Gaebler Info und Genealogie

Home neu • Genealogie • Christoph Gäbler • Hannelore  Schwedes • Indien • Ökumene • Politik • Bildung • Kunst • Was noch? • Privat • Kontakt • Suchen
 

Mission in Indien
Dänisch-Hallesche Mission
Leipziger Missionare 1
Leipziger Missionare 2
Breklumer Missionare
Erster Weltkrieg 1
Erster Weltkrieg 2
Erster Weltkrieg 3
Erster Weltkrieg 4
Erster Weltkrieg 5
Zweiter Weltkrieg 1
Zweiter Weltkrieg 2
Germans in British India
Dehra Dun
Escape from Internment
Flucht aus Dehra Dun
Ludwig Schmaderer
Purandhar
Satara
Satarabilder
Internierte in Satara
Post-War Interment
Odyssey
Neuengamme
Hermann Selzer
Rolf Benkert
Gerhard Buelle
Helmuth Borutta
Jürgen Kulp
Rudolf Tauscher
Tauscher-Bilder
Jürgen-Heine Meyer
Hinrich Speck
Missionarsbilder
Rolf Benkert

Berichte von Deutschen über die Zeit des
Ersten Weltkrieges in Britisch Indien 3

447 KB

Unter indischer Sonne
19 Monate englische Kriegsgefangenschaft in Ahmednagar

Von Hans Georg Probst

Inhalt

Link

Weitere Berichte


Unter indischer Sonne

19 Monate englische Kriegsgefangenschaft in Ahmednagar

Von Missionar Hans Georg Probst

Oranien-Verlag, Herborn 1917
Gekürzte Fassung

Wohnstätten und Mitbewohner

Gleich, wenn man von der Hauptstraße "Kitchener road" kommend, durch das große rot gestrichene Gittertor ins A-Lager tritt, sieht man links und rechts vor sich die langen säulengeschmückten Veranden der Buren-Steinbaracken. In diesen Baracken sind die vom Glück besonders begünstigten Gefangenen untergebracht. Obwohl diese vier Burenbaracken herzlich schlecht sind, gibt es nämlich für die weniger Glücklichen noch schlechtere Behausungen. Die Steinbaracken sind einstöckige Gebäude aus Backsteinen und haben vor der Längsseite eine etwa zwei Meter breite Veranda. Das Dach ist mit Ziegeln bedeckt. Drei dieser Baracken sind in je drei Säle und einige kleine Zimmer eingeteilt, in denen zusammen je hundert  Gefangene wohnen können. Mehr Leute könnten unter keinen Umständen darinnen untergebracht werden. In Friedenszeiten sind diese Baracken für je 60 Soldaten berechnet. Die vierte Steinbaracke hat eine Reihe von kleinen Zimmern, in denen je nach der Größe, drei, vier oder auch nur zwei Leute untergebracht sind. Die Bewohner dieser Räume haben es wohl am besten getroffen und können zu den Glücklicheren im Lager gezählt werden. Die größte Annehmlichkeit dieser Steinbaracken sind die Steinböden, die einen doppelten Vorteil bieten. Einmal bewirken sie selbst in der heißesten Zeit eine recht angenehme Kühlung der Räume. Zum andern kann man sie immer wieder reinigen, ein Vorteil, den nicht alle Gefangenen im Lager haben. Viel weniger Lobenswertes kann man über die Dächer berichten. In völliger Pflichtvergessenheit lassen sie während der Regenzeit das Wasser in Strömen durch. Ich habe es mehrere male versucht, mein Bett unter ein wasserdichtes Stückchen Dach zu bringen. Es gelang mir trotz des begreiflichen Eifers nicht. Ich musste schließlich, wenn der Regen gar zu stark wurde, mit aufgespanntem Regenschirm im Bette liegen. Will man durch eine der Türen auf der Hinterseite ins Freie treten, so muss man acht geben, dass man sich an der niederen Stalltür nicht den Dippel bohrt, oder dass einem nicht eines der vielen losgebrochenen Ziegelstücke auf den Kopf fällt. Die Baracken sind im Laufe der Jahre baufällig geworden und waren vor dem Kriege bereits zum Abbruch bestimmt. Deshalb darf man sich auch über abgefallenen Verputz, zerbrochene Fensterscheiben, Löcher und Risse in den Mauern nicht wundern. Das hätte man alles vor dem Einzug der Gefangenen herrichten lassen müssen. Jedenfalls dachten aber die Behörden, dass das alles der Hunnen wegen nicht nötig sei. Für die ist alles gut genug. Die Gefangenen haben dann auch den anfänglichen Kampf um bessere Wohnstätten aufgegeben. Aber innerhalb der Baracken tobt noch immer ein nie endender Kampf. Der Kampf gegen die Wanzen. Man kann ohne Übertreibung von Millionen von Wanzen reden. Überall und jederzeit kann man sie finden. Ich erinnere mich an Betten, die von Wanzen wimmelten. Da heißt es kämpfen, blutige Schlachten schlagen, wenn man keine schlaflosen Nächte will. Hat man sich zu einem Angriff großen Stils entschlossen, so bringt man seine verwanzte Eisenbettstelle ins Freie, übergießt sie mit Petroleum und lässt das Möbel einmal ordentlich lichterloh brennen. Dadurch werden alle Wanzen, auch die Eier vernichtet. Man hat für einige Tage Ruhe. Aber der Sieg nach so heißem Kampfe ist immer nur ein zeitweiliger. Wer denkt, er dürfe nach diesem Sieg länger als acht Tage auf seinen Lorbeeren ausruhen. - wobei unter Lorbeeren das frische, gereinigte Bett zu verstehen ist -, der wird bald inne werden, dass er sich falsche Illusionen gemacht hat. Schon nach zwei oder drei Tagen ziehen die Blutsauger wieder ein. Der wenigen wegen regt man sich noch nicht auf. Erst nach acht Tagen ist die Zahl wieder so angewachsen, dass ein neuer Feuerüberfall empfehlenswert ist. Ein besonders kampfesfroher Deutscher sammelte eine Zeitlang diese Plaggeister in Spiritus. Als er genügend Wanzenleiber gesammelt hatte, klebte er in Buchstabenform eine neben die andere. Das wenig geschmackvolle Bild zeigt auf einem Karton die Worte: "Andenken an meine schlaflosen Nächte in Ahmednagar." Vielleicht ist ein englischer Raritätensammler bereit, dieses Bild einmal für teures Geld zu erstehen.

Selbstverständlich ist es unter solchen Umständen durchaus keine Schande im Lager, Wanzen zu haben. Mit fröhlichem Gruß geht man am Nachbar vorüber, wenn man ihn gerade bei der Jagd findet. Krabbelt einem lieben Leidensgenossin eines der Tierlein auf dem weißen Hemde oder Rock herum, so nimmt man ihn: ohne viele Worte die Last mit den Fingern ab. Wir haben uns alle an solche Vorkommnisse gewöhnt. Den Hausfrauen aber, die etwa einen der Ihrigen draußen in Ahmednagar gefangen wissen, gebe ich den Rat, bei der einstigen Heimkehr ihrer Lieben keinen ins Haus zu lassen, ohne vorher eine gründliche Untersuchung veranstaltet zu haben. Besonders empfehlenswert aber dürfte es sein, alle Kisten und Gegenstände vor der Benutzung gründlich zu reinigen.

In den Winkeln und Ecken der Baracken finden sich Zuweilen auch Schlangen. Die Gefangenen leben eng aufeinander und müssen deshalb ihr Gepäck überall in den Ecken und Winkeln Zusammenstellen. Da können sich die Schlangen prächtig dazwischen aufhalten. Es ist recht unangenehm, wenn man achtlos in einem solchen Winkel im Gepäck herumstöbert und plötzlich in unmittelbarer Nähe ein solches Reptilium entdeckt. In Indien sind die Schlangen zu allem Überfluss meist sehr giftig. Man kann von Wunder reden, dass bisher noch niemand von diesen Schlangen gebissen wurde. Die Gefahr war allerdings früher gering. Jetzt wird sie von Woche zu Woche größer, weil die Engländer rings ums Lager herum eine Kaktushecke anpflanzen, um das Ausbrechen der Gefangenen durch den Stacheldrahtzaun Zu erschweren. Je höher diese Hecken wachsen, desto größer wird die Schlangengefahr, denn die Schlangen halten sich mit Vorliebe in solchen Kaktushecken auf.

Um all diesen unerwünschten und lästigen Gästen den Aufenthalt in unseren Räumen nach Möglichkeit zu erschweren, machen in einzelnen Sälen die Gefangenen alle vier Wochen einmal gründlich rein. Ein solches Reinemachen dauert einen halben Tag. Alle ziehen Stiefel und Strümpfe aus, die Hosen werden bis zum Knie hinaufgestülpt, alle Möbel und alles Gepäck werden ins Freie getragen. Dann beginnt die Arbeit oben unterm Dach, wo sich die Spatzen eingenistet haben und den Mittagsschlaf mit ihrem unverschämten Lärm stören. Ist es da oben rein, wobei auch die Spinnwebennester nicht übersehen werden, dann geht es über das Steinpflaster her. Die einen der Gefangenen haben sich in Reihen aufgestellt und durch der "Hände lange Kette fliegt der Eimer um die Wette." Die anderen plagen sich unter Strömen von Wasser mit dem Schrubben. Mancher erlahmt vor der Zeit und verschwindet stillschweigend. Nur ein paar Tapfere halten aus bis Zum Schluss und hören nicht eher auf, als bis der letzte Schmutz zur Türe hinausgefegt. Schlangen und Spatzen und allerlei Insekten müssen das Quartier räumen. Die Mäuse aber, die natürlich auch zahlreich vorhanden sind, fängt Fips, der Seidenpintscher, dem man das Zeugnis eines äußerst geschickten Mäusefängers ausstellen muss. Aus alledem kann man ersehen, wie wenig schön es in diesen Steinbaracken ist. Es bleibt schrecklich viel zu wünschen übrig. Und doch sind ihre derzeitigen menschlichen Bewohner dankbar, dass sie es so haben.. Sie zählen sich zu den vom Glück Bevorzugten. Es gibt im A-Lager noch zehn andere Baracken. Die sind unvergleichlich viel schlechter. Das sind die Blechbaracken. Einer fand einen feinen englischen Ausdruck dafür. Er nannte sie timboxes, Blechbüchsen. Sie sind auf ebener Erde errichtet. An manchen Stellen fließt das Regenwasser während der Regenzeit wie Bäche hinein. Die ganzen Hütten bestehen nur aus einem notdürftigen Gerüst aus schwachen, zerbrechlichen Balken und auf dieses baufällige Gestell sind die Wellblechstücke aufgenagelt. Einige wenige Fenster und Türen sollen dem Ganzen das Aussehen menschlicher Wohnstätten verleihen. Die Fenster wären eigentlich nicht nötig. Zwischen den vielen Ritzen und Lücken geht mehr frische Luft herein als nötig, und während der Regenzeit findet der Regen seinen Weg ins Innere ebenso wie die Wolken von Staub während der Zeit der heißen Winde. Bei der Errichtung dieser Dinger wurde Zum Schutz gegen die Hitze etwas Erde aufs Dach geklebt. Bei einem kurz darauf nötig gewordenen Umbau wurde diese Erde zum Teil wieder entfernt. Der letzte Rest wurde während der eisten Regenzeit durch die heftigen Regengüsse weggewaschen. So lag nun dieses Wellblechdach länger als ein ganzes Jahr, zwei heiße Zeiten hindurch bloß da, vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne ihren glühend heißen Strahlen ausgesetzt. Es bedarf wirklich nicht allzu vieler Phantasie, um sich vorstellen zu können, welche entsetzliche Hitze im Inneren der "Blechbüchsen" herrschen musste. Die Durchschnittstemperatur ist ca. 50° Celsius. Naturgemäß ist die Hitze während der heißen Jahreszeit, etwa von Februar bis Juni, am schrecklichsten. Da liegen die Bewohner dieser Baracken zwischen zehn Uhr vormittags und vier Uhr abends auf ihren Feldstühlen, Matten oder Betten herum, mit entblößtem Oberkörper, die Stirne und Brust mit feuchten Tüchern kühlend, und schnappen buchstäblich nach Luft. Kopfschmerzen und allgemeine Müdigkeit sind alltägliche Erscheinungen. Erst abends, wenn die Sonne sinkt und der kühlende Wind einsetzt, kommt wieder etwas Leben in die Gesellschaft. Das geht monatelang Tag für Tag so fort. Es ist außer Frage, dass im Laufe der Zeit zahlreiche Gefangene die Anfänge eines Nerven- oder Kopfleidens zu spüren bekommen, das sich ganz allmählich festsetzt und bei manchem auch später nicht mehr verschwinden wird. Ich habe manchmal von den Bleikammern Venedigs gehört und gelesen. Seit ich in Ahmednagar die Blechbaracken und ihre Bewohner kennen gelernt habe, bin ich überzeugt, dass jene BIeikammern keine schlimmern Einrichtungen waren. Lehrer übertreiben manchmal, um eine Sache deutlicher zu machen. Ich kann wohl ohne Übertreibung die Verhältnisse klarlegen, wenn ich sage, dass ein einigermaßen für sein Vieh sorgender, deutscher Bauer seine Schweine in solchen Hütten nicht unterbringen würde. Und wenn auch der amerikanische Konsul, der uns zwei oder drei Mal während der 1½ Jahre meines Aufenthaltes im Lager besuchte, an diesen Blechbüchsen nicht viel auszusetzen hatte, so hat das ganz einfache Gründe. Er war im Herzen englisch gesinnt, denn der Konsul von Bombay durfte nie kommen, weil er einen deutschen Namen hat. Immer musste der Konsul von Kalkutta zwei Tage reisen. Und wenn dieser Herr kam, dann hielt er sich immer nur zwei bis drei Minuten in solchen Räumen auf, und nie war er zur heißesten Zeit da. Nur englische Zivilisation und Weltbeglückertum bringt es fertig, Zivilgefangene, Missionare, die seit vielen Jahren für Indiens Wohl arbeiteten, und schwache junge Leute von 16 Jahren und empfindliche Leute im Alter von 55-60 Jahren in solchen Menschen unwürdigen Behausungen unterzubringen und sie zwei Jahre lang bei Wind und Wetter, Sandsturm und Tropenhitze drin wohnen zu lassen. Im Märchen von Hänsel und Gretel ist die alte Hexe beschrieben, wie sie mit viel Kunst und süßen Worten die ahnungslosen Kinder zu sich lockt. Kaum sind sie in ihren Krallen, so beginnt die nackte Grausamkeit der Hexe offenbar zu werden. Das Gleiche erfahren alle, die sich harmlos England ausliefern. Mit hohen, schönen Worten wird man eingefangen, um nachher mit rücksichtsloser Grausamkeit ausgebeutet zu werden.

Unsere Lagervertretung hat sich mehrere Male bemüht, den Kommandanten zu einer Verbesserung dieser Wohnstätten zu bewegen. Wir stießen jedes Mal auf unüberwindlichen Widerstand. Einem deutschen, gefangenen Konsul sagte er sogar einmal im Laufe eines diesbezüglichen Gesprächs: "Ihr habt es gut, sehr gut, viel zu gut!" Nachdem wir ihn ein Jahr lang immer wieder mit dieser Bitte bearbeitet hatten, ließ er sich endlich dazu bewegen, auf die Wellblechbedachung wenigstens kleine, halbgebrannte Ziegel legen zu lassen, d. h. den Ausschlag musste ein Befehl des kommandierenden Generals geben. Nun ist die Hitze von oben zwar etwas gemildert, aber durch die Lücken und Spalten und besonders durch die Wellblechwände, die ja auch den Sonnenstrahlen ausgesetzt sind, bleiben diese Baracken trotzdem immer noch für Menschen vollständig unpassende Wohnungen. Um sie einigermaßen bewohnbar zu machen, müsste wenigstens ein ordentlicher Steinboden gelegt werden. Jetzt sieht man nur Geröll und Schmutz. Die beste Abhilfe wäre aber, wenn überhaupt neue, ordentliche, gesundheitlich einwandfreie Baracken gebaut würden. Sehen sich die Engländer in Indien außer Stande, den einfachsten Forderungen der Zivilisation nachzukommen, so kann man ihnen nur den Rat geben, harmlose Zivilisten nicht aus den Häusern und von den Straßen wegzurauben. Sind ihnen die Deutschen während des Krieges in Indien unbequem, so sollen sie den im Völkerrecht vorgeschriebenen Weg gehen und die feindliche Zivilbevölkerung heimschicken, anstatt sie langsam krank und leidend zu machen.

Eine andere Einrichtung, die viel zu wünschen übrig lässt, sind die Aborte. Wasserspülung oder ähnliches gibt es natürlich nicht und kann bei den indischen Verhältnissen billigerweise kaum verlangt werden. Die Reinigung besorgen in jeder Latrine zwei Eingeborene. Aber wie oft muss man diese Menschen manchmal rufen, bis sie kommen Das kräftige: "waiter, panch numder rafkaro" tönt manchmal über den Platz in die Baracken herein. Häufig genug wird man dann von diesen Schmutzfinken, die sich ordentlich etwas darauf einbilden, dass wir von ihnen abhängig sind, mir einer ganzen Flut der schönsten Schimpfworte bedacht, die man am besten mit Stillschweigen anhört. Die größten Mängel der ganzen Anlage treten zu bestimmten Jahreszeiten zutage. Wenn in der heißen Zeit die starken Winde wehen, bekommt man keine Wohlgerüche vor die Nase, wohl aber zuweilen zu allem Überfluss allerlei Papiere, die der Wind da heraustreibt.

Zweifellos die beste und wohltätigste Einrichtung des ganzen Lagers sind die drei neu errichteten Badehäuser mit je zehn Spritzeinrichtungen. Sie sind die einzige, direkt von Engländern ohne weitere Aufforderung im Lager bereitete Wohltat. Besonders in der heißen Zeit sind die Einzelzellen der Badeanstalten von morgens bis abends besetzt. Wie wohltuend der Einfluss der Bäder ist, das kann man schon von weitem am fröhlichen Singen und Scherzen der Badenden merken. Leider hat man in jener Gegend nur spärlichen Regen. Deshalb muss mit den vorhandenen Wasservorräten möglichst sparsam umgegangen werden, um einen völligen Wassermangel während der heißen Zeit zu vermeiden. So wurde eines Tages die Badezeit eingeschränkt. Von elf Uhr bis vier Uhr nachmittags bleibt die Wasserleitung geschlossen. Trotzdem kommt es in der heißen Zeit oft genug vor, dass man eine halbe Stunde und länger eingeseift unter dem Spritzer steht und auf ein paar Tropfen des erfrischenden Nasses wartet.


So leben wir, so leben wir alle Tage

Die eben erwähnte Knappheit macht sich auch beim Trinkwasser bemerkbar. In der kalten Zeit von Oktober bis Februar sind für je zehn Mann fünf Kübel Trinkwasser erlaubt. Das reicht. In der heißen Zeit sind zwölf Kübel erlaubt. Das ist bei weitem zu wenig. Es kommt fast täglich vor, dass schon um elf Uhr, ja um zehn oder ½10 Uhr vormittags kein Tropfen Wasser mehr in der Tonne ist. Um sich den nötigen Tagesbedarf Zu sichern, warten die Gefangenen schon mit allerlei Töpfen und Kannen, wasserdichten Säcken und Schüsseln, bis das Wasser gebracht wird. Um sieben oder 7½ Uhr morgens kommen die schwarzen Gesellen dahergekeucht. Jeder hat zwei Eimer an den Enden einer Stange über dem Nacken. Unter lautem Geplauder leeren sie das Naß in die Tonnen. Hinterher kommt noch ein englischer Soldat mit allerhand chemischen Mitteln, Chlor und Salzsäure glaube ich, von denen er bestimmte Mengen eingießt, um die Krankheitskeime im Wasser zu töten. Früher wurde alles Trinkwasser gekocht, denn ungereinigtes Wasser in Indien zu trinken, ist leichtsinnig und zum mindesten gefährlich. Dieses Kochen des Wassers wurde der Verwaltung allmählich zu umständlich, vielleicht auch zu teuer. Deshalb wurde die chemische Behandlung mit Chlor eingeführt. Dadurch wird das Wasser zwar keimfrei, aber es bekommt einen unangenehmen Geschmack.

