Angesichts der Geschwindigkeit, mit der in den verschiedenen Medien, bis hin
zur Buchproduktion, Analysen politischer Ereignisse angeboten werden, haben
Gruppen wie unsere weder die Chance noch die Aufgabe, schneller zu sein. Aber
gerade die Hochgeschwindigkeit der journalistischen Produktion hat eine gewisse
Oberflächlichkeit zur Folge - nicht unbedingt der Recherche, aber doch des
Umganges mit den Informationen. Nach kurzer Zeit scheint eigentlich alles gesagt
zu sein, und es bedarf neuer Entwicklungen, um Neues hinzufügen zu können.
Andernfalls verliert das Thema an Aktualität, und das mediengelenkte Interesse
sucht neue Rätsel und Erkundungen.
Wir fanden eine Reihe von Materialien, die wir nach dem 11. September
gesammelt haben, äußerst hilfreich und über den Augenblick hinaus wert,
festgehalten zu werden. Deshalb haben wir uns entschlossen, diese Webseite
herzustellen. Es beruht auf einer Sammlung, aber zugleich natürlich auch einer
Sichtung von Texten. Die Fülle des gedruckten, gesendeten und elektronisch
übermittelten Wortes verlangt nach Auswahl und Einordnung. Das ist nicht ohne
das eigene Urteil möglich. Es geht also zugleich darum, unsere Position zum
gegenwärtigen Krieg in Afghanistan zu artikulieren (über die
Stellungnahme
hinaus, die wir im September verfasst haben.)
[1]
Unsere Anti-Mammon-Gruppe hat sich in der Vergangenheit vornehmlich mit
ökonomischen Themen, bzw. den Schnittpunkten von Ökonomie und Theologie,
befasst. Der Protest der Symbolhandlungen vom 11. September richtete sich
ausdrücklich gegen markante Symbole der wirtschaftlichen Globalisierung. Der
Krieg der USA in Afghanistan verfolgt ebenfalls ökonomische Ziele. Insofern ist
fraglos Mammon zentral im Spiel.
Eine unserer grundlegenden Einsichten ist die,
dass die Selbstmordanschläge
vom 11. September und der Krieg in Afghanistan unabhängig voneinander
analysiert werden müssen. Ob die USA in jedem Fall früher oder später
militärisch in Zentralasien offen aktiv geworden wären, ist eine spekulative
Frage. Offensichtlich entschiedenen sie sich jedenfalls, von einer angemessenen
und wirkungsvollen Reaktion auf den Angriff auf ihre Hauptstädte abzusehen
zugunsten eines Krieges, der vorgeblich der Ergreifung der Täter, tatsächlich
aber ganz anderen Zielen dient. Dieser durchtriebene politische Schachzug kam so
prompt und erscheint so abgefeimt, dass fast zwangsläufig im Hintergrund die
böse Frage auftaucht, ob das schreckliche Geschehen vom 11. September nicht von
finsteren Kräften in den USA gebilligt, provoziert oder gar eingefädelt wurde.
Derart irritierende Gedanken drängen sich auch deshalb auf, weil der Vergleich
mit dem Angriff auf Pearl Harbour von 1941 wiederholt bemüht wurde. Der
Verdacht erhärtet sich neuerdings, dass die USA-Außenpolitik die japanische
Attacke damals insgeheim begrüßt habe, wenn nicht gar provoziert, und zwar
ebenfalls um eine Begründung für einen Kriegseintritt zu gewinnen. Wie immer
man das moralisch beurteilen mag, wichtig ist es, zu begreifen, dass die
Bedeutung des Krieges sich nicht aus dem vorgeblichen Anlass erschließt und
dass anderseits die Reflexion über die Gewalttaten von New York und Washington
riskiert, fehlgeleitet zu werden, wenn sie willig der Logik der Kriegspropaganda
folgt. Diese Grundentscheidung gibt das Schema vor, nach dem wir das Material
gegliedert haben.
1 Die Anschläge vom 11. September - Suche nach Ursachen und
Hintergründen
Eine der ersten Reaktionen aus den USA selbst, die wir empfangen haben,
stammt von der Partei der Grünen in den USA
[2]. Die
Schlüsselfrage, vor die sich die Grünen angesichts der Katastrophe gestellt
sehen, lautet: "Was wollen die Menschen in der Dritten Welt von den
Vereinigten Staaten?" Die Frage impliziert, dass hier, wenn auch angemaßt,
im Namen der Dritten Welt gehandelt wurde und dass die Verzweiflungstaten eine
beachtenswerte Botschaft enthalten, die den Attentätern offenbar auf anderem
Wege nicht vermittelbar erschien.
Gabriele Gillen, führt dies in einem Essay, ‚Der Preis der Lügen', für
den Westdeutschen Rundfunk aus [3]:
"Schauen
wir uns um auf der Welt: Nein die Menschen sind nicht gleich. Gleich geboren,
aber nicht gleich ernährt; gleichermaßen würdig, aber nicht gleichermaßen
beschützt; gleichberechtigt, aber nicht gleich behandelt ... Wer hungert, wird
eben nicht satt. Wer zwischen Folterkellern lebt, lebt in der täglichen Angst
um seine Haut. Wer verfolgt wird, kann sich kein Wohnzimmer einrichten. Wer
keine Macht hat, ist ohnmächtig. Und wer sich verachtet fühlt, lernt den Hass.
... Der Umfang und die Heftigkeit der Anschläge gegen die USA mögen
überraschend gewesen sein, doch überrascht es auch, dass die USA in diesen
Zeiten Opfer von gewalttätigen Attacken werden? ... Wollen wir nicht begreifen,
dass der Terror nicht nur eine bösartige, sondern auch eine verzweifelte
Antwort auf die Aufteilung der Welt in arm und reich, in Sklaven und Herrscher
ist? Alle Menschen sind gleich. Doch die Geschichte der Eroberung Amerikas ist
bis heute eine lange blutige Geschichte über die Missachtung von
Menschenrechten und den Missbrauch von Macht: Die Ausrottung der Indianer, die
Unterdrückung der Schwarzen, Hiroshima und Vietnam, Chile und der Nahe Osten,
die Verweigerung von Schuldenerlassen oder Umweltauflagen. überall auf der Welt
leben Menschen in einer Situation der permanenten Demütigung und des
ökonomischen Desasters. Und überall mischen die USA mit - selbstlegitimiert
durch die vermeintliche Verteidigung der Freiheit, aber in Wahrheit immer auf
der Seite des Geldes und besessen von der Durchsetzung des eigenen Werte- und
Wirtschaftssystems. Die Verbrechen der Macht stehen in nichts den Verbrechen der
Ohnmacht nach."
