunen rasant angestiegen. Es ist kein Geheimnis, dass intern die finanzpolitische Vorgabe existiert, diese Kosten zu senken und im Rahmen der so genannten Fallkonferenzen auf Verbleib der gefährdeten Kinder in den Ursprungsfamilien hingewirkt wird. Deshalb steht an allerletzter Stelle der Schutzaspekt mit Inobhutnahme. Zuvor versucht die Jugendhilfe die Familie zu stabilisieren, ein unterstützendes Umfeld zu organisieren, Bildungs- und Lernangebote zu entwickeln, ortsnahe Hilfe anzubieten.

Ergänzend ist anzumerken, dass es durchweg politischer Wille der meisten Kommunalfraktionen ist, die Jugendhilfekosten aufgrund der hohen Sozialhaushaltdefizite zu begrenzen bzw. zu senken. Deshalb sind die aktuellen politischen Äußerungen zum Thema nichts anderes als scheinheilige Krokodilstränen.

taz vom 16.10.2006

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Hilfe mit der Schere im Kopf

Kritische Thesen für den Untersuchungsausschuss zum Fall Kevin - Heute beginnt die Zeugenvernehmung

Von Wigbert Gerling

Es ging um die Qualität der Hilfe für Kinder und Jugendliche in Not – die Veränderungen im Jugendamt aber seien nach dem Vorbild von "Sanierern in Unternehmen“ abgelaufen, unterstützt von "meist fachfremden externen Beratern“. So heißt es in einem Papier, das zu den Akten für den Untersuchungsausschuss gehört, der die Hintergründe im Fall Kevin beleuchten will und heute im Haus der Bürgerschaft mit der Zeugenvernehmung beginnt. Im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl“, heißt es im Einsetzungsbeschluss, sollen die "Ursachen des mutmaßlichen Versagens der zuständigen Behörden im Fall des zweijährigen Kevin“ ermittelt werden.

Die "Steuerungs- und Kontrollfunktionen“ der Verwaltung würden unter die Lupe genommen. Überdies werde geprüft, ob Behördenweisungen zur Gefährdung des Kindes beigetragen hätten und wie sich die Haushaltspolitik in der Jugendhilfe ausgewirkt habe. Die Haushaltspolitik spielt auch eine tragende Rolle in der kritischen Bestandsaufnahme, die bei den Parlamentariern im Ausschuss eingegangen ist. Verfasser ist Gerhard Tersteegen, einst Regierungsdirektor im Jugend- und Sozialressort und seit kurzem Pensionär. "Der tragische Tod des kleinen Kevin,“ schreibt er, "ist nicht zu erklären ohne einen kritischen Rückblick auf die Umorganisationen im Bremer Jugendamt seit 1999, die in der Tendenz eine Entfachlichung dieser Behörde zur Folge hatte.“

Tersteegen fügt eine Liste von Thesen an, die den Abgeordneten einen Eindruck davon vermitteln sollen, "unter welchen atmosphärischen und fachlichen Bedingungen die Arbeit der ambulanten Dienste in den vergangenen Jahren vonstatten ging“. Eine zentrale These des Verfassers: Die Arbeit in der Verwaltung sei immer mehr von wirtschaftlichen Maßstäben bestimmt worden ("Ökonomisierung des Amtes“). Hilfeleistungen für Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen seien in betriebswirtschaftlicher Manier als "Produkte“ etikettiert, die Klienten als "Kunden“ betrachtet und dabei fachliche Belange in den Hintergrund gedrängt worden. Der frühere Regierungsdirektor: "Im Kern des neuen Controlling stand die Überwachung der Sparvorgaben.“