Kaum ist die chemische Behandlung des Wassers beendet, so schleppen die Gefangenen auch schon das Wasser fort, jeder so viel, als er zu seinem Bedarf nötig zu haben glaubt. Der Vorrat ist aber bald aufgebraucht. Die weniger kecken und rücksichtslosen Gefangenen bekommen oft keinen Tropfen und müssen eben Zusehen, wie sie ihren Durst den Tag über löschen können. Dieser Missstand trifft besonders die armen Gefangenen. Die Wohlhabenderen können sich für eine Mark täglich zwölf Flaschen Selterswasser, Bier und Whisky oder Wein kaufen. Hingegen Leute, wie etwa Seeoffiziere, Matrosen und andere, die von ihren Schiffen weggeholt wurden und von ihren Gesellschaften gar nicht oder nur sehr dürftig versorgt werden, können sich nichts derartiges leisten. Der ganze Übelstand, den ich hier erzähle, scheint nicht viel zu bedeuten. Eine Kleinigkeit, meint vielleicht der Leser. Dem ist aber nicht so. Es ist wirklich keine leichte Sache, in den Tropen an Wassermangel leiden zu müssen. Es ist meine Erfahrung, dass Indien ohne Wasser oder ohne ausreichende Mengen von Wasser die reinste Hölle wäre. Ähnlich wie mit dem Trinken steht's im Lager mit dem Essen. Im A-Lager wird die Kost in 2 Küchen bereitet. Von diesen beiden Küchen entspricht nur die eine einigermaßen den hygienischen Anforderungen. Das ist eine etwas schmutzige, aber sonst gut eingerichtete Militär-Dampfküche. Die andere aber ist eine äußerst primitive Feldküche. Auf einem freien Platze sind aus fünf oder sechs Backsteinen vier Feuerstellen errichtet, auf denen die großen, bauchigen Kupferkessel stehen. Auf dem großen Tisch nebenan werden das Gemüse und das Fleisch zerschnitten, und zurechtgemacht. Das ist die ganze Küche. Bei Regen mussten anfangs die Köche mit aufgespannten Schirmen kochen. Später fand selbst der amerikanische Konsul diese Einrichtung zu primitiv, und seinem Drängen ist es zuzuschreiben, dass über den Feuerstellen wenigstens ein Blechdach errichtet wurde, um die Küche während der Regenzeit vor dem stärksten Regen zu schützen. Von vorne und hinten wird aber der Regen immer noch hereingetrieben.

Die Kost selbst lässt viel zu wünschen übrig. Sie besteht des Morgens aus einem englischen Pfund Weißbrot und Tee, Mittags aus Suppe, Fleisch, Kartoffeln und Gemüse, das immer verschmäht wurde, wegen der "durchschlagenden Wirkung." Findige Köpfe fanden den schönen Namen "Ventilationsgemüse" dafür. Um vier Uhr kann man sich dann noch einmal mit einer Tasse Tee erfrischen, Zu dem man ein Stück des Brotes genießen kann. Das Fleisch ist immer reichlich mit großen Knochen versehen. Indisches Rindfleisch ist ohnehin saft- und kraftlos. Einige Male waren im Fleisch sogar Maden zu finden. Die Kartoffeln sind verschieden. Selbst die englische Regierung, der man doch sicher keine rührseligen Gefühle uns gegenüber zuschreiben darf, fand dieses Essen für unzureichend. Ohne irgendwelche Klage unsererseits erklärte sie sich bereit, täglich jedem Gefangenen eine Unze, d. h. ein Taler großes Plätzlein Butter und einige Tropfen Milch zu verabreichen. Mit dieser "aufgebesserten" Kost sollen sich die Gefangenen die ganze lange Zeit der Gefangenschaft über im tropischen Klima ernähren. Wer die Tropen aus Erfahrung kennt, weiß, dass die Hausfrauen geradezu Künste anwenden müssen, um den immer mehr verschwindenden Appetit anzuregen. Viel Abwechslung ist das Hauptgeheimnis einer guten Küche in den Tropen. Tag für Tag dasselbe Gericht essen zu müssen, das kaum gewürzt und nur mit Mühe hinunterzubringen ist, verdirbt allmählich den Appetit so, dass man vor allen Speisen einen Ekel bekommt. Ich betone noch, dass das durchaus nicht Genäschigkeit oder Verwöhntheit, sondern eine ganz natürliche Folgeerscheinung der tropischen Hitze ist. Wir kennen diese Appetitlosigkeit ja auch, wenn wir uns an besonders heiße Sommertage erinnern. Es ist ein überaus wohltätiger Dienst des Roten Kreuzes an den Gefangenen in den auswärtigen Lagern, dass es da helfend einschreitet. Auch nach Ahmednagar werden vierteljährlich etwa 2.500 Mk. geschickt. Diese Summe, zusammen mit den freiwilligen Beiträgen der Gefangenen selbst, ermöglicht es, die Kost schmackhafter zuzubereiten und auch für etwas Abwechslung zu sorgen. Sogar ein einfaches Abendessen kann für einen großen Teil der Gefangenen aus diesen Geldern hergestellt werden. Auf diese Weise ist durch edle, deutsche Bemühungen die Kost verbessert morden. Ich möchte das deutlich aussprechen, damit nicht etwa später einmal die Engländer dieses bene auf ihr Konto schreiben. Solche "Schiebungen" lieben sie nämlich.

In manchen Kreisen ist man der Meinung, die Kost im Lager sei gut. Diese Meinung mag zum großen Teil aus Privatbriefen Gefangener herrühren. Dabei ist aber mancherlei zu bedenken. Selbstverständlich würde kein Brief mit der Bemerkung, die Kost sei schlecht, die Zensur passieren. Auch muss man oft darauf achten, in welcher finanziellen Lage sich so ein Berichterstatter befindet. Viele der wohlhabenderen Gefangenen befinden sich in der angenehmen Lage, sich aus eigenen Mitteln eigene Küchen einzurichten. Meist tun sich mehrere solcher Herren zusammen, stellen einen kochkundigen Matrosen oder gar einen der gefangenen Schiffsköche an und lassen sich von ihm das Essen zubereiten. Alles dazu Nötige kann man beim Parsi in der Lagerkantine kaufen. Milch, Butter, Eier, Fleisch, Obst, Gemüse, Kartoffeln, Gewürze, Mehl, Essig und Öl, selbst Geflügel, kurz alles, was man zu einem guten, schmackhaften, ja sogar üppigen Mahl braucht, ist erhältlich. Der Parsi besorgt alles, wenn man fleißig bezahlt. Es ist klar, dass die Teilnehmer einer solchen Tischgesellschaft, oder Leute, die sich zur Regierungskost aus eigenen Mitteln noch allerlei dazu kaufen können, mit einem gewissen Recht behaupten können, das Essen im Lager sei gut und es sei im Lager schon auszuhallen. Sie empfinden nicht die Eintönigkeit der Kost jahraus, jahrein. Man kann vielleicht sagen, dass sie es in Bezug auf Essen sogar besser haben als wir daheim in der Heimat. Ihr Essen sei ihnen von Herzen gegönnt. Aber sie sollten ihre Verhältnisse nicht zum Maßstab für alle machen, wenn sie Lagerzustände öffentlich bekanntgeben. Tatsache ist, dass die Gefangenen des Lagers A mit der Kost nicht zufrieden sind, auch nicht zufrieden sein können, soweit das in Betracht kommt, was ihnen die englische Regierung vorsetzt.

Unter allen Gästen King Georges V. im Ahmednagarlager gibt es wohl nur eine Art, die wirklich zufrieden ist. Das sind die Aasgeier, deren es dort Hunderte gibt. Jeden Mittag, pünktlich zur Essenszeit, kommen aus der Umgegend durch die Lüfte daher diese hässlich gestalteten Vögel und sammeln sich oben auf den Dachfirsten der Steinbaracken in der Nähe der Küchen. In Reih und Glied sitzen sie bewegungslos oben, einer eng neben dem andern und beobachten mit ihren scharfen Adleraugen die Gefangenen, wie sie behutsam ihr Mittagsmahl auf Schüsseln und Tellern über den Hof nach ihren Wohnstätten tragen. Jetzt haben sie einen der Leute entdeckt, der ahnungslos schwätzend oder achtlos träumend unvorsichtig dahingeht. Wie der Blitz aus heiterem Himmel schießt einer dieser frechen Geier auf den Teller hinunter, krallt während eines majestätischen Gleitfluges das Fleisch oder sonst ein passendes Stück aus der Schüssel heraus und ist fort, ehe der erschreckte Mensch nur zur .Überlegung gekommen ist. Irgendwo in einem stillen Winkel oder auf dem Gipfel eines Baumes verschlingt der Räuber dann seine Beute unter dem heiseren Gekrächz der Raben in der Nähe, die lauernd bereitstehen, das zu holen, was der Geier im Abereifer etwa auf den Boden fallen lässt. Solche Schauspiele wiederholen sich täglich. Der Schreck der beraubten Gefangenen und das Spottgelächter der Zuschauer ist immer gleich groß. Es gibt immer wieder solche, die nicht vorsichtig genug sind, und es gibt auch immer eine Anzahl, die auf der Veranda stehend, sich ein tägliches Mittagsvergnügen daraus machten, auf solche Ereignisse zu warten. Sie bieten eine kleine, angenehme Abwechslung im öden Einerlei des Gefangenenlebens.


Arznei gegen Verblödung

Für Unterhaltung muss eifrig gesorgt werden. Die Ahmednagarleute tun ihr möglichstes, sich vor Langeweile zu schützen. Eine der besten Gelegenheiten zur Unterhaltung ist die bunt zusammen gewürfelte Gesellschaft. Es sind Deutsche und Österreicher da und ein Bulgare. Auch je ein Amerikaner, Schweizer und Grieche wurden versehentlich ins Lager gesteckt. Einmal befanden sich auch zwei englische Soldaten unter uns, die deutscher Abstammung waren und deshalb nicht für sicher galten. Einer wurde später wieder ins Heer eingereiht. Aus allen Gegenden des indischen Ozeans findet man sich da zusammen. Die meisten sind wohl aus Indien gekommen. Aber Indien ist sehr groß und so finden sich im Lager Leute aus Tibet und Tutukorin, Assam und Malabar, Nangun und Beludschistan, Simla und Madras, Bombay und Kalkutta, ja selbst aus Peschawar und den Grenzgebieten von Afghanistan. Andere sind durch die englischen Kriegsschiffe von deutschen oder neutralen Handelsschiffen heruntergeholt und nach Ahmednagar gebracht worden. Manche deutsche Schiffe wurden ja schon zwei Tage vor Ausbruch des Krieges festgehalten. Diese Seeleute sind alle weitgereiste Menschen und kamen von China oder Japan oder Australien. Etwa 10 der Gefangenen waren auf ihren deutschen Schiffen bei Ausbruch des Krieges mit höchster Kraftanstrengung bis zürn holländischen Hafen Sabang gekommen. Dort waren sie ein ganzes Jahr. Dann konnten sie die Sehnsucht, daheim mitzukämpfen und sich fürs Vaterland nützlich zu machen, nicht mehr unterdrücken. Sie schifften sich heimlich, ohne Wissen des Kapitäns in einem schwedischen Dampfer ein und kamen bis Aden. Dort wurden sie von den Engländern aufgegriffen und nach Ahmednagar gebracht. Eine Anzahl der Gefangenen waren Kaufleute in Vasra. Einer der Gefangenen hatte sogar seine kriegerische Laufbahn bei Ausbruch des Krieges daheim begonnen, hatte in einem bayrischen Reiterregiment die Mobilisierung mitgemacht und seine ersten Kämpfe bei Metz und Nancy erlebt. Später wurde er in die Türkei und nach Mesopotamien geschickt. Dort war er mit anderen Deutschen zusammen mitbeteiligt, mit viel List und Mut die Engländer monatelang aufzuhalten. Diese Leute haben viel dazu beigetragen, dass den Engländern später ein so überaus warmer Empfang bei Bagdad bereitet werden konnte. Leider durften sie bei dem Empfang nicht mehr dabei sein. Bei dem anfänglichen Rückzug der Türken wurden vier dieser Tapferen, darunter auch dieser Bayer, von Arabern überfallen, schwer verwundet und völlig ausgeraubt bis aufs Hemd. So fielen sie später den Engländern in die Hände und wurden nach Ahmednagar gebracht. Ein anderer dieser vier Braven ist ein Schweizer und der dritte. ein Österreicher. Die Geschichte eines jeden derselben ist ebenso interessant als bewundernswürdig. Auch ein deutscher Gardeartillerieoffizier kam eines Tages daher. Er hatte sich nach anfänglichen Kämpfen in Frankreich nach dem Osten begeben, und sich unter unendlich viel Gefahren wie auf einem Räuberzug durch ganz Persien bis an die Grenze von Afghanistan durchgeschlagen. Dort fiel er nach einem Kampfe erschöpft in die Hände der Engländer, nachdem er zweimal durch ihre Postenkette geschlichen war, um Wasser zu trinken. Er ist in Fesseln nach Ahmednagar gebracht worden.

Auch aus Ostafrika sind etwa 20 deutsche Krieger da. Die meisten von ihnen wurden auf einer kleinen, der Küste vorgelagerten Insel gefangen genommen. Gegen die 15 Leute wurden ein ganzes englisches Regiment und mehrere Kriegsschiffe aufgeboten. Erst nach einer heftigen Beschießung wagten die Feinde die Landung. Der Erfolg waren zwölf Gefangene, die einzige Besatzung der ganzen Insel. Andere Ostafrikaner hatten die Schlachten bei Tanga und Longitudo mitgemacht, die den Engländern zusammen etwa 3.000 Menschen gekostet haben. Bei späteren Patrouillenritten auf britischem Gebiete gerieten sie in Gefangenschaft und wurden nach Indien gebracht. Einer der Gefangenen ist der Berufskonsul aus Buschir in Persien. Die Engländer haben ihn bei Nacht und Nebel aus dem neutralen Hafen herausgeholt und in den Unterhosen aufs Schiff geschleppt. Erst der nachfolgende Diener konnte ihm wenigstens einige Kleider bringen. So könnte man noch manche interessante Persönlichkeiten aus der Schar der Gefangenen anführen. Es ist kaum möglich, sich irgendwo eine mannigfaltigere Gesellschaft auszusuchen. Man müsste schon ins bunt gesprenkelte Heer unserer Feinde gehen.

Aus dem Geschilderten lässt sich ersehen, dass es im Lager reichlich Gelegenheiten gibt, von den Einzelnen Erzählungen oder wohlgeordnete Vorträge über ihre mannigfachen Erlebnisse zu hören. Immer, wenn wieder neue Gefangene aus irgend einem Teile der Welt kommen, gibt es einige Tage lang ein großes Fragen und Forschen. Auch die große Verschiedenheit der Berufe und der Bildung geben reichen Anlass zu regem Gedankenaustausch. Wo Handwerker und Eisengießer, Matrosen und Schiffsmaschinisten, Schiffsoffiziere und Kaufleute, Missionare und Gelehrte, Maler und Musiker, Jünglinge und Männer für Monate, ja Jahre so eng beisammen wohnen wie im Gefangenenlager, da gibt es viel zu fragen und noch mehr zu disputieren, zu erklären und Zu streiten. Sozialdemokraten und Missionare, Arme und Reiche, Hohe und Niedrige finden sich nicht vom ersten Tage an Zueinander. Da muss manches überbrückt und Anschauungen korrigiert werden. Das ist im Lager ebenso wie draußen im Feld bei unseren Feldgrauen. Mich dünkt, dass das für unser Volk kein Unglück sein wird. Im Lager haben alle den Segen davon verspürt. Es ist ein ständiges gegenseitiges Geben und Nehmen. Die Weitgereisten machen sich verdient, indem sie etwas aus ihren Erlebnissen Zum Besten geben oder die geographischen, kommerziellen und politischen Verhältnisse verschiedener Länder vor der Allgemeinheit in Vorträgen erklären. Wer etwas kann oder weiß, macht seine Kenntnisse in irgendeiner Art auch anderen zugänglich. So sind Lehrkurse in verschiedenen Fächern eingerichtet. Man kann Hindustanisch, Arabisch, Englisch, Französisch oder Spanisch lernen. Wer will, kann Anschluss finden in Kursen für Stenographie, Mathematik, Chemie, Biologie, Nationalökonomie oder Theologie. Seit der Musikmeister des Gouverneurs von Zentralindien - dem der Gouverneur übrigens noch das Gehalt für die beiden letzten Monate vor dem Kriege schuldet - auch im Lager weilt, gibt es für Musik liebende Gefangene auch Musikstunden. Kurz, jeder Gefangene hat in Ahmednagar reichlich Gelegenheit, seine Lücken im Wissen zu verzäunen, Vergessenes aufzufrischen, nie Gelerntes neu zu lernen. Leider ist im Laufe der zwei Jahre diese rege wissenschaftliche Tätigkeit wieder erlahmt. Mancher Lehrkurs hat ganz aufgehört. Die tropische Hitze, die schlechten Wohnungsverhältnisse und nicht zum wenigsten die große Unruhe in den überfüllten Wohnräumen sind daran schuld. Nur Leute mit eiserner Energie und guten, gesunden Nerven vermochten ihr Studium bis heute fortzusetzen. Für die musikalische Unterhaltung im Lager sorgt ein großer Männerchor von ungefähr 70 Mitgliedern. Auch ein kleines Orchester von 20-24 Spielern unter der Leitung des schon erwähnten früheren Kapellmeisters des englischen Gouverneurs bringt sehr nette Vorträge zustande.

Leider müssen alle diese musikalischen Unterhaltungen in einem ungenügenden Raum abgehalten werden. Nämlich in einer der Blechbaracken. Nach monatelangen Verhandlungen gelang es dem Vertreter der Chr. Vereine junger Männer in Indien, dem Herrn Charters, einem Amerikaner, bei der Regierung die Erlaubnis zu bekommen, dass wir zu Unterhaltungszwecken eine der Blechbaracken verwenden dürften. Der Verein hat dann auch noch in durchaus selbstloser Weise eine große Anzahl schöner Bänke mit Lehnen, Ruhestühle, Spieltische, ein großes Podium, Gasglühlampen, ein Klavier und ein Harmonium gestiftet. Einmal in der Woche schickt der Verein sogar einen Kinematographen herein, sodass die Liebhaber solcher Aufführungen im Lager sogar ins Kino können.

Der Unterhaltungsraum des Vereins christlicher junger Männer wurde von gebelustigen Gefangenen durch allerhand Gaben, wie Fahnentücher in allen deutschen Farben, Wappen und Bildern ausgeschmückt. Die öden, trostlosen, langen Wellblechwände und die rohen Balkengerüste wurden auf diese Weise etwas verdeckt. Im Lauf der Zeit entstand so ein zwar nicht gerade künstlerisch schöner, aber doch patriotisch anregender und gemütlicher Versammlungsraum. An Sonntagen werden da die Gottesdienste beider Konfessionen abgehalten, und in den freien Stunden sitzen und liegen die Leute mit ihren Büchern oder Zeitungen herum und vertiefen sich in deren Inhalt. Auch alle Übungen der Chöre und des Orchesters weiden dort abgehalten. Es ist nicht immer angenehm für die in den benachbarten Baracken wohnenden Gefangenen Wochen hindurch immer wieder das gleiche Programm durchsingen oder durchspielen zu hören. Aber doch hat all dieses Musizieren einen großen Wert. Durch all die vielen Vaterlands- und Heimatlieder wird mancher Gefangener in den trüben Stunden, die in der Gefangenschaft, ach, so oft über einen kommen, erquickt. Unbemerkt wird der oder jener ans Vaterhaus, ans Vaterland erinnert. Alte Gefühle wachen auf. Alte Bande werden wieder neu geknüpft. Die alte Liebe, die englischer Firlefanz und britisches Schlaraffenleben oder vielleicht auch die trostlose Gefangenschaft zu vernichten droht, wird aufgefrischt. Neues Interesse, neues Wollen, neuer Mut entsteht wieder. Ich darf es wohl verraten, dass mancher dem Deutschtum schon verloren gegangene Sohn draußen sagte, er fühle nun wieder deutsch. Wir dürfen uns freuen auf manchen von denen draußen, der nach dem Krieg als wieder gefundener Sohn Deutschlands Zurückkehren wird. In unfern Liedern und in deutscher Musik kam manchem der deutsche Geist wieder nahe. Es lässt sich wirklich nicht mit Zahlen ausrechnen, wie viel Erfrischung, Erhebung, Ermutigung und Belebung von diesen Singstunden und Konzerten auf die Gefangenen überging und immer noch übergeht. Neben den guten Kriegsnachrichten, die immer hoffnungsfroh und mutig erhielten, tragen eben diese musikalischen Veranstaltungen viel dazu bei, im Lager einen guten Gesundheitszustand Zu erhalten. Natürlich wird auch von feiten der Gefangenen durch allerlei Leibesübungen für die Gesundheit des Körpers fleißig gesorgt. Durch Sammlungen oder Stiftungen wurden die Mittel beschafft, um Fußball- und Faustballplätze, Reck, Barren und andere Turngeräte herzustellen. Jeden Abend, wenn die ärgste Hitze überstanden ist und ein leichter, kühler Abendwind einzusetzen beginnt, sammeln sich die einzelnen Gruppen der an den verschiedenen Spielen beteiligten Leute und tummeln sich eifrig auf den Plätzen, bis die Dunkelheit hereinbricht. Wohlhabendere haben sich sogar zwei Tennisplätze hergerichtet und spielen morgens und abends Tennis. Die Teilnehmer werden aber von manchem anderen im Lager etwas unfreundlich angeschaut, weil dieses Spiel ein so ganz ausgesprochenes Kind englischen Geistes ist.

