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Terror
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Dokumentation 1 nach den Terroranschlägen vom 11.09.2001


Attac Deutschland

Krieg ist kein Mittel zur Terrorismusbekämpfung
Rückkehr zu Rechtsstaatsprinzipien und Völkerrecht
Dem Konformitätsdruck widerstehen
http://www.attac-netzwerk.de/
08.10.2001

Der Einsatz von Bomben, Raketen und anderer militärischer Mittel ist nicht geeignet, den Terrorismus wirksam zu bekämpfen. ATTAC lehnt die Militäraktion in Afghanistan deshalb ab. Den Hintermännern der Täter von New York und Washington wird man mit diesen Methoden nicht habhaft, wie die Geschichte der US-Militärschläge gegen Libyen, Irak, Sudan u.a. in den vergangenen zwanzig Jahren zeigt. Im Gegenteil, sie haben nur dazu geführt, dass der Terrorismus neuen Nährboden fand und die Spirale der Gewalt weitergedreht wurde. Unkontrollierbarkeit und unberechenbare Risiken gehören zum Wesen von Eskalation. Deshalb ist es gerade jetzt notwendig, die Eskalationslogik zu durchbrechen.

Durch die militärische Eskalation werden Unbeteiligte zu Opfern. Schon vor Beginn der Angriffe wurden Hunderttausende von afghanischen Zivilisten zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht und sind von Elend und Hunger bedroht. Durch den Abwurf von Lebensmitteln und Medikamenten wird dieser Krieg nicht humaner. Gerade weil die Terroranschläge in den USA auf so besonders perfide Weise unbeteiligte Zivilisten getroffen haben, gibt es keinerlei Rechtfertigung für "Kollateralschäden" unter der afghanischen Zivilbevölkerung.

Die militärischen Angriffe auf Afghanistan sind nicht vom Völkerrecht gedeckt. Nach dem Beschluss des UN-Sicherheitsrat zum Terrorismus vom 12. September wäre allein die UNO zu abgestuften Sanktionen bis hin zum Einsatz von Gewalt berechtigt. Dazu existiert ein völkerrechtliches Verfahren, dessen Möglichkeiten aber nicht ausgeschöpft wurden.

Die Militärschläge auf Afghanistan laufen dagegen auf Selbstjustiz und Faustrecht, auf Rache und Vergeltung hinaus. Dem Recht des Stärkeren muss jedoch die Stärke des Rechts entgegengesetzt werden. Nur eine solche Politik verdient das Prädikat der Zivilisiertheit.

Eine zivilisierte Antwort auf den Terrorismus ist nicht zu verwechseln mit Tatenlosigkeit. Nach den Hintermännern der Täter von New York und Washington wird bereits jetzt mit klassischen polizeilichen Maßnahmen gefahndet, durchaus mit Erfolg. Die Schuldigen können ohne Krieg gefunden und müssen vor Gericht gestellt werden - am besten vor einen internationalen Strafgerichtshof. ATTAC fordert, zu Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht zurückzukehren. Der Kampf gegen Terrorismus darf nicht als Vorwand dienen, demokratische Rechte einzuschränken.

ATTAC lehnt die Politik des bedingungslosen Schulterschlusses der Bundesregierung mit der Bush-Administration ab. Blinde Nibelungentreue wird der Komplexität der Herausforderungen dieser historischen Situation nicht gerecht. Sie engt die Spielräume für differenzierte und wirksame Lösungen des Terrorismusproblems ein und zieht die Bundesrepublik in den Strudel eines militärischen Abenteuers, dessen Ausgang unkalkulierbar ist.

Wir fordern demgegenüber dazu auf, Besonnenheit, Augenmaß und Vernunft zu wahren. Wir dürfen uns nicht dem Konformitätsdruck beugen, wie er in Kriegszeiten immer entsteht. Differenzierungsvermögen, Kritik und die Formulierung von politischen Alternativen dürfen sich nicht von einer neuen Gemeinschaftsideologie und ihrem hohlen Pathos, wie sie bereits durch die Politikerreden geistern, einschüchtern lassen.

Dazu gehört auch, sich weiterhin für die Lösung der strukturellen Probleme einzusetzen, die immer wieder Gewalt, Bürgerkrieg, Terrorismus und Krieg hervorbringen: ungelöste Konflikte, vorneweg der Palästinakonflikt sowie die neoliberale Globalisierung, die wenige Gewinner und sehr viele Verlierer, soziale Polarisierung, Armut und Elend hervorbringt.

ATTAC solidarisiert sich mit den Friedenskräften in den USA. Wir schließen uns ihrer Parole an: "Nicht in unserem Namen!"


Friedensorganisationen

Brücken bauen, Gewalteskalation verhindern!

Die Welt droht nach dem 11. September 2001 kälter und kriegerischer zu werden. Mit dem Entsetzen und Mitgefühl für die Opfer und deren Angehörige verbindet sich auch die Furcht, dass die US-Administration nach dieser beispiellos brutalen Terroraktion in der Logik der Gewaltspirale zurückschlägt und neue Eskalationen folgen.

Nachzudenken ist auch über die politischen Bedingungen, die es möglich gemacht haben, dass ein Teil der Menschen in einigen Völkern "den Westen" und insbesondere die USA so hasst, dass eine Gruppe von Terroristen anscheinend meint, sich bei ihrem Massenmord auf diese Unterdrückten beziehen zu können. Wir sind mit den Menschen in den USA in ihrem Schock und Leiden uneingeschränkt solidarisch. Das kann aber nicht heißen, mit allen Entscheidungen der US-Regierung im "monumentalen Kampf", den "das Gute gegen das Böse" nach Präsident Bush jetzt zu führen hat, einverstanden zu sein und sich per NATO-Bündnisfall vielleicht an militärischen Racheaktionen zu beteiligen oder sie zu unterstützen. Militärschläge nützen weder den Opfern des Terrors noch sind sie ein geeignetes Mittel zur Verhinderung oder Eindämmung des Terrorismus.

Wir befürchten weiter: Mit den auf dem Verdacht gegen die Gruppe von Osama bin Laden oder andere islamische Fundamentalisten beruhenden Thesen von einer "Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt" (Bundeskanzler Schröder), könnte die bereits schon länger von christlich-abendländischen Fundamentalisten proklamierte Ansicht vom "Kampf der Kulturen" in den westlichen Gesellschaften gefährlichen Zulauf gewinnen. Die Trennung in eine "zivilisierte" und eine "unzivilisierte Welt" vertieft die Gräben.

Es gibt keine Religion, die solche Terrorakte rechtfertigen würde. Jetzt kommt es darauf an, in unseren Gesellschaften keine Feindschaft gegen "den Islam" generell zuzulassen sondern vielmehr Brücken zu bauen.

Gegenüber blankem Terror gibt es keinen hundertprozentigen Schutz. Eine Politik, die den Terrorismus wirksam bekämpfen und eindämmen will, muss ihm den sozialen, politischen und ideologischen Nährboden entziehen, in dem er gedeiht. Ein Klima des Hasses und der Intoleranz und eine Politik, die Gewalt mit Gegengewalt und Gegengewalt mit neuer Gewalt beantwortet, bereitet auch den Boden für neue Terrorakte. Dem Terrorismus durch zivile Maßnahmen und durch die Stärkung des Rechts und der Gerechtigkeit den Boden zu entziehen ist langfristig das bessere Mittel als der Gedanke an Rache und militärische Vergeltung.

Trotz aller Wut und Trauer appellieren wir an die US-Regierung und deren Verbündete, besonnen und nicht mit militärischer Gegengewalt zu reagieren. Dies kann unser Beitrag dafür sein, dass ein weiteres Drehen an der Gewaltspirale verhindert werden kann.

