Gaebler Info und Genealogie

Home neu • Genealogie • Christoph Gäbler • Hannelore  Schwedes • Indien • Ökumene • Politik • Bildung • Kunst • Was noch? • Privat • Kontakt • Suchen

 

Rund um das Baby in Bremen

nach oben

Wir Väter, Erben Abrahams

Ein Essay zum Vatertag im Zeichen des Ökumenischen Kirchentags

Von Philipp Gessler

Es ist eine brutale Geschichte: Ohne jegliche Vorwarnung oder Begründung fordert der Herr von Abraham, dem Stammvater der Juden, Christen und Muslime, vor tausenden Jahren laut Genesis 22, 2: "Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar!" Welch herzlose Forderung, und wie sklavisch die Reaktion Abrahams: keine Weigerung, keine Empörung, nicht einmal eine Nachfrage.

Stattdessen spaltet Abraham klaglos und pflichtbewusst das Holz für das Brandopfer und lässt das ahnungslose Opfer, seinen Sohn Isaak, selbst das Holz drei Tage lang auf dem Marsch nach Morija schleppen. Nicht einmal ehrlich ist Abraham zu ihm: Kurz vor der Ankunft auf dem Opferberg weicht Abraham der Frage des Sohnes aus, was denn nun geopfert werden solle. Stattdessen bindet er Isaak fest und hebt ihn auf einen zuvor errichteten Altar. Schon zückt er das Messer, um seinen Sohn zu "schlachten", wie es heißt - da endlich entbindet der Herr Abraham von dem Auftrag, sinnlos sein Liebstes auf Erden zu opfern. Was ist das für ein Gott?! Was ist das für ein Vater?!

Wir sind alle Erben Abrahams, des Patriarchen - und patriarchal ist das jüdisch-christlich-muslimische Konzept vom Vatersein, das in die Kultur der monotheistisch geprägten Zivilisationen eingewoben ist. Als Ort, darüber nachzudenken, was dies bedeutet, böte sich der anstehende Ökumenische Kirchentag an - unter anderem, weil dabei hunderte christliche Väter in Berlin am zweiten Tag des Treffens Christi Himmelfahrt feiern: eher bekannt als "Vatertag".

Unwahrscheinlich, dass diese Väter den seltsamen Feiertag, noch künstlicher als der Muttertag, traditionell mit Leiterwagen und Bierkästen darauf begehen. Sie tun gut daran, denn am "Vatertag" enthüllt sich nach einigen Bieren in der Regel viel, was das unschöne Geschlecht noch abstoßender macht: die Neigung zu schlechten Witzen, Herdentrieb, Frauenfeindlichkeit, Stumpfheit, im schlimmsten Fall Brutalität. Dabei tritt am "Vatertag" unter bestimmten Bedingungen nur zutage, was sonst bloß verdeckt ist. Es gibt beim "Vatertag" nichts, zumindest nicht viel zu feiern.

Viele Vorstellungen der monotheistischen Religionen von der Rolle eines Vaters haben, angefangen mit dem Patriarchen Abraham, etwas trostlos Liebloses, herzlos Unzärtliches und latent Frauenfeindliches: Gerade in den wichtigen ersten Geschichten der Bibel erscheint der Vater kaum mehr als der Ernährer der Sippe, der mehrere Frauen hat, geradezu zwanghaft nach einem männlichen Erben strebt und sein Geschick schon so gut wie erfüllt sieht, wenn es ihm gelingt, einen zu zeugen - und sei es mit hundert Jahren wie bei Stammvater Abraham, in Genesis 21, 5-7 nachzulesen. Lächerlich ist dieses Streben nach dem Sohne, und zu Recht lacht Abrahams Frau Sara über solch maßlose Zeugungswut, die Zweifel an Abrahams Manneskraft durchaus impliziert: "Jeder, der davon hört, wird mit mir lachen. Wer, sagte sie, hätte Abraham zu sagen gewagt, Sara werde noch Kinder stillen? Und nun habe ich ihm noch in seinem Alter einen Sohn geboren." Der Ruf Gottes, Abrahams Berufung, ist dem Stammvater wichtiger als sein Sohn. Dass uns heutigen Vätern häufig der Beruf wichtiger ist als die Familie, passt gut ins Bild.

Der monotheistisch geprägten Vaterrolle folgend, besitzt die Mutter noch heute in der Regel das Gefühlsmonopol. Das hebräische Wort für Erbarmen rachamim kommt von rächäm, was Mutterleib bedeutet. Strenge dagegen herrscht beim Vater - bis zu der Geschichte über den israelitischen Führer Jiftach (Richter 11, 29-40), der, einem Gelübde gegenüber Gott folgend, sein einziges Kind, eine Tochter, als Dank für den Sieg über die Ammoniter opfert. Auch hier nur wenig Zögern und Klagen. Die Tochter fordert ihren Vater gottesfürchtig sogar dazu auf, sein dummes Versprechen einzulösen. Als einzige Gnade erlaubt er ihr noch, zwei Monate lang mit ihren Freundinnen in den Bergen "ihre Jugend zu beweinen". Danach opfert Jiftach seine Tochter, wobei die Erzählung Wert auf die Feststellung zu legen scheint, dass sie bis zu ihrem Tod "noch mit keinem Mann Verkehr gehabt" habe. Sicher: Solche "Wandermythen" genannten Geschichten kommen auch in anderen Kulturen des Nahen Ostens vor - dass sie jedoch auch in die jüdisch-christliche Tradition übernommen wurden, spricht Bände.

Dabei gibt es in der Bibel durchaus auch das Bild des fürsorgenden Vaters und Stammesoberhauptes. Spätestens seit der Neuzeit mit der einhergehenden Trennung von Heim und Arbeit aber tritt in der christlichen Tradition dieses Vatermodell in den Hintergrund. Es wird überlagert durch den Pater familias, der zumindest bis vor kurzem noch wie ein strafender Gottvater über der Familie schwebte, während die Mutter, gemäß des role model der verehrten Maria als Mutter Gottes, für Zärtlichkeit und Verzeihen zuständig war. Pflicht ist eben Pflicht, und seien es die Vaterpflichten im Ehebett.

Klar, solch ein Vatermodell hat auch seine komfortablen Seiten. Aber zeugt es nicht zugleich von einer furchtbaren Verarmung? Natürlich hat sich der Gottesbegriff Israels im Laufe der Jahrhunderte während der Genese der Bibel entwickelt. Generell gilt: Je jünger die Überlieferung, desto mehr verliert das Bild von Gottvater schon im Alten Testament seine männliche Einseitigkeit. Das aber nur sehr zaghaft. Die patriarchalen Vorstellungen von dem einen Vater im Himmel und den vielen Vätern, ja Machos hier auf Erden bleiben klar dominant - und sind sie nicht noch heute weiter prägend? Und zwar nicht nur untergründig? Ist es Zufall, dass gerade eher religiös, genauer: monotheistisch geprägte Kulturen, etwa in Israel, in Exjugoslawien oder in Nordirland, zu einem Machomännerbild neigen?