Vor einem Jahre etwa vereinigten sich auch einmal alle Gruppen Zu einem wohl gelungenen Sportfest, das sechs Tage dauerte. Am letzten Tage wurden den Siegern silberne Medaillen aus deutsch-ostafrikanischen Rupiestücken hergestellt, am schwarz-weiß-roten Band in feierlicher Weise überreicht. Schließlich muss noch eine Unterhaltungsmöglichkeit im Lager erwähnt werden. Das ist das Theater, oder genauer die "Ahmednagar-Lager-Theater-Aktiengesellschaft" A. L. T. A. G., wie sie sich nennt. Die ersten Aufführungen litten sehr durch die unpassenden, engen Räumlichkeiten, in denen sie stattfinden mussten. Da reifte in einigen Leuten ein anerkennungswerter Gedanke. Sie entschlossen sich in Anbetracht des immer schönen Wetters es den alten Griechen nachzutun und einfach unter freiem Himmel Zu spielen. Nur eine Bühne musste beschafft werden. Zu diesem Zwecke konstituierte sich die oben erwähnte, langnamige Gesellschaft. Ihre Mitglieder, die natürlich alle Zahlungskräftig sein mussten, steuerten Aktien im Gesamtwert von 250 Rs zusammen. Von diesem Neide wurde aus viel Erde, Brettern, Matten und Tüchern eine Bühne errichtet, die für die Ansprüche der Gefangenen vollständig genügte. Eine ganze Reihe verschiedener Stücke gelangte bereits zur Aufführung. Dem Zweck der ganzen Sache entsprechend sind alle Stücke aufheiternder Art. Ein Theaterkritiker würde wohl sehr viel daran auszusetzen haben. Alle Spieler sind durchaus Dilettanten, aber Leute, die sich redlich Mühe geben, ihr Bestes auf diesem Gebiete Zu leisten. Darum ist das ganze Unternehmen wohl Zu loben. Der Erfolg ist bisher jedes Mal ein glänzender gewesen. Stehplätze für die Unbemittelten sind frei. Die Preise für Sitzplätze sind je nach der Entfernung von der Bühne verschieden. Leider ist die Bühnengesellschaft sozusagen nach jeder Aufführung in der grüßten Verlegenheit um ein neues, geeignetes Stück. Schlechtes oder Gemeines soll und will man nicht darbieten, und gute, deutsche Stücke sind draußen im Lager nicht zu haben. Vielleicht entschließt sich ein Leser, der an unseren Leuten draußen und für diese besondere Art der Unterhaltung ein warmes Interesse hat, dazu auf amtlichem Wege zur Erhebung, Erheiterung und Ermutigung geeignete Stücke hinauszuschicken. Er darf des Dankes aller Gefangenen sicher sein.


Feste und Feiern

Ganz besonders wohltätig wirken im Lager immer die patriotischen Feiern. Der Lagerausschuss lässt keine auch nur irgendwie passende Gelegenheit vorbeigehen, ohne eine geeignete Feier zu veranstalten. Die Geburtstage des Kaisers, der Kaiserin, des Kaisers von Österreich, des Kronprinzen oder der Jahrestag des Kriegsbeginnes, Bismarcks 100. Geburtstag, alles muss einen schönen Anlass zu einer patriotischen Feier abgeben. Die Vorbereitungen dazu nehmen Wochen in Anspruch. Chor und Orchester üben nach Kräften und schieben Extrastunden ein, geschickte Hände kleben, pappen, malen und schnitzen verschiedene Dinge für die Ausschmückung des Festplatzes. Dichter machen Gedichte, Redner überlegen Reden und der Festausschuss eilt geschäftig umher, um alles zum Klappen zu bringen. Als Festplatz dient ein etwas abgeschlossener Hof, der von einem mächtigen, heiligen Feigenbaum beschattet wird. Unter seinem weiten, dichten Blätterdach und seinen geheimnisvoll herabhängenden Fangwurzeln versammelt sich immer an Festabenden die Lagergemeinde. Schon Stunden vorher sitzen viele da, und wenn der kühlende Abendwind leise zwischen den Blättern und Wurzeln durchsäuselt, dann träumen sich die von der Heimat gewaltsam Getrennten für eine Weile hinüber in die deutschen Eichen- und Buchenwälder, ins geliebte Vaterland. Für das Orchester und den Chor ist eine Tribüne errichtet worden. Der vorbereitete Schmuck ist angebracht, das Kaiserbild hängt am Stamm des Baumes, die Fahnen, geschmackvoll angebracht, flattern leicht im Wind. Alles ist fertig. Alle Zuhörer und Teilnehmer sind festlich gekleidet. Weißes Hemd und weiße Hosen ist der vereinbarte Festanzug. Auf mitgebrachten Bänken und Stühlen sitzen alle im weiten Halbkreis ums Podium herum. Alle harren mit Spannung auf das, was kommen wird.

Musik, Lieder und Gedichte in bunter Folge leiten die Feiern ein. Eine oder zwei patriotische Reden bilden den Hauptteil und ein kräftiges, dreimaliges Hoch auf Kaiser und Reich machen den Schluss zusammen mit der "Wacht am Rhein". Nun wird mancher etwas enttäuscht sein über diese einfache Feier und nicht verstehen, wie man da ein Wesen daraus machen kann. Aber das ist gerade das Wunderbare an den Feiern, dass ein so großes Maß von Begeisterung in einer so einfachen Form sein konnte. Die Begeisterung kennt manchmal keine Grenzen mehr. Früher bildeten sich nach der Feier unterm Baum rasch Gruppen und Züge. Bald zog die ganze Menge der Gefangenen, 800 Mann vom Lager-A hinter den Fahnen und Papierlampen singend um das Lager herum. Das meist gesungene Lied war immer: "Die Vöglein im Walde - in der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiedersehn." Unsere Lieder mögen Meilen weit in die Nacht hinausgeschallt haben, und die Inder in ihren Hütten in der Umgegend werden kopfschüttelnd zugehört haben und sich gedacht, dass sich ein solch begeistertes Wesen der Deutschen schlecht mit den Sieges-Nachrichten der Engländer vereinbaren lasse. Auch den englischen Wachtposten zwischen Stacheldrahtzäunen war es bei solchen Ausbrüchen des furor teutonicus nicht ganz geheuer. Ihnen schienen wir in unserer Begeisterung nicht harmlos. Unser Gebaren war ihnen etwas durchaus Fremdes, an übernatürliches Grenzendes. Die Sergeanten versuchten uns einmal bei diesen Umzügen zu stören. Sie drängten sich zwischen uns, spreizten die Ellenbogen auseinander und wollten uns dadurch zwingen auseinander zu gehen. Aber all ihr Mühen war gänzlich umsonst. Ohne unseren Gesang zu unterbrechen, schritten wir einfach um sie herum, einigten uns lächelnd hinter ihnen wieder und marschierten weiter. Die Flut der Begeisterung ging sozusagen über sie hinweg. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir damals so ums Lager zogen. Es mag zwei Stunden lang gewesen sein. Dann erreichte unsere Begeisterung nochmals einen Höhepunkt. Zur Mitternachtsstunde etwa sammelten wir uns zum zweiten Male an jenem Abend unter unserem schönen Feigenbaume und ließen die verbündeten Fürsten der Reihe nach hochleben, und wenn wir mit dem letzten fertig waren, fingen wir bei unserem Kaiser wieder an. Unser ganzes Fühlen und Leiden, unser stilles Miterleben seit den Monaten des Krieges mit der teueren, hartbedrängten und so heißgeliebten Heimat kam da zu einem ganz eigenartigen, elementaren Ausdruck. Die begeisterte Stimmung brachte uns halb von Sinnen. Wir wurden wie die Kinder.

Leider verpatzten uns die Engländer, wie so manches Mal, alles. Während wir so ganz hingerissen, fast wie betrunken und betäubt und unserer Sinne nicht mehr ganz mächtig unter dem Baume standen, benutzte der Adjutant den günstigen Augenblick, um uns mit Heeresmacht auseinander zu sprengen und womöglich eine recht große Anzahl von uns zur Strafe für unser zu lautes Fühlen ins Gefängnis abführen zu lassen. Heimlich war die Wache unters Gewehr getreten und durchs Tor hereingeschlüpft. Plötzlich stürzten sie mit gefälltem Bajonett auf uns los. Wir waren gerade noch rechtzeitig darauf aufmerksam geworden um ihre Absicht zu merken, und im nächsten Augenblick waren alle wie die Heinzelmännchen verschwunden. Wie auf Verabredung war jeder nach seinem Räume gerannt, hatte die wenigen Kleider, die man im Lager gewöhnlich an hat, mit ein paar Griffen ausgezogen und sich ins Bett gelegt. Manche hatten nur noch Zeit, mit den Kleidern unter die schützende Decke zu huschen. Zugedeckt bis über die Ohren heuchelten sie tiefen Schlaf. Kaum lagen wir im Bett, so stürzten auch schon die englischen Soldaten zur Türe herein. Sie glaubten doch eben noch einen Flüchtigen durch diese Türe schlüpfen gesehen zu haben, oder dort noch ein Bein, einen Ann, einen Rockzipfel verschwinden gesehen zu haben. Da hieß es schnell nacheilen und den Missetäter festnehmen. Wir mussten alle Kraft Zusammennehmen, um nicht in ein lautes Gelächter auszubrechen, als wir durch die halbgeschlossenen Augenlider, leicht blinzelnd ihre Enttäuschung beobachteten. Verdutzt suchten sie unter den Betten herum, zündeten Streichhölzer an und leuchteten den Schlafenden ins Gesicht. Die drückten natürlich die Augen fest zu. Ratlos zogen die gefoppten Engländer ab. Kaum waren sie 40 bis 50 m entfernt, da erschienen die Waghalsigsten von uns auf der Veranda, pfiffen und johlten den Tommies nach, bis sie sich zu einem neuen Sturmangriff entschlossen, der natürlich ebenso fruchtlos verlief wie der vorhergehende. Dieses ganze Benehmen entspricht nun allerdings mehr ungezogenen Schulbuben als gereiften, deutschen Männern. Der ganze, höchst spaßhafte aber doch im Ganzen etwas unschöne Schlussakt wäre nach unserer schönen Feier besser unterblieben. Unsere Gefühle waren auf diese Weise in den Schmutz gezogen. Und mancher Leser wird sich auch denken, das wäre bei uns hier in Deutschland einfach nicht möglich. Wir würden unseren Gefangenen anders kommen. Aber das ist schon ein Entschuldigungsgrund für uns. Wir haben eben im Ahmednagarlager keine solche Ordnung. Drum wird man übermütig. Außerdem muss man bedenken, dass die Mehrzahl der Gefangenen junge, nach Taten dürstende, kräftige, vollblütige Menschen sind, in denen die Gefühle nun schon 1½ Jahre lang auf gewaltsame Weise zurückgedämmt weiden. Sie können es fast nicht verwinden, dass sie, gerade sie, nicht mitmachen und dreinschlagen dürfen. Der Gedanke von all dem großen Ringen und Erleben daheim ausgeschlossen sein zu müssen, macht sie manchmal in der Seele krank. Irgendwo muss der Ärger, der Zorn gegen die Vettern über dem Kanal, der Kampfesmut aus dem kochenden Innern einen Ausweg finden, auch wenn er noch so ungeschickt gewählt ist. Sie können nicht anders. So müssen wir bei dieser Begebenheit vor allem den guten Willen der Gefangenen in Betracht ziehen, und dürfen uns nicht stoßen an den Mitteln, durch die der Wille zur Tat wurde. Einer Wiederholung dieses Vorkommnisses wurde übrigens rasch ein Riegel vorgeschoben. Schon am folgenden Tag erschien im Tagesbefehl in strafenden Worten die Verordnung des Oberstleutnants, dass solche Umzüge in Zukunft zu unterbleiben hätten. Auch der Alkoholverbrauch war durch den gleichen Tagesbefehl für etliche Wochen untersagt worden. Der Kommandant war offenbar der Meinung, diese Begeisterung sei die Folge übermäßigen Genusses von Alkohol gewesen. In diesem Falle hatte er sich gründlich getäuscht. Nun die Umzüge unterblieben in der folgenden Zeit, aber unsere Feiern hielten mir nach wie vor weiter, unser patriotischer Sinn wurde deswegen nicht im geringsten vermindert oder getrübt. Er ist eben unausrottbar. Ich habe später noch 2 Gefangenenlager kennen lernen müssen, aber der Geist der Vaterlandsliebe ist mir nirgends wieder so in überwältigender Weise entgegengetreten wie in Ahmednagar.

Wie wenig diese vaterlandsliebenden Gefangenen auch vor Gefahren und Mühsalen zurückschreckten, davon zeugen die Ausbruchsversuche, die eine ganze Reihe Gefangener unternahmen. Besonders in Indien stehen da unüberwindliche Schwierigkeiten im Wege. Einmal entflohen vier Tapfere. zwei von ihnen hatten schon in Ostafrika gekämpft und waren dort in Gefangenschaft geraten. Nach langen, reiflichen Überlegungen und Vorbereitungen entflohen sie durch einen unterirdischen Kanal, von einem Kilometer Länge, bis an die Brust im Wasser gehend. Außerhalb des Lagers angekommen, begann das Leiden erst recht. Drei oder vier Wochen mussten sie, nur bei Nacht wandernd, unter unsäglichen Mühen und Entbehrungen, Leiden und Gefahren auf Schleichwegen durch den indischen Urwald gehen, bis sie an den ersehnten Ufern des indischen Ozeans ankamen. Von dort dachten sie nach Ostafrika zu kommen um wieder in den Reihen der Deutschen kämpfen zu können. Sie waren schon in einem Schiff, da wurden sie im letzten. Augenblick erkannt, festgenommen und nach Ahmednagar zurückgebracht. Ich kann mir denken, mit welcher Freude der Adjutant die vier Helden in Empfang nahm. Wir im Lager bangten die vier Wochen für sie, und es traf uns wie ein Schlag, als wir von einem Sergeanten erfuhren, sie seien eingefangen worden. Zur Strafe für ihr kühnes, mit großem Scharfsinn vorbereitetes und mit außerordentlichem Mut durchgeführtes Unternehmen wurden sie vom Kriegsgericht zu schweren Gefängnisstrafen von sechs Monaten und einem Jahr verurteilt. Es war mir recht weh zu Mute, als wir auf unserer letzten Reise in Indien, von Ahmednagar nach Bombay, der Heimat zu, an Poona vorbeikamen und rechts der Bahn in einiger Entfernung die Türme des Militärgefängnisses sahen, in welchem wir diese unsere Tapferen auf dem Hofe bei glühender Sonnenhitze sitzend und Steine klopfend wussten, während wir der Heimat, der Freiheit entgegengingen. Ich weiß nicht, ob in Deutschland die Kriegsgefangenen bei verfehlten Fluchtversuchen ebenso schwer bestraft werden, wie diese Deutschen und Österreicher in Indien. Wir können das dahingestellt sein lassen. Aber mir scheint, dass diese Treuen, die sich durch keine Gefahr abhalten ließen zu den Unsrigen zu stoßen, wenn sie nun zur Strafe für diese Vaterlandsliebe vom Steinklopfen ein lahmes Kreuz bekommen, bei uns ein Eisernes Kreuz auf der Brust verdient haben. Eisernen Mut und goldene Vaterlandsliebe vor dem Feinde, haben sie jedenfalls bewiesen.


Englische Hilfe

Unsere vaterländischen Gefühle wurden nun allerdings durch die verschiedensten Mittel angeregt. Ein Mittel, das ganz seiner ursprünglichen Absicht entgegen wirkte, war die Ungerechtigkeit der englischen Lagerbehörden. Besser sollte man eigentlich sagen die Rücksichtslosigkeit, denn Recht und Unrecht gibt es bei den Engländern längst nicht mehr. So kam es einmal vor, dass etwa zehn Missionare eines Abends im Dezember 1914 um zehn Uhr im Gefangenenlager ankamen. Sie kamen von einem anderen Gefängnis im Süden, wo sie etwa acht Tage lang gewesen waren. Zwei Tage und eine Nacht waren sie unterwegs und hatten eben noch den staubigen, einstündigen Weg vom Bahnhof zum Lager zurückgelegt. Verschwitzt kamen sie an. Obwohl sie nun schon Stunden vorher telegrafisch angemeldet waren, war nichts für sie hergerichtet, keine Matratze, keine Bettstelle, keine Decke war vom dicken Quartiermeister-Sergeant bereitgelegt worden. Die zehn Missionare wurden einfach ins Lager hineingeführt, wohin wussten weder sie noch die, welche sie führten. So kamen sie auf einen freien, wiesenartigen Platz. Ratlos standen die Leute da und harrten der Dinge, die kommen sollten. Nach einigen Hin- und Herreden des Adjutanten und des Sergeanten gab der Adjutant die Weisung, die Missionare sollten sich auf die Erde legen und die Nacht so verbringen. Betten und die anderen nötigen Gebrauchsgegenstände würden sie am folgenden Tage bekommen. Die zehn Männer sahen sich ratlos und hilflos an. Sie blickten um sich, um bei der Dunkelheit überhaupt einmal herauszufinden, wo sie wären oder wo sie sich etwa hinlegen könnten. Da fuhr sie der Adjutant an, er werde sie ins Gefängnis abführen lassen, wenn sie nicht innerhalb fünf Minuten am Boden lägen. Sie folgten. Nach diesem Zwischenfall kamen aber deutsche "Hunnen", den Missionaren meist ganz fremde Menschen, bewirteten sie, überließen den vor Staunen erstarrten Neulingen ihre Lager und legten sich selbst auf Stühlen und Feldbetten zur Ruhe. Diese Missionare kamen alle aus einem sehr heißen Gebiete Indiens. Sie waren die Nachtkälte auf der Hochebene des Dekan nicht gewöhnt. Hätten sie in der anbefohlenen Weise die Nacht auf dem Erdboden zugebracht, so wären wohl alle ernstlich erkrankt. Man kann wohl kaum englischen Undank und britische Gefühllosigkeit besser illustrieren, als durch dieses Beispiel. Aber das ist nur ein Beispiel von vielen. Gerade die Missionare wurden besonders schlecht behandelt. Alle ihre Bitten wurden rundweg vom Adjutanten, meist sogar mit höhnischen Bemerkungen abgeschlagen. Die Missionare wurden von den Engländern als suspicious fwllows, als gefährliche Bürschchen bezeichnet und behandelt. Ein Missionar, der in Indien bei Ausübung seines Berufes ein Auge eingebüßt hat, bat um ein anderes Gelass, in welchem sein noch gesundes Auge vor den gefährlichen Sandstürmen etwas mehr geschützt sei. Die Bitte wurde abgeschlagen mit der schönen Begründung: "missionaries must mortify their flesh", d. h. die Missionare müssen ihr Fleisch opfern. Das sind Züge der vielgerühmten und von uns so oft in äffischer Nachahmungssucht erstrebten englischen Feinheit und des vorbildlichen Anstandes. O, wie lange brauchen wir noch, bis wir endlich einmal lernen, beim Engländer Zwischen Form und Wesen, Schein und Sein, Zivilisation und wahrer Kultur scharf zu unterscheiden? Immer wieder suchen wir beim Engländer in unangebrachter deutscher Objektivität zu entschuldigen. Und es gibt doch bei ihm so wenig zu entschuldigen, als bei einem vollendeten Heuchler.