Abrüstungsinitiative Bremer Kirchengemeinden; AG Zivile Konfliktbearbeitung im Netzwerk Friedenskooperative; Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt e.V.; Attac Deutschland; BICC - Internationales Zentrum für Konversion Bonn; Bonner Friedensbüro; Bremer Friedensforum; BUKO-Kampagne "Stoppt den Rüstungsexport"; Bund für Soziale Verteidigung (BSV); Bundesausschuss Friedensratschlag; Darmstädter Friedensforum; Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen: DFG-VK Baden-Württemberg; DFG-VK Kiel; DFG-VK Freiburg; Europäisches Bürgerforum; Institut für Theologie und Politik, Münster; Internationale der Kriegsdienstgegner/innen e.V.; IPPNW-Regionalgruppe VS-Villingen; JungdemokratInnen/Junge Linke NRW; Vorstandsmitglieder des "Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIFF) e.V."; Fördergemeinschaft für Umwelt, Bildung, Arbeit e.V.: Frauennetzwerk für Frieden e.V.; Friedensausschuss der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker); Friedensinitiative Nottuln; Gesellschaft Kultur des Friedens; Gesellschaft zur Förderung der gemeinsamen Verantwortung von Müttern und Vätern (EFAV e.V.); Gewaltfreie Aktion Atomwaffen abschaffen; Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär; Gruppen der Berliner Friedenskoordination; Kölner Freiwilligen Agentur e.V.; Komitee für Grundrechte und Demokratie; Kampagne gegen Rüstungsexport, Kasseler Friedensforum; Lebenshaus Schwäbische Alp - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.; Linkes Netzwerk Bochum; Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.; Ohne Rüstung Leben (ORL); Pax Christi Gruppe Gewaltverzicht München; Promondial - Organisation für emanzipatorische Zusammenarbeit e.V.; Rheingauer Friedensinitiative; Rüstungs- nformationsbüro Baden-Württemberg (RIB); PDS-NRW Landesvorstand; Service Civil International - Deutscher Zweig e.V.; Versöhnungsbund - deutscher Zweig (VB); VB - Landesgruppe Baden-Württemberg; Zentralamerikakomitee Bochum.

"Terrorismus ist mit Krieg nicht zu besiegen“
Erklärung des EKD-Ratsvorsitzenden , Präses Manfred Kock vom 24. September 2001
http://www.ekd.de/

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben die Welt erschüttert. Sie haben nicht nur die USA, sondern die gesamte zivilisierte Menschheit getroffen. Schreckliches Leid ist über viele Familien gekommen. Weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus sind Menschen verstört und in Ängste gestürzt.

Es ist Aufgabe der Kirchen, die Menschen in ihren Ängsten zu begleiten, ihnen einen Ort zu geben, an dem sie ihre Trauer, ihre Ratlosigkeit und ihre Sehnsucht aussprechen und vor Gott bringen können, und ihnen den Trost zu verkündigen, der inmitten der Angst vom Glauben an Jesus Christus ausgeht. Wir halten uns an das Wort Jesu Christi: "In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden" (Johannes 16,33).

Zugleich mahnen die Kirchen die politisch Verantwortlichen zu entschlossenem, aber besonnenem Handeln, um der Gefährdung durch den Terror im Maße des Menschenmöglichen zu wehren. Eine besonders schwere Verantwortung lastet auf denen, die in den Regierungen und Parlamenten, in internationalen Organisationen und im militärischen Bereich Entscheidungen zu treffen haben, um die Terroristen und ihre Hintermänner mit allen legitimen Mitteln an weiteren Attentaten zu hindern, sie dingfest zu machen und vor Gericht zu stellen.

Auch im Blick auf die terroristische Gefährdung ist es nach evangelischer Auffassung der Auftrag jedes Staates, der internationalen Staatengemeinschaft und des innerstaatlichen wie internationalen Rechts, "nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen." (These 5 der Barmer Theologischen. Erklärung von 1934).

Die Anwendung militärischer Gewalt, nach christlichem Verständnis allenfalls "ultima ratio", d.h. äußerstes Mittel, kann höchstens vorläufig äußere Voraussetzungen schaffen, unter denen politische, friedensfördernde Strategien verfolgt werden. Terrorismus ist jedoch mit Krieg nicht zu besiegen. In diesem Zusammenhang überhaupt von "Krieg" oder gar "Kreuzzug" zu sprechen, ist falsch und verhängnisvoll. Militärische Gegenschläge, die vor allem aus dem Wunsch nach Vergeltung hervorgehen, stehen in der Gefahr, das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu missachten und weitere unschuldige Menschen zu Opfern zu machen. So werden sie am Ende mehr schaden als nützen. Ich erwarte von der deutschen Regierung, dass sie sich bei der Bekämpfung des Terrorismus in der Solidarität aller zivilisierten Staaten auf diejenigen Schritte verständigt, die unter der Herrschaft des Rechts vertretbar sind. Sie müssen dem langfristigen Ziel der Überwindung des Terrorismus dienen, nicht einer kurzfristigen Demonstration der Stärke.

Die Weltpolitik muss auf die Lösung friedensgefährdender Konflikte - wie vor allem in Israel und Palästina - und die Schaffung einer gerechteren internationalen Ordnung ausgerichtet werden. Dieser Auftrag ergibt sich nicht erst aus der Angst vor dem Terrorismus; er entspricht den Weisungen unserer christlichen Tradition. Eine solche Politik bietet immer noch die besten Aussichten, Hass und Fanatismus als den gefährlichsten Brutstätten für terroristische Bewegungen das Wasser abzugraben.

Terror und Krieg im Namen Gottes sind Gotteslästerung. Sehr wahrscheinlich stehen hinter den Anschlägen Kräfte, die vorgeben im Namen ihrer Religion einen heiligen Krieg zu führen. Wir aber müssen allen Versuchen widerstehen, den Islam als Weltreligion für diese Terroranschläge verantwortlich zu machen. Wir müssen uns hier noch stärker um Aufklärung bemühen, damit in unserem Land nicht Vorurteile gegen muslimische Bürger wachsen. Der interreligiöse Dialog mit den Muslimen aus unterschiedlichen Kulturkreisen ist zu verstärken und zu vertiefen. Die muslimischen Gemeinschaften in jedem einzelnen Land müssen ebenso wie die islamischen Staaten für das gemeinsame Ziel der Überwindung des internationalen Terrorismus gewonnen werden.

"Sorge vor einer weiteren Eskalation der Gewalt“
EKD-Ratsvorsitzender zu den Militäraktionen gegen Ziele in Afghanistan vom 08.10.01

Die Streitkräfte der USA und Großbritanniens haben am 7. Oktober begonnen, Ziele in Afghanistan anzugreifen. Die Auswirkungen und die politischen Folgen der Aktionen sind im Augenblick nicht überschaubar. Die Verantwortlichen sind mit ihrer Entscheidung ein hohes Risiko eingegangen. Noch ist nicht erkennbar, ob diese jetzt gewählten Mittel dem Ziel der Bekämpfung des Terrorismus tatsächlich dienen, und ob eine Schonung der afghanischen Zivilbevölkerung in dem bekundeten Maße überhaupt möglich ist.

In dieser Stunde überwiegt bei mir die Sorge vor einer weiteren Eskalation der Gewalt. Bei der Bekämpfung der Terrororganisation, die hinter den Anschlägen vom 11. September steht, und ihrer Unterstützer darf es nicht um Rache und Vergeltung, sondern allein um Bestrafung der Schuldigen und Gefahrenabwehr gehen.