Eine ähnliche Feststellung von Arundati Roy, in einem Artikel des Londoner
‚The Guardian' [4] formuliert, ist inzwischen viel zitiert
worden:
"Aus strategischen, militärischen und
wirtschaftlichen Gründen ist es für die Regierung der USA wichtig, die eigene
Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass ihr Engagement für Freiheit und
Demokratie und der ‚American Way of Life' angegriffen wurden. In der
gegenwärtig herrschenden Atmosphäre von Trauer, Wut und Empörung lässt sich
das leicht verkaufen. Wenn das stimmte, müsste man sich jedoch
vernünftigerweise die Frage stellen, warum ausgerechnet die Symbole der
wirtschaftlichen und militärischen Vorherrschaft Amerikas als Angriffsziele
gewählt wurden. Warum nicht die Freiheitsstatue? Könnte es sein, dass der
finstere Zorn, der zu den Attacken führte, nicht in amerikanischer Freiheit und
Demokratie wurzelt, sondern in dem anhaltenden Engagement der USA-Regierung für
das genaue Gegenteil, nämlich militärischen und ökonomischen Terrorismus,
Umstürze, Militärdiktaturen, religiöse Heuchelei und Völkermord (außerhalb
Amerikas) von unvorstellbarem Ausmaß."
Arundati Roy und einige Kommentatoren versuchen den Hintergrund der Attentate
sichtbar zu machen. Die Frage, ob das Anliegen der Attentäter - nicht dessen
Vermittlung - möglicherweise gerechtfertigt sei, klingt dabei immerhin indirekt
an, obwohl die in der Öffentlichkeit erzeugte Stimmung es fast als
Ungeheuerlichkeit erscheinen lässt, eine solche Frage überhaupt zu stellen.
Niemand hierzulande will in irgendeine Nähe zu den ruchlosen Tätern gebracht
werden. Dass allerdings alle zu Tode gekommenen Mitarbeiter des Pentagon und
alle im Welthandelszentrum verunglückten Manager, Angestellten und Besucher
absolut unschuldig an dem gewesen seien, was in diesen Häusern Fatales geschah,
bzw. im Pentagon weiter geschieht, ist ebenso eine Fiktion wie die Annahme des
Gegenteiles.
Solange eine Widerstandsbewegung einer übermächtigen Herrschaftsstruktur
gegenübertritt, ist das Ringen um die angemessenen und wirksamen Methoden des
Kampfes unvermeidlich. Wir sind dafür, Menschenopfer strikt zu abzulehnen und
grundsätzlich zu verurteilen. Aber dieses Urteil darf nicht selektiv gelten.
Wer sich über Selbstmordattentäter moralisch empört, die Bombardierung von
Wohngebieten mit Streubomben aber für unvermeidlich hält, heuchelt
unerträglich.
Auf dieser Linie liegt die Bemerkung von Arundati Roy im gleichen Artikel:
"1996
wurde die damalige US-Außenministerin, Madeleine Albright, während einer
Fernsehsendung gefragt, was sie dazu sage, dass im Ergebnis der
Wirtschaftssanktionen der USA 500.000 irakische Kinder gestorben seinen. Sie
antwortete, dass dies eine sehr schwere Entscheidung gewesen sei, dass es sich
alles in allem aber doch gelohnt habe. Albright musste keineswegs ihr Amt
aufgeben, weil sie so etwas gesagt hat. Sie reiste weiterhin durch die Welt und
vertrat die Ansichten und Absichten der Regierung der USA. Genauer gesagt, die
Sanktionen gegen den Irak bleiben in Kraft. Kinder sterben weiterhin."
Der Osloer Friedensforscher Johann Galtung äußerte sich in einem Interview,
das SPIEGEL-ONLINE [5] mit ihm führte, sehr entschieden:
"Galtung: ... Der globale Konflikt ist ein
Klassenkonflikt zwischen armen und reichen Ländern, armen und reichen Menschen.
Es ist kein Konflikt zwischen Zivilisationen. Spiegel: Wie begründen Sie Ihre These? Galtung: Die Attentate in den USA lassen sich doch wie ein Text lesen:
Zwei Flugzeuge waren für das Handelszentrum bestimmt. Ein Flugzeug für das
militärische Amerika und drei Autos, so lässt sich deuten, für die
Außenpolitik Amerikas. Wäre der Angriff gegen die ganze amerikanische
Zivilisation gerichtet gewesen, hätten die Täter viele andere Möglichkeiten
gehabt. Hätten sie sich gegen die amerikanische Demokratie gewandt, hätten sie
wohl den Kongress angegriffen. Spiegel: Sehen Sie die Angriffe als reinen Vergeltungsschlag gegen die
amerikanische Wirtschafts-, Außen- und Militärpolitik? Galtung: Ja, denn die USA haben seit dem Zweiten Weltkrieg ähnliches
Unheil über wenigstens 30 Länder gebracht. Ich denke an die Bombardements in
Guatemala, Panama, Libyen, Korea, Vietnam, Somalia, Palästina, Libanon, Irak,
Bosnien, Serbien, Chile."
Obwohl es bis zum heutigen Tag keinen öffentlich präsentierten und
überprüften Beweis dafür gibt, dass die Attentäter vom 11. September in
Afghanistan zu Hause waren oder von dort aus gesteuert wurden, haben sich viele
Beobachter auf die Hypothese eingelassen, dass islamische fundamentalistische
Organisationen im Hintergrund eine Schlüsselrolle spielten. Es gibt eine Reihe
von Analysen, die Gründe für eine solche Annahme benennen.
George Caffentzis, Philosoph an der Universität in Southern Maine, USA,
schreibt [6]:
"Meiner Ansicht nach haben die politischen
Faktoren, die die Massenmorde und die Selbstmorde am 11. September ausgelöst
haben, mit der Ölindustrie und mit der Globalisierung der arabischen Halbinsel
zu tun."
Der Autor diagnostiziert eine schwerwiegende Krise in der
arabischen Welt nach dem Golfkrieg. Als Ursachen nennt er eine allgemeine
Verarmung, die unerträgliche Situation des palästinensischen Volkes und den
wachsende Einfluss der USA.
"Die USA verwüsteten
den Irak, die USA waren als Eigentümer am Management der Ölressourcen im
Mittleren Osten beteiligt, die USA errichteten Militärbasen mitten im
heiligsten Land des Islam, in Saudi-Arabien. In all diesen Fällen entstanden
tiefe Spaltungen innerhalb der herrschenden Klassen, die die Autorität der
proamerikanischen Regierungen untergruben. Die herrschenden Klassen aus
königlichen Dynastien der arabischen Halbinsel sahen sich mit einer
Dissidentengeneration konfrontiert, die aus ihren eigenen Reihen stammte. Im
Namen des Koran beschuldigten diese Dissidenten ihre Regierungen der Korruption,
der Ressourcenverschwendung, des Ausverkaufs an die USA und des Verrats am
Islam. Gleichzeitig offerierten sie den Arbeiterklassen Nordafrikas, des
Mittleren Osten und Westasiens einen alternativen Sozialvertrag und setzten
ihren Wohlstand ein, um ein multifunktionales Netzwerk von Gruppen zu schaffen,
die sich über alle Kontinente ausbreiteten und eigenständig agierten."