Doch noch einige charakteristische Beispiele. Einer der vier Kämpfer, die in Mesopotamien so treu gearbeitet haben und dann in englische Gefangenschaft gerieten, machte einen Fluchtversuch. Er hatte sich ganz braun angestrichen und als eingeborener Straßenkehrer verkleidet. An einem Samstagabend zog er kühn, wie er ist, mit den Straßenkehrern zusammen zum Tore hinaus, der ersehnten Freiheit zu. Seine Absichten müssen irgendwo verraten worden sein, denn er war kaum einige Schritte vom großen Tor des Lagers entfernt, da fiel auch schon eine bereitgestellte Wache über ihn her und schleppte ihn unter ständigen Schlägen, Püffen und Fußtritten ins Gefängnis. Dort begannen dann die englischen Soldaten erst gründliche Arbeit zu tun. Wir im Lager hörten den Ärmsten noch lange jammern und um Hilfe schreien. Das Interessanteste an der ganzen Sache aber kam hinterher. Nach einigen Wochen wurde der Ausreißer vor ein Kriegsgericht gestellt, das ihn zu einem Jahr schwerer Zwangsarbeit verurteilte. Das harte Urteil wurde damit begründet, dass auf lügnerische Weise nachgewiesen wurde, dieser Mann habe die englischen Soldaten verprügelt.  Viele von uns waren Zeugen des ganzen Vorfalls und wussten, wie durchaus verlogen diese Beschuldigung war. Der Fall war einfach auf den Kopf gestellt worden. Bei der Gerichtsverhandlung, die aus Mangel an deutschen Sprachkenntnissen der Herren Richter natürlich vollständig in Englisch geführt wurde, konnte sich der Mann nicht verteidigen, da er kein Wort englisch versteht. Er konnte sich überhaupt nicht eigentlich an den Verhandlungen beteiligen. Wohl wurden ihm von Zeit zu Zeit die Anklagen durch den Adjutanten, der etwas Deutsch kann, übersetzt, aber was bedeutet das?

Noch schärferes Licht wirft der folgende Fall auf diese englische Rechtsprechung. Dieses Unglück hing mit dem leidigen fünf Meter-Abstand vom Stacheldrahtzaun aufs engste zusammen. Eines Abends kam ein harmlos spazieren gehender Gefangener dem Stacheldraht zu nahe. An einer Ecke war er dem Zaun auf 3,50 m anstatt 5 m nahe gekommen. Gerade an jener Ecke passierte das täglich oftmals ohne den geringsten Zwischenfall. Jeder vernünftige Wachtposten musste einsehen, dass das an jener Stelle nicht anders ging. Unglücklicherweise stand nun damals in der nächsten Nähe zwischen den Drähten ein recht beschränkter Engländer auf Wachtposten. Er rief den ahnungslos dahinschlendernden Gefangenen an und ließ ihn halten. Der unschuldige Missetäter blieb dann auch sofort gehorsam stehen und wartete auf die inzwischen herbeigerufene Wache. Bald sammelte sich, angezogen durch das komische Bild der beiden regungslos dastehenden und einander anglotzenden Gegner, eine ganze Menge von Gefangenen in der Nähe an. Einer aus der Masse warf einen Stein nach dem Wachtposten. Der Wachtposten glaubte sich verteidigen zu müssen und verpuffte einige Kugeln mit seiner Flinte, ohne etwas zu treffen. Unterdessen kam die Wache eilig herbei und führte den armen Spaziergänger ins Gefängnis ab. Nun sollte der, welcher den Stein geworfen hatte, ermittelt werden. Man fand ihn nicht. Niemand wusste, wer der Missetäter war, deshalb wurde kurzer Hand, der dem Zaun am nächsten wohnende Herr der benachbarten Blechbaracke verhaftet und beschuldigt, den Stein geworfen zu haben. Diese beiden Herren wurden dann vor ein Kriegsgericht gestellt, der Meuterei für schuldig befunden und zu einem Jahr Gefängnis mit schwerer Zwangsarbeit verurteilt. Keine Berufung und Aufklärung der Lage unsererseits nützte etwas. Ja, als sich der eigentliche Schuldige, der den Stein geworfen hatte, angesichts des Unglücks jener beiden selbst beim Obersten meldete, wurde er rundweg abgewiesen. Dabei machte der Kommandant die höchsteigentümliche Bemerkung, es komme ihm gar nicht darauf an, den eigentlichen Schuldigen zu finden, sondern nur uns gehörig zu strafen. Die beiden Herren sind durchaus makellose, angesehene Herren, die sich nie etwas zu Schulden kommen ließen und sich im Lager allgemeiner Hochachtung erfreuten. Wegen Mangels an Gerechtigkeitsgefühl seitens der Engländer sitzen sie heute im Gefängnis zu Poona und klopfen Steine.

Solcher Beispiele könnte man noch manche anführen, aber sie sind mir nicht alle genau gegenwärtig, und ich möchte nur Wahres schreiben, was bewiesen werden kann. Es ist auch genug. Ich will ja nur klarlegen, wie unsere Gefangenenwärter selbst dafür sorgten, unseren Grimm und Zorn gegen sie und ihre ganze Nation aufrecht zu erhalten, und wie sie dadurch indirekt unseren Patriotismus immer wieder aufs Neue anfachten.

Nur das eine darf nicht unerwähnt bleiben, weil es die englische Geldgier zeigt, dass die Soldaten des britischen Weltreiches es nicht unter ihrer Würde halten, die "Hunnen", die sie aus irgend einem Grunde in das Lagergefängnis abführen, jedes Mal vorher in der Wachtstube zu verprügeln und ihnen das Geld aus der Tasche oder dem Geldbeutel bis auf den letzten Heller rauben. Gerade diese letztere Heldentat macht immer bei unseren derben Matrosen tiefen Eindruck. Man kann es beobachten, wie dann ihr Blut in den Adern kocht. Einmal musste wirklich alle Überredungskunst angewendet werden, um sie von einem beabsichtigten Sturmangriff auf die Posten und die Wache abzuhalten. So haben die Engländer selbst unseren Vaterlandssinn wach gehalten.


Hilfe der Heimat

Während nun auf der einen Seite die Feinde selbst immer wieder für die nötige Erhitzung des deutschen Blutes sorgen, lassen es auch manche Freunde und Verwandte in der Heimat nicht an der nötigen Hilfe fehlen. Bis zu unserer Abreise erhielten wir im Lager fast ununterbrochen Berichte und Zeitungen, die uns halfen die englischen Berichte zu korrigieren und recht verstehen zu lernen. Unser Mut und unsere Hoffnung wurden immer wieder durch diese Nachrichten neu belebt. Die Gefangenen haben sich durch die vielen schweizerischen, schwedischen und amerikanischen Blätter allmählich ein so sicheres Urteil über das Matz der Wahrheit und Lüge in den englischen Zeitungen erworben, dass sie in Zukunft ziemlich genau unterrichtet sein werden, auch wenn sie gar nichts mehr von der Heimat erfahren sollten. Engländer in Indien sollen gesagt haben: "Wenn ihr Genaueres über den Krieg erfahren wollt, dann müsst ihr nach Ahmednagar zu den Gefangenen gehen. Die wissen alles."

Ende 1914 wurden wir aber doch einmal gehörig hinters Licht geführt. Da hatte jemand aus Deutschland ein Zettelchen geschickt mit der Nachricht, unsere deutschen Truppen ständen vor Paris, zwei Befestigungswerke seien schon gefallen, ein Flügel unseres Heeres stehe sogar bei Fontainebleau. Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht durchs ganze Lager, obwohl sie natürlich nur unter dem Siegel "strengster Verschwiegenheit" von Mann zu Mann mitgeteilt wurde. Mit ungeheurem Jubel wurde sie aufgenommen. "Da haben wir's! Die Gesellschaft hat uns angelogen! Die ganze Aisnestellung ist Mumpitz. Paris wird in kurzer Frist fallen." So ging es den ganzen Tag fort und alles hoffte auf einen Frieden in allernächster Zeit. Liess es sich jemand einfallen, skeptischer zu denken, oder gar die ganze Sache als unmöglich darzustellen, dem schleuderte man voller Verachtung das Wort "Verräter" ins Gesicht. Diejenigen, welche sich Karten von den Schlachtfronten gezeichnet hatten, steckten die -deutschen Fähnlein nach ihrer Phantasie kühn und mutig bis vor Paris. Ganz große Disputationen fanden statt, ob dieses oder jenes Fort bereits als gefallen anzunehmen sei. Ja - die größten Phantasien sagten sogar, Paris sei sicher schon gefallen, man wolle das nur der Welt vorenthalten.

Da kam eines Tages eine Basler Zeitung ins Lager. Welch ein Schreck! Kein Wort von Paris! Alle Stellungen waren dieselben wie in den englischen Zeitungen angegeben. Wie ein Nebel verschwand die ganze Stimmung. Aber Nacht wanderten die Fähnlein wieder an die Aisne und Somme zurück. Die Hauptredner und Schwätzer ließen sich für ein paar Tage nicht mehr sehen. In Zukunft glaubte im ganzen Lager niemand mehr eine Kriegsnachricht, wenn man sie ihm nicht schwarz auf weiß beweisen konnte. Was man ohne Beweis behauptete oder verbreitete, wurde ohne viel Besinnung als sogenannte "Lokusparole" gekennzeichnet.

Im Laufe der Zeit bekamen natürlich auch die draußen, der Zensor und der Adjutant Wind von unseren gründlichen Kenntnissen der Kriegslage. Sie konnten nur nicht darauf kommen, wie das alles bei der scharfen Bewachung und Abschließung möglich sein konnte. Bei ihrer Schnüffelei erlebten sie einmal einen großartigen Reinfall. In der Zeit des großen Vormarsches in Polen gegen Warschau war im Lager allmählich die törichte Sitte aufgekommen, sich nach einem Orakel umzusehen, das einem schon in aller Morgenfrühe, ehe Nachrichten und Zeitungen kamen, die gewünschten Offenbarungen in Bezug auf den Krieg geben sollte. Dieses Orakel wurde nach einiger Beobachtung ein Kreuz, das zwischen zwei Pfeilern beweglich auf dem Turm der katholischen Kirche, dem Lager gegenüber, angebracht war. Hatte der Wind oder die Raben das Kreuz da drüben auf den Kopf gestellt, dann sollte das für uns schlechte Nachrichten bedeuten. Stand es aufrecht, so waren gute Nachrichten von unseren Heeren zu erwarten. Zufällig stimmte die Geschichte eine Zeit lang ganz prächtig, und zum Scherze brachte man manchmal zum Morgenessen seinen Kameraden die Nachricht "heute gibt es gute Nachrichten, das Kreuz steht aufrecht!" Selbstverständlich glaubte niemand die Sache ernstlich. Es war eben ein Stück jenes Unsinns, den die langweilige Gefangenschaft im Gehirn der Gefangenen gezeitigt hatte.

Da sprachen einmal zwei von uns draußen beim Zensor von dem Kreuz. Er hörte es und erkundigte sich genauer. Harmlos erzählten ihm die Beiden die ganze Sache samt der Deutung und lachten noch dazu. Am folgenden Morgen war das Kreuz entfernt. Die Toren argwöhnten, der Pfarrer draußen oder sonst ein bestochener Spion teile uns auf diese Weise so die Kriegsnachrichten, vielleicht sogar noch wichtigere Meldungen mit. Das Kreuz blieb entfernt. Der katholische Kirchturm muss sich damit abfinden. Wenn die Gefangenen nun auch nicht mehr morgens orakeln können, so sind ihnen die Nachrichten doch geblieben und nach wie vor werden die Herzen schneller schlagen, wenn die Unsrigen wieder ein Heldenstück vollbracht haben. Die Hilfe der Heimat soll, will's Gott, nie versagen.


Selbsthilfe

Trotz diesem wundervollen Glauben ans Vaterland, gibt es nun manchmal im Lager doch so den einen oder anderen zwischen drinnen, der nicht ganz deutsch fühlt. Es sind eben so viele Deutsche dort, die halb oder ganz Engländer geworden waren. Nicht alle von denen konnten so schnell anders denken und umfühlen, wie es die Mehrzahl der Gefangenen wünschte. Die meisten konnten einfach nicht mehr das geringste Engländertum vertragen. Das musste sofort verschwinden. Verging es nicht von selbst, so gab es und gibt es im Lager noch ein probates Hilfsmittel. Das ist die sogenannte "Kieler Flotte". Sie besteht aus einer Anzahl sehr kräftiger, handfester und schlagfertiger Matrosen von deutschen Handelsschiffen. Unter der Führung eines der ihren, des "Kapitäns", wie er stolz genannt wurde, erfüllen sie ihre Pflichten, die ihnen hoch und heilig sind. Ihre Pflicht und selbstgestellte Aufgabe ist Pflege des Deutschtums. Ihr Mittel aber eine barbarische Tracht Prügel. Heimlich einigen sie sich über ihr Opfer. Selbstverständlich ist vorher in langen Unterhandlungen, in Rede und Gegenrede dessen Schuld und Strafe festgelegt worden. Auch Tag und Stunde genau. Zur festgesetzten Zeit, meist nachts, wenn alles schläft, wird der Schuldige überfallen. Rasch wirft einer eine Decke über ihn, damit er nicht so laut auffällt. Einige müssen ihn festhalten. Und dann wird er verprügelt. Wirklich kunstgerecht. Das muss man anerkennen. Die Kieler Flotte versteht diese ihre Kunst nur zu gut. Die Verprügelten beziehen nicht selten das Lazarett. Die Kieler Flotte hat es getan, das weiß jedermann, auch der Kommandant draußen. Aber wer eigentlich zur Flotte gehört, das weiß niemand genau. Es ist ein Geheimbund, dem gegenüber die Behörden machtlos sind.

Statt vieler nur ein Beispiel solcher Fehmgerichte. Im Süden Indiens hatte ein Deutscher die einträgliche Stelle des Gartendirektors seiner Hoheit des Maharadschas von Meisur inne. Um diese Stelle nicht gleich beim Ausbruch des Krieges zu verlieren, versäumte jener Deutsche kein Mittel. Vaterlandsverleugnung und Verrat schien ihm nicht zu schlimm. Erst versuchte er naturalisiert zu werden. Als das nicht gelang, setzte er alle Hebel in Bewegung, wenigstens von den Engländern als einer der ihren, ihnen innerlich verwandt, anerkannt zu werden. Auch das gelang nicht ganz. Er blieb zwar in Freiheit, aber er war keinen Augenblick sicher auch nach Ahmednagar abgeführt zu werden. Darum machte er bei der nächsten passenden Gelegenheit den letzten Versuch, der ganzen englischen Welt seine Gesinnungen zu offenbaren. Die Torpedierung der Lusitania durch ein deutsches Tauchboot gab ihm dazu den erwünschten Anlass. Er schrieb einen Artikel in die Madraszeitung, in welcher er voll Abscheu über diese Rohheit der Barbaren loszog, und sich mit aller Deutlichkeit für immer von diesem Volke lossagte. Es braucht kaum erwähnt zu werden, welches Wohlgefallen dieser Artikel bei der englisch-indischen Welt fand. In kürzester Frist erschien er in allen größeren und kleineren Zeitungen Indiens und so bekamen auch wir davon zu hören und zu lesen. In der ersten Baracke, auf der Veranda wurde er öffentlich vorgelesen. Ein Sturm der Entrüstung ging durchs Lager. Die Kieler ballten die Fäuste in den Taschen und murmelten zwischen den Zähnen Flüche, die nicht nett zu hören waren. Und das Ende der vielen Flüche war immer der inbrünstige Ruf: "O - wenn wir doch den Krummbiegel da hätten, den wollten wir schon grade bügeln!" Krummbiegel ist nämlich der Name dieses ehrenwerten Deutschen. In der richtigen Erfassung des Tatbestandes hatten die Kieler Name und Wesen des Mannes in den engsten Zusammenhang gebracht.

Es dauerte nur wenige Wochen, da erfuhren die Kieler eine Freudenbotschaft. Einer hatte in irgend einer Ecke der Zeitung die Nachricht entdeckt, dass das Schicksal dem Herrn Krummbiegel auf den Fersen sei. Er sei abgeführt worden und komme nach Ahmednagar. In zwei bis drei Tagen würden sie die Freude erleben, ihn leibhaftig "begrüßen" zu dürfen. Er kam. Die englischen Offiziere, die ihn brachten, hatten ihm sein wahrscheinliches Los schon mitgeteilt. Auch der Kommandant machte ihn auf die Prügel aufmerksam, und so wusste er schon, was ihm bevorstand. Noch in der ersten Nacht, als er sich schlaflos auf der ungewohnten Matratze von Kokosnuss-Stroh herumwälzte, kamen die finstern Gesellen wie Lützows wilde verwegene Jagd und gerbten ihm sein verräterisches Fell so fürchterlich, dass er am folgenden Tage das Lazarett beziehen musste. Es wird im Lager erzählt, er habe später einmal bekannt, dass er jetzt wieder deutscher fühle. Ob es wahr ist, muss die Zukunft zeigen.

Nun möchten manche Leser vielleicht denken, ich wolle diese Prügel verherrlichen und einem groben Faustrecht das Wort reden. Zweifellos berührt einen die Sache nicht sympathisch. Es ist nicht deutsch und nicht männlich, einen wehrlosen Gegner bei Nacht im Schlafe zu überfallen und zu prügeln. Das sind Räuberstreiche. Die Praxis der Kieler Flotte erfreute sich denn auch nicht bei allen Gefangenen der gleichen Achtung. Aber man muss ihr auch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Einen Unschuldigen bestraften die Kieler während der Zeit unseres Aufenthaltes im Lager nie. Und ihr Ziel, Einpflanzung und Pflege deutscher Gefühle bei hoffnungslos verdorbenen Englandsfreunden und Schmeichlern haben sie meist erreicht. Vielleicht würde die gleiche Behandlung auch manchem daheim von großem Segen sein. Im Lager ist mancher allein durch den heilsamen Schrecken von der Kieler Flotte vom Engländertum geheilt worden. Das einzige Mittel gegen Anglizismus ist die Flotte, in der Nordsee ebenso wie in Ahmednagar.


Die Kehrseite der Medaille

Nach all dem bisher Erzählten erscheint es, als ob es in diesem Gefangenenlager zu Ahmednagar ganz unterhaltlich wäre. Das ist doch eine solche Menge beabsichtigter und unbeabsichtigter Unterhaltungen, dass einem fast die Lust ankommt, auch dort zu sein. Und zu allem Überfluss ist das Erzählte doch nur ein kleiner Auszug aus dem Ganzen. Das kann natürlich keiner völlig erleben und erst recht nicht beschreiben.

Aber man täusche sich nicht! Alle diese erzählten Ereignisse zusammen mit allen mir unbekannten und darum unerzählten Geschichten und Geschichtlein sind doch herzlich wenig. Die Geschichten, die hier kurz zusammengedrängt beschrieben sind, sodass sie in einem oder zwei Stündchen gelesen werden können, verteilen sich in der rauen Wirklichkeit dort im Lager auf die schrecklich lange Zeit von fast zwei Jahren. Jeder Tag ist lang und jedes Jahr hat volle 365 solcher langen Tage. Und das Jahr 1916 hatte sogar 366. Es bleiben noch unendlich viele, langweilige Stunden und Tage, ja Wochen übrig. Wie soll man die ausfüllen, besonders jetzt, nachdem die Energie und der Humor allmählich einschläft und erschlafft? O - wie schleppt man oft die Tage mühsam dahin! Wie schwer trägt man an der Langeweile! Das ist besonders bei Leuten der Fall, die infolge ihrer Erziehung nie Gelegenheit hatten eine eigene Gedankenwelt zu erwerben, in die sie sich zurückziehen könnten, wenn es um sie her öd und leer wird. Da hat man große Mühe, den Tag herumzubringen. Morgens um sieben Uhr muss man laut Lagerbefehl aufstehen. Es ist viel zu früh. Der Tag ist ja so lang! Früher ging's noch. Da wurde dieser Befehl einfach nicht ausgeführt. Man konnte liegen bleiben, so lange es einem beliebte. Jetzt aber wird sehr genau kontrolliert. Das Liegenbleiben kann einem unter Umständen drei Tage Arrest eintragen. Man kann es höchstens riskieren, sich nach einer angemessenen Pause wieder hinzulegen. Aber der Schlaf ist dann einmal unterbrochen.