Die Entwicklung in Afghanistan mahnt uns Christen, im Gebet für den Frieden nicht nachzulassen. Ich bitte die evangelischen Gemeinden und die evangelischen Christen in unserem Land, in Andachten und Gottesdiensten und auch im persönlichen Gebet die Hilfe und den Trost Gottes zu suchen. Wir denken auch an die Millionen Flüchtlinge in und um Afghanistan. Ihre Not droht nun noch schlimmer zu werden. Bitte unterstützen Sie die Hilfsmaßnahmen, die auch von der Katastrophenhilfe des Diakonischen Werkes der EKD eingeleitet wurden. Mein persönliches Mitgefühl gilt auch den in Afghanistan inhaftierten Entwicklungshelfern, deren Schicksal jetzt ungewisser ist denn je.

Ich bitte alle Bürgerinnen und Bürger: Setzen Sie auch Zeichen der Gesprächsbereitschaft mit den muslimischen Nachbarn. Wir wissen uns mit unseren Partnerkirchen in der Welt, auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, darin einig, dass der Islam als Weltreligion für den Terror nicht verantwortlich ist.

Gott hält diese Welt in seinen Händen. Das ist der Trost, auch in diesen Zeiten der Gewalt und der Angst. Dieser Trost ermutigt uns, entschlossen und mit langem Atem weiter zu gehen auf dem Weg zur Überwindung von Krieg und Gewalt.

27. September 2001
Hendrik-Kraemer-Haus
Limonenstr. 26, 12203 Berlin

Liebe Mitmenschen, es gibt Situationen, in denen es gut und notwendig ist, Gedanken auszutauschen und voneinander zu wissen. Das scheint uns jetzt, nach den tödlichen Anschlägen vom 11. September, der Fall zu sein. Wir wollen mit diesem Brief keine Resolution verfassen, die öffentlich, im Sinne von medienwirksam, ist. Aber wir möchten uns artikulieren, insbesondere Freundinnen und Freunden gegenüber, an deren Meinung uns liegt. Wir beanspruchen nicht, Dinge zu sagen, die noch nicht gesagt wurden. Aber wir unterstreichen, was uns momentan besonders wichtig ist:

Es ist beeindruckend, wie weit verbreitet die Trauer um die Opfer der Gewaltakte von New York und Washington gewesen ist. Wir teilen sie und haben der Toten und ihrer Angehörigen in unserem Gottesdienst gedacht. Zugleich mischt sich ein Gefühl der Verwunderung ein und die leise Frage: Warum ist es nicht so, dass alle durch politisch und wirtschaftlich motivierte Gewalt ums Leben gebrachten ähnlich intensiv betrauert werden? Wir zeigen nicht mit dem Finger auf einzelne Länder und Konflikte. Aber wir fragen: Warum finden keine Gedenkgottesdienste in benachbarten Ländern und Kontinenten statt für die Verhungerten, denen Hilfe verweigert wird? Warum nicht für die kalkulierten oder "kollateralen” Opfer gezielter Angriffe oder von Minen langst vergangener Kriege? Warum nicht für die, denen Leben rettende Medikamente vorenthalten werden? Warum nicht für die vielen, vielen anderen, die an Strukturen zugrunde gehen, die offensichtlich Gewalt verkörpern? Warum werden für sie nicht Messen und Trauergottesdienste in Anwesenheit von Staatsoberhäuptern zelebriert? Warum gibt es keine demonstrativen Beileidskundgebungen für sie? Warum liegen für sie keine Kondolenzlisten aus und brennen keine Gedächtniskerzen vor den Botschaftsgebäuden ihrer Länder? An den Zahlen kann es nicht liegen. Denn andere Totenlisten waren womöglich umfangreicher. Dass sie das tödliche Schicksal ohne unmittelbar eigenes Verschulden traf, kann nicht der Unterschied sein, denn das haben fast alle gewaltsam zu Tode Gebrachten gemeinsam. Die Qual des Sterbens hebt die einen nicht vor den anderen heraus. Selbst dass die Fernsehkameras hier aber in anderen Fallen nicht zugegen gewesen wären, kann nicht der Grund sein, denn viele der Massenmorde sind wohl dokumentiert.

Liegt es letztlich daran, dass unsere Zeit und unser Gefühl nicht ausreichen würden, um all denen die nötige Ehrerbietung zu erweisen, die aufgrund des todbringenden Handeins politischer Organisationen und Kräfte massenweise sterben? Müssen wir selektiv trauern? Muss es unter den Ermordeten Stellvertretung geben?

Oder gibt es andere Gründe, die weniger oder gar nicht akzeptabel sind? Bleiben auch die Toten noch im Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht? Ist Trauer untergründig sehr wohl interessengeleitet?

Eine zweite Frage drangt sich uns auf: Die Attacke vorn 11 . September gegen Ziele in den USA war ein Verbrechen und eine unglaublich bösartige Tat. Worin liegt aber die Logik, nach der Politiker der USA sich selbst oder ihr Tun oder ihr Land angesichts so böswilliger Anschläge als "gut” bezeichnen? ist der automatisch gut, dem Böses widerfährt? Besteht nicht auch die Möglichkeit, dass ein ungeheuerlicher Mangel an Güte monströse Bosheit auf den Plan ruft. Kein Politiker, und wäre er noch so integer, sollte sich als "Guter“ titulieren, implizierend, dass jeder Opponent böse sei. Kein Staat, und wäre seine Verwaltung noch so tief im ungeteilten Willen des Volkes verwurzelt, sollte sich derart über andere Mitglieder der Volkergemeinschaft erheben. Wo dies dennoch geschieht, ist es ein untrügliches Zeichen für einen politischen oder religiösen Fundamentalismus. Dieser ist aus unser Sicht dadurch gekennzeichnet, dass er absolutes Recht beansprucht, dass ihm Toleranz und Kompromissbereitschaft in der Auseinandersetzung mit den jeweils Anderen mangelt und er für rationale Argumentationen unzugänglich ist.

Wir stellen betroffen fest, dass die Reaktionen der politischen Führung der USA von einem christlichen Fundamentalismus geprägt sind. Wenn die Angriffe auf das Pentagon und das Weithandelszentrum tatsachlich das Werk einer fundamentalistisch inspirierten Untergrundbewegung gewesen ist, dann bahnt sich eine Auseinandersetzung zwischen zwei Fundamentalismen an, die beide gleichermaßen gefahrbringend für die Zukunft der menschlichen Zivilisation sind. Wird der Terror vom 11. September einst vor dem Schrecken verblasst sein, für dessen Begründung er herhalten musste?

Es werden in diesen Tagen immer wieder Warnungen laut, die Eskalation der Gewalt könne zu globalen Kriegsszenarien führen. Die Panik, die eine solche Voraussicht, würde sie ernstgenommen, hervorrufen müsste, ist bestimmt kein guter Ratgeber für das, was jetzt zu tun ist. Immerhin hat das politische Bedrohungspotential in den letzten zehn Jahren stetig zugenommen, und die Schwelle zum Einsatz militärischer Gewalt ist gleichzeitig immer niedriger geworden. Leider dient das fatale Geschehen von New York und Washington als enormer Schub in diesem Prozess. Muss sich die Tragik vervielfachen? Müssen die Toten mehrfach sterben? Dem zu widerstehen, scheint uns erster und wichtigster Inhalt unseres Glaubens an Jesus Christus zu sein. Deshalb unterstützen wir Kampagnen der Friedens- und Antiglobalisierungsbewegung. Aber es geht neben den Aktionsprogrammen auch darum, dass in unserem Reden und Denken etwas in Bewegung gerät. Dies zu bezeugen, ist Absicht dieses Briefes.

taz-Interview mit Hans Küng

taz Nr. 6558 vom 25.9.2001, Seite 7
http://www.taz.de/pt/2001/09/25/a0083.nf/textdruck
Interview Philipp Gessler

taz: Herr Küng, George W. Bush redet von einem "Kreuzzug", viele Mullahs von einem "heiligen Krieg": Wird es einen Religionskrieg geben?