An die Stelle der notwendigen fachlichen Steuerung und Kontrolle sei eine vorrangig fiskalische Lenkung getreten, was bei "nicht wenigen Fachkräften innere Ängste“ ausgelöst habe. Entscheidungen über Hilfsmaßnahmen seien von der "Schere im Kopf“ beeinflusst worden. Folgt man den Einschätzungen des Autors der Thesen, dann hat sich die Leitung des Jugendamtes "weniger als fachliche Sachwalterin der Interessen und Rechte der Klienten im Geiste des Jugendhilfe-Gesetzes gezeigt, denn als loyale Erfüllerin von Spar-Imperativen“. Und: "Alle Versuche, die neuen – rein spar-orientierten – Denkweisen im Jugendamt kritisch zu beleuchten und einer Fachdiskussion auszusetzen, wurden energisch torpediert.“ Tersteegen hatte bereits zum Auftakt der Umorganisationen in einem Fachartikel vor möglichen Folgen gewarnt und in einer Zuspitzung die Frage formuliert, ob am Ende nicht die fiskalischen Interessen der Verwaltung wichtiger würden als die Verbesserung der Lebenslagen von Hilfsbedürftigen – "eine verhängnisvolle Affäre?“

Weser Kurier  vom 18.12.2006

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Berichte von "furchtbaren Konferenzen"

Mitarbeiter des Klinikums Bremen-Nord schildern Gesprächsrunden mit Kevins Eltern und der Drogenhilfe

Von Volker Junck

War es das Versagen Einzelner? Oder stimmt die ganze Struktur der Familienhilfe nicht? Um diese zentrale Frage kreisten die Zeugenvernehmungen auch am zweiten Tag des Untersuchungsausschusses "Kindeswohl“ zum qualvollen Tod von Kevin. Der niedergelassene Kinderarzt Volker Rongen-Telscher, der das Vorsorgeheft von Kevin geführt hat, vertrat gestern die These, dass der Tod des Zweijährigen eine Folge grober organisatorischer Schwächen und Fehlentwicklungen beim Amt für Soziale Dienste und dem Jugendamt gewesen ist. Von einem funktionalen Netzwerk könne keine Rede sein.

Die Vernehmung des Arztes im Sitzungssaal im Haus der Bürgerschaft nahm breiten Raum ein und gipfelte in der Aussage, dass der Junge "überall hin, nur nicht zu diesem Vater gehört habe“. Spätestens, nachdem Kevin als völlig unterernährtes Baby mit unübersehbaren Zeichen von schweren Misshandlungen in die Professor Hess-Kinderklinik eingeliefert worden war, hätte das Jugendamt die "Reißleine“ ziehen müssen. Warum dies nicht schon nach seiner Geburt als Frühchen einer drogenkranken und HIV-infizierten Mutter im Januar 2004 passiert ist, versuchten gestern Oberarzt Christian Ribbentrop von der Kinderabteilung im Klinikum Bremen-Nord und die leitende Sozialarbeiterin Anne Kahle-Greffath zu erklären.

Sie berichteten von einem gut funktionierenden Betreuungskonzept für substituierte Mütter am Klinikum, allerdings habe es erhebliche Schwierigkeiten bei der Abstimmung mit der kommunalen Drogenhilfe gegeben. Sie schilderten "furchtbare Konferenzen“ mit Vertretern der kommunalen Drogenhilfe, Kevins Eltern und deren substituierendem Arzt. Dabei habe Bernd K., der vom Ausschuss immer noch als Kindesvater bezeichnet wird, obwohl er es nachweislich nicht war, auch Morddrohungen gegen Anne Kahle-Greffrath ausgestoßen. "Wir haben in erster Linie das Kindeswohl im Auge und die Drogenhilfe das der Abhängigen“, meinte sie gestern.

So sei es auch zum "Hinauskegeln“ der Familienhebamme gekommen. Ribbentrop schilderte, wie Bernd K. auch die Stationsärztin und Schwestern der Gynäkologie derart massiv bedroht hatte, dass er ihm schließlich Hausverbot erteilen musste. Trotz allem habe man sich auf den "kleinstmöglichen Kompromiss“ verständigt und Kevin mit dem Paar nach Hause gegeben – unter der Auflage einer Entgiftungstherapie in der Suchtklinik Heiligenhafen.