Hat man sich endgültig aus Morpheus Armen befreit, dann huscht man geschwind hinüber in die Waschküche und hält Katzenwäsche, nur ganz so oben drüber weg, denn das Bad kommt nachher. Dann trägt man das Brot für die ganze Abteilung auf dem Rücken ins Lager herein, wenn die Reihe gerade an einen kommt Andere verteilen Butter und Milch so gerecht, als das bei den winzigen Portionen möglich ist und holen in Kochkübeln den dampfenden Tee aus der Küche. Da wäre nun alles herbeigeschafft zum Frühstück, das man hübsch langsam und gemächlich verzehrt, um so viel Zeit als möglich totzuschlagen. Von acht Uhr oder neun Uhr ab begibt man sich ins Badetuch gehüllt nach dem Badehaus und plätschert dort unter der Dusche so lang es einem beliebt, wenn nicht gerade ein Dutzend anderer Gefangener draußen ungeduldig auf einen warten und schimpfen, ob der Unverschämtheit und Rücksichtslosigkeit mancher Menschen. Gewöhnlich brauchen aber die ärgsten Krakeeler die längste Zeit zum Baden. Nach dem Bad zieht man sich notdürftig an. Alles Weltmodentum und englisches Gigerlwesen ist aufgegeben, man könnte fast sagen, in das Gegenteil umgeschlagen. Kaum einer der Gefangenen fragt noch nach Mode. Jeder läuft herum, wie es ihm beliebt oder wohl bekommt. Die Kleidung, welche am häufigsten getragen wird, ist ein khakifarbenes Hemd, ebensolche Kniehosen mit einem Ledergürtel um die Hüften und ein paar ganz einfache Ledersandalen an den Füßen. Hüte, und zwar die unförmigen Tropenhüte, wie sie in Indien gebräuchlich sind, werden nur während der heißesten Zeit des Tages getragen. Sonst zeigt man sich barhäuptig. Um zehn Uhr kommt endlich die englische Tageszeitung und die Post. Glücklich, wer viel von der Letzteren erhält. Er darf für Stunden die Gefangenschaft und all ihr Elend und die Langeweile vergessen und im Geist die Zeit bei Weib und Kind oder bei Vater und Mutter zubringen. Versunken sitzen sie da, hier einer und dort einer, ganz in den Brief, das ersehnte Lebenszeichen von daheim, vertieft. O - ihr alle, daheim, schreibt denen draußen! Lasst sie womöglich keine Woche vergeblich auf Nachrichten warten. Das ist der beste Dienst, den ihr ihnen tun könnt.

Die weniger Glücklichen aber, die keine Post erhalten haben, stürzen sich auf die Zeitung und lesen und studieren sie mit bewundernswertem Fleiß. Die eventuellen Frontveränderungen werden nach langem Hin- und Herreden auf den großen, selbstverfertigten Karten vom Kriegsschauplatz vorgenommen und mit Fähnchen fest» gelegt. Die politische und militärische Lage wird auf Grund der allerneuesten Nachrichten einer genauen Prüfung unterzogen, wobei natürlich besonders viel Eifer und Scharfsinn dazu verwendet werden muss, Wahrheit und Dichtung in der englischen Zeitung zu unterscheiden. Schließlich kommt auch die Mittagszeit herbei und bringt die abwechslungsreiche Tätigkeit des Essen«. Durch das viele Reden, Streiten und Kämpfen über die Kriegslage hat man sich einen gehörigen Hunger geholt.

Der nächste Akt im Kampf gegen die Langeweile ist dann ein etwa zweistündiger Mittagsschlaf, wohl auch die Lektüre eines Buches aus der Lagerbibliothek, die aber, ich möchte das ja nicht versäumen zu bemerken - von den Deutschen selbst eingerichtet wurde. Um vier Uhr ist die Vesper, d. h. der Nachmittagstee kann getrunken werden. Sobald es draußen kühler zu werden anfängt, beginnt Spiel und Turnen oder auch ein Spaziergang, immer genau in fünf Meter Entfernung den Zaun entlang ums Lager herum. Wenn man so an einem vier- bis fünfmal herumgekommen, ist man doch etwa acht bis zehn Kilometer gelaufen. Dabei sieht man durch den Stacheldraht gelangweilt den Herren Engländern zu, wie sie draußen auf den Straßen vorbeireiten oder fahren. Man denkt daran, dass man eigentlich auch einmal schönere Tage gehabt hat als jetzt im Lager. Manchmal kommt auch ein Gentleman oder ein Lady mit dem Knippskasten und möchte eine Aufnahme von den gefangenen "Hunnen" machen. Da muss man immer auf der Hut sein, um gleich kehrt machen zu können, um den verehrten Herren und Damen die Rückseite zuzuwenden. Bei Einbruch der Dunkelheit, etwa um sieben Uhr, setzt man sich zu dem oft selbstbereiteten Abendbrot und nachher kommt die Unterhaltung draußen auf der Veranda oder im Freien, wo man sich seine Faulenzerstühle zusammen gestellt hat und gemächlich plaudert bis um Mitternacht und länger. Eher kann man doch selten einschlafen wegen der großen Hitze. Der Gesprächsstoff geht zuweilen aus. Jeder hat so ziemlich alle seine Erlebnisse, die er der Öffentlichkeit preisgeben will, zu wiederholten Malen erzählt. Am glücklichsten sind diejenigen zu schätzen, denen es nichts ausmacht, um Mitternacht zum 20. Male die politische Lage neu zu besprechen. Ich bin überzeugt, mancher Engländer, der das zu lesen bekäme, würde sagen: "Die haben es aber schöner als ich, so vollendet faulenzen darf nicht einmal ich und ich bin doch ein Engländer. So nahe bin ich meinem idealen Ziele noch nicht gekommen." So mögen Engländer und vom Engländertum angesteckte Deutsche sprechen. Echte Deutsche aber werden anders empfinden. Wir Deutsche finden unseres Lebens Ziel und Freude nicht im Faulenzen sondern in unserem Werke. In uns liegt der Drang, nicht in erster Linie in Behaglichkeit und Wohlstand glücklich zu sein, sondern etwas zu schaffen, zu leisten, nicht umsonst gelebt zu haben. Das glauben wir Deutsche unserem Gott über uns und unseren Nächsten neben uns schuldig zu sein. Darum habe ich es mir während der Gefangenschaft und jetzt wieder schon 1000 mal gesagt, dass das größte Leiden für Deutsche in der Gefangenschaft die Langeweile und das aufgezwungene Faulenzertum ist. Das größte Verbrechen der Engländer an uns Gefangenen ist nicht etwa das schlechte Essen und die elenden Blechbaracken, sondern dass sie harmlosen Zivilisten die Arbeit, das Werk, das Lebensziel entziehen. Die Leiden der Gefangenen in Lager-A. können nicht mit denen unserer Brüder in Sibirien und vollends in keiner Weise mit den endlosen Beschwerden unserer Brüder im Felde verglichen werden. Wenn wir da anfangen müssten zu vergleichen, wollen wir sofort alle verstummen und uns ehrerbietig neigen. Unsere Leiden sind anderer Art. Dazu müssten eigentlich einige Irrenärzte genauere Untersuchungen anstellen. Sie fänden bei einem Besuch im Lager wahrscheinlich sehr rasch bei allen eine leichte Abnahme der Geisteskräfte, bei vielen sogar eine gewisse Schwäche, die sich in beginnender Versimpelung zeigt. Und bei manchen mühten sie zweifellos fortgeschrittenen Schwachsinn feststellen. Als Grund aber aller solcher Leiden stellte sich meines Erachtens die Arbeitslosigkeit heraus.

Man kann leicht entgegnen, dass man sich eben Arbeit verschaffen müsse. Einige wenige im Lager waren tatsächlich im Stande, mit eiserner Energie einem regelmäßigem Studium obzuliegen. Wenn aber einer meint, das könnten alle, der kennt die Menschen nicht. Die meisten Menschen, sonderlich die geistig weniger gebildeten, sind nicht fähig, sich selbst die Arbeit zu suchen oder sich größere Aufgaben zu stellen. Dazu gehören in der Charakterbildung schon weit fortgeschrittene Persönlichkeiten. Alle anderen wollen geführt werden, arbeiten gerne unter Leitung und schinden sich sogar ab, wenn es einmal sein muss, Ohne Zwang aber erliegen sie im Laufe der Zeit der Hitze und der Unruhe in den Räumen oder den steten Lockungen des dolce far niente. Und das hat Folgen, von denen sie unter Umständen in ihrem ganzen ferneren Leben nicht mehr ganz frei werden. Was deutsche, treue, fleißige Meister in ihren Lehrlingen gepflanzt haben, das haben die Engländer während dieser durchaus unberechtigten Zivilgefangenschaft gründlich wieder verdorben. Viele sind auch in den Nerven schwer geschädigt. Es gibt viele Gefangene im Lager, die ständig an Kopfschmerzen leiden, eine Folge der Hitze in den Blechbaracken. Andere sind so reizbar geworden, dass es nur des geringsten Anlasses bedarf, um sie in die größte Aufregung zu bringen. Mehr oder weniger leiden so ziemlich alle Gefangene daran. Man muss es sich ernstlich vornehmen, keinem etwas übel zu nehmen, wenn er einmal grob oder gar unverschämt kommt. Das rührt in der Regel ja nicht her vom Mangel an Anstand oder Verstand, sondern einfach von geschwächter Nervenkraft. Man kann das deutlich immer wieder bei den häufigen Auseinandersetzungen über die Kriegslage beobachten. Wie aufgeregt und unfreundlich geht es da zu! Und doch sind alle die streitenden und sich gegenseitig beleidigenden Menschen Männer, die in ihren früheren, geordneten Verhältnissen Würde und Anstand wohl zu wahren wussten. Alles ist nur die Folge des schrecklich öden Lebens, der ungenügenden Wohnungsverhältnisse, der schlechten Ernährung und vor allem des langen Aufenthaltes in den Tropen. Darum ist nächst der Schuld der Engländer, Zivilisten überhaupt gefangen zu halten, die Unterbringung derselben in den Tropen ihr größtes Verbrechen, und zwar nicht ein Verbrechen am Deutschen Reich allein, sondern vor allem am Leben der einzelnen Menschen. Jener Matrose im Lager hat den richtigen Ausdruck für das alles gefunden, der auf einem großen Knochen - einem wesentlichen Bestandteil seines Mittagessens - zu steter Erinnerung die Worte malte: "O - Ahmednagar, du Mörder meiner Tugend!"

Warum geben uns denn die Engländer keine Arbeit? Einmal hätten wir Arbeit haben können. Das war damals, als die Blechbaracken gebaut wurden. Den Bau mussten eingeborene Unternehmer mit ihren eingeborenen Arbeitern ausführen. Wir gefangenen Deutschen und Österreicher aber sollten gegen eine Belohnung von 40 Pfg. pro Tag die Handlangerdienste für jene Inder tun. Wir sollten Steine, Erde und Mörtel zutragen. Gegen diese Arbeit sträubten wir uns aufs allerentschiedenste. Aus zwei Gründen. Erstens ist eine solch schwere Arbeit wie Steine tragen und dgl. in der Tropenhitze für Europäer viel zu anstrengend. Man spürt ja nach einem mehrjährigen Aufenthalt in den Tropen jeden Spaziergang in den Muskeln. Viele wären bei dieser durchaus ungewöhnten Arbeit einfach zusammengebrochen. Aber der zweite Grund, den wir anführten, war uns viel wichtiger. Der hat seine Berechtigung in den Anschauungen und Verhältnissen der Inder. Ein Europäer, der schwere, körperliche Arbeit tut, wird von den Indern verachtet. Nur der Paria, der Kastenlose, der Auswurf der Menschheit, macht niedrige Arbeit. Im Europäer sehen sie nur einen Führer, einen Herrn, ein Glied der beherrschenden Rasse. Wird er ihnen aber in der Arbeit gleichgestellt, so verfällt er der Verachtung. Zudem wird jede Arbeit nach ihrem Lohne eingeschätzt. Bekommt der deutsche Sahib für seine Arbeit nur 40 Pfg., also weniger als der Inder, der etwa 50 oder 60 Pfg. erhält, so ist der Europäer eben auch um soviel weniger als er und genießt die entsprechende Behandlung und Verachtung. So sind nun einmal die Verhältnisse in Indien.

Wir konnten unter diesen Umständen die Arbeit nicht annehmen. Vielmehr bestürmten wir den Kommandanten mit wohl begründeten Bitten und bewegten ihn, den schon gegebenen Befehl zur Arbeit wieder zurückzunehmen. Das ist meines Wissens ziemlich die einzige verständige Tat des Oberstleutnant Moese, bei der er Einsicht und Verstand bewies. Es gibt eben doch eigentlich keinen ganz dummen Menschen. Ein bisschen Verstand hat jeder.

Soll wirklich im Gefangenenlager zu Ahmednagar für Beschäftigung der Gefangenen in ausreichendem Maße gesorgt werden, dann kam es sich von vornherein nur darum handeln, Handwerksstätten innerhalb des Lagers einzurichten, Werkzeuge und Materialien zur Verfügung zu stellen und jeden in seinem Beruf oder in einer ihm naheliegenden Weise zu beschäftigen. So ist es in anderen Lagern, wie z. B. im Alexandra Palace in London. In Ahmednagar aber wurde den Gefangenen sogar das Arbeitszeug weggenommen, so dass auch die Arbeitswilligen nicht arbeiten können. Früher fand eine Anzahl Gefangener Arbeit in den Büros. Auch das hörte wieder auf, weil manche von diesen Leuten irgend ein harmloses Geheimnis an die Mitgefangenen verrieten.

Da die Regierung für die oben erwähnte Einrichtung von Werkstätten nicht zu gewinnen ist, haben manche Gefangene ganz im Geheimen sich selbst etwas zurecht gemacht. Mit primitiven, oft selbst verfertigten Werkzeugen arbeiten sie, was der Tag bringt, zimmern Kisten, Stühle, Tische roh zusammen aus dem Holz alter Kisten oder reparieren Schlösser, Uhren und sonstige Dinge. Die Seeleute bauen schöne Schiffsmodelle. Manche von diesen Modellen sind wahre Kunststücke. Andere knüpfen Hängematten oder Teppiche und ähnliche Dinge. Viele der unbemittelten Gefangenen kochen oder waschen für die bemittelten und verdienen dadurch meist ein ganz nettes Stück Geld. In der letzten Zeit meines Aufenthaltes entstand eine ganz neue Art Industrie. Ein findiger Gefangener wählt sich in der Küche aus den vielen großen Knochen, die täglich mit dem Fleisch geliefert werden, die geeigneten aus, reinigt sie gründlich, macht sie spiegelglatt und bemalt sie mit allerlei Bildern und Wappen. Schließlich werden die Knochen als Andenken an Ahmednagar verkauft. Wieder andere machen sich in anerkennenswerter Weise fürs Allgemeinwohl verdient, etwa indem sie die Küchenverwaltung übernehmen oder jeden Tag vor einem großen Zuhörerkreis die englische Zeitung übersetzen. Aber alles das sind Arbeiten, die wohl Stunden in Anspruch nehmen, aber keinen gesunden, arbeitswilligen Mann so beschäftigen, dass die Langeweile ihn fliehen muss.


Der weiße Rabe

Nur einer hatte im Lager Arbeit von früh bis spät. Sieht man ihn des Morgens, noch ehe es recht hell zu weiden beginnt, so arbeitet er. Sieht man ihn mittags, bei der Gluthitze der Tropen, da niemand arbeitet, sondern alles schläft, so arbeitet er wieder. Und sieht man ihn abends spät, so arbeitet er immer noch. Das ist der Abraham. So heißt er eigentlich nicht. Eigentlich heißt er nämlich Mose Sigl. Uneigentlich aber führt er den Namen Abraham. Im ganzen Lager kennt ihn jeder unter diesem Namen. So stellt er sich selbst jedermann vor. Die meisten im Lager würden nie an den denken, wenn ich ihn hier unter seinem rechtlichen Namen vorstellen würde. Er ist polnischer Jude von reinstem Wasser, obwohl er meist sehr schmutzig ist. Aber das gehört zu einem polnischen Juden reinsten Wassers. Er stammt aus der Gegend des Duklapasses.

Unser Abraham ist einfach ein Original. So gibt es kein zweites mehr. Das fällt jedem bald auf, der ins Lager kommt. Abgemagert bis auf Haut und Knochen, etwas nach vorne gebeugt und windschief, an den dünnen Gliedern, armselige, schmierige Kleider, bestehend aus Hemd, Hose mit Hosenträgern und ein paar hungrigen Schuhen, auf dem Kopf einen ganz alten fettigen, eingetriebenen Tropenhut und unter dem Arm das nie fehlende Einschlagtuch, mit dem alle erstandenen Trödelwaren diskret verhüllt werden, so läuft er herum und handelt. Zielbewusst und immer in gleicher Eile geht er von Stube zu Stube, Baracke zu Baracke, und wickelt die Geschäfte ab, die er eingefädelt hat. Nur selten ist er gezwungen zu fragen: "Haben Sie nicht etwas zu verkofen?" Meist ist er schon vorher von seinen Kunden im Geheimen eingeweiht worden. Anvertraute Geheimnisse weiß er wunderbar zu bewahren. Er handelt mit allen beweglichen Gegenständen im Lager. Für jedes Ding, auch wenn er es bis jetzt noch nicht kannte, hat er ein bewundernswürdiges, instinktives Verständnis. Wenn er einmal für etwas einen Preis festgesetzt hat, würde einem kein anderer Mensch weniger bieten. Im Lügen hat er eine meisterhafte Fertigkeit. Er gibt ruhig zu, dass er gewöhnlich lüge. Lächelnd erzählt er seinen Kunden, er habe im Leben überhaupt nur einmal die Wahrheit gesagt, und das sei ihm zum Schaden gewesen. Da habe er nämlich den Engländern in Port Said gesagt, er sei Ungar, und dafür hätten sie ihn nach Ahmednagar abgeführt. "Seit jener Zeit sage ich kein wahres Wort mehr" fügt er zum Schluss seinen Erzählungen gewöhnlich bei. Jedermann glaubt ihm diese überflüssige Bemerkung. Er spricht viele Sprachen, aber keine richtig. Sein Deutsch ist geradezu ergötzlich. Es genügt jedoch vollkommen, um einem alles ohne viel Zeitverluft abzuschwatzen. dass er immer auf einen ansehnlichen Gewinn aus ist und zu diesem Zwecke auch einen kleinen Betrug nicht verschmäht, gibt er unumwunden zu. "Sie kennen mich ja. Sie sind durchaus nicht gezwungen mit mir zu handeln. Wollen Sie, oder wollen Sie nicht?" Die Neuankommenden empfängt er meist schon am Eingang des Lagers und stellt sich ihnen gleich als Abraham vor. Nichts bringt ihn aus seiner gleichmäßigen, nur aus Geld und Gewinn eingestellten Stimmung, Das Leben ist für ihn Geschäft, und alle politischen Wirren, alle Erfolge oder Misserfolge unserer Truppen, alle Zeitungsnachrichten und Schreckschüsse, alles läuft an: Abraham herunter wie ein Tropfen an der rußigen Pfanne, oder an seinem schmierigen Hut. Nur wenn wieder einmal eine Anzahl neuer Gefangener auftaucht, dann gleitet ein zufriedenes Lächeln über sein Mephisto ähnliches Gesicht. Dann kann man ihn auch einmal mit der Zigarre zwischen den wenigen, übrig gebliebenen Zähnen sehen. Er ist auf der Höhe seiner Empfindungen und seines Wohlbehagens. Kein Wunder! Er weiß, da blüht sein Weizen auf jeden Fall wieder. Bringen die Neuen nichts, dann brauchen sie vieles, das nur bei Abraham zu haben ist. Haben sie etwas, dann ist Abraham sicher, dass einmal für sie die Zeit kommen wird, da sie ganz im Stillen dies und jenes bei Abraham losschlagen müssen. Und Abraham ist diskret. Das weiß jedermann. Durch den Krieg mag er viel in seinem Straußenfedergeschäft zu Port Said verloren haben. Ader viel mehr als er dort verloren, hat er in Ahmednagar gewonnen. Mehrere Male im Monat schleppt er in der geheimnisvollen Tasche zwischen Hose und Hemd seinen erklecklichen Überschuss hinaus zum Zahlmeister. Denn Abraham ist klug. In diesem Fall handelt er genau nach Vorschrift, nach der er nie mehr als 30 Rs in Händen haben darf. Er weiß warum. Er kennt das Menschenherz, Abraham treibt seinen Handel unentwegt weiter. Erst der Tod wird dem ein Ende machen. Solange er lebt, kann er nicht anders. Er muss. Er ist wie der ewige Jude. Als andere sahen, welch glänzende Geschäfte Abraham machte, wollte es ihm mancher nachmachen. Aber es gelang keinem. Es gibt nur einen Abraham in Ahmednagar und das ist eben der Mose Sigl.