Im Bereich dieser international vernetzten fundamentalistischen Opposition sieht
Caffentzis den Nährboden für eine spektakuläre Verzweiflungstat.
"Vielleicht
hofften sie (die Täter), dass die Anschläge in Amerika so viel Tumult und
Unsicherheit auslösen würden, dass ein strategischer Rückzug der USA von der
arabischen Halbinsel erreichbar gewesen wäre. Die Bombardierungen im Libanon
1983 hatten ja auch dazu geführt, dass die USA sich von dort
zurückzogen."
Ähnlich beschreibt Sabah Alnasseri, Politikwissenschaftler in
Frankfurt/Main, die arabische Situation
[7]:
"In
den 70er Jahren gab es zwei Strategien von konservativ - politischen Bewegungen in
den arabischen Ländern: Eine reformistische (mehrheitliche) und eine radikal -
konfrontative. Die größte und bekannteste Reformbewegung war die der
Moslem-Bruderschaft in Ägypten. Sie bekam mit der Zeit durch die Migration
ägyptischer Arbeitskräfte Einfluss im gesamten arabischen Raum. Die
Moslem-Bruderschaft hat eine entscheidende Rolle gespielt bei der Politisierung
der islamischen Bevölkerung, auch während des Golfkrieges. Es gab in dieser
Zeit auch verschiedene Putschversuche gegen die diktatorisch herrschenden
Regimes. ... Doch diese Veränderungsversuche erfuhren vom Westen so gut wie
keine Unterstützung. Vor allem die USA waren - ausschließlich bestimmt durch
ihre eigenen Interessen - darauf fixiert, die herrschenden Regimes zu erhalten,
wie korrupt sie auch immer waren. ... Aus diesem Scheitern jeglicher
demokratischer Transformationsmöglichkeiten resultiert gegenwärtig der
Ausbruch privatisierter Gewalt."
Es ist inzwischen allgemein bekannt und
bewusst, dass die USA durch ihren
Geheimdienst CIA wesentlich zur Radikalisierung und zur Aufrüstung der Gruppen
beigetragen haben, die sie heute als Todfeinde in Afghanistan bekämpfen. Dies
geschah, als die Sowjetunion 1980 mit ihrem militärischen Eingreifen das eigene
lebhafte Interesse der USA an diesem Land durchkreuzte, das als Tor zur
zentralasiatischen Region mit ihren riesigen Erdölvorkommen gilt.
Noam Chomsky, Linguist am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in
einem Interview über bin Laden und seine Organisation
[8]:
"Das
sind Leute, die in den 80er Jahren durch die US-Regierung und den Geheimdienst
Pakistans rekrutiert und trainiert, ausgerüstet und unterstützt wurden, um den
Russen größtmöglichen Schaden zuzufügen. Natürlich wurden dafür die besten
Killer unter Vertrag genommen, die man finden konnte - und das waren nun mal
radikale islamische Fundamentalisten. Diese sogenannten Afghanis haben auch auf
dem Territotium Russlands eine Handvoll terroristischer Attacken ausgeführt.
Aber ihr eigentliches Ziel war, die Russen aus Afghanistan zu vertreiben.
Nachdem die Russen Afghanistan verlassen hatten, haben sie das Land in Schutt
und Asche gelegt. Das Ende vom Lied waren die Taliban. Dieselben 'Afghanis'
kämpften später auch in Tschetschenien und anderswo. Sie haben auf dem Balkan
gekämpft, mit US-Unterstützung, nachdem die USA sich der bosnischen Muslime
annahmen - zu deren langfristigem Schaden. Ihre Hauptgegner sind heute aber
Saudi-Arabien und die Regimes der Region, die sie als un-islamisch betrachten.
Als die USA 1990 ihre Truppen auf Dauer in Saudi-Arabien stationiert haben,
haben bin Laden und andere das verurteilt - für sie war das schlimmer als die
russische Invasion Afghanistans, wegen der Bedeutung Saudi-Arabiens aufgrund der
heiligen Stätten des Islam."
Ched Myers, ein Neutestamentler aus Los Angeles, schrieb in einem Rundbrief [9]
Ende September: Man könne das heutige Geschehen als ein Erbe der
"größten
Geheimdienstoperation in der Geschichte des CIA bezeichnen. In den 80er Jahren
wurden in Zusammenarbeit mit Pakistan die Mujahedin finanziert, ausgebildet und
bewaffnet. Sie erhielten politische Rückendeckung für ihren Kampf gegen die
sowjetische Invasion in Afghanistan. über 35.000 moslemische Radikale aus 40
Ländern bildeten diese Truppe, unter ihnen (wie heute allgemein zugegeben)
Osama bin Laden und andere, die inzwischen unter Verdacht stehen, sich gegen die
USA gewandt zu haben."
Aufschlussreich ist eine detaillierte Darstellung dieser CIA-Operation von
Michel Chossudovsky, Wirtschaftswissenschaftler der Universität Ottawa
[10].
Er kommt zu dem Schluss:
"Während in grausamer
Ironie der islamische Jihad - von der Regierung Bush als ‚eine Bedrohung
Amerika' dargestellt - für die terroristischen Anschläge auf das World Trade
Center und das Pentagon verantwortlich gemacht wird, bilden dieselben
islamischen Organisationen ein Schlüsselinstrument der
militärisch-geheimdienstlichen Operationen der USA auf dem Balkan und in der
früheren Sowjetunion."
In diesem Zusammenhang gewinnt ein Interview neue Aktualität, das Zbigniew
Brzezinski, einstmals Sicherheitsberater der Regierung unter Jimmy Carter, 1998
(!) dem französischen ‚Le Nouvel Observateur' gegeben hat
[11]:
"Brzezinski: Ja, nach offizieller Version
begann die CIA-Unterstützung der Mujahedin im Verlauf des Jahres 1980, also
nachdem die sowjetische Armee am 24. Dezember 1979 in Afghanistan
einmarschierte. Geheimgehalten wurde jedoch bisher, dass es sich ganz anders
verhielt: Tatsächlich hat Carter am 3. Juli 1979 die erste Direktive zur
geheimen Unterstützung an die Gegner des pro-sowjetischen Regimes in Kabul
erlassen. An eben diesem Tag übermittelte ich dem Präsidenten eine Note, in
der ich ihm erklärte, dass meiner Meinung diese Unterstützung eine sowjetische
militärische Invasion herbeiführen würde.