Über das Ergebnis sei nie ein Bericht in Bremen eingegangen. Fest steht, dass Sandra K. bis zu ihrem Tod im November vergangenen Jahres neben Methadon auch Tabletten und reichlich Alkohol konsumierte. So schilderte ein Streifenpolizist einen Einsatz zu spätabendlicher Stunde bei einer betrunkenen Frau, die laut Zeugen ihr Kind auf der Straße durch die Luft geschleudert habe. Es sei Kevins Mutter mit einem Pegel von knapp zwei Promille gewesen. "Und was haben Sie dann gemacht?“, wollte der Ausschuss-Vorsitzende Helmut Pflugradt vom Beamten wissen. "Einen Bericht an die Sozialbehörde geschrieben und nie wieder etwas davon gehört“, antwortete der Polizist.

Es kam auch mehrmals die Fähigkeit von Drogenabhängigen zur Sprache, mit den Angeboten der Familienhilfe zu jonglieren, Mitarbeiter verschiedener Institutionen gegeneinander auszuspielen und eine heile Fantasiewelt vorzugaukeln. Dies ist dem Paar offensichtlich auch bei einem Sozialarbeiter vom Dienstleister "Frühe Hilfen“ gelungen, der auch auf mehrmaliges Nachfragen hin keinerlei bedrohliche Anzeichen bei Kevin bemerkt haben will.

Weser Kurier  vom 19.12.2006
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Auftakt zum Untersuchungsausschuss "Kevin" Bremen ist überall

Kommentar von Peter Voith

Peter VoithDer Name Kevin ist inzwischen zum Synonym für das vereinzelte Versagen des Staates geworden, Kinder vor gewalttätigen Eltern angemessen zu schützen. Gestern Kevin aus Bremen, Jessica aus Hamburg und Benjamin aus Stendal, heute der verdurstete Leon aus Sömmerda - und morgen? Hoffen wir, dass uns weitere Todesfälle von verwahrlosten Kindern erspart bleiben. Aber Hoffen allein reicht nicht. Eine kritische Bestandsaufnahme des staatlichen Hilfesystems ist gefragt. Dazu bietet der gestern begonnene Untersuchungsausschuss eine einmalige Gelegenheit. Und es möge keine Kreis- oder Stadtverwaltung behaupten - wie nach dem Bekanntwerden von Kevins Tod geschehen -, bei ihr könne so etwas nicht passieren. Diese Selbstüberschätzung grenzt an Ignoranz.

Wenn Bremens Parlamentarier sich jetzt dankenswerterweise des Falles Kevin annehmen, dann tun sie das auch stellvertretend für die Hilfesysteme im Rest der Republik. Denn nicht nur in Bremen klagen etwa Jugendämter über betriebswirtschaftliche Vorgaben und Personalmangel, klagen freie Wohlfahrtsverbände über schlechte Auftragslagen. Insoweit hat es auch ein Gutes, wenn die Republik wegen des Todes von Kevin seit gestern auf Bremen schaut.

Sicher: Die Umstände von Kevins Tod mögen einige Besonderheiten aufweisen. Zum Beispiel die, dass trotz der Nachfragen des Regierungschefs und seiner Sozialsenatorin ein Sozialarbeiter offensichtlich nicht dazu zu bewegen war, sich verstärkt um das Kind zu kümmern. Allerdings: Den Fall auf das Versagen einzelner Personen zu reduzieren, würde ihm kaum gerecht - denn wenn es um verwahrloste Kinder geht, wird man leider zu der Feststellung kommen müssen: Bremen ist überall.

Aber Bremen will nicht das Synonym bleiben für den Tod eines Kindes unter der Obhut des Staates. So darf man den Parlamentariern bei ihrer Untersuchung eine glückliche Hand wünschen und hoffen, dass der Name Kevin im bevorstehendem Bürgerschafts-Wahlkampf auf keinem Plakat zu sehen sein wird.

Weser Kurier  vom 19.12.2006
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Das totale Amtsversagen

Was kann der Untersuchungsausschuss zum Tod des zweijährigen Kevin noch ans Tageslicht bringen? Das haben einige gedacht, als die Bürgerschaft vor zwei Monaten das aufwändige Verfahren beschloss. In dem Untersuchungsbericht des Justiz-Staatsrates Ulrich Mäurer stehe doch alles drin, so die Meinung vieler. Doch nach dem gestrigen ersten Vernehmungstag wird das niemand mehr sagen.