Hans Küng: Von einem Religionskrieg wird man da überhaupt nicht reden dürfen. Das ist in erster Linie eine politische und keine religiöse Auseinandersetzung. Der US-Präsident ist offenkundig naiv: Wenn man die Muslime reizen will, dann mit dem Wort "Kreuzzug". Und wenn Bush schon eine Allianz aller Nationen gegen den Terrorismus will, dann muss er in erster Linie die arabischen Nationen gewinnen wollen. Da sind solche Worte nicht die richtige Methode.

taz: Wenn es also kein Religionskrieg ist und auch keiner sein soll - trifft dann eher die Aussage von Huntington über einen "clash of civilisations"?

Hans Küng: Gerade das ist es nicht. Denn erstens sind keinerlei Angriffe auf christliche Symbolstätten erfolgt, sondern auf Symbolstätten des US-Imperiums: auf das wirtschaftliche und militärische Nervenzentrum der USA. Zweitens kann man nicht von einem generellen Zusammenprall zwischen dem Islam und dem Westen reden - nach dem, was Huntington an der Landkarte vorgestellt hat mit einem grünen Gürtel, der von Marokko bis nach Indonesien reicht. Es ist, positiv gesagt, vielmehr die mörderische Attacke einer extremistischen Gruppe von Muslimen, die vor allem politische Ziele verfolgt, aber stark religiös motiviert ist.

taz: Gerade nach den Anschlägen hat man den Eindruck, dass Religion eher Krieg auf die Welt zu bringen scheint als Frieden.

Hans Küng: Religion kann wie die Musik und wie das Recht gut und schlecht benutzt werden. Religion lässt sich wie Musik leicht instrumentalisieren. Zum Glück gibt es auch positive Beispiele, etwa Südafrika. Dort ist es mit Hilfe gerade führender religiöser Persönlichkeiten gelungen, den von allen vorausgesagten blutigen Zusammenprall zwischen Schwarzen und Weißen zu vermeiden. Im Hinblick auf Afghanistan sollte man sich daher von diesem Beispiel inspirieren lassen, nicht einfach Terror mit Terror zu vergelten, sondern die Anliegen dieser Leute zu verstehen, allerdings die Verbrecher zu verfolgen und vor Gericht zu stellen.

taz: Wie müsste jetzt eine Reaktion des Westens auf die Anschläge in den USA aussehen?

Hans Küng: Eine angemessene Reaktion des Westens wäre zweifellos die Suche und die Bestrafung der Schuldigen. Die USA müssen sich dann aber auch konsequenterweise für die Einrichtung eines Weltstrafgerichtshofes einsetzen, den sie mit Israel als fast einzige westliche Nation sabotiert haben. Außerdem darf es keine blinden Racheaktionen geben. Man hat schon festgestellt, dass die Raketen, die auf den Sudan und schon früher auf Afghanistan abgefeuert wurden, zunächst einmal im Sudan falsche Ziele getroffen haben und in Afghanistan auch keine Lösung gebracht haben. Grundsätzlich notwendig wäre eine Neubesinnung in der Weltpolitik, gerade im Westen. Statt jetzt an der Spirale der Gewalt zu drehen, sollte man sich um Deeskalation bemühen.

taz: Man hat aber den Eindruck, dass die Friedfertigen aller Religionen kaum Gehör finden.

Hans Küng: Es ist immer so: Wenn so wie jetzt eine derart ungeheuerliche Explosion stattgefunden hat wie in New York und Washington, ist erst einmal der ganze Staub und alles das, was da aufgewühlt wird an Leidenschaften, das einzige, was die Menschen zu sehen vermögen. Aber ich bin fest überzeugt, dass man, wenn sich dieser Staub etwas gelegt hat, kühler überlegen wird. Es ist immerhin auffällig, dass die Regierenden in Washington die großen Töne ein klein wenig zurückgenommen haben. Man hatte ja erwartet, dass gleich drauf losgeschlagen würde. Man kann nur hoffen, dass diese Tendenzen die Oberhand gewinnen. Allein schon die Erfahrung der Sowjetunion in Afghanistan müssten einen Mann wie dem US-Außenminister Colin Powell, einem General, davon abhalten, sich auf wilde Abenteuer einzulassen.

taz: Noch mal zurück zur Religion: In allen Buchreligionen (im Christentum, Judentum und im Islam) scheint derzeit der Fundamentalismus zu wachsen. Was kann man dagegen tun?

Hans Küng: Es gibt in allen Religionen widerstreitende Tendenzen. Die fundamentalistischen sind eben sehr oft die lautstarken. Aufgrund der religiösen Motivation lassen sich sehr viele Leute mobilisieren. Wir müssen gleichzeitig aber sehen, dass sich beispielsweise die UNO mit dem Projekt "Weltethos" beschäftigen wird - nicht zuletzt durch die Anstrengungen religiöser Führer. Es war der iranische Staatspräsident Chatami, der das Jahr des Dialogs der Zivilisationen angekündigt hatte. Das hat bisher wenig Beachtung gefunden. Zwei Tage wird die UNO Anfang Dezember darüber diskutieren und eine Resolution verabschieden. Ich bin sicher, dass die gegenwärtige Terrorwelle eine Reflexion auf die friedenstiftende Funktion der Religion nach sich ziehen wird.

taz: Es gibt Tendenzen, den Islam zu verteufeln. Glauben Sie, dass diese Stimmen die Oberhand gewinnen werden?

Hans Küng: Genügend Menschen merken doch, dass wir in dieser Gefahr sind. Ich finde auch, dass der heftige Aktionismus in der Bundesrepublik, angesteckt von Washington, weit überzogen ist. Aber es ist auch ein Zeichen, dass Präsident Bush in ein islamisches Zentrum gegangen ist, um seinen Landsleuten deutlich zu machen, dass es nicht gegen die Muslime an sich geht. Ich hoffe, dass auch in Deutschland die Tendenzen siegen werden, die zeigen, dass 99 Prozent aller Muslime ganz und gar friedliche Menschen sind.

taz: Die Kirchen scheinen derzeit von der Krise zu profitieren: Sie sind voll. Was sollte ihre Botschaft sein?

Hans Küng: Sie müssten all das sagen, was ich gesagt habe (lacht). Eine Friedensbotschaft! Man kann verstehen, dass diese Bilder, die einem bei jeder Wiederholung immer wieder einen unglaublichen Schrecken einjagen, eher die Menschen zur Besinnung gebracht haben als die relativ unbedeutenden Kämpfe fern der Medien im Kosovo, wo Panzer in Hügel reingeschossen haben.

taz: Sie haben von der Hektik der Politik in Deutschland gesprochen. Sehen Sie die Gefahr, dass man auch in der Innenpolitik von einer Politik der Toleranz abkommen könnte?

Hans Küng: Wenn wieder etwas Besinnung eingekehrt ist, wird man viel von dem, wovon man derzeit redet, ein wenig mit Zurückhaltung betrachten. Es ist jedenfalls aufschlussreich, dass sogar der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei sagt, im Grunde sei bezüglich der mutmaßlichen Terroristen in Deutschland gar nichts versäumt worden. Die konnte man überhaupt nicht entdecken, weil sie sich nichts zuschulden kommen ließen und ganz unauffällig waren. Man kann mit den gegenwärtigen Gesetzen durchkommen und muss unter Umständen nur beim Datenschutz der Polizei Möglichkeiten geben, gewissen Spuren nachzugehen. Aber jetzt so zu tun, als müsste man völlig neue Methoden einführen in den Flughäfen oder gar in den Flugzeugen selber . . . Ich kann das alles nur als übertriebenen Aktionismus bezeichnen. Einen absoluten Schutz gibt es nicht.

taz: Herr Küng, glauben Sie, dass Beten für den Frieden hilft?