"Des Vaters Liebe ist der Sohn, und des Sohnes Liebe - ist dessen Sohn", schreibt der Talmud und zeigt damit eine andere Seite selbstloser Väterlichkeit und Zärtlichkeit auf, die ebenfalls in den monotheistischen Religionen zu entdecken wäre. Von dieser Väterlichkeit der Bibel wäre für uns heutige Väter mehr zu lernen. Nicht nur mütterliche, auch väterliche Zärtlichkeit findet sich darin.

Und das mit Segen und nach dem Vorbild von ganz oben: Der LIEBE Gott ist eben nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter, wie Jesaja sagt, wenn er dem/der Höchsten diesen Satz in den Mund legt: "Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch" (66, 13). Schön auch die Stelle bei Hosea (11, 4), die Gottes Sorge für Israel mit elterlicher, aber wohl eher mütterlicher Liebe umschreibt: "Ich war da für sie wie die (Eltern), die den Säugling an ihre Wangen heben. Ich neigte mich ihm zu und gab ihm zu essen." Bezeichnend übrigens die weltweite Überraschung, als der Reformpapst Johannes XXIII. vor rund dreißig Jahren an diese mütterliche Seite Gottes erinnerte.

So wie es nach einigem Suchen also in der jüdisch-christlichen Überlieferung von Anfang an auch die Mutter im Himmel gibt, so ist es möglich, auch das andere, sagen wir, sanftere Vatermodell in der Bibel auszugraben - und zwar ohne den Rückgriff auf traditionell mütterliche Züge vornehmen zu müssen. Nennen wir dieses andere Vaterbild das Josef-Jesus-Modell.

Die Geschichte Josefs, des Verlobten Marias, wie Matthäus es erzählt, hat zunächst etwas durchaus Modernes: Da ist ein Mann, der sich eines Kindes, Jesus, annimmt, von dem er weiß, dass es nicht von ihm stammt. Es ist eine Übernahme von Verantwortung nach einigem Zögern (Matthäus 1, 18-25), was uns Heutigen durchaus sympathisch ist.

Die Heilige Familie mit den Mitgliedern Maria, Josef und Jesus hat etwas von heutigen Patchworkfamilien: Maria wird unehelich schwanger, Josef kümmert sich an Vaters statt um das Kind eines anderen, und Jesus hat schon mit zwölf Jahren Wichtigeres zu tun, als daheim in Nazareth bei Muttern zu bleiben: Eine Jerusalemreise nutzt Jesus zum Ausbüchsen. Als Maria und Josef ihn schließlich nach drei Tagen im Tempel wiederfinden, scheint etwas davon auf, wie sehr Jesus auch Josef ans Herz gewachsen ist: "Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht", sagt Maria zu ihm. Und nicht untypisch für frühreife Kids zweitausend Jahre später, antwortet Jesus völlig uneinsichtig und den Eltern schon meilenweit überlegen: "Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?" Überdeutlich notiert der Evangelist die Raff-Nix-Reaktion der Eltern: "Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte" (Lukas 2, 41-50).

Jesus von Nazareth scheint überhaupt ein sehr positives und für seine damalige Zeit nicht selbstverständliches Vaterbild gehabt zu haben. Ohne die theologisch hochkomplexe Beziehung zwischen Gottvater und Jesus in der Trinitätslehre zu bemühen (Vater opfert Sohn am Kreuz für die Sünden anderer), ist doch auffällig, wie liebenswert, ja modern die Vaterrolle ist, die Jesus anzubieten hat.

Jesus, der Menschensohn, wie er sich selbst häufig nannte, betont in seinen Gleichnissen immer wieder ein fürsorglich-zärtliches Vatermodell. Bis zu jener Aussage über den treu sorgenden Vater im Himmel: "Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt" (Matthäus 10, 30). Immer wieder sticht bei Jesu Verhältnis zu seinem Vater im Himmel eine fast liebevolle Direktheit und Unbekümmertheit hervor. Nicht unwahrscheinlich, dass Jesus sein positives Vaterbild, wohl geprägt durch seine Beziehung zu seinem Stiefvater Josef, auf den himmlischen Vater übertrug.

Ein besonders schönes Beispiel, was Jesus als Vorbild für einen sanften, verzeihenden Vater vorgibt, ist das klassische Gleichnis vom "verlorenen Sohn" (Lukas 15, 11-32): Der jüngere von zwei Söhnen hat sich sein Erbe auszahlen lassen und geht in die Ferne. "Dort führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen" - unter anderem mit "Dirnen", wie sein älterer Bruder laut Lukas maliziös bemerkt. "Als er alles durchgebracht hatte", kehrt er schließlich reumütig nach Hause zurück, völlig verarmt, hungernd und blanker Not folgend.

Und wie reagiert der Vater? "Der Vater sah ihn schon von weitem kommen", erzählt Jesus dem Evangelisten zufolge, "und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn." Besser noch, der Vater setzt den Sohn ohne irgendwelche Vorwürfe wieder in seine vollen Rechte ein und feiert zur Freude über dessen Rückkehr ein großes Fest. Wer wünschte sich nicht einen solchen Vater?

Wie fortschrittlich das Vätermodell Jesu war, wird auch an seiner Begegnung mit Kindern (Markus 10, 13-16) deutlich, die zu ihm gebracht werden, damit er ihnen die Hände auflegt. Jesu Jünger versuchen nach den Worten von Markus "schroff", das zu verhindern: Für sie, selbst Kinder ihrer Zeit, waren Kinder nicht würdig, zu einem solch weisen Meister vorgelassen zu werden. Jesus tadelt die Jünger ob ihrer Missachtung der jungen Menschen. Ja, er lobt die Kinder als Vorbild: "Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes." Warum? "Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind", erklärt Jesus, "wird nicht hineinkommen." Das weitere Verhalten sagt noch mehr als seine Worte: "Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie." Kein Wunder, dass gerade diese Szene immer wieder zitiert wird, zeugt sie doch von einer Gelassenheit und Zärtlichkeit im Umgang mit Kindern, die in der Bibel ihresgleichen sucht.

Ist dies also das Modell, das uns die Heilige Schrift für unsere Vaterrolle vorgeben könnte? Der "neue Mann" auf Biblisch? Der sanfte Streiter, ja der Softie im christlichen Gewand?

Nein, so einfach ist es nicht: So wenig wie im Alten Testament nur der strafende, strenge Patriarchengott zu finden wäre, während das Neue Testament nur den verzeihenden, sanften Vater im Himmel kennen würde, so wenig lässt sich heutzutage beim Vaterbild die Alternative Strenge und Härte dort, Sanftheit und Zärtlichkeit hier ausmachen. Man muss nicht so weit gehen, den alten Erziehungsspruch "Mit Druck und Wärme schafft man Diamanten" als Nonplusultra einer modernen Erziehung und eines neuen Vatermodells zu preisen. Dass aber neben Zärtlichkeit und Sanftheit auch Strenge im Sinne von Entschiedenheit und Klarheit gehört, ist mittlerweile nach dreißig Jahren intensiver Diskussion und Erfahrung mit antiautoritärer Erziehung und neuen Vaterrollen fast Allgemeingut. Ob eine solche Erziehung übrigens in einer klassischen heterosexuellen oder in einer homosexuellen Zweierbeziehung stattfindet, ist dann nicht mehr so erheblich: Entschiedenheit und Zärtlichkeit ist in beiden Fällen ein taugliches Modell für leibliche oder sonstige Väter (und Mütter). Oder wie Friedrich von Schiller sagt: "Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern."