Frage: Trotz dieses Risikos traten sie für eine solche verdeckte Aktion
ein. Aber vielleicht wollten Sie, dass die Sowjets in diesen Krieg eintraten,
und es ging Ihnen darum, dies zu provozieren?
Brzezinski: Nicht ganz so. Wir drängten die Russen nicht zur
Intervention, aber wir erhöhten bewusst die Wahrscheinlichkeit, dass dies
geschehen würde.
Frage: Als die Russen ihre Intervention mit der Behauptung zu
rechtfertigen suchten, dass dies eine Gegenmaßnahme gegen ein geheimes
Engagement der Vereinigten Staaten in Afghanistan war, glaubte man ihnen nicht.
Dennoch beruhte das auf Wahrheit. Bedauern Sie das heute nicht?
Brzezinski: Bedauern - was? Diese Geheimoperation war eine ausgezeichnete
Idee. Sie hatte zur Folge, dass die Russen in die afghanische Falle tappten. Und
Sie wollen, dass ich das bereue? Am Tage, als die Sowjets offiziell die Grenze
überquerten, schrieb ich an Präsident Carter: Jetzt haben wir die Chance, der
UdSSR ihr Vietnam zu geben. ...
Frage: Und bedauern Sie auch nicht, den islamischen Fundamentalismus
unterstützt zu haben, und damit zukünftigen Terroristen Waffen und Beratung
gegeben zu haben?
Brzezinski: Was zählt in der Weltgeschichte? Die Taliban oder der
Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums? Einige verrückte Moslems oder die Befreiung
Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?"
Nikolai Leonow, Generalleutnant a.D. und ehemals Stellvertretender Leiter der
Aufklärungsabteilung des KGB, ist vermutlich einer von denen, die persönlichen
Anteil haben an dem ‚In-die-Falle-tappen'. Er wusste offenbar, wovon er
sprach, als er noch vor Beginn der Bombardierungen nüchtern erklärte
[12]:
"Diese Tatsachen legen insgesamt nahe, dass als
Vergeltung für die Terrorakte am 11. September nicht nur Punktschläge gegen
die Terroristenlager in Afghanistan vorgesehen sind, sondern größere
strategische Ziele verfolgt werden. Die USA nutzen die für sie günstige
moralisch-psychologische Situation in der Welt und sind bestrebt, stoßartig,
binnen kurzer Frist die beherrschenden militärstrategischen und politischen
Positionen in den wichtigsten erdöl- und erdgasführenden Gebieten - am Golf,
am Kaspischen Meer und in Mittelasien - einzunehmen. Unter dem Vorwand des
Kampfes gegen den internationalen Terrorismus wollen sie erreichen, was ihnen im
langjährigen Konflikt mit Iran und Irak nicht gelang. ... Die US-amerikanischen
Militärstützpunkte und Aufklärungszentren in den mittelasiatischen Staaten
und in Afghanistan selbst, wo die Macht bestimmt den Kräften übergeben werden
wird, die sich zu den USA loyal verhalten, werden das strategische
Kräfteverhältnis weitläufig verändern und die Interessen Russlands, Chinas
und Indiens offensichtlich tangieren. Die NATO wird nicht nur im Westen, sondern
auch im Süden an die Grenzen Russlands vorrücken."
In dem alternativen Informationsnetz
www.emperors-clothes.com/
legten Jarad Israel / Rick Rozoff / Nico Varkevisser aus den USA eine Analyse
vor, die zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt
[13]:
"Washington
will Afghanistan einnehmen, um den angestrebten Prozess der Pulverisierung der
ehemaligen Sowjetunion voranzutreiben, in der gleichen Art, wie Washington das
ehemalige Jugoslawien pulverisiert hat. ... Afghanistan liegt an einer
strategisch bedeutsamen Stelle. Es grenzt nicht nur an den Iran, an Indien und
an China, sondern, und das ist von besonderer Wichtigkeit, es teilt auch Grenzen
und eine gemeinsame Religion mit den zentralasiatischen Republiken der
ehemaligen SU: Usbekistan, Turkmenistan und Tadshikistan. Diese wiederum grenzen
an Kasachstan, welches an Russland grenzt. Zentralasien ist von strategischer
Bedeutung nicht nur wegen seiner großen Öllager, wie uns immer wieder
versichert wird. Seine geographische Lage ist von noch größerer strategischer
Bedeutung. Wenn Washington dieses Gebiet kontrollieren würde, dann hätte die
NATO ihren Ring von Militärstützpunkten an Schlüsselstellungen um Russland
herum vollständig: Die baltischen Staaten, der Balkan, die Türkei und eben
diese zentralasiatischen Republiken. ... So positioniert könnten die USA über
ganz Russland verteilt, extern angezettelte ‚Rebellion' in die Wege
leiten."
Ein solches strategisches Szenario leuchtet noch mehr ein auf dem Hintergrund
der zunehmenden Militarisierung der internationalen Politik. Chalmers Johnson,
ehemals CIA-Berater, behauptet [14]:
"Es
gibt jedoch einflussreiche Persönlichkeiten in Washington, die die
Militarisierung der internationalen Politik als glänzende Gelegenheit sehen, um
ihre eigenen verdeckten Absichten zu verfolgen: Sie befürworten Angriffe auf
den Irak, die Kontrolle über die Öl- und Gasvorkommen in Zentralasien und die
Einkreisung Chinas. Der Aufbau eines Raketenschirms soll der erste Schritt auf
dem Weg zur Zementierung der weltweiten US-Vorherrschaft sein."
Selbst konservative Vertreter reagieren häufig skeptisch auf ein solches
Weltherrschaftsgebaren der USA, so Stanley Hoffmann in ‚Die Zeit'
[15]:
"Eine weitere Frage betrifft Amerikas
Unilateralismus. Er ist noch keineswegs verschwunden. Als der Irak das kleine
Kuwait überfiel, war die Sache einfach. Heute müssen wir uns fragen, wie die
internationale Koalition, die Außenminister Powell geschickt aufbaut, von
seinen Kollegen im Kabinett gesehen wird. Wird sie als Partnerschaft mit unseren
Verbündeten verstanden, die nicht nur verschiedene Beistandsleistungen umfasst,
sondern auch Teilnahme an wichtigen Entscheidungen?"