Kommentar von Klaus Wolschner

Allein aus der Aktenlage, ohne die Befragung von Zeugen, habe sich ein Verdacht gegen die Mitarbeiter des Jugendamtes wegen unterlassener Hilfeleistung ergeben, so Mäurer. Und: Es sei ein Wunder, dass Kevin die ersten Monate überlebt habe. Auch die Familienhebamme, die Kevins Mutter betreute, redete Klartext. Anhand von präzisen Beobachtungen schilderte sie, warum sie schon früh den Eindruck gewonnen hatte, dass die Mutter völlig überfordert sei. Man wünscht sich, diesen klaren Blick hätten auch die Mitarbeiter des Jugendamtes besessen. Der Case-Manager sei desinteressiert, "konzeptlos" und "unengagiert" gewesen, im Grunde von seiner Verantwortung überfordert, beschrieb die Hebamme ihren Eindruck. Mit Unterstützung der Drogenhilfe sei sie früh und gezielt aus der Betreuung des Kindes herausgedrängt worden.

Das Fazit: Es besteht erheblicher und dringender Reformbedarf im Amt für soziale Dienste.

taz vom 19.12.2006

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Warum Kevin sterben musste

Erster Tag im Untersuchungsausschuss "Kindeswohl": Die Familienhebamme von Kevin hatte schon vor der Geburt den Eindruck gewonnen, dass die Mutter überfordert sein würde von ihrer Aufgabe

Von Klaus Wolschner

Der Untersuchungsausschuss "Kindeswohl" hat seine Arbeit gestern aufgenommen, 24 Zeugen sollen in dieser Woche insgesamt vernommen werden. Es geht darum, aufzuklären, ob der Tod des zweieinhalbjährigen Kevin, der am 10. Oktober tot im Eisschrank bei seinem Stiefvater aufgefunden worden war, Folgen für das System der Jugendhilfe in Bremen haben muss. Immerhin stand das Kind, seitdem seine Mutter tot war, unter der Amtsvormundschaft des Staates.

Der erste Arbeitstag des Untersuchungsausschusses hat dafür schon reichlich Hinweise geliefert. Zum Beispiel hat der Vormund "sein" Kind gerade ein Mal gesehen in mehr als einem halben Jahr, in dem er verantwortlich war, und das in einer Konferenz. Die Arbeit der Vormundschaft sei zu einer Verwaltungsarbeit geworden, berichtete Staatsrat Ulrich Mäurer, der im Auftrage der zurückgetretenen Senatorin Karin Röpke die Akten zu dem Fall untersucht hatte. Er war der erste Zeuge im Untersuchungsausschuss. Ein Vormund müsse sich, wenn er hunderte von Akten zu führen habe, voll auf den Sozialarbeiter - den Case-Manager - verlassen.

Der aber war offenbar nicht nur überfordert von seiner Arbeit, sondern hat auch in Berichten an die Leitung des Amtes für soziale Dienste Sachverhalte verfälschend dargestellt. So wurde der Sozialsenatorin und letztlich dem Bürgermeister nach ihrer Intervention im Januar 2006 berichtet, alles sei gut, Kevin sei inzwischen bei einer Tagesmutter in Betreuung - eine von verschiedenen Situationen, in denen der Case-Manager seine Wünsche mit vollzogenen Tatsachen durcheinander brachte.

Nach den Berichten des Klinikums Bremen-Nord, in dem Kevin zur Welt kam, hätte das Kind seinen drogenabhängigen Eltern nur mit einem klaren Hilfeplan überlassen werden dürfen - wenn überhaupt. Warum hat der Sozialarbeiter entschieden, das Kind könne zu den Eltern? Die Mutter komme da kaum vor, keine Abwägung der Risiken sei erkennbar, überhaupt sei das eher eine "Lose-Blatt-Sammlung" als eine Akte, formulierte Mäurer. Obwohl für alle Beteiligten klar gewesen sei, dass Kevins Eltern auf jeden Fall Hilfe benötigten, sei nach Aktenlage über Monate nichts passiert - "als wenn Kevin vom Bildschirm der Behörde verschwunden wäre", formuliert Mäurer. Aktenkundig wurde Kevin erst wieder, als die Polizei die volltrunkene Mutter abends um 22 Uhr mit dem 7 Monate alten Säugling aufgriff - und das Sozialamt informierte. Diese Phase der Untätigkeit, so Mäurer, begründete für die Staatsanwaltschaft den Verdacht unterlassener Hilfeleistung und es sei für ihn ein "Wunder", dass Kevin diese ersten Monate überlebt hat.