Hans Küng: Ich glaube, dass Beten immer dann hilft, wenn auch die Menschen das Ihre dazu tun. Es heißt ja: "Es geschehe dein Wille wie im Himmel so auf Erden." Beten kann nicht das ersetzen, was die Menschen selber tun müssen.

Bomben auf Afghanistan: Abschied vom Völkerrecht
Norman Paech. lehrt Verfassungs- und Völkerrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg
junge Welt 09.10.01
http://www.jungewelt.de/index.php
Interview: Wolfgang Pomrehn

jW: Die USA und Großbritannien bombardieren Afghanistan, weil sie bin Laden ausgeliefert haben wollen. Bisher gibt es allerdings kein formelles Auslieferungsgesuch. Was hat das noch mit dem Völkerrecht zu tun?

Norman Paech: Leider gar nichts mehr. Das wurde ziemlich brutal auf die Seite gebracht. Vorbild scheint jene Aktion zu sein, die die USA schon einmal 1989 in Panama unter dem Codenamen »Just Cause« (»gerechte Sache«) veranstalteten, als sie ihren ehemaligen Verbündeten Noriega unter Missachtung des Völkerrechts entführt haben. Ungefähr 6000 Menschen sind dabei seinerzeit umgekommen.

jW: Wie würde unter normalen Umständen ein Auslieferungsverfahren aussehen?

Norman Paech: Die internationale Gemeinschaft hat dafür sehr eindeutige Verfahren entwickelt. Es wäre notwendig gewesen, in den USA einen Haftbefehl zu erlassen, diesen der Regierung in Kabul zu übermitteln und eine Auslieferung zu verlangen. Man kann dann den UN-Sicherheitsrat zu Hilfe rufen, um dem Auslieferungsbegehren Nachdruck zu verleihen. Der Sicherheitsrat kann in dem Fall, dass das Regime nicht antwortet, Zwangsmaßnahmen wie etwa Blockaden erlassen. Ähnlich ist das ja auch mit den Lockerbie-Attentätern gelaufen, als Libyen mittels Embargo und Verhandlungen veranlasst wurde, diese auszuliefern.

jW: Nun unterhalten aber weder die USA noch andere westliche Regierungen diplomatische Beziehungen zum Taliban-Regime. Spielt das in diesem Fall eine Rolle?

Norman Paech: Es wäre gar kein Problem, den faktischen Machthabern ein Auslieferungsverlangen zu überstellen. Auch gegen die Taliban hätte man durch den UN-Sicherheitsrat Zwangsmaßnahmen verhängen können. Das Deprimierende ist, dass hier die Lynchjustiz wieder auflebt, dass ein Staat glaubt, einen Krieg entfesseln zu können, obwohl die internationale Gemeinschaft Verfahren entwickelt hat, die über die UNO und internationale Gerichte laufen.

jW: Die NATO hat den Verteidigungsfall ausgerufen, worauf sich auch die Bundesregierung bei ihrer Unterstützung des Angriffs beruft. Zu Recht?

Norman Paech: Nein. Der Bündnisfall ist immer abhängig von einem Verteidigungsfall nach Artikel 51 der UNO-Charta. So steht es auch in Artikel 5 des NATO-Vertrages. Hier hat es sich aber nicht mehr um einen Verteidigungsfall gehandelt. Es mag zwar feststehen, dass bin Laden die USA über Mittelsmänner angegriffen hat. Doch ist in keiner Weise klar, dass er von Afghanistan entsandt, ausgebildet oder ausgerüstet wurde. Um gegen Afghanistan einen Verteidigungsfall zu begründen, muss nachgewiesen werden, dass es hinter diesen Anschlägen steckt. So hat es der Internationale Gerichtshof in Den Haag 1986 im Verfahren Nikaragua gegen die USA formuliert.

jW: Wie schätzen Sie die Aussichten ein, dass künftig die UNO oder die übrigen Mitglieder des Sicherheitsrats die westlichen Staaten von ihren Alleingängen abbringen könnten?

Norman Paech: Das wird nach wie vor schwierig sein. Wir hatten die Hoffnung, dass die USA, nachdem sie den Sicherheitsrat eingeschaltet hatten, auch das weitere Verfahren mit dem Sicherheitsrat zusammen einhalten würden. Aber sie haben sich dann bewusst wieder von ihm und auch von der NATO entfernt, um in keiner Weise in ihrer strategischen Planung von anderen abhängig zu sein. Das ist kein gutes Omen. Schon wie im Irak seinerzeit 90/91, dann in Jugoslawien, nämlich im Kosovo – ist auch diese Aktion wieder ein Beweis dafür, dass die USA die Vereinten Nationen nur dann benutzen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen.

jW: Was denken Sie, weshalb so wenig Parlamentarier, Journalisten und Intellektuelle kritische Fragen nach der Rechtsgrundlage stellen?

Norman Paech: Ein Grund dafür, dass auch liberale Intellektuelle und an sich dem Völkerrecht verbundene Politiker für ein hartes Durchgreifen sind, liegt wohl darin, dass der Terroranschlag und die Bedrohung durch den Terror derart brutal und menschenfeindlich sind. Dass sie damit den falschen Weg betreten, das wird man später sehen. Selbst wenn man bin Laden hat, wird das Problem des Terrors nicht erledigt sein. Ich befürchte in der Tat, dass diese wirklich extrem menschenfeindlichen Aktionen des Terrors die Menschen dazu verleiten, die entwickelten zivilisatorischen Standards des internationalen Umgehens miteinander zu verlassen.

Spiegel 10. Oktober 2001
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,161444,00.html

SPIEGEL ONLINE: Halten Sie diesen Krieg für gerechtfertigt, Herr Grass?

Günter Grass: Es gibt einen Politiker, der sehr klug gesagt hat, wie eine Zivilgesellschaft auf einen Anschlag wie in New York reagieren sollte: zivil. Das war Johannes Rau.

SPIEGEL ONLINE: Und wie zivil ist dieser Militärschlag für Sie?

Günter Grass: Militärschläge sind nie zivil. Das lässt sich auch nicht wegtünchen, wenn zugleich Lebensmittelpakete abgeworfen werden. Zivil war, was die Uno vorher im Land geleistet hat und sehr viel mehr Not gelindert hat, zusammen mit anderen Hilfsorganisationen, die jetzt aus Furcht vor den Angriffen nicht mehr im Land sind und arbeiten können.

SPIEGEL ONLINE: Selbst die Grünen haben jetzt für einen begrenzten Militärschlag plädiert, nur die PDS nicht.

Günter Grass: Die PDS macht es sich aber auch sehr leicht. Die Grünen bewundere ich dagegen, wie sie um eine richtige Entscheidung kämpfen. Ich könnte deren Beschluss unter Umständen mit unterschreiben, allerdings mit einer Einschränkung. Ein lokal begrenzter Militärschlag setzt voraus, dass man im Fall Bin Laden weiß, wo er innerhalb der nächsten 24 Stunden steckt. Aber das ist bei der Beweglichkeit und Geschicklichkeit seines Stabs stets schwer auszumachen. Führt der begrenzte Militärschlag also nur irgendwohin, wo es Bin Laden nicht mehr trifft, trifft er Unschuldige.

SPIEGEL ONLINE: Stimmt Sie dann misstrauisch, was seit Sonntagabend am Bildschirm zu beobachten ist?