Das Pensionat - oder die Kinderschule

Um der entsetzlichen, gähnenden Langeweile etwas abzuhelfen, erlaubt der Kommandant hie und da Spaziergänge außerhalb des Lagers in der Umgebung. Wenn sich das Lager wochenlang recht gut gehalten hat, d. h., wenn der Herr Oberstleutnant keine Unannehmlichkeiten unsertwegen hatte, dann dürfen die Gefangenen zweimal in der Woche immer eine Gruppe zu je 100 Mann unter militärischer Bedeckung auf eine Stunde in Reih und Glied zum Lagertor hinaus, Gassi gehn. Man marschiert auf der großen Kitchenerstrasse spazieren. Gewöhnlich geht es um das alte Muhammedanerfort herum, das vor mehr als 100 Jahren Wellington selbst mit seinen Truppen erstürmt hat. Der Baum, unter dem er nach der Erstürmung geruht hat, steht heute noch zum Teil und ist durch eine Gedächtnistafel gekennzeichnet. So alle 8 Tage kommt man einmal an den Spaziergang. Da nun aber der Kommandant dieses bene, wie er meint, in unserer Behandlung alle Augenblicke wieder verkürzt, wenn er bei irgend einer Kleinigkeit glaubt, das Lager strafen zu müssen, überhaupt den Gefangenen bei jeder Gelegenheit diesen Spaziergang als große Gnade bezeichnet, die wir eigentlich gar nicht verdienten, so gingen viel bald nicht mehr mit aus dem Lager, und verzichteten auf die Gnade. Jetzt kostet es jedes Mal große Mühe, die Leute zu einem Spaziergang zusammen zu bringen. Das ist der Grund, dass viele Gefangene die Umgebung von Ahmednagar nur sehen, wenn sie eingeliefert werden und den etwa einstündigen Weg vom Bahnhof nach dem Lager unter die Füße nehmen. Die einzige Gelegenheit, einmal anständigerweise aus dem Lager herauszukommen, ist etwa die Beerdigung eines Mitgefangenen draußen auf dem Militärfriedhof. Zum Glück kommen solche Beerdigungen selten vor. Wir haben im Lager bis jetzt nur wenige Tote zu beklagen. Bis zu unserer Abreise waren es sieben. Sie liegen alle an einer Stelle des Friedhofs beisammen. Von zusammengesteuerten Mitteln errichteten wir ihnen ein schönes Grabdenkmal aus großen, unbehauenen Natursteinen aus der Umgebung. Auf dem mittleren, größeren Stein ist eine rote Marmortafel angebracht mit den Namen, Geburts- und Todesdaten der Verstorbenen, und unten steht noch in Goldschrift der Spruch: "Der Tod ist verschlungen in den Sieg." Das Denkmal wäre unserem Plane nach bedeutend größer geworden, als es jetzt tatsächlich ist. Die dazu nötigen, großen Steinblöcke sind längst aus den Bergen herbeigeschafft worden und liegen vor dem Friedhofsportal. Aber irgend eine englische Behörde fand, dass das Denkmal der deutschen Kriegsgefangenen alle anderen, englischen Denkmäler zu sehr überrage und so mussten wir uns mit einer kleineren Anlage begnügen. Bemerkenswert ist noch, dass auf jenem Friedhof eine große Anzahl Buren begraben liegen, die während der Zeit ihrer Kriegsgefangenschaft vor etwa 16 Jahren dort starben. Sie, die Tapferen und die Unsrigen liegen dort friedlich beisammen und harren der Auferstehung von den Toten zu besseren Zeiten.


Und unsere Frauen

Nun wäre im großen Ganzen unser und unserer Mitgefangenen Leben im Lager geschildert. Allerdings eines fehlt noch. Etwas vom schwersten, das die meisten zu ertragen hatten, war die Trennung von Weib und Kind. Sie durften nicht beisammen bleiben. Auch die Missionsfamilien wurden getrennt. Damit wurde unwiderleglich die englische Heuchelei Lügen gestraft. Den Missionaren wurde nämlich gesagt, dass sie um ihrer selbst willen weggebracht würden. Die englische Regierung könne auf die Dauer keine Garantie übernehmen. Warum man aber nun Weib und Kinder vom Vater riß, das kann niemand recht erklären.

Und wie nun erst die Frauen zum Teil behandelt wurden? Acht Frauen und zehn Kinder wurden von einem betrunkenen Sergeanten fortgebracht. Alle zusammengepfercht in einem Wagenabteil. Dazu eine zwölfstündige Fahrt in den Tropen. Auf den Bahnhöfen den Blicken der gaffenden Eingeborenen ausgesetzt. Zur Erfrischung wurde ihnen Kaffee in gewöhnlichen Emailletöpfen gereicht. Ganz so wie man es bei Verbrechern macht. Keine Spur von englischer Feinheit in Behandlung der Damen!

Ein Teil der Frauen war in Bellary, ein anderer in Belgaum untergebracht. In Bellary waren meist Missionsfrauen und Kinder. Sie waren in den kleinen Sergeantenwohnungen des dortigen Militärlagers untergebracht. Nicht gerade glänzend, aber immerhin noch erträglich. Das heißt, erträglich haben es sich die Deutschen erst gemacht. Als sie ankamen, war alles noch im vollsten Schmutz und grenzenloser Unordnung. Auch "Mitbewohner" fanden sich reichlich bei näherer Untersuchung der Räume. Da blieb als erste Tätigkeit deutscher Frauen nichts anderes übrig, als einmal gründlich zu reinigen. Nachdem alles gereinigt, geweißt und eingerichtet war, war's auszuhalten. Sonderlich auch, weil all die Bewachungsleute freundlich und nett waren und nicht unnötigerweise belästigten. Freilich kontrolliert wurde auch. Es hätte eine von den Missionarsfrauen doch einmal fortlaufen und irgendwo einen Aufstand hervorrufen können. Den Deutschen ist nie zu trauen! Selbst den Frauen nicht! Sind alle zusammen unheimliche Gesellen. Sie bringen alles fertig. Ja, gerade die Frauen! Ist es denn zu glauben? "Sah ich da" - so schreibt ein Engländer einmal - "so eine deutsche Frau im Zimmer auf und ab marschieren, und dabei singt sie in vollster Begeisterung die Wacht am Rhein. Und ihre Augen hätten Sie sehen sollen! Die leuchteten von einem ganz unheimlichen Feuer." Es ist ein merkwürdiges Volk, diese Deutschen! Mancher Engländer schüttelt den Kopf über uns und zieht die Stirne in Falten und seufzt schwer. Gott sei Dank, sagen wir dazu, dass es endlich einmal soweit ist.

Aber da ist es begreiflich, wenn die Frauen und selbst die kleine Drachenbrut hinter Schloss und Riegel gebracht wird. Es ist vom englischen Standpunkt aus vielleicht auch zu begreifen, dass man sie an einen Fieberplatz gebracht hat. Bellary ist nämlich ein Malarianest. Alle Missionsleute, die dort hingebracht wurden, sind schwer erkrankt an Malaria. Manche von ihnen liegen heute noch im Spital mit dieser schrecklichen Krankheit. Die Kinder blieben meist verschont, weil Malaria wie es scheint bei Kindern nicht so recht anpackt. Es war gut, dass die eingeborenen Kindermädchen vom Missionsfeld mit waren. Die konnten aushelfen, wenn die Mütter vor Schwäche nicht mehr nach den Kindern sehen konnten.

Die anderen deutschen und österreichischen Frauen waren meist in Belgaum untergebracht. Das war ein besserer Platz. Vor allem fieberfrei. Nicht in allen Frauenlagern wurden die Internierten gut behandelt. Eine Frau wurde 14 Tage ins Gefängnis gesperrt, weil sie sich ohne Erlaubnis für ihren Säugling Milch verschafft hatte. Dabei sind in Indien natürlich dieselben Vorschriften nicht wie bei uns. Dann wäre das ja zu begreifen. Der gemeinste Streich, den meines Erachtens die Engländer je gemacht haben, hängt mit dieser Trennung der Familien zusammen. Es ist kaum zu glauben, aber wahr bis aufs i-Tüpfelchen, dass die englische Regierung englisch geborenen an Deutsche verheirateten Frauen den Vorschlag machte, sich jetzt von ihren deutschen Männern scheiden zu lassen. Ich habe selbst ein solches Zuschreiben der Regierung gelesen. Teuflischerweise wartete die Regierung etwa ¾ Jahre lang nach der Trennung. Inzwischen sollte die Frau in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung fügig geworden sein. Welch ein Streich; die Frau mit solchen Vorschlägen zu überfallen, während sie getrennt vom Gatten in einer fernen Ecke Indiens sitzt. Welche Teufelsregierung, die zu so schändlichem Ehebruch die Hand bieten will! Man streitet meines Wissens über die Existenz eines Teufels. Aber in englischen Regierungskreisen sitzt mehr als ein wahrhaftiger Gottseibeiuns.

Soviel ich weiß, hat keine der Frauen in Indien, an die der Vorschlag ging, demselben Folge geleistet. Aber allein die Idee ist schaurig und bezeichnend genug. Was die Frauen und Kinder in dieser Zeit alles ausgestanden, getragen, gelitten haben, entzieht sich meiner genaueren Kenntnis. Es war schwer. Das weiß ich. Da war es für die Eheleute immer eine Freude, wenn der eine oder andere Teil es endlich erreichte, dass die Frau nach Ahmednagar kommen durfte, um den Mann drei Tage lang zu besuchen. Dann durfte der Mann mit einem Pass außerhalb des Stacheldrahtzaunes wandern. Beide konnten sich nach ein oder 1½ jähriger Trennung wieder einmal aussprechen. Leider war das nur wenigen vergönnt. Schon nach kurzer Zeit wurden diese Besuche verboten. Jeder innigere Verkehr musste aufhören. Die kurzen, zensierten Briefe änderten an diesem Zustande nichts.

Immerfort wurden über diese Trennung Klagen an die Regierung eingesandt. Sie reagierte darauf. Das einemal hieß es, die Besuche werden wieder eingerichtet. Ein andermal wurden die Eheleute sogar getröstet mit dem Versprechen, sie würden zusammenkommen. Familien dürften in einem Familienlager beisammen wohnen. Alles freute sich riesig auf diese Aussicht. Man glaubte sie anfangs nicht ganz. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, sagten die misstrauisch gewordenen Gefangenen. Aber der Oberst des Lagers gab bestimmten Bescheid. In drei Wochen kommen sie zusammen. Nun fingen die Männer an zu zählen. Fast die Tage und Stunden. Sie konnten es kaum erwarten. Die Frauen und Kinder werden es ähnlich gemacht haben.

Da - ein neuer Regierungsbefehl. Die Frauen und Kinder werden heimtransportiert nach Deutschland, ohne den Gatten und Vater noch einmal sehen zu dürfen. Also aus dem Zusammenwohnen wurde wieder nichts. Die Mehrzahl der gefangenen Männer draußen in Ahmednagar ist nun schon seit zwei Jahren und acht Monaten von Weib und Kind getrennt.


Nach Hause über London

Uns Missionaren schlug nach 18 oder 19 monatlicher Gefangenschaft endlich die Freiheitsstunde. Leider nur uns. Den übrigen Armen im Lager nicht. Sie mussten schweren Herzens zurückbleiben.

Aber warum wurden wir Missionare frei? Das ist ebensowenig durchsichtig als unsere Gefangennahme. Der angegebene Grund war der, dass nach der Genfer Konventionen Geistliche und Ärzte nicht gefangen gehalten werden dürfen. Um diesen Paragraphen zu finden, brauchten die Engländer 19 Monate. Wir Missionare hatten überdies gleich am Anfang unserer Gefangenschaft mehrere Male darauf aufmerksam gemacht. Dort war die Erkenntnis nicht erwünscht. 19 Monate später hatte sich die Lage verändert. Da konnte es allmählich zu einem Frieden kommen. Und was sollte nach dem Frieden mit den Missionaren werden? Die wollten natürlich wieder auf ihre Stationen und weiter arbeiten. Aber solche gefährlichen Deutsche dürfen nicht, mehr in Indien bleiben. Sie könnten ja die Wahrheit nachher bekannt machen. Das Volk könnte unruhig werden. Es könnte Aufruhr, Revolution, Krieg geben. Darum fort mit den Missionaren möglichst schnell heim mit ihnen. Dort sind sie am wenigsten schädlich.

So wurden wir am 29. März 1916 abgeführt nach Bombay. Zuerst ging's 1½ Stunden die Straße entlang nach dein Bahnhof von Ahmednagar. Singend natürlich, trotz der Hitze. Bei einbrechender Dunkelheit kamen wir an, luden unser Gepäck von den Wagen und schleppten es zum Zug, Wir staunten. Lauter schöne Wagen II. Klasse. Mir fiel das alte Lied ein:

Wie der Schimmel am Leben is gwen -
Hab'ns ihm nix z'fressen geben.
Wie der Schimmel tot ist gwen -
Ham's ihm an Schübpel Heu hingebn.

Immer vier in einem Abteil saßen wir beisammen. Jeder fühlte sich wie ein Freiherr. Wie herrlich nach all den Entbehrungen! Auf einmal wieder Mensch. Zivilisierter Mensch. Das Barometer der Selbstachtung stieg um ein paar Grade.

In rasender Eile ging's die Nacht durch Bombay zu. Am Morgen erreichten wir Poona. Der andere Zug mit den Frauen und Kindern war schon angekommen. Wiedersehen der Familien. Unbeschreibliche Freude nach all dem Leid und der langen Trennung. Leid und Trauer war im Nu vergessen. Dann auf dem Bahnhof ein ordentliches Frühstück an reinlich gedeckten Tischen mit weißen Tüchern und Blumen. Wir waren geradezu gerührt. Warum das jetzt? War das alles vielleicht nur deshalb, um alle die dunklen Erinnerungen schnell auszuwischen? Wir kannten uns fast nicht mehr. Jedes Tischtuch, jede Blume, jede Tasse und jeder schöne Teller überwältigte uns fast. Dann ging's weiter, die West Ghats herunter. Eine herrliche, höchst interessante Fahrt in Schlangenlinien in rasender Eile bergab. Oben sahen wir noch die Strecken, die wir eben gefahren waren. Tief unten überdeckt von dämpfig flimmernden Luftschichten lag die Ebene. Herrlich, herrlich, wenn man wieder einmal etwas sieht von der Welt und nicht mehr hinter dem Stacheldraht stehen muss.

Nachmittags kamen wir im Hafen von Bombay, im Alexandra Dock an. Unser Selbstgefühl war auf der Fahrt wieder ein wenig zu hoch gestiegen. Wir hatten hochgespannte Erwartungen. Die mussten wieder etwas heruntergeschraubt werden.  Da lag ein Dampfer im Dock. Das wird doch nicht die Golconda sein? Dieser kleine, schwarze, dreckige Dampfer? Da sollen 500 Menschen hinein? Nein, das ist unmöglich!

Aber es war doch so. Alles musste aussteigen. Jeder musste noch zu einer kurzen Untersuchung antreten. Dann ging es hinein ins Schiff. - Schrecklich! Entsetzlich! Da halte ich es keine Stunde aus! Das ist ja eine fürchterliche Hitze! Der Schweiß strömt aus den Poren. Der Tropenanzug ist in wenigen Minuten durchschwitzt. Und welch ein Gedränge! Man kann sich nicht recht umdrehen. Dazu das Schreien der Kinder, das Jammern der Mütter, das Schimpfen der Väter mit den schwarzen Kellnern. Alles rennet, suchet, schaut, staunt, fragt, gestikuliert, überlegt und schickt sich resigniert in sein Schicksal. Aber nur solange er auf Deck ist und das größere Übel noch nicht weiß. Jetzt hat er endlich einen Weg in die Tiefe zu den Kabinen gefunden. Man muss sich zwar durchdrängen. Aber es geht. Ein  Stock tief. Wo ist denn meine Kabine? Hier ist keine Kabine. Noch einen Stock tiefer. Dumpfe Luft. Ein Geruch von frischer Ölfarbe, Küchendunst und Gefrierfleisch. Da und dort eine düster brennende elektrische Lampe. Enge Gänge. Der dicke Herr Sch.... kommt kaum durch. Zwei Leute machen eben Anstrengungen an einander vorüberzukommen. Sie sehen einander in die Augen. Was da drinnen alles zu lesen ist! Na - mal frisch hinein in die Bude. Da steht ja die Nummer: Kabine 15. Da gehöre ich hinein. - Mal rein, lieber Bruder, tönt es von innen. Frisch ging ich hinein. Aber erschöpft kam ich heraus. Vollständig aufgelöst in Schweiß. Ja, was - das ist die Kabine? Wo denn? Ich sehe sie ja gar nicht. Na — da sind doch die Betten! Richtig - da ist so etwas wie lange flache Kisten übereinander. drei, vier, fünf oben - fünf unten. Zehn Mann sollen da schlafen? Und die nötige Luft? Wo kommt denn die her? Ach so - da ist ja ein Guckloch, das man mit zwei Händen zudecken kann, wenn es gerade einem Haifisch einfallen sollte, bei Tag oder Nacht neugierig hereinzuschauen. Ich sehe mich um. Waschgelegenheit? Ein einziges Waschbecken für zehn Mann. Das wird interessant. Und wo kommt denn das Handgepäck hin? Ein unlösbares Rätsel. musst halt sehen. Geschaut habe ich. Nur geschaut und wieder geschaut. Endlich habe ich mich drein gefunden. Der Schreck ist überstanden. Da merke ich erst, wie ich schwitze. An den Händen, über die Backen und die Nase rieselt es nur so. In Schweiß gebadet, stürze ich aus der Kabine. Dort unten ists fürchterlich. Weiter oben aber fast noch fürchterlicher. Ich bin auf dem Hinterdeck. Da wo die Nahrungsmittel für die Küche vorbereitet werden. Ich fahre mit der Hand nach der Nase. Ein fürchterlicher Gestank! Alles ist unappetitlich im höchsten Grade. So ein dicker schwarzer Fleischer hackt und sägt an einem gefrorenen Hammel herum. Ein schmutziger Küchenjunge wirft zählend gefrorene Fische auf den vor Schmutz starrenden Boden. Ein dreckiger schwarzer Bäcker vergräbt gerade seine schweißigen, schwarzbraunen Arme im Mehlteig, der zu unserem Brot verarbeitet werden soll. Ein Neger-jüngelchen betappt die kleinen Küchlein, unsren späteren Nachtisch. Nebendran sitzen ungefähr zehn indische Matrosen und essen schmatzend ihren Reis, den sie mit den triefenden Fingern in den Mund stecken. Und neben denen stehen gar ein paar Kohlentrimmer, splitternackt und übergießen ihre ruß- und kohlengeschwärzten Leiber mit Seewasser. Sie baden. Und ihr Badewasser umspült unsere Fische und das gut zerteilte Hammelfleisch am Boden. O - Graus! Was soll das werden? Sieben Wochen lang eine solche Küche! Das ist nicht zum ausdenken, geschweige denn zum aushalten.