Aus der frühen Zeit berichtete auch die Familienhebamme, die gestern als Zeugin aussagte. Für sie war recht klar, dass die Mutter von Kevin völlig überfordert war mit ihrer Aufgabe. So habe die Mutter sich geweigert, eine vom Krankenhaus angeratene Medizin zu nehmen, die das Kind vor Folgen ihrer Hepatitisinfektion schützen sollte. Insgesamt sei "keine mütterliche Sorge" erkennbar gewesen in der Vorbereitungsphase der Geburt. "Wenn ich gehe, geht das Kind auch", habe die Mutter in Bezug auf ihre Krankheiten einmal gesagt. Die Drogenhelferin habe die Haltung der Mutter, ihre Interessen über die des Kindes zu stellen, unterstützt. In einem Bericht über Konflikte zwischen Gesundheitsamt und Amt für soziale Dienste hat die Familienhebamme Monate später den Fall Kevin ausführlich beschrieben.

taz  vom 19.12.2006

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Besorgte Familienhebamme warnte Jugendamt vergeblich

Fallmanager soll desinteressiert auf alle Hinweise reagiert haben

Von Rose Gerdts-Schiffler

 Die zweite Zeugin im Untersuchungsausschuss stellte so etwas wie eine Idealbesetzung dar: sachlich, differenziert, kurz und bündig. Zwischen den Sätzen der 34-jährigen Familienhebamme blitzte immer wieder ihr großes, wenn auch vergebliches Engagement durch. Ein Jahr lang sollte sie die problematische Familie des kleinen Kevin unterstützen. Doch dort war ihre Hilfe nicht gefragt. "Die Mutter empfand meine Arbeit als Kontrolle." Vergeblich bemüht sich die Hebamme, die werdende, HIV-kranke Mutter davon zu überzeugen, Medikamente einzunehmen, um, wie Ärzte es empfohlen hatten, die "Viruslast des Kindes bei seiner Geburt zu verringern". Dabei kämpfte die Frau nicht nur gegen das Misstrauen der süchtigen Eltern, sondern auch gegen eine Mitarbeiterin des Arbeitskreises Kommunale Drogenpolitik. Wenige Wochen nach Kevins Geburt spricht sich die Hebamme auf seiner ersten Fallkonferenz dagegen aus, das er künftig bei seinen Eltern leben soll. Denn: "Die Mutter ließ keine mütterliche Sorge erkennen." Der Sozialarbeiter als eigentlicher Akteur sei an dem Tag, bei der Fallkonferenz, nicht aufgefallen. "Von Fallmanagement konnte keine Rede sein."I m Februar muss sie ihre gerade begonnene Arbeit schon wieder beenden, da die Eltern weitere Hilfen ablehnen. Der Sozialarbeiter habe die Entscheidung der Eltern akzeptiert. Dennoch bleibt die Hebamme an dem Schicksal des Jungen dran. Nach ihren Schilderungen meldet sie sich auch später mehrfach bei dem Fallmanager, um ihm zu schildern, dass die Eltern betrunken mit ihrem Kind durchs Ostertor gezogen seien. Im Juli 2005 beobachtet sie, wie die "zugedröhnten Eltern" vergeblich versuchen, Kevin auf der Straße zu füttern. "Der Löffel ging immer knapp an seinem Mund vorbei." Doch der Sozialarbeiter habe auf ihre Hinweise "nur sehr desinteressiert" reagiert. Als sie vom Tod der Mutter hört und erfährt, dass Kevin nun angeblich bei der Großmutter lebt, meldete sie sich erneut bei dem Mann. "Ich wollte wissen, ob sich jemand die neue Umgebung von Kevin angeschaut hat". Der Sozialarbeiter verneint. Zum Schluss wird sie gefragt, wie sie die Arbeit des Sozialarbeiters beschreiben würde. Die Hebamme muss nicht lange überlegen. "Unengagiert und konzeptlos."