Wir sind alle Erben Abrahams, dessen (geistige) Nachkommenschaft tatsächlich, wie der Engel ihm nach der Fast-Opferung seines Sohnes offenbarte, so zahlreich wurde "wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Meeresstrand" (Genesis 22, 17). Doch wie wahrscheinlich jede Generation müssen auch wir heutigen Väter unsere eigenen Wege bei der Erziehung unserer Kinder finden. Schön wäre es, wenn wir uns dabei ein wenig von Abrahams Entschiedenheit nähmen. Viel mehr jedoch bedürften wir Väter von heute der Selbstlosigkeit Josefs und der Zärtlichkeit Jesu.

Wenn dies gelänge, wäre Christi Himmelfahrt, da Jesus dem Glauben nach aufstieg zu seinem Vater im Himmel, tatsächlich ein "Vatertag", den man feiern könnte. Und ein paar Biere mit anderen Vätern auf dem Leiterwagen kämen da gerade recht.

taz Bremen vom 24.05.2003

nach oben


Vaters Zärtlichkeit

Von Philipp Gessler

  • Der Atem von kleinen Kinder riecht nach nichts. Wenn seine Kinder schlafen, nähert sich Irvings Held Garp ihnen ganz nah, um an ihrem Atem zu schnuppern - eine der zärtlichsten Szenen seines Bestsellers. Und wer es ausprobiert, wird merken: Es stimmt.

  • Das Atemschnuppern ist eine der ersten väterlichen Zärtlichkeiten, die möglich sind - abgesehen davon sind die zuerst zerknautschten, dann schnell verquollenen Babys am Anfang viel zu zerbrechlich, um der Vaterliebe körperlich irgendwie Ausdruck verleihen zu können. Schlimmer noch: Wer Pech hat, wird auch nach Wochen immer noch nicht von seinem Säugling angelächelt.

  • Dann heißt es, tapfer zu bleiben und trotz fehlender Gesten des Vertrauens die nächtlichen Schreiorgien, ausgelöst durch Koliken, mannhaft zu überstehen. Und das, obwohl man nach einigen solcher Nächte recht schnell versteht, wie überforderte Mütter und Väter auf die Idee des Kindsmords kommen. Das väterliche Zärtlichkeitsbedürfnis nimmt in solchen Nächten sehr ab.

  • Auch wenn es seltsam klingt: Es gibt zur Befriedigung des väterlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses auch das Windelnwechseln. Das ist, solange das Kind nur Muttermilch bekommt, entgegen anderen Gerüchten, keine arge Zumutung. Denn die breiige Babyausscheidung riecht nur etwas milchig. Solche Momente sinds, da einen der Spross erstmals anguckt, vielleicht sogar anlächelt. Dann kann man gar nicht mehr sauer sein wegen der vielen ungeschlafenen Nächte.

  • Schließlich kommt die Zeit, da der oder die Kleine nur noch Körperkontakt will - und anfängt zu schreien, wenn man es als Eltern wagt, das Kind nicht permanent im Arm zu halten. Schöne Monate! Welch Glücksgefühl, wenn das Kind erstmals aufhört zu schreien, sobald man es als Vater auf den Schoß genommen hat! Welch warmes Empfinden, wenn das Kind seinen Oberkörper schlafend über die Hand des Vaters beugt wie ein betrunkener Matrose seinen Körper über die Reling.

  • Vom fünften Monat an hat das Kind die richtige Kussgröße: Es ist nicht mehr zu klein, dass man es mit väterlichen Zärtlichkeitsbekundungen schädigen könnte. Und nicht zu groß, um ihnen entrinnen zu können. Zugegeben, das ist egoistisch: Man schnappt sich einfach die Kleine oder den Kleinen und knutscht los. Auf den Bauch ist super, auf den haarlos gescheuerten Hinterkopf witzig. Küsse auf den Hals führen fast immer zu verzücktem Jauchzen des Kindes.

  • Babys sind ausgesprochen gemütlich. Sie sind warm, weich und riechen gut, solange die Windel nicht voll ist. Dem Kind auf dem Arm in den Flaum auf dem Kopf zu blasen, macht Spaß und kann einen in eine fast meditative Stimmung bringen. Klasse ist auch, dass vom Vater geradezu erwartet wird, er würde das Kleine in die Luft werfen. Das Kind quietscht dann zuverlässig. Vorsicht aber kurz nach dem Stillen oder Füttern!

  • Ist das Kind aus der Babyphase raus, wird der Austausch von Zärtlichkeiten schwieriger, so heißt es. Aber: Es reicht, sie durch die Luft zu wirbeln, mit den Kopf nach unten zu halten oder durch die Gegend zu schleppen. Dass man so etwas nur mit Söhnen machen kann, ist erwiesenermaßen falsch. Denn bei aller Zärtlichkeit: Verzärtelte Kinder will niemand.

taz Bremen vom 24.05.2003

nach oben


Seid fruchtbar und macht viele Fehler!

Interview Holger Fuss (Jahrgang 1964, gebürtiger Schleswiger, lebt in Hamburg, schreibt unter anderem für den Stern und für Brandeins. Mit Vorliebe begibt er sich auf die Spurensuche nach unseren alltäglichen Irrtümern)

taz.mag: Herr Professor Baecker, wovon sprechen wir hier überhaupt: Was ist eigentlich ein Fehler?

Dirk Baecker: Zunächst einmal ist ein Fehler immer eine Handlung, es muss also etwas passiert sein.

Ein Gedanke kann demnach kein Fehler sein?

Nur dann, wenn man im Nachhinein feststellt, dass es entweder falsch war, überhaupt so zu denken, oder man dabei einem Irrtum aufgesessen ist. In jedem Fall jedoch, gleich ob Handlung oder Gedanke, kann ein Fehler nur festgestellt werden, wenn es einen Beobachter gibt, der darüber entscheidet, ob es sich um eine richtige oder falsche Handlung, einen richtigen oder falschen Gedanken handelte. Ein solcher Beobachter können wir selber sein oder auch jemand anders. Erst aus der Beobachterperspektive heraus wird der Fehler zu einem Fehler.

Sonderbarerweise scheint der Fehler auch in der Sprache, die ja bekanntlich das menschliche Denken spiegelt, eine Sonderstellung zu haben - was wir schon daran sehen, dass es für den Fehler keinen vergleichbar prägnanten Gegenbegriff gibt.

Stimmt. Zu wissen, was falsch ist, ist leicht. Zu wissen, was richtig ist, schwer.

Können Tiere Fehler machen?