Günter Grass: Ich bin in Sorge, dass sich dies nun, wie angekündigt, zu einem latenten Kriegszustand über Jahre ausdehnen wird - in der Diktion der Vereinigten Staaten von Schurke zu Schurke, von Schurkenstaat zu Schurkenstaat. Damit solidarisch zu sein, davon halte ich nichts. Militäreinsätze sind für mich ein untaugliches Instrument, das Verzweiflung erzeugt. Und Verzweiflung geht immer zurück auf ein Versagen der Politik. Vier afghanische Uno-Mitarbeiter, die die Folgen des letzten Krieges, die Minen beseitigt haben, sind solchem Versagen jetzt zum Opfer gefallen. Die werden immerhin genannt, die werden beachtet. Aber die anderen Opfer nicht.

SPIEGEL ONLINE: Immerhin wird jetzt berichtet.

Günter Grass: Aber nicht über diejenigen, die vorher schon zu Tode kamen und auch jetzt ohne Bombenabwurf sterben. Auch dieser übermäßige Aufmarsch von vier Flugzeugträgern und Verbänden in der Region hat bereits vor den so genannten Gegenschlägen eine Situation geschaffen, in der Menschen gestorben sind, jeden Tag. Denn Millionen sind auf der Flucht, Kinder, Frauen, alte Menschen. Die Toten gab es also schon, es ist nicht so, dass wir sie erst befürchten müssen.

SPIEGEL ONLINE: Nun gilt dieser militärische Einsatz als begrenzt.

Günter Grass: Woher wissen wir das? Durch den Militäreinsatz findet eine Destabilisierung in einer sehr gefährdeten Region statt. Wenn man aber Pakistan destabilisiert, wird Indien zuschlagen im Kaschmir-Streit. Dann weiten sich diese Dinge aus. Zunächst habe ich geglaubt, dass man dies mittlerweile in Amerika begriffen hat, weil sich die Nachdenklichen, zum Beispiel der Außenminister Powell, durchgesetzt hatten. Der hat im Irak Erfahrungen gemacht, was Fehlschläge betrifft. Dies war aber nur mein Eindruck bis Sonntagabend. Jetzt schließe ich einen erneuten Fehlschlag überhaupt nicht aus.

SPIEGEL ONLINE: Dieser Militäreinsatz hat aber einen sehr konkreten Anlass. Die Attentate von New York und Washington. Sind denn die USA und ihre Verbündeten nicht im Recht?

Günter Grass: Die amerikanische Bevölkerung ist pauschal durch diese Terrorakte ohnegleichen zu Unrecht getroffen worden, das ist unzweideutig zu verurteilen. Aber die amerikanische Politik muss dennoch Gegenstand der Kritik bleiben. Deshalb sage ich, mein Mitgefühl ist mit den Opfern des Terrors, aber niemand kann mich zwingen, Mitgefühl mit der amerikanischen Regierung zu haben - mit keiner, auch mit der eigenen nicht. Das muss man unterscheiden.

SPIEGEL ONLINE: Was werfen Sie der US-Regierung denn vor?

Günter Grass: Bin Laden ist von der CIA ausgebildet worden, beziehungsweise mit Geldern von dort, gemeinsam mit anderen Mudschahidin. Dies geschah aus reiner Zweckpolitik der USA, weil dieser Einsatz damals gegen die Sowjetunion gerichtet war. Und das war kein Einzelfall. Die CIA war im Grunde, in ihrer Praxis auch eine terroristische Vereinigung, auch mit Mordanschlägen auf Politiker. Das muss man sehen, und es macht keinen Sinn, nur mit den Fingern auf andere zu weisen.

SPIEGEL ONLINE: Das ändert doch an den aktuellen Gefahren durch den islamistischen Terrorismus nichts.

Günter Grass: Aber auch jetzt sehe ich, dass die US-Regierung dabei die Welt nach ihrem eigenen Bild pauschal in Gut und Böse teilt. Im Grunde waren USA und Sowjetunion schon überfordert, als sie beide Weltpolizisten spielten. Nun ist diese eine Weltmacht übrig geblieben, aber hat aus sich selbst, aus ihrer Ich-Bezogenheit heraus, wenig Ahnung vom Rest der Welt. Dies fällt mir sogar bei sehr vielen intelligenten Menschen in den USA auf, mit denen ich gut befreundet bin. Sie gehen davon aus, die Weltmacht zu sein, die das alles unter Kontrolle zu halten hat. Und viele Amerikaner neigen dazu, das in erster Linie nach ihren Interessen zu ordnen - was zumeist Wirtschaftsinteressen sind. Jetzt erst fragen auch amerikanische Intellektuelle zu Recht - nach aller berechtigten Verurteilung des Terroranschlags - warum hasst man uns so in der Welt?

SPIEGEL ONLINE: Jetzt setzen Sie sich aber dem Risiko aus, von Unions-Politikern abgemahnt zu werden, so wie es Ulrich Wickert wegen seiner Kritik an George W. Bush ergangen ist.

junge welt vom 11.10.2001
http://www.jungewelt.de/2001/10-11/008.php

Für Tony Blair sind die Dinge klar: Osama bin Laden und das Netzwerk der Al Qaida sind für die Terroranschläge vom 11. September verantwortlich. Doch was beweist denn das Blair-Dossier? Das Dokument, das Premierminister Tony Blair am 4. Oktober dem britischen Parlament vorstellte, wurde von den Medien als Beweis gewertet, dass Osama bin Laden und seine Organisation Al Qaida die Terroranschläge vom 11. September in New York und Washington geplant und durchgeführt hätten. Doch bei Licht betrachtet besteht Blairs Dossier aus stümperhaft zusammengeschusterten Behauptungen, mit denen weder die Schuld bin Ladens noch die Komplizenschaft seiner Beschützer, der Taliban, schlüssig nachgewiesen wird. Wenn man das Dokument sorgfältig liest, erweist es sich als Versuch, allen weiteren Forderungen nach Beweisen für bin Ladens Schuld einen Riegel vorzuschieben. Auf diese Weise soll es den USA und Großbritannien erleichtert werden, den Krieg gegen Afghanistan zu rechtfertigen.

Vergangene Woche brach die Bush-Regierung ihr Versprechen, der Öffentlichkeit die Beweise, die ihr für bin Ladens Schuld angeblich vorlagen, im einzelnen zu präsentieren. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, dann wäre es dabei zweifellos auch geblieben. Es hätte Bomben auf Afghanistan geregnet, ohne dass man auch nur versucht hätte, die Vorwürfe gegen bin Laden und die Taliban zu untermauern. Doch die Regierungen Pakistans und der arabischen Länder stellten sich Bush entgegen. Sie befürchteten eine explosive Reaktion in ihren eigenen Ländern, falls die USA ohne jeden konkreten, rechtfertigenden Beweis anfangen sollten, ein muslimisches Land zu bombardieren. Das von Blair vorgestellte Dokument war Bestandteil eines internationalen Vorstoßes, der Amerikas schwankende Verbündete zufrieden stellen und ihnen etwas an die Hand geben sollte, das sie der eigenen Bevölkerung präsentieren konnten.

Das Dossier beginnt mit folgendem Vorbehalt: »Dieses Dokument erhebt nicht den Anspruch, Anklagen gegen Osama bin Laden zu begründen, die für einen Gerichtsprozess ausreichen würden.« Dieses Eingeständnis wird damit gerechtfertigt, dass »geheimdienstliche Erkenntnisse aufgrund strenger Zulässigkeitsregeln und des notwendigen Schutzes der Quellen oft nicht als Beweismaterialien verwendet werden können«.