Naomi Klein, Toronto, eine der Schlüsselfiguren der
globalisierungskritischen Bewegung in Nordamerika, formuliert direkter
[16]:
"Wenn Bush die Welt auffordert, am Krieg Amerikas
teilzunehmen, und wenn er dabei die Vereinten Nationen und den Internationalen
Gerichtshof umgeht, müssen wir zu leidenschaftlichen Verteidigern eines wahren
Multilateralismus werden und uns ein für allemal davor verwahren als ‚Anti-Globalisierer'
gekennzeichnet zu werden. Bush's ‚Koalition' steht nicht für eine wirklich
globale Antwort auf den Terrorismus, sondern für die Internationalisierung der
außenpolitischen Ziele eines einzigen Landes - ganz nach dem Motto der WTO -
Verhandlungen: ‚Ihr könnt mitspielen, wenn ihr euch an unsere Regeln
haltet - wenn nicht, fliegt ihr raus'. Das sagen wir nicht als ‚Anti-Amerikaner',
sondern als wirkliche Internationalisten."
Die strategischen Ziele des Krieges sind für sich genommen bereits
schwergewichtig, und sie haben natürlich auch ökonomische Implikationen. Aber,
wie es bereits mehrfach anklang, gibt es auch unmittelbare und handfeste
wirtschaftliche Vorteile. Nach Ranjit Devraj, aus Delhi, hat die
US-amerikanische ‚Heritage Foundation' das Repräsentantenhaus der USA im
März 1999 darüber informiert,
"dass in
Aserbaidshan, Turkmenistan und Usbekistan insgesamt 15 Milliarden Barrel Erdöl
darauf warten, gefördert zu werden. Außerdem sind in den drei Staaten
Erdgaslagerstätten entdeckt worden, die neun Billionen Kubikmeter Erdgas bergen
sollen. In einer weiteren Untersuchung des Instituts für afghanische Studien
wird der Wert der Erdgas- und Erdölvorräte in den zentralasiatischen
Republiken auf der Grundlage der letztjährigen Marktpreise auf rund drei
Billionen US-Dollar geschätzt."
[17]
Zu den wirtschaftlichen Aspekten des Krieges gehört,
dass die USA lebhaft am
Bau einer Ölleitung quer durch Afghanistan interessiert sind. Dies ist der
einzige Weg aus Zentralasien, auf dem die Durchquerung russischen oder
iranischen Territoriums zu vermeiden wäre. Solange die Taliban-Regierung den
Bau förderten, der durch ein internationales Konsortium unter dem Projektnamen
‚Central Asia Gas' mit 46,5 % Beteiligung der kalifornischen Firma UNOCAL,
bereits begonnen worden war, konnten sie mit der Unterstützung durch die USA
rechnen. 1998 stockte der Bau. Die USA hatten ihren Einfluss auf die Taliban
offensichtlich verloren. Zur Rache für Attentate auf Botschaftsgebäude in
Afrika bombardierten sie Orte in Afghanistan, an denen sie Ausbildungslager bin
Ladens vermuteten. Das Pipeline-Projekt wurde auf Eis gelegt, bis sich die
Machtverhältnisse in Afghanistan zugunsten der Unternehmen verändert haben
würden. Dies ist jetzt geschehen. Auch personell wurden die günstigeren
Arbeitsbedingungen des Ölkonsortiums abgesichert: Der Ministerpräsident der in
Bonn verabredeten Übergangsregierung, Hamid Karzai, wurde von den USA
vorgeschlagen. Er lebte seit 1979 in den USA. Nach Berichten der französischen
‚Le Monde' ist er nicht nur zur Zeit der Reagan-Regierung als Sonderberater
des Außenministeriums tätig gewesen, sondern in den 90er Jahren auch als
Berater der schon genannten UNOCAL. Für die gleiche Firma hat auch der im
Januar 2002 ernannte neue Sonderbeauftragte der USA für Afghanistan, Zalmay
Khalizad, eine Beratertätigkeit ausgeübt.
[18]
Erwähnt werden soll schließlich auch ein Vermutung, die das ‚Wall Street
Journal' publizierte [19]. Die Zeitung ging den
Geschäftsverbindungen der Familie bin Ladens nach:
"Im
Rahmen seiner weitgespannten Geschäftsinteressen investiert der wohlbestallte
saudiarabische Clan - der sich nach eigenen Angaben von Osama losgesagt hat - in
einen Fonds, den die CARLYLE GROUP gegründet hat, eine guteingeführte
Handelsbank in Washington, die sich auf Übernahme von Unternehmen der
Verteidigungs- und Luftfahrtindustrie spezialisiert hat. ... Durch diese
Investitionen und ihre Verbindungen zum saudischen Königshaus lernte die
Familie bin Laden einige Spitzenpolitiker der Republikanischen Partei kennen. In
den letzten Jahren sind der ehemalige Präsident Bush, der ehemalige
Außenminister James Baker und der ehemalige Verteidigungsminister Frank
Carlucci zur Hauptresidenz der Familie bin Laden in der saudiarabischen Stadt
Jeddah gepilgert."
Wenn man bedenkt, dass der derzeitige
Präsident Bush jun. zu verstehen gab, dass er einen langfristigen und
ausgedehnten Krieg plane, und wenn man im Kopf hat, dass umfangreiche
Rüstungsprojekte jetzt der Verwirklichung näher gerückt sind, kann man
jedenfalls nicht ausschließen, dass sowohl der Familie Bush als auch der
Familie bin Laden daraus substanzielle materielle Vorteile erwachsen werden.
Am 4. Oktober 2001 hat der britische Premierminister Tony Blair dem
britischen Parlament eine Dokumentation vorgelegt, die belegen sollte, dass
Osama bin Laden mit seiner Terrororganisation Al Qaida die Attentate vom 11.
September geplant und durchgeführt habe und dass die Taleban-Regierung in
Afghanistan Mitverantwortung dafür trüge. In der politischen Öffentlichkeit
des Westens wurde diese Behauptung für schlüssig erklärt. Am 7.10. begann der
gemeinsame britisch - US - amerikanische Krieg in Afghanistan.
Dieses ‚Blair-Dossier'
[20] beginnt mit einem Vorbehalt:
"Dieses Dokument erhebt nicht den
Anspruch, Anklagen gegen Osama bin Laden zu begründen, die für einen
Gerichtsprozeß ausreichen würden."