Nein, interessanterweise nicht. Wenn Tiere Fehler machen, rechnen wir sie nicht ihnen, sondern ihrer Umwelt zu. Tiere handeln immer richtig, können jedoch dabei Pech haben, weil sie nicht bemerkt haben, was sie auch gar nicht bemerken konnten. Fehler machen kann man nur im Reich der Freiheit. Die Tiere jedoch, so glauben wir zumindest, leben im Reich der Notwendigkeit. Um so interessanter wird es, wenn Tiere anfangen zu spielen. Denn damit unternehmen sie ihre ersten Schritte auf einem Terrain, auf dem man auch Fehler machen kann.

Aber warum sind nur die Menschen imstande, Fehler zu machen?

Menschen leben im Reich der Freiheit und entwickeln deshalb ein großes Interesse daran, ihr Verhalten wechselseitig zu kontrollieren. Nur wenn ich davon ausgehe, dass ich sowohl richtig als auch falsch handeln kann, kann ich auf die Idee kommen, auf andere zuzugehen und sie daraufhin zu beobachten und zu kontrollieren, ob sie etwas falsch oder richtig machen. Ohne Beobachtende gibt es auch keine Fehler.

Das erinnert ein bisschen an ein Koan, wie die unentwirrbaren Rätselfragen im Buddhismus genannt werden. Eines dieser Koans fragt: Macht ein umstürzender Baum im Wald auch dann Lärm, wenn niemand da ist, der dieses Geräusch hört?

(lacht) Wenn den Fehler niemand beobachtet, passiert er auch nicht.

Wohnt dem Fehler eine Art Intelligenz inne?

Aber ja. Fehler sind eine unbestechliche Quelle der Information über die Wirklichkeit, in der sie passieren und über die sie eine Aussage treffen, die hochgradig verlässlich ist. Natürlich kann ich mich dabei irren, wenn ich etwas für einen Fehler halte. Es kann ein Fehler sein, etwas als einen Fehler zu sehen. Aber das ändert nichts daran, dass ein Fehler, wenn ich ihn entsprechend einschätze, eine doppelte Information sowohl über die Wirklichkeit, in der er passiert, als auch über denjenigen, dem er unterläuft, enthält. Ich kann mir dann anschauen, warum dieser Fehler geschehen konnte. Anschließend weiß ich mehr über die Verhältnisse als vorher.

Der Fehler wird zum Botschafter?

Ja, und zwar als ein Botschafter aus mir bekannten oder unbekannten Wirklichkeiten. Die Lapsus Linguae zum Beispiel, von denen Sigmund Freud gesprochen hat, sind Fehler, die mich darüber informieren, dass mein Unbewusstes die Dinge anders sieht als mein Bewusstsein. Der Fehler ist eine Sprache, in der die Situation selbst spricht. Im Stil der Philosophie Martin Heideggers müssten wir eigentlich davon ausgehen, dass es nicht nur regnen, sondern auch "fehlern" kann. "Es fehlert" hieße dann, dass die Wirklichkeit einen entsprechend aufmerksamen Beobachter auffordert, noch einmal anders über sie nachzudenken.

Blöde Fehler gibt es demnach nicht.

Nein. Ein intelligenter Fehler ist ein Fehler, aus dem in der Situation etwas Intelligentes gemacht wird. Ein dummer Fehler ist ein Fehler, mit dem niemand etwas anfangen kann. Aber auch das kann ein interessanter Fehler sein, weil er zeigt, dass niemand auf ihn vorbereitet ist. An und für sich ist ein Fehler weder intelligent noch dumm. Alles hängt davon ab, wer was mit ihm machen kann.

Das ist die Relativitätstheorie des Fehlers, die Sie mal formuliert haben: Nur was schief gehen kann, kann auch gelingen.

Genau. Man braucht beide Seiten der Medaille. Es wäre ja sinnlos, von einem Gelingen zu sprechen, wenn es nicht auch misslingen könnte. Wenn etwas weder gelingen noch misslingen kann, ist es, wie es ist.

Unser Thema ist das Lob des Fehlers. Wodurch unterscheidet sich das Lob des Fehlers von einer Apologie, einer Verteidigung des Falschmachens?

Das Lob des Fehlers bezieht sich auf die Kunst des Lernens, um erfolgreich zu bleiben oder erfolgreich zu werden; eine Apologie des Falschmachens bezieht sich lediglich auf die Kunst der Sabotage, die Sand ins Getriebe streut.

Der Fehler ist also eine Art Spiegelreflex der grundsätzlichen Unvollkommenheit der menschlichen Befindlichkeit?

Wenn das Verhalten des Menschen genetisch programmiert wäre, der Traum des Funktionärs, könnte er keine Fehler machen. Tatsächlich ergibt sich das Verhalten des Menschen aus seiner genetischen Programmierung einerseits und aus seiner Interaktion mit seiner Umwelt andererseits. Er lernt, so hat das die Kybernetik dargestellt, weil das angesichts wechselnder Umwelten die erfolgreichere Form der Anpassung ist.

Was bedeutet das?

Dass er sich von seiner natürlichen, technischen und sozialen Umwelt instruieren, ja regelrecht trainieren lassen muss, so wie jeder Vater, sogar manche Mutter, erst von ihren Kindern dazu erzogen wird, zu begreifen, was es heißt, ein Kind zu erziehen. Die Umwelt bliebe jedoch stumm, wenn ich nicht merken würde, dass dies jetzt gepasst hat, dies jedoch ein Fehler war. Alles andere wäre das Paradies. Da kann ich nichts falsch machen, aber auch nichts richtig. Alles ist, was es ist, und ändert sich auch nicht. Jeder Fehler bietet uns die Chance, noch einmal anders anzufangen, vorausgesetzt, wir haben ihn überlebt. In dieser Funktion ist der Fehler gleichsam die humorlose Variante des Witzes.

Wie bitte?

Immanuel Kant hat einmal gesagt, das Lachen sei die plötzliche Verwandlung einer Erwartung in nichts. Wer einen Witz macht, eröffnet damit die Möglichkeit, eine Situation anders fortzusetzen, als sie sich entwickelt hat. Auf der Mikroebene des Verhaltens bricht der Witz mit der Tradition der Situation, wenn man so will. Funktional gesehen leistet der Fehler dasselbe. Er unterbricht ein bestimmtes Verhalten, zwingt zum Innehalten, fordert dazu auf, sich die Verhältnisse noch einmal anzuschauen, und ermöglicht es damit, anders weiterzumachen als bisher.

Sie erwähnten vorhin als eine Fehlerquelle die Angst. Nun werden aus der Angst aber nicht nur Fehler geboren, sondern auch Einsichten. Damit gibt es eine weitere Schnittstelle zum Fehler, den Sie ebenfalls als einen Erkenntnismotor beschreiben. Merkwürdigerweise leben wir in Deutschland in einem Land voller Ängste. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat neulich formuliert, unsere Gesellschaft habe das Gefühl, der Boden habe Risse bekommen. Zum Beleg veröffentlichte die Zeitung eine überbordende Liste mit den Namen der Angst.

Ja, wir leben in einer seltsam blockierten Gesellschaft.