Nicht gerichtsfähig

Drei Feststellungen sind an dieser Stelle angebracht. Erstens: Die Behauptung, zur Rechtfertigung eines Krieges genügten Beweise von geringerer Qualität, als sie einem Gericht zur Entscheidung über Schuld und Unschuld im allgemeinen vorliegen müssen, ist bestenfalls zweifelhaft. Angesichts der nicht absehbaren Folgen militärischer Angriffe sollten an die Beweislage in diesem Fall mindestens ebenso strenge Anforderungen gestellt werden wie in einem Gerichtsprozess. Vor Gericht geht es um das Schicksal von Angeklagten als Einzelpersonen, die Militärschläge der USA und Großbritanniens hingegen vernichten das Leben einer unabsehbaren Anzahl unschuldiger Zivilisten. Zweitens: Die Behauptung, dass Regierungen aufgrund geheimdienstlicher Erwägungen keine Beweise vorlegen müssen, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen, ist ein Blankoscheck für jede erdenkliche Militäraktion. Selbst wenn man zugestehen wollte, dass gewisse Beweise zu Recht unter Verschluss bleiben sollten, ist es nicht glaubwürdig, dass aus Sicherheitsgründen überhaupt kein konkreter Beweis an die Öffentlichkeit gelangen dürfe. Wer einen solchen Standpunkt vertritt, maßt sich das Recht an, Richter, Jury und Vollstrecker in einer Person zu sein. Drittens: Blairs Dokument ist keine seriöse Darlegung von Beweisen, die lediglich den strengen Normen juristischer Anklageschriften nicht entsprechen würde. Sie enthält keine von unabhängiger Seite verifizierbaren Tatsachen, aus denen eine Schuld bin Ladens, der Al Qaida oder der Taliban im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September hervorgehen würde. Die meisten in dem Dokument enthaltenen Aussagen waren bereits zuvor in den Medien berichtet worden. Für keine einzige Anschuldigung wird ein Beweis angeführt. Dem Leser wird zugemutet, alle Behauptungen auf Treu und Glauben zu übernehmen.

Das Dokument ist in drei Abschnitte untergliedert. Der wichtigste Teil ist derjenige, der vorgeblich die Rolle der Al Qaida bei den Terroranschlägen vom 11. September behandelt. Er umfasst nur neun der siebzig Punkte, aus denen das 15seitige Papier besteht. Die Verfasser haben offenbar versucht, den fadenscheinigen Inhalt dieses zentralen Abschnitts zu bemänteln. Seite um Seite wird ausgeführt, wie die Al Qaida in frühere Terroranschläge gegen die USA verwickelt gewesen sei. Ergänzt wird dies durch Ausführungen über die historischen Wurzeln des von bin Laden geführten Netzwerks und des Taliban-Regimes. In dem Abschnitt über den 11. September wird ein einziger scheinbar konkreter Zusammenhang zwischen der Al Qaida und den Anschlägen hergestellt. Er besteht in der Behauptung, dass von den 19 identifizierten Luftpiraten »mindestens drei eindeutig als Gefolgsleute der Al-Qaida identifiziert worden sind. Einer spielte erwiesenermaßen eine Schlüsselrolle sowohl bei dem Angriff auf die Botschaft in Ostafrika als auch auf die USS Cole.«

Doch diese Aussage wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Wenn die Identität dieser drei Männer bekannt ist, weshalb werden ihre Namen nicht genannt? Welchen Schaden könnte das nach sich ziehen? Zweitens ist die Bezeichnung »Gefolgsleute der Al Qaida« derart breit gefasst und verschwommen, dass sie geradezu bedeutungslos wird. Das Dokument räumt ein, dass die Al Qaida eine lose gefügte Organisation ist, die aus zahlreichen verschiedenen Gruppierungen besteht. Selbst wenn sich die drei Genannten in irgendeiner Weise zur Al Qaida bekannt hätten, würde dies an sich noch nicht beweisen, dass die Al Qaida oder bin Laden persönlich die Anschläge vom 11. September geplant oder angeordnet hätten. Und schließlich wird die bloße Behauptung aufgestellt, es gebe Beweise für eine Verbindung der drei zur Al Qaida, doch das Dokument nennt sie nicht.

Vater Bush beim Bin-Laden-Clan

Gerade die Bush-Regierung bewegt sich auf dünnem Eis, wenn sie unbestimmt von »Verbindungen« zwischen bin Laden, bin Ladens Verbündeten und verschiedenen anderen Individuen spricht. Ausgerechnet das Wall Street Journal berichtete am 27. September, es gebe dokumentierte Verbindungen zwischen führenden Figuren der Republikanischen Partei – unter ihnen George W. Bushs Vater, der ehemalige Präsident – und der Familie bin Laden. Das Journal schrieb: »Im Rahmen seiner weitgespannten Geschäftsinteressen investiert der wohlbestallte saudiarabische Clan – der sich nach eigenen Angaben von Osama losgesagt hat – in einen Fonds, den die Carlyle Group gegründet hat, eine gut eingeführte Handelsbank in Washington, die sich auf Übernahmen von Unternehmen der Verteidigungs- und Luftfahrtindustrie spezialisiert hat. ... Durch diese Investitionen und ihre Verbindungen zum saudischen Königshaus lernte die Familie bin Laden einige Spitzenpolitiker der Republikanischen Partei kennen. In den letzten Jahren sind der ehemalige Präsident Bush, der ehemalige Außenminister James Baker und der ehemalige Verteidigungsminister Frank Carlucci zur Hauptresidenz der Familie bin Laden in der saudiarabischen Stadt Jeddah gepilgert.«

Hinsichtlich der Ereignisse vom 11. September werden in dem von Blair vorgelegten Dokument noch weitere Behauptungen aufgestellt: Bin Laden habe persönlich kurz vor dem 11. September gesagt, dass er einen großangelegten Angriff auf Amerika vorbereite und enge Verbündete aufgefordert, bis zum 10. September aus anderen Teilen der Welt nach Afghanistan zurückzukehren. Weiter heißt es: »Seit dem 11. September haben wir erfahren, dass einer der engsten und hochrangigsten Vertrauten bin Ladens für die detaillierte Planung der Angriffe verantwortlich war.« Auch hier wird ein Mann, der angeblich der Führungsspitze von bin Ladens Organisation angehört und direkt für den entsetzlichen Terror verantwortlich ist, nicht namentlich genannt. Weshalb nicht? Folgende aufschlussreiche Aussage schließt sich an: »Gewisse Beweise für die Schuld bin Ladens und seiner Verbündeten sind so beschaffen, dass sich ihre Veröffentlichung verbietet.« Ob sich die Verfasser des Papiers dessen bewusst sind oder nicht, dieser Satz ist ein stillschweigendes Eingeständnis, dass sie nichts vorgelegt haben, das »so beschaffen« wäre, dass es einen Zusammenhang zwischen bin Laden und den Anschlägen vom 11. September erkennen ließe.