Begründet wird der
Mangel damit, dass die Quellen der geheimdienstlichen Erkenntnisse nicht
offengelegt werden könnten. Tatsächlich sind der Öffentlichkeit bisher keine von
unabhängigen Fachleuten verifizierten Tatsachen präsentiert worden, die eine
Begründung für den Krieg liefern würden. Damit ist nicht gesagt, dass Aussagen
über den religiös-fundamentalistischen Charakter, sowie über schwerwiegende
Verletzungen von Menschenrechten der von den Taleban gestellten Regierung
durchgehend unzutreffend seien. Nur gibt es zur Täterschaft und Tatverantwortung
hinsichtlich der Morde vom 11. September bisher nur Vermutungen oder
Verdächtigungen. Auf die Frage, wie die USA bei dringendem Tatverdacht gegen
Osama bin Laden hätte handeln sollen, antwortete der Völkerrechtler von der
Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, Norman Paech [21]:
"Die
internationale Gemeinschaft hat dafür sehr eindeutige Verfahren entwickelt. Es
wäre notwendig gewesen, in den USA einen Haftbefehl zu erlassen, diesen der
Regierung in Kabul zu übermitteln und eine Auslieferung zu verlangen. Man kann
dann den UNO-Sicherheitsrat zu Hilfe rufen, um dem Auslieferungsbegehren
Nachdruck zu verleihen. Der Sicherheitsrat kann in dem Fall, dass das Regime
nicht antwortet, Zwangsmaßnahmen wie etwa Blockaden erlassen. Ähnlich ist das
ja auch mit den Lockerbie - Attentätern gelaufen, als Libyen mittels Embargo und
Verhandlungen veranlasst wurde, diese auszuliefern. ... Das Deprimierende ist,
dass hier die Lynchjustiz wieder auflebt, dass ein Staat glaubt, einen Krieg
entfesseln zu können, obwohl die internationale Gemeinschaft Verfahren
entwickelt hat, die über die UNO und internationale Gerichte laufen."
Diese Feststellungen wird auch nicht durch Hinweis entkräftet,
dass die UNO
bereits im September 99 Sanktionen gegen Afghanistan verhängt hatten, die
offenbar wenig Wirkung zeigten. Die Schwelle für den Einsatz militärischer
Gewalt haben die Vereinten Nationen bewusst sehr hoch angesetzt. Nach Artikel 51
der UN-Charta gibt es das Recht auf individuelle und kollektive
Selbstverteidigung nur gegen den bewaffneten Angriff eines Staates. Gerd Winter,
Jurist an der Universität in Bremen, schreibt dazu
[22]: In
der Resolution vom 12. September habe der Sicherheitsrat
"zwar
eine Bedrohung des Weltfriedens konstatiert, nicht aber einen bewaffneten
Angriff, der allein Auslöser des Rechts auf militärische Selbstverteidigung
sein könnte. Hinsichtlich des Rechts zur Selbstverteidigung hat das Gremium nur
abstrakt anerkannt, dass Artikel 51 der UN-Charta dieses Recht vorsehe - nicht
aber, dass die Voraussetzungen etwa in Bezug auf Afghanistan eingetreten seien.
Ebenso verhält es sich mit der neuen Resolution vom 28. September. Sie stellt
ebenfalls die Bedrohung des Friedens, nicht einen bewaffneten Angriff fest. Die
Bedeutung dieses Textes liegt gerade darin, dass er die nichtmilitärischen
Zwangsmaßnahmen effektiviert und von kriegerischen Maßnahmen absieht."
Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshof schreibt
Winter weiter: "Damit die Anschläge in den USA als afghanischer Angriff
angesehen werden könnten, müssten die Terrorpiloten demnach von Afghanistan
ausgerüstet, ausgebildet und entsandt worden sein. Selbst wenn die Attacken
nachweisbar von Bin Laden gesteuert und finanziert worden sind, wäre noch zu
beweisen, dass die Regierung aktiv und nicht nur durch Duldung mitgewirkt
hat."
Auf die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag verweist
auch der Bundesverwaltungsrichter und Mitbegründer der deutschen Sektion der
‚Internationalen Juristen gegen Nuklearkrieg' (IALANA), Dieter Deiseroth
[23]:
"Die Feststellung des sogenannten Bündnisfalls
nach Artikel 5 Nato-Vertrag hat völkerrechtlich betrachtet mehrere
Voraussetzungen. Die wichtigste ist, dass ein bewaffneter Angriff auf eine
Vertragspartei erfolgt sein muss. Die Feststellung, ob dies der Fall ist, steht
nicht zur freien Disposition der Vertragsstaaten. Artikel 5 wie auch der gesamte
Nato-Vertrag stehen vielmehr unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der
Vereinbarkeit mit der UN-Charta und dem geltenden übrigen Völkerrecht. Artikel
7 Nato-Vertrag stellt dies ausdrücklich klar. Zwar ist anerkannt, dass nicht
nur direkte militärische Handlungen durch Streitkräfte eines anderen Staates
einen bewaffneten Angriff darstellen können. Auch Aktionen militärisch
organisierter nichtstaatlicher Verbände können dann als bewaffneter Angriff im
Sinne des Artikel 51 UN-Charta gewertet werden, wenn diese von einem fremden
Staat entsendet werden oder in dessen Auftrag oder unter dessen wesentlicher
Beteiligung tätig werden. Das ergibt sich insbesondere auch aus der ständigen
Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs. Dieser hat freilich
ausdrücklich entschieden, dass eine bloße Unterstützung solcher
nichtstaatlicher Angreifer durch Waffenlieferungen oder durch logistische Hilfen
eines fremden Staates für die Annahme eines bewaffneten Angriffs im Sinne des
Artikel 51 UN-Charta nicht ausreichen." Deiseroth führt weiter aus,
dass selbst wenn es berechtigt wäre, von
einem ‚bewaffneten Angriff' im Sinne des Völkerrechts am 11. September auf
die USA zu sprechen, "ein militärischer Gegenschlag völkerrechtlich
betrachtet unzulässig" sei. "Eine Gewaltanwendung auf der Grundlage
von Artikel 51 UN-Charta ist nur zulässig, wenn dies zur Abwehr eines
gegenwärtigen Angriffs erforderlich ist. Artikel 51 UN-Charta rechtfertigt
keine Vergeltungs- und Bestrafungsaktionen. Auch dies hat der Internationale
Gerichtshof in Den Haag mehrfach entschieden." Das verstehe er nicht als
Aufforderung zur Tatenlosigkeit. "Die
Strafverfolgungsbehörden der Staaten sollten weltweit eng zusammenarbeiten und
alles daran setzen, die Täter zu ermitteln und sie den für die Verurteilung
allein zuständigen Gerichten zu überantworten. Selbstjustiz, auch staatliche
Selbstjustiz, darf in Rechtsstaaten und durch Rechtsstaaten nicht
stattfinden."
In einem Kurzmemorandum der oben genannten Juristenvereinigung IALANA [24]
heißt es:
"Wer sich angesichts der
Terroranschläge von New York und Washington gegenüber den mutmaßlichen
Tätern und Hintermännern - zu Recht - auf die Menschenrechte, die
freiheitliche Demokratie, das Erbe der europäischen Aufklärung und die Kultur
der ganzen zivilisierten Welt beruft, muss sich vor ‚double standards' hüten.