Also schnell herauf aufs Oberdeck, damit der Anblick all dieser Dinge nur nicht den Magen umstülpt. Nahe genug ist mirs. Es flimmert mir schon vor den Augen.

Das Rennen und Rufen, Schwatzen und Schreien oben ist mir nach all dem Erlebten Erholung. Es ist mir wieder besser. Ich lehne mich an die Reeling und sehe hinüber aufs Land. Da steht der Erzbischof von Bombay. Ein alter, schwacher Mann, der gestützt werden muss. Ein Deutscher, der den abfahrenden Jesuiten Lebewohl zuwinkt. Er selbst bleibt in Indien. "Ich bin hier als Vertreter des Papstes", soll er gesagt haben, als man ihn auch fortschicken wollte. Das wirkte und er blieb.

Postcard
GOLCONDA
Built in 1888 by William Doxford & Sons,Sunderland.
Tonnage: 6,037g, 3,960n, 6,000dwt.
Engine: Triple Expansion by Builder, 4,360 I.H.P., 13 Knots.
Launched 8th February 1887,
Completed September 1888, Yard No 166.

Golconda 1887 - 1915 became Indian Government transport, 1916 sunk by mine in North Sea, 19 lives lost.

Endlich ging's ab. Wohin? Wir wussten nur, dass es heim gehe. - Aber den Weg wussten wir nicht. Sollte es durch den Suez gehen oder ums Kap der guten Hoffnung herum? Die einen brachten allerlei Gerüchte, denen zufolge es durch den Suezkanal gehe. Da war der Wunsch der Vater des Gedankens. Sie fürchteten aus verschiedenen Gründen die lange Seereise. Die andern sagten, es geht ums Kap. Da war auch der Wunsch der Vater des Gedankens. Die wollten die Welt sehen. Je mehr, desto lieber. Am zweiten Tag merkten wir, es geht ums Kap. Wir hatten süd-südöstlichen Kurs. 

Und nun begann das Reiseleben. Jeder suchte sich mit seinem Schiffsstuhl ein Plätzchen an Deck. 500 Leute! - Das ist keine Kleinigkeit. Man saß eng neben¬einander. - Von früh sechs Uhr bis abends zehn Uhr. Dazwischen hinein die Mahlzeiten im Speisesaal. Natürlich auch überfüllt. Massenabspeisung. War die eine Abteilung fertig, dann kam die zweite. Das Essen war immer dasselbe. Kaum eine Abwechslung. Zuerst konnte man es noch ertragen. Allmählich musste man sich zum Essen zwingen und schließlich ekelte es einem davor. Man saß und aß. Man aß und saß. Das war der Tageslauf. Viel mehr ist im allgemeinen eigentlich nicht zu berichten. Einige Male wurden Konzerte veranstaltet.  Einige Male gab es Frauenzänkereien. Einmal hielten die Offiziere in anerkennenswerter Weise einen Kindernachmittag ab. - Im Übrigen war es eintönig und langweilig sieben Wochen lang.

Die Fahrt ging nach den Seyschellen. Dann zwischen Madagaskar und Afrika durch an der südafrikanischen Küste entlang. Dann ums Kap der Guten Hoffnung herum, Wir erwarteten heftigen Sturm. Dort soll ja immer Sturm sein. Als wir kamen war spiegelglatte See, Staunen allerseits natürlich. Einer fragte den  Ersten Offizier, warum denn kein Sturm sei? Die Frage zeugt nicht gerade von großer Klugheit. Das konnte der Offizier doch auch nicht wissen. Aber er gab eine interessante Antwort. "That's the damned luck of the Germans"  - Das ist das verfluchte Glück von Euch Deutschen. Mit Euch ist Gott. - Das ist ein schönes Bekenntnis, wenn man es einmal vom Feinde hören darf. Daheim glaubt man es nicht mehr, weil man an Gottes Hilfe zu sehr gewöhnt ist. Aber unsere Feinde werden dessen voll Ingrimm immer und immer wieder inne und sagen's auch zuweilen einmal.

Vom Kap ging's hinein nach Kapstadt in den Hafen. Vor uns lag sie ausgebreitet, die Stadt am Tafelberge. Der Tafelberg selbst war in Nebel gehüllt bis Mittag. Unser Schiff lud drei Tage lang Kohlen ein. Gleich für die Reise nach London und zurück. 2.000 Tonnen. Durch das ewige Kohlenladen war alles überdeckt von einer dicken Schicht Kohlenstaub.

Wir durften leider nicht in die Stadt. Nur etwa 300 Schritt weit vom Schiffe weg durften wir gehen und das Stadtbild besehen. Händler kamen mit Straußenfedern und Eiern. Andere brachten Äpfel und Trauben vom Kapland. Da aßen wir uns ordentlich satt dran. Das war ein wirklicher Genuss für uns, nach all dem geschmacklosen Schiffsessen.

Am Karfreitag stieg am Flaggmast der "blaue Peter" in die Höhe. Endlich ging's ab. Das war das Signal zur Abfahrt. Vorher fuhr noch ein großer japanischer Passagierdampfer ein. Die Passagiere guckten fast ein Loch durch ihre Fernstecher als sie erfuhren, wir seien deutsche Gefangene. Allerdings, viele Passagiere waren nicht drauf. Überhaupt war der Hafen fast leer. Unterwegs bis Kapstadt hatten wir ganz wenig Schiffe bemerkt. Das war schlechter Schiffsverkehr, schon im April 1916. Wie mag es jetzt auf dem Meere öde sein! Um acht oder neun Uhr fuhren wir aus Kapstadt. Dichter Nebel umgab uns. Von Minute zu Minute brüllte unser Nebelhorn in den Nebel hinein. Es war gar kein Spaß. Acht Tage vor unserer Einfahrt erst war ein Schiff auf ein anderes geraten und untergegangen. Wir hatten das Wrack noch gesehen. Es hätte uns auch so gehen können. Aber wir waren ja Deutsche. Und es ist nach englischem Ausspruch das Glück der Deutschen, dass Gott mit uns ist. So ging es ohne Unglück durch den Nebel jetzt direkt in nordwestlicher Richtung der Heimat zu. Jeden Tag warteten wir gespannt auf das Besteck. Wieder so und soviel 100 Meilen weiter. Die Atlanten wurden aufgeschlagen. Da und da sind wir. Am so und so vielten Längen- und Breitengrad. Noch soviel Meilen, noch so viele Tage und wir sind daheim.

Unsere Ungeduld ist begreiflich. Denn die Fahrt war unerträglich. Und überdies waren in das überladene Schiff in Kapstadt noch 60 Passagiere gekommen. Man musste fast übereinander sitzen.

Nach weiteren acht Tagen tauchte in der Ferne die Felsenmasse von St. Helena auf. Wir waren voller Neugierde. Wer hätte es von uns je gedacht als wir einst Napoleons Geschichte studierten, dass wir einmal auch die Hütte seines Exils sehen sollten. Noch dazu als Exulanten.

Die Insel ist ein riesiger vulkanischer Felsblock mitten im Ozean, ganz allein auf viele 100 ja 1000 Meilen. Es mag ihm schwer geworden sein, dem Feuergeist da droben, auf der einsamen Insel. Wir sahen die eigenartig gestalteten Felsgruppen an der Küste, die Hänge und Weideplätze oben, die verstreuten Häuschen und Dörfchen, und unten die Hauptstadt Jamestown und das Gouverneurshaus, in dem Napoleon eine Nacht zugebracht hat. Wir ertappten uns alle bei einer merkwürdigen Gefühlsduselei. Wir sympathisierten auf einmal so sehr mit dem Korsensohn. Wir wussten gut, was er unserem Volke alles angetan hatte. Das stellten wir einstweilen in den Hintergrund. Aber dass er Gefangener war wie wir, und dass er Englands geschworener Feind war wie wir, das brachte ihn uns näher, als wir ahnten.

Wir blieben vor St. Helena über Nacht. Da huscht auf einmal ein mächtiger Lichtstrahl über uns hinweg. Da noch einmal und noch einmal. Scheinwerfer! Warum denn? Wer wird denn dieser Insel was tun wollen? dachten wir. Die Engländer dachten offenbar anders, denn die Küste war mit Kanonen gespickt, Kriegsschiffe waren in der Nähe und bei Nacht wurde das Meer abgesucht nach feindlichen Fahrzeugen.

Vielleicht ist wieder eine deutsche Möwe unterwegs, rieten wir. O - wenn wir sie träfen! Das wäre herrlich, wenn wir unsere jetzigen Wächter bewachen dürften. Die Rollen vertauschen, das wäre zu schön! Mit kühnen Hoffnungen verließen wir den Hafen von Jamestown. Ich weiß gar nicht, wie eigentümlich, träumerisch mir zu Mute war. Immer stand ich oben auf dem Hinterdeck und blickte unverwandt nach der entschwindenden Felsmasse. Sie wurde immer kleiner und kleiner. - Gerade sah sie noch ein wenig über den Horizont auf. Jetzt war sie verschwunden. Wie mich die Erinnerung an diesen Bonaparte doch gefangen nahm! Ich konnte mich seinem Bann gar nicht entziehen. Es war mir, als lebte sein Geist noch in diesen Zonen dort. Und ich hasse ihn doch so sehr, wie ihn nur ein Deutscher hassen kann. Und doch saß ich in der Abenddämmerung, als Helena uns längst im Meer versunken war, am Heck und stierte hin nach Süden, und mein Geist suchte den merkwürdigen Mann.

Schon wieder waren wir einige Tage auf dem freien Ozean. Nichts war zu sehen. Kein Land, kein Schiff, kein Fels, kein Riff. Nur Wasser und immer wieder Wasser. Unendliche Wassermengen! Die Seekarte belehrte uns, dass das Wasser, über das wir fuhren, unter uns 5.000 und 6.000 m und tiefer war. Unheimlich! Wenn jetzt da ein deutsches U-Boot käme und uns versenkte? Die wissen ja nicht, wer wir sind. Ein schrecklicher Gedanke! Der wurde aber sofort von einem anderen in Hintergrund gedrängt. Wie werden wir uns im Falle eines Unglückes retten? Bei so vielen Menschen, besonders soviel Frauen und Kindern, kann im Notfalle eine solche Unordnung einreißen, dass jede Rettung ausgeschlossen ist. Folglich müssen Rettungsübungen veranstaltet werden. Gesagt, getan. Die erste Übung war angesagt. Die Herren hatten das Vorrecht, im Zwischendeck warten zu dürfen, bis die Frauen und Kinder versorgt waren. Eine angenehme Aussicht im Ernstfalle zehn Minuten, ¼ Stunde oder auch mehr da ruhig warten zu müssen, während das Schiff tiefer und tiefer sinkt. Ich träumte mich während der Übung in die entsprechenden Gefühle hinein, und war wirklich froh, als ich aufwachte und alles nur Schein war. Von den Frauen fielen während der Übung zwei in Ohnmacht. Allein der Gedanke an das Schreckliche raubte ihnen die Besinnung. Die Übung verlief zur allgemeinen Zufriedenheit. Natürlich. Die Mängel der Organisation wären erst im Ernstfalle zu Tage gekommen. So beim Spaß kann man leicht zufrieden sein.

Einmal kam auch der Schreck des Torpediertseins über uns. Wir saßen um 1/2 12 Uhr mittags ruhig da. Es war fürchterlich heiß. Am nächsten Tage sollte der Äquator passiert werden. Die Herren Tommies hatten schon ein großes Segeltuch in Kistenform zurecht gemacht. Das sollte mit Seewasser gefüllt werden. Beim Passieren der Linie mussten dann die Täuflinge auf ein Brett über dem Wasser sitzen, wurden mit Pech eingeseift und mit einem großen Holzmesser rasiert. Zum Schluss verschwand das Brett unter dem Eingeseiften und er fiel samt Kleider und Stiefel in das salzige Nass. Alles war vorbereitet dazu. Wir brüteten so vor uns hin auf unseren Stühlen. Unsere leiblichen Augen ruhten auf dem glitzernden glatten Spiegel der See. Unser geistiges Auge schaute in die Heimat, der wir uns Stunde um Stunde mehr näherten. Unten balgten sich ein paar schwarze Matrosen herum.

Auf einmal platscht etwas im Wasser. Ein Jesuitenpater in der Nähe springt auf und schaut. Es gibt plötzlich eine fürchterliche Erregung auf dem ganzen Schiff. Was ist los? Torpedo? U-Boot? Um Himmelswillen meine Kinder? Wo sind sie? Einen Augenblick entsetzliche Unruhe. Die Knie zittern mir während einiger Sekunden. Alles ist erbleicht. Was ist geschehen? Die Ungewissheit regt mehr auf als der Gedanke eines Unglücks selbst. Da hört man auf einmal den Ruf: "Mann über Bord." Aber wer denn? Ein dummer Mensch sagt in seiner Gefühlsrohheit einer Mutter, ihr Knabe sei ins Meer gefallen. Der Mutter steht einen Augenblick das Herz vor Schrecken still. Glücklicherweise erlöst sie aus ihrem Schrecken die Nachricht, es sei ein Matrose ins Wasser gefallen. Und so war es auch. Die Matrosen hatten gerauft. Der eine war von den anderen hart angegriffen und gejagt worden. Er springt rasch entschlossen auf die Reeling und von da ins Meer. Nun setzt ein Brüllen der Nebelhörner ein. Das Schiff pfaucht und stampft. Die Schraube schlägt mächtigen Schaum. Das Schiff hält. Ein paar schwarze Matrosen sind mit dem Ersten. Offizier in ein Rettungsboot gesprungen. Es wird herunter gelassen, ehe das Schiff ganz hält. Man meint als Zuschauer jeden Augenblick, die Leute müssten aus dem schwankenden Boot fallen. Nichts passiert. Sie kommen sicher in das Wasser. Vom Unglücklichen ist nichts zu sehen. Die Passagiere stehen an Deck. Jedermann voll Aufregung. Alles strengt sich an, den armen Menschen draußen zu entdecken. In der Ferne ist ein Pünktlein zu entdecken. Da ist er! Er lebt noch! Er schwimmt! Die Bootsleute im Boote rudern aus Leibeskräften. Der Offizier steht im schaukelnden Boot aufrecht und sucht mit dem Fernglas die weite Fläche ab. Sie haben den Schwimmer entdeckt. Sie rudern auf ihn zu. Schneller! Schneller! Er hält es nicht aus! Er ist schon 20 Minuten im Wasser. Die Wogen drohen ihn zu verschlingen. Unser Schiff dreht und fährt langsam zurück. Da - wo ist der Ärmste? Man kann ihn nicht mehr sehen. Eine Woge hat ihn verschlungen. Ach Gott, wie schrecklich! Alles lebt und denkt im Augenblick nur an ihn, den vorher kaum jemand kannte. Hallo - da taucht er doch wieder auf. 25 Minuten schwimmt er schon. Das Boot nähert sich. Schnell, schnell! Er kann nicht mehr. 28 Minuten.  O - sicher, es gelingt nicht mehr. Die Ruderer rudern, so gut sie nur können. Der Schwimmer schwimmt mit höchster Kraftanstrengung. Die Passagiere rufen und winken und schreien. Manch einem treibt die Aufregung die Tränen in die Augen. - Jetzt sind Boot und Mann nur noch 20 m von einander entfernt. - Jetzt - zehn - jetzt fünf. Gott sei Dank, sie sind bei ihm. Sie heben ihn ins Boot. Er ist gerettet. Ein Hurraruf vom Schiff belohnt den Offizier und die Matrosen für ihre Ausdauer. Auch unser Schiff ist mittlerweile nachgefahren. Das Boot wird heraufgezogen. Der Erschöpfte wird ins Bett gelegt. Die Dampfpfeife erschallt. Die Maschine beginnt ihr stampfendes Geräusch. Das Schiff fährt wieder nach Norden. Alles ist vorbei.

Immer näher kommen wir an Europa heran. Man sieht nicht viel Schiffe, aber immerhin einige. So oft eines in der Ferne auftaucht, heißt es: "Ob es wohl die Möwe ist?" Aller Augen sehen gespannt hin. Der Herr L. guckt angespannt durch die Fäuste in Ermangelung eines Fernglases. Der Herr Fr. sitzt erschöpft von der nun schon fünf Wochen dauernden Seekrankheit auf einer Bank und lässt sich berichten. Eine Stunde lang wird diskutiert und beobachtet. Dann zeigt sich, dass es keine Möwe ist. So geht es eben ohne Möwe weiter.

Ob wir wohl nach Gibraltar müssen? Die auf der ersten Golcondafahrt mussten hin. Wäre ganz interessant, den Felsen auch einmal zu sehen. Wir fahren vorbei. Nach Norden. England zu. Wie wenig Schiffe uns begegnen! Das Meer ist wie ausgestorben.

Wir sind durch den Golf von Biscaya. Wieder lächelt uns "deutsches Glück". Auch hier ist kein Sturm Spiegelglatte See. Die letzte, gefährliche Nacht kommt heran. Da oben an der Spitze der Bretagne, da ist es gefährlich. Da sind schon viele Schiffe von U-Booten versenkt worden. Vielleicht kommt nun auch unsere Golconda an die Reihe. Das wäre uns aber nicht recht gewesen. Zwar die Engländer hätten gejubelt, wenn. das geschehen wäre. Deutsche bringen ihre eigenen Leute um! Seht die Barbaren! Der Herr Oberkellner hat das immer gewünscht. Oft hat er gesagt: "O - wenn wir doch torpediert würden. Ich würde gern untergehen. Hab' Freunde oben und unten. Aber ihr - ihr verdammten Deutschen müsstet mit. Allein der Gedanke wäre mir Seligkeit im Tod." Ich muss gestehen, der Mann gefiel mir in seinem Hass. Der ließ nichts mehr zu wünschen übrig. Frauen und Kinder jämmerlich ertrinken sehen zu wollen. Das ist wirklich die gentlemanliness auf die Spitze getrieben.

Nun, wenn dieser Herr auch einen solchen Wunsch in seinem gelben, hasserfüllten Herzen hegte, die anderen Engländer an Bord dachten anders. Wenn sie es auch uns vielleicht gegönnt hätten, ihr gutes Meer zu kosten, sie selbst wünschten das für sich keineswegs. Vielmehr machten sie alles zur Rettung bereit, banden die Rettungsgürtel um und lagen bei Nacht sprungbereit auf Deck. Die Rettungsboote waren bis auf die Reeling heruntergelassen. Auch waren sie mit frischem Wasser, Zwieback, Kerzen und Kompass versehen. Alle Offiziere waren an Deck mit ihren Karten und Sextanten bewaffnet. Bereit - vollständig bereit und jeden Augenblick gewärtig den Torpedo zu vernehmen.

Ich verließ mich auf unser deutsches Glück oder besser auf Gottes Hut, die uns nun schon so lange daheim und draußen hold gewesen. Ich dachte, Gott wird uns vollends hold sein, bis wir daheim sind. Und in diesem Glauben zog ich mich drunten in der Kabine aus und legte mich ins Bett und schlief selig, bis die Sonne ihre Strahlen durch die kleinen Guckfenster sandte und mich aufweckte.

Nichts war passiert. Alles atmete erleichtert auf. Auch die Tommies und die Offiziere. Nur der Oberkellner war heute noch unzufriedener und unfreundlicher als sonst. Und von Zeit zu Zeit murmelte er zwischen den Zähnen sein "damned luck of the Germans".

Jetzt begann die Fahrt erst recht interessant zu werden. Wir waren ja im Kanal. Zuerst grausiger Nebel. Keine 10 m weit konnte man sehen. Die Nebelhörner heulten unaufhörlich, bald bei uns, bald auf anderen Schiffen. Endlich wich der Nebel. Ein herrliches Bild! Zur Linken lagen die großen Kreidefelsen der Küste Englands. Zur Rechten war das Meer und eine Unmenge von Schiffen. Eines hinter dem anderen. Alle auf dem Wege nach Frankreich. Ein imposanter Zug! Aber alle voll von unseren Feinden. Dazwischen sausten die englischen Torpedoboote dahin. Eben sieht man eins. Der Bug ragt weit über das Wasser heraus. Die drei kleinen Schornsteine rauchen, was heraus geht. Dann kommt eine mächtige Woge. Sie fegt über das Boot weg, dass man es nicht mehr sieht. Dann taucht es wieder auf und wieder unter. Wahrlich schön, prächtig schön! Wenn es nur nicht die Schiffe unserer Feinde wären!