Blockiert wodurch?

Durch sich selbst. Und dabei spielt die Angst eine große Rolle, und zwar eine doppelte Angst. Einerseits haben wir um all das Angst, was wir uns als unser Leben anzusehen gewöhnt haben. Und andererseits haben wir vor all dem Angst, was dann kommt, wenn wir ein anderes, jetzt unbekanntes Leben führen müssen. Die eine Angst spielt der anderen Angst wunderbar in die Hände. Und das Resultat ist die Blockade.

Aus Angst vor Niederlagen.

Wir leben, auch als Katholiken, in einem protestantischen Land. Das heißt, wir gehen davon aus, dass wir nur an unseren guten Werken ablesen können, ob wir eine Chance haben, der Gnade des Herrn teilhaftig zu werden oder nicht. Also fürchten wir um unsere bisherigen guten Werke beziehungsweise um das, was wir für gute Werke gehalten haben, und ahnen zugleich, dass es schwierig werden könnte, die bisherige Erfolgsschiene fortzusetzen.

Verstehe ich Sie richtig: Unser grassierender Erfolgsfetischismus ist demnach eine Art Streben nach Erlösung im Diesseits?

Ja, und hinzu kommt, dass wir nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in Ost und West sichergehen wollten, eine bessere Gesellschaft zustande bringen zu können. Wir haben uns in Deutschland darauf konzentriert, alles immer richtiger zu machen, was natürlich heißt, eine recht umfangreiche Palette an zu vermeidenden Fehlern immer mitzuführen und ängstlich im Auge zu behalten. Lange Zeit kam kaum jemand auf die Idee, dass die bessere Gesellschaft einen Konstruktionsfehler haben könnte.

Welchen meinen Sie?

Jenen, der darin liegt, dass der Versuch, alles immer besser zu machen, die Spielräume immer enger werden lässt. Das liegt schon daran, dass ich mich, um besser zu werden, ständig mit anderen vergleichen und vergleichen lassen muss. Damit jedoch werde ich den anderen immer ähnlicher. Die Gesellschaft verliert ihren Sinn für Verschiedenheit, Verschiedenheit des Verhaltens ebenso wie Verschiedenheit der Maßstäbe, mit denen ich ein Verhalten bewerte.

Woher rührt diese Angst vor der Verschiedenheit?

Es gibt interessanterweise keinen instabileren Zustand als den der Homogenität. Die kleinste Verschiedenheit genügt, um Panik auszulösen. Und natürlich kann ständig etwas passieren, was ein bisschen anders ist als das, was man bisher gewohnt war. Je weniger Verschiedenheit eine Gesellschaft erträgt, desto mehr Verschiedenheit fällt ihr unangenehm auf. Paradoxerweise mussten wir nach 1945 sagen, dass wir toleranter gegen die Verschiedenartigkeit werden mussten, in dieser Toleranz jedoch alle gleich sind und jeden gleich behandeln sollen. Diese Paradoxie haben wir nur bewältigt, indem wir alle gut wurden und das Böse hinter uns ließen. Vermutlich hat dies hierzulande ein zutiefst beschädigtes Selbstverständnis hervorgebracht.

Wie muss man das verstehen?

Derjenige, der darauf insistiert, dass er gut ist, weiß, dass die andere Seite des Guten das Böse ist. Das Gute ist durch das Böse informiert und motiviert. Nichts ist dem Bösen also näher als das Gute, das sich als sein Gegenteil denkt. Das ist wieder eine Paradoxie, das heißt eine Denkblockade, die interessanterweise durchaus nicht mit einer Handlungsblockade einhergehen muss. Im Gegenteil, wer sich, in einem strengen Sinne des Wortes, nicht denken kann, handelt um so unbekümmerter.

Aber das Selbstverständnis hinkt dann hinterher.

Zutreffend. Im Falle Deutschlands dachten wir uns in Ost und West als die bessere Gesellschaft, der das Nationalsozialistische nie wieder würde passieren können, und hinderten uns dadurch, weil wir alles bereits gelernt zu haben glaubten, daran, weiterhin aus unserem historischen Fehler zu lernen. Die Gemütslage der Nation spaltete sich in den einen Teil, der glaubte, alles bereits gelernt zu haben, und den anderen, der davon ausging, dass nichts gelernt worden ist.

Beide Seiten Nachkriegsdeutschlands verstanden sich als gut.

Und hinfort wurde nichts mehr gelernt, weil die einen das Lernen weit hinter sich glaubten und die anderen das Lernen noch in weiter Ferne. Damit verloren wir ein gut Teil unseres Augenmaßes in der Einschätzung je gegenwärtiger Verhältnisse und damit Verhaltensspielräume unterhalb der unentscheidbaren großen historischen Fragen.

Allerdings dürfte das Phänomen der Erfolgsorientierung wesentlich älter sein.

Erfolgsorientierung ist vermutlich ein Ergebnis des 19. Jahrhunderts, das heißt der Durchsetzung weitreichender gesellschaftlicher Organisationen in Militär, Politik und Wirtschaft. Volksarmeen, Demokratisierung und ihr Widerpart, die Bürokratie, sowie die Industrialisierung sind die Voraussetzungen dafür, dass Sie vielen Leuten, die es nicht mehr mit ihren hergebrachten Verhältnissen auf dem Lande, in Handwerksbetrieben, in den ritualisierten Konflikten des Adels zu tun haben, plötzlich sagen mussten, was falsch und was richtig ist.

Das Kriterium des Erfolgs brauchen Sie …

… ja erst dann, wenn dieser nicht gesichert ist und sich nicht von selbst einstellt. Sobald Sie das Verhalten von Leuten organisieren müssen, brauchen Sie eine Orientierung, um jene, die sich falsch verhalten, als erfolglos aussortieren zu können. Das gab es vorher nicht, so wichtig wiederum die Einübung dieses Verhaltens unter dem Vorzeichen der Religion und kirchlicher Verhaltensstandards auch gewesen sein mag.

Erfolgswahn ist im Grunde ein Ordnungswahn.

Es geht darum, die Bedingungen sicherzustellen, unter denen man mitmachen darf, dabei sein kann.

Wollen Sie uns sagen, Erfolg ist Ordnung, Misserfolg Unordnung?

Genau. Denn bei Erfolg ist klar, dass Sie weitermachen können, beim Misserfolg ist unklar, wie und ob Sie weitermachen können.

Das bedeutet letztlich, dass Angst und Fehler einander bedingen.

Zumindest gilt die Angst vor Fehlern als ein sicheres Gängelband des Verhaltens. Und das stimmt ja auch. Niemand von uns könnte sich in welcher Situation auch immer verhalten, wenn er nicht darauf achten würde, die Fehler zu vermeiden, die man in dieser Situation machen kann. Erfolgreiches Verhalten ist die Vermeidung fast begangener Fehler.

Was als Orientierungshilfe in der Wirklichkeit nicht ungünstig ist.

Ja. Nur kann dies sowohl elegant und unverkrampft als auch ängstlich und hölzern geschehen. Elegante Fehlervermeidung empfinden wir als souverän, ängstliche Fehlervermeidung als subaltern.