Er darf insbesondere auch nicht selbst etwa Art. 11 der universellen Erklärung
der Menschenrechte von 1948 und die darin verankerten rechtsstaatlichen
Grundsätze missachten: ‚Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung
beschuldigt wird, hat Anspruch darauf, so lange als unschuldig zu gelten, bis
seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine
Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen
ist.'"
Befürworter des Krieges in Afghanistan argumentieren in der Regel,
veränderte historische Entwicklungen verlangten neue Interpretationen von
Verträgen. Das ist zweifellos richtig. Doch darf diese Aufgabe nicht zu einer
Relativierung des Völkerrechts führen. Dass die UNO sich wiederholt und
ernsthaft mit der Gefahr des Terrorismus befasst und sich um eine entsprechende
Weiterentwicklung des Völkerrechtes bemüht hat, legt Gregor Schirmer in einem
Artikel dar [25]. Darin werden die beiden Resolutionen des
Sicherheitsrates zu den Anschlägen vom 11. September analysiert
[26].
In diesem Zusammenhang werden 6 geltende Abkommen zu einzelnen Tatbeständen von
Terrorismus zitiert, dazu zwei Abkommen, die beschlossen aber noch nicht in
Geltung sind, sowie zwei Abkommenstexte, an denen seit längerem gearbeitet wird
und die auf die Beschlussfassung warten. Einschlägige Bedeutung hätten auch
eine Reihe von Abrüstungsvereinbarungen, sowie mehrere Resolutionen der
Vollversammlung. Außerdem liege der Vollversammlung seit längerem ein Antrag
auf eine internationale Gipfelkonferenz mit dem Ziel vor,
"eine gemeinsam organisierte Antwort
der internationalen Gemeinschaft auf den Terrorismus in allen seinen Formen
und Bekundungen zu formulieren."
Viele Autoren weisen auf die offensichtliche Ironie hin,
dass es vor allem
die USA-Regierung gewesen ist, die sich einem Übereinkommen widersetzt hat zur
Bildung eines ‚Internationalen Strafgerichtshofes'. Ein solches Gericht sollte
speziell ‚Verbrechen gegen die Menschheit' verfolgen, nach UN-Definition also
"systematische
Angriffe, die bewusst gegen eine Zivilbevölkerung gerichtet sind und Massenmord
einschließen".
Die Anschläge vom 11. September, das soll durch
keines der hier vorgetragenen Argumente in Frage gestellt werden, entsprechen
exakt dieser Definition. Leider trifft das auch für die von den USA und
Großbritannien zu verantwortenden kriegerischen Maßnahmen zu.
Es ist "wichtig zu verstehen,
dass wir uns im Krieg befinden",
beschwor der Justizminister der USA, John Ashcroft, die Journalisten während
einer Pressekonferenz am 14. November
[27]. Mit diesem Hinweis
hoffte er verständnisvolle Zustimmung für rigorose Maßnahmen seiner Regierung
zu wecken. Die Mahnung ist aber auch geeignet, uns daran zu erinnern, dass
bereits in der bisherigen Gesetzgebung für den Kriegsfall eine Reihe von
Vorkehrungen enthalten sind. Mit dem ‚NATO-Bündnisfall' könnten sie bei
Bedarf von der Regierung in Anspruch genommen werden. Rainer Rupp erläutert das
unter Bezugnahme auf den Juristen Günther Werner
[28]:
"Nach
Werner können im 'Bündnisfall' folgende Gesetze zur Anwendung kommen: das ‚Bundesleistungsgesetz',
nach dem die Bundeswehr Privateigentum der Bürger beschlagnahmen kann; die
verschiedenen ‚Sicherstellungsgesetze', nach dem öffentliche Räume zu
militärischen Sperrgebieten erklärt und Gebäude und Wohnungen geräumt und
von der Bundeswehr beschlagnahmt werden können. Anwendung finden könnten auch
der 8 ‚Kriegsdienstverweigerungsgesetz' (KGVG), nach dem
Kriegsdienstverweigerungsanträge keine aufschiebende Wirkung mehr haben, und
das ‚Gesetz über die Anwendung des unmittelbaren Zwanges und die Ausübung
besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr', nach dem auch der
straflose Schusswaffengebrauch gegen deutsche Zivilbevölkerung ermöglicht
wird. Nicht zuletzt könnte der ‚Wartime Host Nation Support' greifen. Der
WHNS-Vertrag von 1982 zwischen den USA und der Bundesrepublik regelt die
Verpflichtung der Bundesrepublik gegenüber den USA: Im ‚Bündnisfall' stellt
die Bundesregierung den USA Bundeswehrsoldaten bis zu 90.000 Mann,
Versorgungsplätze für bis zu 1.700 Verwundete und Übernahmekapazitäten von
täglich bis zu 200 Kriegsgefangenen zur Verfügung."
Anderseits wurde der Kriegsfall
Anlass dafür, Verschärfungen im Strafrecht
und Erweiterung der Befugnisse der Sicherheitsorgane durchzusetzen, die auch in
Geltung bleiben werden, wenn der Krieg beendet sein sollte. Anders als in der
Vergangenheit und im Widerspruch zur allgemeinen Hochschätzung persönlicher
Freiheiten hielten sich die Proteste gegen die Einschränkung der bürgerlichen
Freiheiten in den westlichen Ländern sehr in Grenzen. Eine ‚Diskussionsbeitrag'
genannte Erklärung der ‚Arbeitsgemeinschaft evangelischer Jugend' (aej)
[29] gehört
zu den Texten, die deutlich machen wollen, worum es im Kern geht:
"Die
aej bekräftigt die unantastbare Würde, die jedem einzelnen Menschen von Gott
gegeben ist und erwartet,
dass die derzeitigen Angriffe von Innen- und
Sicherheitspolitikern auf die Fundamente der Grund- und
Persönlichkeitsrechte abgewehrt werden;
dass die derzeitigen Angriffe von Innen- und
Sicherheitspolitikern auf die Fundamente der Grund- und
Persönlichkeitsrechte abgewehrt werden;
dass die zukünftigen Zuwanderungsregelungen
Ausdruck humanitärer Verantwortung und nicht ängstlicher Abgrenzung sind;
dass für Menschen ausländischer Herkunft in
Deutschland (die Chance) für eine wirksame Teilhabe an unserer Gesellschaft
geschaffen wird."