Nur die Fatwa zitiert

Die Beweise hinsichtlich früherer Terroranschläge sind kaum stichhaltiger. Im Zusammenhang mit einigen bekannten Anschlägen werden Namen und Vorfälle angeführt, die aus gerichtlichen Aussagen einiger einzelner Angeklagter zusammengestellt wurden, die unter erheblichem Druck zustande gekommen waren. Um die augenfälligen Lücken zu schließen, wird im Rahmen eines ausführlichen Vorworts über die Geschichte der Al Qaida folgende Behauptung aufgestellt: »Osama bin Laden hat die Verantwortung für den Anschlag auf US-Soldaten in Somalia vom Oktober 1993 übernommen, bei dem 18 Personen getötet wurden, für den Anschlag auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania vom August 1998, bei dem 224 Menschen getötet und nahezu 5000 verletzt wurden, und stand in Zusammenhang mit dem Anschlag auf die USS Cole vom 12. Oktober 2000, bei dem 17 Besatzungsmitglieder ums Leben kamen und 40 weitere verwundet wurden.«

Tatsache ist, dass Osama bin Laden niemals die Verantwortung für diese Anschläge übernommen hat. Das Dokument enthält auch keine entsprechenden Zitate. Statt dessen wird der Leser auf diverse antiamerikanische Aussagen und Bemerkungen bin Ladens verwiesen, in denen er die gegen die USA gerichteten Terroranschläge unterstützte. (Der Angriff auf amerikanische Soldaten in Somalia gehört überhaupt nicht in diesen Zusammenhang. Dieser Vorfall kann nicht als Terroranschlag im eigentlichen Sinne gewertet werden, denn die daran beteiligten Somalis griffen keine Zivilisten, sondern amerikanische Soldaten an und beteiligten sich damit am Widerstand gegen die amerikanische Besatzung ihres Landes. Darüber hinaus befanden sich die US-Truppen gerade in einer aggressiven Aktion, um somalische Funktionäre zu fangen, die sich den Plänen Amerikas widersetzt hatten.)

Das in dem Papier selbst dargelegte Material widerspricht der Behauptung, dass bin Laden die Verantwortung für die genannten Terroranschläge übernommen hat. Als das Time-Magazin bin Laden Fragen über die Bombenangriffe auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi (Kenia) und Daressalam (Tansania) vom August 1998 stellte, wollte er die Verantwortung dafür weder übernehmen noch ablehnen. In seiner von der Zeitung zitierten Antwort wiederholte er einfach in anderen Worten seine Fatwa, gefolgt von der Erklärung: »Unsere Aufgabe besteht darin anzustiften. Das haben wir bei der Gnade Gottes getan, und bestimmte Leute haben auf diese Anstiftung reagiert.« Auf die Frage, ob er die Angreifer kenne, bezeichnete bin Laden sie einfach als »echte Männer«. So bedauerlich diese Aussagen auch sein mögen, sie stellen keine Übernahme der Verantwortung dar.

In Punkt 51 des Papiers wird von der Existenz von Dokumenten gesprochen, in denen eine getrennte Gruppe, die Islamische Armee für die Befreiung der heiligen Stätten, die Verantwortung für die Bombenanschläge auf die Botschaften in Ostafrika übernimmt. Diese nicht ins Bild passende Information wird mit der Bemerkung, es handele sich um eine »fiktive« Organisation, einfach beiseite gewischt.

Es gibt eine Stelle in dem Papier, die seiner eigenen Grundaussage widerspricht, dass aus Sicherheitserwägungen heraus keine spezifischen Beweise genannt werden könnten. In Punkt 14 des Dossiers wird behauptet, dass die amerikanische Regierung den Taliban »lange vor dem 11. September 2001« Beweise für Al Qaidas Schuld als Drahtzieher der Anschläge auf die ostafrikanische Botschaft überreicht habe. Wenn sich die US-Regierung in der Lage sah, den Taliban – die sie mittlerweile der Unterstützung einer globalen Mordagentur gegen Amerika beschuldigt – geheimdienstliche Erkenntnisse zu übermitteln, wie kann es dann sein, dass sie jetzt die Notwendigkeit von Geheimhaltung und Quellenschutz anführt, um zu rechtfertigen, dass sie ihren eigenen Bürgern und dem Rest der Welt entscheidende Beweise vorenthält?

In politischer Hinsicht ist derjenige Abschnitt von Blairs Dossier am aufschlussreichsten, der beansprucht, die historischen Wurzeln der Al Qaida und des Taliban-Regimes aufzuzeigen. Diese zusammengestückelte Geschichtsschreibung weist deutliche Lücken auf und lässt damit erkennen, dass sowohl die USA als auch Großbritannien entscheidende Tatsachen verschleiern wollen, weil aus diesen hervorgehen würde, dass die früheren und heutigen Regierungen in Washington und London für den Aufstieg bin Ladens und der Taliban ebenso verantwortlich sind wie dafür, dass sich der von ihnen vertretene reaktionäre Nationalismus und religiöse Obskurantismus in ganz Zentralasien und dem Nahen und Mittleren Osten verbreitet hat.

Ausgangspunkt des Papiers ist das Jahr 1989, in dem bin Laden und andere die Al Qaida gegründet haben sollen. Auf diese Weise vermeiden die Verfasser elegant jeden Hinweis auf das vorangegangene Jahrzehnt, in dem die amerikanische CIA mit Hilfe des britischen Special Air Service die Mudschaheddin finanziert, ausgebildet und bewaffnet hatte. Dies geschah im Rahmen des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion, die 1979 in Afghanistan einmarschiert und zehn Jahre später wieder abgezogen war. Ein Partner, mit dem die Amerikaner zusammenarbeiteten, um den sowjetischen Einfluss zu untergraben, war Osama bin Laden.

Das ist die wirkliche Geschichte, die man kennen muss, um zu verstehen, weshalb die säkularen politischen Kräfte in Afghanistan vernichtet wurden und wie aus dem Nichts die Taliban aufstiegen. Ihre ideologischen und politischen Wurzeln liegen in den Mudschaheddin-Gruppen, die von den USA gezüchtet worden waren. (Die alte Verbindung zwischen den USA und den Taliban zeigte sich daran, dass Washington die Machtübernahme der Taliban 1996 zunächst stillschweigend unterstützte.)

Wenn diese unausgegorene Mischung aus unbewiesenen Behauptungen und Geschichtsfälschungen alles ist, was der Öffentlichkeit vorgelegt werden kann, dann gibt es dafür nur zwei denkbare Erklärungen: Entweder die US-Regierung hat keine Beweise für eine direkte Verbindung zwischen Osama bin Laden, den Taliban und den Anschlägen vom 11. September, oder sie kann die ihr vorliegenden Beweise nicht veröffentlichen, weil dadurch Individuen oder Organisationen mit den Anschlägen in Zusammenhang gebracht würden, die mit den Geheimdiensten Amerikas oder eines verbündeten Staates in Verbindung stehen.

Geostrategische Ziele

Die World Socialist Web Site (www.wsws.org) deckt den unaufrichtigen Charakter des Blair-Dossiers keineswegs deshalb auf, weil es bestrebt wäre, bin Laden oder die Taliban zu schützen oder für ihre Unschuld hinsichtlich der Angriffe des vergangenen Monats zu plädieren. Es ist durchaus möglich, dass sie an diesen Anschlägen beteiligt waren. Ihre Politik und ihre Methoden sind zutiefst reaktionär. Sie stehen den Interessen der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen im Nahen Osten, in Zentralasien und in jedem anderen Teil der Welt feindlich gegenüber. Doch unsere Ablehnung des islamischen Fundamentalismus und Terrorismus mindert nicht im geringsten unsere Opposition gegen die Kriegführung der amerikanischen und der britischen Regierung. Die Tatsache, dass sie der Öffentlichkeit keine ernst zu nehmenden Beweise für die Schuld derjenigen präsentieren, die sie zum Objekt ihrer Rache erkoren haben, ist von enormer Bedeutung. Sie zeigt, dass sie die Tragödie vom 11. September ausnutzen, um weltpolitische Pläne in die Tat umzusetzen, die schon seit langem bestehen. Sie versuchen ein Kriegsfieber zu schüren, damit sie ihre geostrategischen Ziele in den ölreichen Regionen des Nahen und Mittleren Ostens und Zentralasiens mit Methoden verfolgen können, die vor dem 11. September politisch nicht durchsetzbar gewesen wären.

 

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