Wir stehen ununterbrochen an Deck. Wir sehen uns müde an all dem vielen, das es zu sehen gibt. Es wird Nachmittag. Da rast so ein kleines Torpedoboot daher. Schon nun weitem ruft der Kapitän mit seinem mächtigen Fernrohr: "8top". Wir halten augenblicklich. Unser alter Kasten knackt und kracht in allen Ecken und Fugen. Wir dürfen nicht weiter. Sonst geraten wir auf die Minen, die wenige 100 m von uns weg im Wasser versteckt liegen.

Abends um acht Uhr geht's weiter. "Through the gate!" rief uns der Offizier von dem kleinen Wachtschiff zu. Wir sahen es bald, was damit gemeint war. Es war eine lange Straße auf dem Meer. Links und rechts Leuchtschiffe. Vor uns und hinter uns ein Dampfer nach dem andern. Wie ein Dieb in der Nacht mussten die Schiffe der Seemacht Englands schleichen, damit sie nicht erwischt werden von deutschen U-Booten. Und da sagt John Bull Greatmouth, die See ist mein.

Wir kamen bis Dover. Da mussten wir wieder eine Nacht lang halten. Am andern Morgen erst ging's weiter. Es war gut, dass wir bei Tag und nicht bei Nacht fuhren. Da konnten wir sehen, beobachten und merken, was bemerkenswert war. Wir fuhren durch einen ganzen Friedhof von Schiffsleichen. 54 Schiffe lagen damals auf der kurzen Strecke von Dover nach Ramsgate versenkt und streckten ihre Masten oder Schlote verzweiflungsvoll in die Luft. Wie viel mögen es jetzt sein? Dann sahen wir zum ersten Male Flieger durch die Luft schwirren. Wir hörten den Donner von Kanonen, sahen das Aufschlagen der Granaten auf der Wasserfläche. Drüben am Themseufer übte auch eine Luftabwehrbatterie. Ihre Schrappnellwölkchen sah man deutlich in der Luft auftauchen und verschwinden, Kriegsschiffe kamen von oder gingen nach Sheerneß. Kurz, ein überaus buntes Erleben, das uns alle in Spannung hielt.

Dazu kam das schöne grüne Ufer der Themse. Es war ja ein wunderschöner Monat Mai. Unser Herz ging auf vor Freude und Lust. Europäischer Frühling! Gras, Blumen! Alles Dinge, deren wir uns in Indien mehr oder weniger entwöhnt hatten. Dann kam die Erinnerung, wie wir vor Jahren da gewandelt. Dazumal noch Freunde, ohne Hass und Groll und Kampfwut im Herzen. Und dann wanderten die Gedanken ein wenig voraus in die Heimat. Morgen steigen wir ins holländische Schiff und dann geht's heim. Heim zu Vätern und Muttern, die nun noch gar nicht wissen, wo wir sind.

Die Themse wird enger und enger. Unser Herz weiter und weiter. Ringsum uns wird's dunkler und rauchiger, denn wir fahren ja ins Steinmeer Londons hinein. Aber in uns wird's heller und frischer, denn wir denken nicht an London, sondern an die Heimat. Auf der Themse wird es lebhafter und unruhiger, denn wir sind im Welthafen. In unseren Herzen wird's stiller und friedlicher denn wir weilen in Gedanken bei den Lieben.

Das Schiff hält. Die Hafenpolizei kommt an Bord. Unsere Pässe werden abverlangt. Warum das? Die brauchen wir doch. Natürlich - sagt ein anderer. Aber die Engländer müssen doch kontrollieren. Gut. Bis morgen können sie das wohl erledigen. Ist mir auch recht. Getrost laufe ich das Deck entlang. Da steht mein Kollege M. Er ist rot wie ein Puter. Was ist? "Frauen und Kinder fahren morgen heim. Männer bleiben da." Nicht möglich! "Mache keine dummen Witze!" Ich gehe ein paar Schritte weiter. Dasselbe Gerücht. Da werde ich böse. "Glaubt's doch nicht!" rief ich. "Da hat wieder irgendeiner was läuten hören, aber nicht recht." Da höre ich es schon wieder von anderer Seite. Es ist wahr. Unerhört! Was macht man da? Wir müssen den amerikanischen Konsul sprechen. Wir haben Pässe von der Regierung nach der Heimat. Wer darf uns aufhalten? Der amerikanische Konsul her! Der Konsul! Der Konsul!... Wir hatten gut schreien. Die englischen Herren hörten unser Klagen mit eiskaltem Gesicht an. Sie versprachen uns morgen den Konsul zu schicken. Dann fuhren sie ab. Fünf Minuten darauf kam die Nachricht: Der amerikanische Konsul kommt nicht. Ihr Männer werdet morgen ins Gefangenenlager abgeführt. Wir kochten vor Wut. Alle unsere süßen Träume waren dahin. Die Ehepaare eilten erregt auf und ab. Tränen funkelten in den Augen. 19 Monate getrennt. Jetzt sieben Wochen Zusammensein. Und nun wieder Trennung? Wer weis; wie lange? dass die Engländer versprechen, uns nicht lange behalten zu wollen, glaubt niemand. Denen kann ja kein Mensch mehr glauben. Resigniert warf ich mich in meinen Sessel. Und als mir das zu dumm war, stieg ich die Hühnertreppe hinunter in die Kabine und legte mich ins Bett. Das ist die einzige Rettung für mich. Schlafen muss ich, sonst berste ich vor Zorn und Erregung. Und ich schlafe köstlich. Allerdings habe ich mich dabei selbst betrogen. Ich redete mir ein, dass am Morgen doch alles noch recht werde. Es wurde aber nichts recht. Im Gegenteil. Alles ging krumm. Um zehn Uhr kam der Fährdampfer. Wir luden unser Gepäck hinüber. Dann stiegen wir selbst hinunter und setzten uns irgendwo auf eine Bank. Oben standen die Frauen und Kinder und weinten. Unten saßen, standen wir und - weinten nicht. Aber es war uns nicht fern. Ich hätte am liebsten wie weiland Simson einen Eselskinnbacken genommen und alle totgeschlagen. Es war aber besser, dass ich es nicht getan habe. Das will ich ruhig bekennen.

Fast noch mehr habe ich mich über einen meiner Nebensitzer geärgert. Dem kommt in dieser schmachvollen Stunde der schändliche Gedanke, unseren englischen Kapitän hochleben lassen zu wollen. Ich will es ihm ausreden. Es ist nicht möglich. Wenigstens nicht auf gute Weise. Erst als ich klotzgrob werde, gibt er nach. Aber etwas anderes kam. Etwas Schöneres. Unten bei uns stand unser Leidensgenosse Pastor W. aus Kapstadt. Oben winkten seine beiden Kinder, die er allein nach Deutschland ins Auswärtige Amt schicken musste. "Vater, ruft die Tochter, was soll ich daheim ausrichten?" "Meine Liebe" sagt er, und dann wendet sich der riesige Mann nach London und mit erhobener Faust ruft er: "Und meinen Fluch".

Die meisten haben's nicht gehört. Denn schon fing unser Boot zu fahren an. Die Frauen oben winkten und weinten. Die Männer unten winkten und - ja was war denn das? Einer begann - und plötzlich tönte es laut über die Themse nach London hinein: "Deutschland, Deutschland über alles über alles in der Welt". Wir litten zwar nicht für das Vaterland. Das war und ist uns versagt. Aber wir litten wegen des Vaterlandes. Und die Liebe zum Vaterland schwemmt plötzlich all unser Leid weg "Aber alles in der Welt" 

Wir sind am andern Themseufer. Wir steigen aus. Wir marschieren durch eine neugierig gaffende Menge. Dann werden wir eingeladen in den langen Zug. Und fort geht es durch London durch nach Norden. Eine Stunde lang. Der Zug hält. Alexandar Palace! Alles heraus. Wir sind im neuen Lager.

Ich glaubte, mich treffe der Schlag, als ich wieder Stacheldrathzaun und Wachtposten sah. Sind wir denn deshalb um ganz Afrika, um die halbe Welt gesegelt, um von einem Stacheldrahtzaun hinter einen andern zu kommen? Alle die kühnen Hoffnungen und stillen Träume wurden wieder eingegraben in der Ecke des Herzens, wo der Friedhof für unerfüllte Wünsche ist. Ein Grab mehr oder weniger dort änderte nicht viel.

Und nun wieder die gleiche Geschichte wie in Ahmednagar. Wecken und Schlafen auf Befehl. Blanke Tische zum Essen. Das Tischtuch fehlt natürlich. 800 Betten, besser Britschen in einem Saal. Wandern, Kontrollen, Bajonette, Tommies. Wieder das eklige alte Bild, diesmal in Grün. Nur die Natur ist herrlich.

Bei näherer Besichtigung gewinnt das Lager mehr und mehr. Die Kost ist ordentlich. Es herrscht Ordnung. Der Oberst und der Zensor sind denkbar freundlich. Konzerte finden sogar statt im Theatersaal. Ein großartiges Orchester spielt. Ein wundervoller Chor singt. Eine prachtvolle musikalische Messe wird einmal aufgeführt. Es gibt Spiele im Freien. Auch Kinovorstellungen. Es geht. Wenn man nur frei wäre! Wenn nur der Stacheldraht nicht wäre!

14 Tage waren wir in jenem Lager. Wir ahnten nicht, dass an unserer Befreiung mit Hochdruck gearbeitet wurde. Der Erzbischof von Westminster und der Duke of Norfolk empfanden unsere erneute Gefangensetzung als Schande. Sie gingen nach dem war office aufs Kriegsministerium. Und wir wurden tatsächlich frei.

Ganz überraschend kam die Nachricht. Keiner hatte darauf gewartet. Jeder packte schnell all seine Habseligkeiten zusammen. Es wurden vom Zensor die Papiere durchsucht, dann ging es zum Tore hinaus, auf die Bahn und fort. Aber noch nicht in die Freiheit.

Wer beschreibt unser Entsetzen, als der Zug in Stratford hielt und wir wieder aussteigen mussten. Zu Fuß ging es durch eines der dunkelsten Viertel Londons in ein neues Gefangenenlager. Es heißt Stratford und wird unter Gefangenen die Hölle genannt. Es liegt so mitten im East London. Ringsherum fünf Fabriken. Seifensiedereien, Lysolfabriken, Emailfabriken. Alles Unternehmungen, die ganz wertvoll und erträglich sind, aber bestialisch stinken. Und um das Maß des Unangenehmen voll zu machen, fährt an einer Seite des Gefängnishofes auch noch die Eisenbahn vorbei. Der Ruß der Lokomotiven wäre erträglich gewesen. Aber die vorbeifahrenden Engländer und ihr Betragen weniger. Am Tag der Bekanntmachung des Misserfolges in der Skagerrakschlacht kannte die Wut der Vorbeifahrenden uns gegenüber kaum noch Grenzen.

Lasst mich kurz über jene schrecklichen acht Tage weggehen. Sie sind, Gott sei Dank, vorüber. So, wie wir da herumschlichen, stelle ich mir die Schemen wandelnd vor in Dantes Hölle. Am fünften Tag fand Untersuchung unseres Gepäckes statt. Ganz genau wurde alles untersucht. Schrecklich viel blieb den Schotland yard boys an den Fingern hängen. Sogar Straußenfedern und Eier. Bücher und Hefte wurden draußen sorgfältig verbrannt. Wir sahen zu. Es war ein Kainsopfer. Der Rauch stieg nicht in die Höhe. Er blieb am Boden. Aber wie toll die Engländer doch sind. Unser Handgepäck haben sie bis aufs letzte Winkelchen durchsucht. Unser großes Gepäck aber kam herüber, ohne angeschaut worden zu sein.

Am vierten Tag sollten wir abfahren. Wir hatten Abschied genommen von den Zurückbleibenden. Dann war das große Eisentor geöffnet worden. Wir zogen hinaus zu einer erneuten leiblichen Untersuchung. Wir waren schon fast fertig. Da läutete auf einmal eine elektrische Klingel. Der Schreck geht mir vor bis in die Fingerspitzen. Da bleiben, hieß es, das Schiff geht heute nicht mehr. Eine Folge der Skagerrakschlacht. Drei Tage später öffnet sich das Tor nochmals für uns. Wir werden wieder untersucht. Wieder läutet die Klingel. Wieder schießt uns der Schrecken bis in die äußersten Glieder vor. Aber die Hiobsbotschaft bleibt aus. Wir dürfen ins Freie. Da stehen drei Autoomnibusse. Wir steigen ein. Fort geht es in sausendem Braus. Mitten durch London durch. Nach der Charing Croß Station. Zwei Bahnwagen mit herabgelassenen Vorhängen stehen bereit. Wir steigen ein. Der Zug führt uns nach Gravesend. In der Dunkelheit kommen wir an. Im Bahnhof gibt eine freundliche Dame jedem noch ein gutes Schinkenbrot. Und dann geht's hinein in den holländischen Dampfer. Eine kleine Enttäuschung bleibt uns nicht erspart. Er geht erst morgen früh um acht Uhr ab. Solange sind wir noch Gefangene. Die Wachtposten stehen noch da. Es kann immer noch leicht wieder anders werden.

Schlafgelegenheit gibt es nur für einige. Wir andern legen uns auf den Boden und schlafen auch. Würde es gerne nochmals aufsuchen, das Schlafplätzchen neben dem Abort der "Königin Wilhelmine". Aber sie ist nicht mehr. Sie fuhr später auf eine Mine und ging unter. Glücklicherweise ohne uns.

Endlich stieg die Morgensonne herauf. Es wurde Tag. Die Freiheit leuchtete uns. Um acht Uhr wurde der Anker gelichtet. Die großen, eisernen Ketten und die Stahltrossen wurden vom Pier gelöst. Die Wachtposten gingen an Land. Die Maschinen begannen zu arbeiten und trennten uns - endlich, endlich - von unseren Peinigern. Immer größer wurde der Abstand zwischen uns und ihnen. Zuerst nur wenige Meter, - dann 10 und 100 und 1.000 Meter. Bald sahen wir sie drüben stehen wie Zwerge - bald nur mehr wie einen Schein und endlich gar nicht mehr.

"Frei!" O nein, sagte der dicke D..., noch lange nicht. "Es kann immer noch ein englisches Torpedoboot kommen und uns wieder zurückholen". "Das ist wahr" sagten wir andern, und steckten unsere Hände bei dem pfeifenden Nordseewind in die Manteltaschen und unsere Freude in ein Schubfach des Herzens für einige Stunden später.

Weiter und weiter ging's über die Nordsee. Quer über die Minenfelder hinweg. Es war Flut, deshalb konnten wir das. Immer näher ging es der Heimat zu. Die Freude lag immer noch verborgen im Schubfach des Herzens, bis zum Abend. Bei der Abfahrt war schlechtes Wetter. Es windete und nebelte in London und auf der Themse. Gegen Abend wurde es hell und sonnig.

Da sahen wir auf einmal im Abendsonnenschein die Türme von Vlissingen auftauchen. Wir waren in holländischen Gewässern. Nun ließen wir aber den dicken D... mit seinen Bedenken nicht mehr zu Wort kommen. Die Freude musste heraus. Sie musste flattern wie die Fähnlein auf dem Flaggenmast bei der Parade. Ganz und tief ergriffen standen wir da auf Deck. Da fing einer an zu singen "Großer Gott, wir loben Dich". Und alle fielen ein, Katholiken und Protestanten. Dann kam ein anderes Lied: "Nun danket alle Gott" und "Lobe den Herrn, o meine Seele" und dann die "Wacht am Rhein" und "Deutschland über alles" und "In der Heimat, in der Heimat" und dann "In einem Wiesengrunde, da steht mein Heimathaus" und andere Lieder. Eines nach dem anderen. Ein jedes aus tiefstem Herzensgrund gesungen und mitgefühlt. Und so fuhren wir singend und summend in den Hafen ein, stiegen fröhlich schwatzend und singend mit leuchtenden Augen aus dem Schiff, und stiegen, in unseren Zug. Singend fuhren wir im Abendsonnenschein durch das grünende Holland und jubelnd kamen wir nachts über die deutsche Grenze. Und wenn es möglich war unsere Stimmung noch zu erhöhen, so hat der Tod Kitcheners das Seine dazu beigetragen. Im Zug in Holland erfuhren wir die Botschaft.

Und nun erst im lieben Deutschen Reich! Wir reckten unsere Köpfe hinaus in die Finsternis um die ersten Feldgrauen zu sehen. Aber wir konnten nichts erkennen. Erst als wir am Bahnhof in Noch ankamen, sahen wir sie. Ich kann nicht beschreiben, was für Gefühle damals durch meine Seele gingen. Die Tränen kamen mir in die Augen. Ich fiel dem ersten Landstürmer um den Hals. Ich kramte alle meine Zigarren aus allen Taschen zusammen und gab sie ihm. Endlich, endlich daheim im Vaterland! Und wie herzlich wurden wir empfangen! Wie wohl tat uns die warme Begrüßungsrede des dortigen Oberleutnants! Wie schmeckte der Kaffee und das noch nie gekostete Kriegsbrot! Und wie ruhten wir auf dem schnell bereiteten Feldbett. Wir schwammen alle in einem Meere von Seligkeit.

Mancher Leser denkt vielleicht, ich übertreibe. Keineswegs, lieber Leser. Im Gegenteil! Meine ganze Schilderung bleibt weit hinter den tatsächlichen Gefühlen zurück. Niemand kann beschreiben, was das für Gefühle find, der nicht selbst einmal in solcher Gefangenschaft war.

Meine erhöhte Stimmung sollte übrigens bald um ein gut Teil herabgeschraubt werden. Gleich am folgenden Tage sogar. Da saß ich im Bahnzug nach München. Natürlich nicht allein. Der Zug war überfüllt. Ich saß in einer Ecke gedrückt da, still in meiner Seligkeit träumend. Die Umsitzenden begannen ein Gespräch. Natürlich voller Gescheitheit, wie immer. Ich kannte mich fast nicht mehr aus. Die Leute schimpften ja, wie die Rohrspatzen. Im ganzen Deutschen Reich gabs nichts, das sie nicht bekrittelten und mit ihrem Schmutz bewarfen. Alle waren so unwirsch, so hart, so gottlos, so vaterlandslos.

Ich brauchte lange, bis ichs fassen konnte. Das also ist unser deutsches Volk, dachte ich. Das ist das Volk, vor dem selbst die Engländer Respekt haben, wenn auch voller Grimm? Das sind die Männer, die auf die Zähne beißen und das Schlimmste so mannhaft tragen, wie irgend ein Siegfried oder Hagen aus den alten Heldensagen? Das sind die Frauen, die leuchtenden Auges die Wacht am Rhein singen, wie es in englischen Zeitungen geschrieben stand? Nein, das muss eine Täuschung sein! Und als ich merkte, dass es keine Täuschung war, da fasste mich ein namenloses Weh und eine unendliche Trauer. Ich zitterte vor Erregung und weinte vor innerem Schmerz.

So ist es mir damals ergangen. Ich habe inzwischen gut gemerkt, dass bei unserem Volk trotz allen Schimpfens noch viel, unendlich viel Kraft und Treue und Mut und Hingabe auf dem Grunde der Seele lebt. Ich weiß jetzt, dass der Deutsche so sein will. Er will ein graues, raues Wams über seiner sonntäglich feierlichen Seele haben. Er will gröber scheinen, als er ist. Heute treffen mich solche Schimpfereien kaum mehr so im Innersten der Seele wie damals auf der Fahrt von Köln nach München. Aber damals hatte es mir wehe getan, bitter wehe. Das muss ich schon sagen.

Seiten 40 bis 131. Die ersten 35 und die letzten drei Seiten mit folgenden Kapiteln sind in dem Auszug nicht enthalten:

  • Warum ich schreibe
  • Wie aus einem Missionar ein Gefangener wurde
  • Die Wächter am Stacheldraht
  • Englische Persönlichkeiten teils weiß, teils schwarz, aber einander wert
  • Der Fegergeneral
  • Der Parsi
  • Herzensgruß

nach oben 

 onmousedown="ET_Event.link('Link%20auf%20www.gaebler.info',