Was empfehlen Sie als Alternative?

Mir schwebt ein Verhalten vor, das im ständigen sozialen Austausch mit anderen zwischen Fehlern und Lerneffekten hin und her schwingt, ohne sich je bei dem Versuch, ein für alle Mal festzuhalten, was richtig ist, festzuhaken. Richtig ist nur das Verhalten, das sich an Fehlern orientiert, die man tatsächlich oder fast begangen hätte.

Ist richtiges Verhalten denn inhaltlich nicht besser zu bestimmen?

Nein, denn gleichgültig ob wir eine Treppe hinuntersteigen, ein Essen kochen, ein Unternehmen gründen oder uns miteinander unterhalten: Wir handeln, indem wir Fehler vermeiden, die wir fast gemacht hätten. Wenn man davon ausgeht, bekommt man einen Blick für die Natürlichkeit und Unauffälligkeit der Lerneffekte, die all unser Handeln begleitet. Und einen Blick für die Offenheit der Spielräume, mit denen wir es zu tun haben.

Im Grunde gilt es, so empfinde ich Ihre Analyse, der Eigendynamik des Chaos zu vertrauen.

Es gibt jedenfalls keinen Grund, nicht darauf zu vertrauen. Wenn wir uns von diesem Bürokratentraum verabschieden, bekommen wir es mit engagierten, lustvollen, überraschenden Verhältnissen zu tun, in denen Dinge passieren, mit denen niemand gerechnet hat. Das wären Verhältnisse, in denen wir wieder beginnen würden und beginnen könnten, uns Geschichten zu erzählen, die von etwas anderem handeln als den Absurditäten der Bürokratie und den individuellen Geschicklichkeiten, die man braucht, um in ihr zu überleben.

Im Grunde ist die Einführung der Fehlerfreundlichkeit doch die Renaissance des Menschen als Maßstab der Entscheidungen.

Selbstverständlich. Es geht darum, die Organisation und unsere Arbeit in ihr nicht mehr nur bürokratisch, sondern ökologisch zu reflektieren und zu kontrollieren. Das Interessante an der ökologischen Reflexion und Kontrolle ist, dass sie nur von uns Menschen geleistet werden kann.

Nur wenn wir die Fehler vermeiden, die wir fast gemacht hätten, lernen wir etwas. Das kann uns niemand abnehmen. Kein Gesetzgeber, kein Vorgesetzter, kein Gott. Meinen Sie es etwa so?

(lacht) Die Leistung des Christentums ist es doch, dass, seit Christus für uns am Kreuz gestorben ist, der entscheidende Punkt auf der Hand liegt: Niemand wird uns unsere Fehler abnehmen. Mit diesem Kreuzestod ist zugleich der Gesetzgeber gestorben. Die Wiederauferstehung macht dies nicht rückgängig, sondern sichtbar. Darunter leidet das fundamentalistische Christentum bis heute. Es geht einfach darum, den Sinnen zu trauen, die uns auf Fehler hinweisen, von denen wir bisher nichts wissen durften, weil keine Kommunikation bereitstand, mit deren Hilfe wir uns auf sie und ihre Vermeidung hätten verständigen können.

taz Bremen vom 24.5.2003

Links

nach oben


Hände heilen Mutter und Kind

Die Osteopathie vollbringt keine Wunder. Aber sie hilft dem Körper, sich selbst zu heilen. Die Behandlung wirkt sowohl bei Schwangeren als auch bei Kindern, deren Geburt problematisch verlaufen ist oder die Schwierigkeiten im Bewegungsapparat haben

Von Kaja / Hey

Jonathans Mutter ist beeindruckt. Ihr acht Monate alter Sohn konnte in bestimmten Positionen seine Hüfte nicht richtig bewegen, auch einen Arm vernachlässigte er. Seine rechte Seite war "irgendwie blockiert". Dem Rat der Physiotherapeutin und des Kinderarztes folgend, suchte die Mutter mit Jonathan einen Osteopathen auf. Der sah sich das Kind gründlich an und tastete es vorsichtig ab. "Dann machte er schwupp, schwupp, schwupp - und alles war in Ordnung", so die Mutter. Auf Nachfragen erläutert sie, dass der Osteopath einige Stellen am Körper sanft angefasst und - etwa am Hals - sehr kleine Drehbewegungen ausgeführt habe. Sonst nichts.

Zauberei? Nein. "Die Osteopathie hilft dem Körper nur, sich selbst zu helfen", sagt die Bremer Osteopathin Katharina Engemann. Das einzige Instrument der Therapeutin/des Therapeuten sind ihre/seine Hände. Mit ihnen fühlt er sich in den zu behandelnden Körper ein, spürt die Dynamik der Gewebe, die Schwachstellen und Blockierungen auf und gibt auch die Anregung zur Selbstheilung. Die Berührungen sind mitunter so sanft, dass der Patient sie kaum spürt. Zwischen den einzelnen Behandlungen lässt man dem Körper ausreichend Zeit, selbst wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Je weniger lange dieser Körper sich bislang mit dem Problem herumgeschlagen hat, umso leichter ist es natürlich, ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Gerade Babys und Kinder sprechen deshalb besonders gut auf die osteopathische Therapie an. Engemann hat ihre größten Erfolge bei "Kindern, die assymetrisch sind", sagt sie. Kinder also, die von Geburt an "schief" sind oder es in den Wochen nach der Geburt werden. Babys, die nur eine Seite benutzen, sich nur auf eine Seite drehen oder nur einen Arm wirklich benutzen. "Osteopathie", erklärt sie, "bedeutet eigentlich die ,Lehre vom Leiden der Knochen'. Aber es geht bei uns ums Bindegewebe". Durch sanftes Tasten und Dehnen werden Spannungen und Verhärtungen erspürt - auch wenn sie lange zurückliegen. Denn oft ist die Ursache für die Verspannungen die Geburt, bei der Kinderkopf und Schultern heftigen physikalischen Kräften ausgesetzt sind. Normalerweise, entknautscht' sich hinterher alles von selbst wieder. Funktioniert das nicht, kann es zu lang andauernden Störungen in allen möglichen Bereichen kommen. Störungen, die verschwinden und dann plötzlich wieder auftauchen. So behandelt Katharina Engemann zum Beispiel einen achtjährigen Jungen, den sie als Baby intensiver betreut hat, der aber auch jetzt noch einmal im Jahr zu ihr kommt. "Denn auch die Wachstumsprozesse verlaufen ja nicht immer symmetrisch".

Asymmetrien sind aber beileibe nicht das einzige Arbeitsfeld der Osteopathen. Behandelt wird auch bei Stillproblemen, Koliken oder bei den sogenannten Schreikindern.