Weser Kurier  vom 19.12.2006
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Mäurer: Nur beschönigende Berichte

Staatsrat kritisiert Sachbearbeiter im Fall Kevin - Zeugenaussage zum Auftakt des Untersuchungsausschusses

Von Rose Gerdts-Schiffler

Staatsrat Ulrich Mäurer war der erste Zeuge imr UntersuchungsausschussIrgendwann am Vormittag fällt dieser Satz: "Es ist ein Wunder, dass Kevin die ersten Monate überlebt hat." Detailliert skizzierte gestern der erste Zeuge im Untersuchungsausschuss, Justiz-Staatsrat Ulrich Mäurer, eine erbärmliche Kindheit unter staatlicher Aufsicht. Dabei wurde deutlich, dass der Fallmanager des Jungen anscheinend mehr Zuschauer als Akteur war.Und ein weiterer Satz des prominenten Zeugen, der nach dem Tod des Kindes einen Bericht erstellte, findet sich anschließend in den Blöcken der Journalisten wieder: "Ich hoffe sehr, dass es noch weitere Aktivitäten seitens des Jugendamtes im Fall Kevin gab als die, die dokumentiert sind." Mäurer beschreibt die Akte "Kevin" als eine Art "Lose- Blatt-Sammlung". Keine Einführung in den Fall, für Dritte kaum nachvollziehbar.

Dies aber sei Grundvoraussetzung für eine ordentlich geführte Akte. "Es ist nicht erkennbar, aufgrund welcher Prognosen Entscheidungen hinsichtlich des kleinen Jungen, dessen Eltern beide drogenabhängig und kriminell waren, getroffen wurden", sagt Mäurer. Schweigt und fügt hinzu: "Oder ob überhaupt Entscheidungen gefällt wurden." So finde sich der dramatische Lebensweg der Mutter, die mit 13 Jahren Drogen nahm, Alkoholikerin war und sieben Jahre in Haft verbrachte, kaum in der Akte wieder. Ein wenig mehr Informationen gebe es über den Vater, der, wie sich erst vor kurzem herausstellte, nicht der biologische Vater ist.

Auch er Alkoholiker, ein Mann, der schnell "ausrastet" und die Hälfte seines erwachsenen Lebens in Haft verbrachte. Mäurers Schlussfolgerung: "Eine denkbar schlechte Perspektive für ein Kind." Zumal Kevin am 23. Januar 2004 zu früh und schwer krank zur Welt kam. Nur widerstrebend gaben die Ärzte den Eltern nach zwei Monaten das Kind mit und empfahlen eine "engmaschige Betreuung". "Aber erst im Dezember des Jahres schaltet sich das Amt wieder ein", kritisiert Mäurer.

Doch obwohl die Eltern und später, nach dem noch ungeklärten Tod der Mutter, der Vater Termine und Absprachen nicht einhielt, Hilfemaßnahmen nicht annahm, folgte nie eine Konsequenz. Stattdessen habe der Fallmanager Berichte ans Familiengericht gegeben, die "in keinerlei Weise die Dramatik des Falles widerspiegelten". Auch gegenüber dem eigenen Amtsleiter und der Senatorin habe der zuständige Sozialarbeiter die Entwicklung "katastrophal beschönigt". Stattdessen habe sich der Behördenmitarbeiter stets auf die positiven Aussagen des Methadonarztes des Vaters berufen.

"Auf ihn hätte sich das Amt gar nicht berufen dürfen. Er hat in dem Fall keine Garantenstellung." Völliges Unverständnis zeigt der Staatsrat dafür, dass der acht Monate alte Kevin im September 2004 mit diversen Bein-, Arm- und Rippenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, die Ärzte Kindesmisshandlung diagnostizierten, der Sozialarbeiter aber nicht die Staatsanwaltschaft einschaltete. Am 18. September 2006 notierte der Sachbearbeiter schließlich in der Akte, er fühle sich belogen und betrogen vom Vater. Mäurer: "Doch statt das Kind sofort dort rauszuholen, schaltet das Amt erst das Familiengericht ein."

Weser Kurier  vom 19.12.2006

 

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