Besonders besorgniserregend sind auch in dieser Hinsicht die Vorgänge in den
USA. Max Böhnel kommentierte die Verordnung des Präsidenten über die
Einrichtung von Militärgerichten [30]:
"Danach
können Ausländer geheim - innerhalb oder außerhalb der USA - von
Militärgerichten abgeurteilt werden. Die Öffentlichkeit weiß dabei nicht, wer
verhaftet wird, auf Grund welcher Ermittlungsergebnisse oder Beweise, und sogar
das Strafmaß, sowie Ort und Zeitpunkt können verborgen bleiben. Gegen die
Urteile, die bis zur Todesstrafe gehen können, gibt es keine
Berufungsmöglichkeiten. Die Mehrheitsentscheidung von zwei Dritteln - und nicht
einstimmig, wie bei Militärtribunalen üblich - reicht zur Verurteilung aus.
Und Bush sowie Verteidigungsminister Rumsfeld können jedes Urteil des
Militärgerichts überstimmen."
Der Autor fügt hinzu, dass
diese Verordnung bis dahin
"nur der Höhepunkt
einer Reihe von Maßnahmen gegen Ausländer in den USA"
gewesen
sei.
"Seit dem 11. September haben die Behörden
aus bisher nicht veröffentlichten Gründen mehr als 1000 Nicht-US-Amerikaner in
den USA festgenommen. Das Justizministerium lehnte es am vergangenen Dienstag
erneut ab, der ACLU (American Civil Liberties Union; Red.) sowie
Abgeordneten des Senats und des Repräsentantenhauses über das Schicksal der
Gefangenen Auskünfte zu erteilen."
Nach dem Ende Oktober
verabschiedeten Patriotgesetz dürften FBI und CIA ohne richterliche Anordnung
Telefone überwachen und heimlich Computerdaten kopieren. Gespräche zwischen
Inhaftierten und ihren Anwälten dürften abgehört oder gar untersagt werden.
Heribert Prantl schreibt in der ‚Süddeutschen Zeitung'
[31]:
"Die rechtsstaatlichen Grundprinzipien werden
geopfert, die Strafverfolgung verkommt zur Inlandsspionage. Die bisherigen
Fundamentalgewißheiten sind nicht mehr gewiss: Die Öffentlichkeit des
Strafverfahrens; die Trennung von Polizei und Geheimdienst; die alsbaldige
Kontrolle von Verhaftungen und sonstigen Grundrechtseingriffen durch
unabhängige Richter; das Recht auf Akteneinsicht; das Recht auf freie Wahl des
Verteidigers; die öffentliche Beweisführung; der Grundsatz: 'Im Zweifel für
den Angeklagten'; die Gleichheit vor dem Gesetz; das Verbot bestimmter
Vernehmungsmethoden."
Prantl zieht das Fazit:
"Es handelt
sich bei alldem um die amerikanische Variante der Scharia."
In einem Aufsatz mit dem Titel ‚Die autoritäre Versuchung' berichtet
Wilhelm Heitmeyer [32],
dass in den USA über die
Wiedereinführung der Folter ernsthaft nachgedacht werde. Doch seine Warnungen
beziehen sich vor allem auf die Situation im eigenen Lande und gipfeln in dem
Hinweis:
"Die unbegreifliche Zuspitzung erfahren
diese Kontrollpolitiken im Versuch, die Eintragung der Religionszugehörigkeit
in das Zentralregister zu denken. Damit werden Gruppenmarkierungen schlimmsten
Ausmaßes gedacht, die massiv gegen Fremde gerichtet sind, zuerst wohl gegen
Muslime. Würde dann auch Jude im Zentralregister stehen, weil es ja
gefährliche jüdische Extremisten gibt? Damit wird die Ideologie der
Ungleichwertigkeit, bekanntlich bisher jenseits des demokratischen Konsenses
beheimatet, in staatliches Denken hineinverlagert."
Noch einmal Naomi Klein mit einer Passage aus dem bereits oben zitierten
Aufsatz [33]:
"Die Anschläge
werden uns nicht nur unsere bürgerlichen Freiheiten kosten. Ich fürchte, sie
könnten uns sehr wohl auch um einige unserer raren politischen Erfolge bringen:
Fonds, die für die AIDS-Krise in Afrika zur Verfügung standen, werden
verschwinden, und Zusagen zur Schuldenstreichung werden vermutlich folgen. Die
Verteidigung der Rechte von Einwanderern und Flüchtlingen standen im Zentrum
von Aktionen in Australien, Europa und allmählich auch den USA. Dafür besteht
angesichts der Flut von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit höchste Gefahr.
... Aber diese Krise eröffnet auch neue
Möglichkeiten. Viele haben bereits darauf hingewiesen: Die Bewegung für
soziale Gerechtigkeit muss die Verbindung zwischen wirtschaftlicher
Gleichberechtigung und den Sicherheitsinteressen, die uns jetzt alle
beschäftigen, aufzeigen. Dabei müssen wir herausstreichen, dass Gerechtigkeit
und Gleichheit die wirksamsten Strategien sind, um Gewalt und Fundamentalismus
zu begegnen."
Fast scheint es so, als müssten wir warten, bis Gerechtigkeit und Gleichheit
rentabel werden, d.h. einen positiven Marktwert erhalten. Das ist die andere
Seite der neoliberalen Globalisierung, die Logik des Terrors.
[1]Rundbrief der Freunde des
Hendrik-Kraemer-Hauses vom Dezember 2001
[2]Green Party USA Statement and Press Release on Sept 11 Disaster:
www.gpus.org
[3]Gabriele Gillen: Der Preis der Lüge; Sendung 14.09.2001:
www.wdr.de
[4]Arundhati Roy: The Algebra of Infinite Justice; The Guardian, London,
11.09.01: www.guardian.co.uk/
;Siehe auch: Arundhati Roy: Krieg ist Frieden, Spiegel online, 31.10.01:
www.spiegel.de gegen Gebühr
[5]Johan Galtung: Wenn man Bin Laden tötet, entstehen zehn neue;
Spiegel-online vom 19.09.01: www.spiegel.de
gegen Gebühr
6]George Caffentzis: Dreiteilige Serie in ‚junge Welt’, 27.-29.11.01: www.jungewelt.de/
[7]Fixierung auf bin Laden ist realitätsfremd - Der Politikwissenschaftler
Sabah Alnasseri über die Wurzeln des arabischen Terrorismus;
Neues
Deutschland vom 16.10.01
[11]
Afghan Islamism Was Made in Washington, Interview with Zbigniew Brzezinski, 'Le
Nouvel Observateur' (France), Jan 15-21,1998, p.76;
www.tenc.net
[emperor's clothes]
[29]
„... und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein!“ Diskussionsbeitrag der
Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland
e.V. vom 16.10.01:
Siehe auch „Presseerklärung von über 20 Bürgerrechts- und
Datenschutzorganisationen zum ‚Terror-Paket’“ vom 06.11.01; Text über:
rechtsausschuss@ilmr.org