Und dann sind da noch die Schwangeren. Auch hier können zahlreiche Beschwerden erträglicher gemacht oder ganz behoben werden. Gerade in der Schwangerschaft muss sich der Körper durch den permanent wachsenden Uterus ständig neu einrichten und alle Funktionen müssen sich an die Veränderungen anpassen. So können sich Fehlhaltungen und Verformungen der Wirbelsäule erst während der Schwangerschaft und mit der zunehmenden Last des Kindes bemerkbar machen - die Folge sind starke Schmerzen im Kreuz, Kopfweh oder schwere Beine. Umgekehrt kann es durch die veränderte Lage aller Organe im Bauchraum auch passieren, dass Rückenschmerzen in der Schwangerschaft plötzlich verschwinden.

Dabei ist das wohl wichtigste Prinzip der Osteopathie, dass der Körper im Grunde genommen die Fähigkeit hat, sich selbst zu heilen. Man muss ihm nur ein bisschen auf die Sprünge helfen. Treten an einer Stelle des Körpers Schmerzen auf, muss hier nicht zwingend die Ursache für das Leiden liegen. Oftmals sei es vielmehr so, sagt der Berliner Osteopath Thomas Hirth, dass "Bereiche, die Symptome verursachen, Überstunden leisten müssen für Bereiche, die erschöpft sind". Kommt es dann über längere Zeit zu Fehlbelastungen etwa bestimmter Teile der Wirbelsäule, können "sich Wirbel blockieren und bei Entlastung nicht mehr von allein den Rückweg zur normalen Funktion finden". Hier greift der Osteopath ein.

Die Anfänge der Osteopathie reichen bis ins vorletzte Jahrhundert zurück. Der amerikanische Arzt Andrew Taylor Still hat das Grundkonzept dieser Methode bereits 1874 vorgestellt. Seit Beginn des letzten Jahrhunderts entwickelte sich die Osteopathie vor allem in den USA, England, Frankreich und Belgien ständig weiter. Erst seit 1988 wird sie in Deutschland berufsbegleitend unterrichtet, seit 1995 gibt es einen eigenständigen Berufsverband. Der Verband führt auch eine Liste von Osteopathen, die über eine qualifizierte vierjährige Ausbildung verfügen. Die einzelnen Behandlungen dauern etwa eine Stunde und kosten durchschnittlich 40 bis etwa 70 Euro. In der Regel müssen die Kosten privat übernommen werden. Doch eine Nachfrage bei der Versicherung kann sich dennoch lohnen. Werden die Kosten für Heilpraktiker übernommen, kann meist auch der Osteopath über die Kasse abgerechnet werden.

Bei Babys und Kleinkindern reichen den Angaben zufolge oft schon zwei oder drei Behandlungen aus. Selbst in hartnäckigeren Fällen sollte nach drei bis vier Behandlungen eine Besserung eintreten. Wo nicht, müsse man nach anderen Ursachen suchen.

Der kleine Jonathan hat den Osteopathen bislang übrigens nicht wieder gesehen - und den rechten Arm benutzt er inzwischen ohne Probleme 

taz Bremen vom 24.05.2003

nach oben


Baby-Blues: Die Krise nach der Geburt

Nach den ersten Glücksmomenten mit dem neugeborenen Kind fallen viele Eltern in ein tiefes Loch. Die glücklichsten Menschen der Welt sind plötzlich traurig, ohne zu wissen, warum. Ob "Baby-Blues" oder postpartale Depression: bloß nicht darin verkriechen, sondern das Gespräch suchen

Von Eiken Bruhn

 Da liegt das kleine Wunder, das neun Monate lang sein Kommen angekündigt hat, endlich ist es da, gesund und so munter wie ein Säugling sein kann. Und alle denken - eingeschlossen die frischgebackenen Eltern selbst - jetzt müsse man die glücklichste Frau oder der glücklichste Mann auf der Welt sein. Doch der glücklichste Mensch der Welt liegt auf dem Bett und heult sich die Augen aus dem Kopf und ist traurig und erschöpft und weiß überhaupt nicht mehr, was los ist.

"Baby-Blues" heißt das Phänomen, das in der Regel in den ersten zehn Tagen nach der Geburt auftritt. "Das ist eine ganz normale Durchgangsphase, die fast alle erleben", sagt die Hebamme und Psychologin Kristin Adamaszek. "Wenn das große Ereignis vorüber ist, fallen viele in ein Loch - ganz ähnlich wie nach einer bestandenen Prüfung, auf die man sich wochenlang vorbereitet hat und die der Lebensinhalt war."

Das vorübergehende Stimmungstief kann neben häufigem Weinen und einer scheinbar grundlosen Traurigkeit auch zu Stimmungsschwankungen, Erschöpfungsgefühlen, Schlaf- und Ruhelosigkeit, sowie Ängstlichkeit und Konzentrationsschwierigkeiten führen. Symptome, die aber nicht nur für Frauen reserviert sind, deren Hormonhaushalt sich nach der Geburt radikal verändert. "Ich habe auch schon Väter erlebt, die nach der Geburt vor dem großen Fragezeichen stehen", sagt die Hebamme, die Frauen und Männer in solchen Situationen berät.

Wichtig sei in dieser Phase, sich die Traurigkeit einzugestehen und sich nicht von dem Anspruch verrückt machen zu lassen, die perfekte Mutter oder der perfekte Vater zu sein. "Viele denken dann, etwas sei mit ihnen verkehrt, und dadurch werden sie möglicherweise noch depressiver." Die Gefahr: Aus dem Baby-Blues entwickelt sich eine postpartale (auch "Wochenbett-") Depression, aus der manche Frau - oder auch mancher Mann - nicht mehr so leicht ohne professionelle Hilfe herausfindet. Zehn Prozent aller Mütter seien davon betroffen, sagt Adamaszek. In sehr seltenen Fällen komme es sogar zu einer Psychose. Der Verlauf des Kranheitsbildes hänge davon ab, wie stabil jemand ist oder ob es eine erbliche Veranlagung zu Depressionen gibt. Aber: "Das kann jeden treffen."

Die Symptome treten in der Regel im ersten Jahr nach der Geburt auf und ähneln denen des Baby-Blues. "Die Übergänge sind fließend", sagt Adamaszek. Viele merken aber erst, was mit ihnen los ist, wenn noch schwerere Störungen dazu kommen wie Schuldgefühle, ein inneres Leeregefühl, sexuelle Unlust, Panikattacken und sogar Suizidgedanken und ambivalente Gefühle dem Kind gegenüber bis hin zu psychosomatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel, Herzbeschwerden. Nicht immer sei die Depression aber so stark, dass eine Behandlung mit Medikamenten oder sogar ein Klinikaufenthalt notwendig wird. In jedem Fall sei es wichtig, die Gefühle ernst zu nehmen und darüber zu reden. Professionelle Hilfe bieten Hebammen, ÄrztInnen oder Beratungsstellen. "Man muss sich davon befreien, alles perfekt machen zu wollen und alleine zu schaffen." Die postpartale Depression habe viel damit zu tun, dass Mütter in unserer Kultur so viel mit dem Kind alleine gelassen werden. "Ein großes Problem ist die Einsamkeit", sagt die Hebamme, die fünf Jahre im Jemen gearbeitet und dort kennengelernt hat, wie die Frauen nach der Geburt aufgefangen werden. 40 Tage Schonfrist schreibe der Koran vor: "Die werden rund um die Uhr versorgt - aus gutem Grund wahrscheinlich."

Und noch etwas sei anders in der islamischen Kultur: Die Geburt eines Kindes - vor allem eines Sohnes - bedeute einen gesellschaftlichen Aufstieg der Frau. "Je älter und je mehr Kinder, desto besser", so Adamaszek. Bei uns sei gerade der Übergang in die nächste Generation, das Älterwerden, negativ besetzt. "Eine ältere Frau ist nicht so angesehen." Ein Grund zum Heulen.

taz Bremen vom 24.05.2003

nach oben


Eine "Hausgeburt" in der Klinik

Von Esther Brandau

Das Zentralkrankenhaus Bremen Nord lockt Schwangere mit einem Traum von Badewanne und häuslicher Atmosphäre. Hebammen haben im Kreißsaal aber nur so lange das Sagen, wie alles glatt läuft

taz Die Hebammen Julia Binek und Andrea Wendt gehören zu den alten Häsinnen in den Kreißsälen des Zentralkrankenhauses Bremen Nord. Ein entspannter Arbeitstag: nur aus einem der vier Kreißsäle dringen die geburtstypischen, markerschütternde Schreie.

Von einem lichtdurchfluteten, halbkreisförmigen Atrium führen Türen zu den vier Geburtsräumen. Von hier zweigt aber auch der Operationssaal ab, falls ein Kaiserschnitt notwendig wird. Und auch der Weg zur Sonnenterrasse führt durch das Atrium. Im Flur - er ist weder lang noch grade - steht eine gekachelte Wärmebank. In einem der Kreißsäle verführt die übergroße, herzförmige Badewanne in zartem Blau zum Baden - beim Anblick dieses Schmuckstücks beschließen etliche der Kreißsaaltouristinnen, die heute zur Besichtigung gekommen sind, ihr Baby genau hier, in dieser Wanne zur Welt zu bringen.

"Kreißsaaltouristinnen" nennen die Hebammen liebevoll die Besucherinnen, die sich regelmäßig jeden zweiten Dienstag am Abend auf der Station umschauen, bevor sie dort oder in einem anderen Krankenhaus gebären. "Wenn es ernst wird, bevorzugen die meisten Gebärenden dann aber doch die trockene Variante", weiß Hebamme Binek.

Seit den 80er-Jahren hat in vielen Kliniken allmählich ein Umdenken rund um die Geburt eingesetzt. Als "frauenfreundlich und familienorientiert" beschreibt sich die Geburtshilfe in Bremen Nord selbst. Der natürlichen Geburt soll in angenehmer Atmosphäre Raum gegeben und die Mutter-Kind-Bindung nach bestem Wissen gefördert werden, heißt es auch auf der Homepage.

Ein ,Alleinstellungsmerkmal', wie es die Werbebranche nennt, ist das allerdings längst nicht mehr. Alle Krankenhäuser in Bremen, die Sankt Jürgen-Klinik genauso wie das Gröpelinger Diako oder das Schwachauser St. Joseph Stift und alle anderen, haben längst Abschied genommen vom aseptischen Image von Hygiene und weißgefliesten Kreißsälen.

Ihre Hauptaufgabe sehen die Klinikhebammen Binek und Wendt darin, die Frauen in der Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse zu stärken. "Wenn es sein muss, auch gegen den Willen der Ärzte", stellt Binek klar. Um Geburtsschäden auszuschließen und sich vorzeitig abzusichern, würden manche Ärzte eher dazu neigen, in den natürlichen Geburtsverlauf verfrüht einzugreifen. Viele Hebammen vertreten dem entgegen die Ansicht, dass gerade das verfrühte Eingreifen häufig der Grund für auftretende Komplikationen sei. Also lieber doch eine Hausgeburt, bei der die Hebamme als Vertreterin der natürlichen Geburt ganz klar der Chef ist?

Diethard Neubüser, unter dessen Leitung die Frauenklinik in Bremen Nord 1988 eingeweiht wurde, lässt die "Hebammen an die Front, so lange die Geburt gut verläuft". Die Ärzte seien anwesend, würden sich aber zurückhalten. Von Hausgeburten rät er ab, da auch bei normalen Schwangerschaftsverläufen bei der Geburt überraschend Komplikationen auftreten könnten. Er lädt die Frauen stattdessen ein, die "Hausgeburt bei uns" stattfinden zu lassen.

Für den Fall, dass doch mal etwas schief geht bei der Geburt, hat die Frauenklinik im Krankenhaus Bremen Nord einen klaren Vorteil: Sie ist in unmittelbarer Nähe von Kreißsaal, Wöchnerinnenstation und Kinderklinik. Mutter und Kind können so auch zusammenbleiben, wenn eine medizinische Betreuung des Säuglings notwendig wird.

taz Bremen vom 24.5.2003

nach oben


"Dabei sein ist alles" - und Waschlappen auflegen hilft

Was tun, wenn... Väter, die dabei waren, geben bei einer nicht repräsentativen Umfrage der taz handfeste Tipps und wohl-, nicht immer ernstgemeinte Ratschläge

Von Esther Brandau

Falls Sie durch die nächtliche Aussage Ihrer Frau: "es tropft, es tropft" geweckt werden sollten, denken Sie nicht an den undichten Wasserhahn - es könnte die Fruchtblase sein.

Was ist zu tun? "Ruhe bewahren!", sei das wichtigste, meint der Polizeibeamte Mark Werner. Bevor Sie mit Ihrer Frau panisch ins Krankenhaus stürzen oder Hebammen verrückt machen, sollten Sie sich kompetenten Rat am Telefon holen. Mathematischer Verstand sei erforderlich: Messen Sie die Zeit der Wehenabstände. Wenn die Pausen kürzer werden, wird's ernst.

Alle, die mit dem Auto zum Krankenhaus fahren, sollten das Fahrzeug rund um den Geburtstermin im Auge haben. "Achten Sie darauf", so Jens Pfeiffer, "dass der Wagen fahrtüchtig, vollgetankt und nicht eingeparkt ist."

Was soll man mitnehmen? Viele der Befragten empfahlen, ein Pausenbrot für den Kreissaal einzustecken. Schließlich kann die Geburt ,unter Umständen' ganz schön lang dauern, und da sollte Mann bei Kräften bleiben.

Ihre Frau schreit, jammert, kratzt, beißt, beleidigt Sie mit unfeinen Ausdrücken und haut Ihnen die ausgesuchten Geburts-CDs um die Ohren? Sie erkennen Sie nicht wieder und sind zutiefst verunsichert. "Nehmen Sie es nicht persönlich!", so Christian Bohdal. Das Gefühl, nutzlos zu sein, "nur dumm rumzustehen" beschleicht viele der befragten Väter. Werner empfiehlt, sich "kleine Aufgaben zu suchen - wie das Auflegen von kalten Waschlappen auf die Stirn".

Sie tragen hoffentlich keine helle Kleidung, denn "die Flecken gehen nie mehr raus", weiß Ruprecht Hermann.

"Helfen Sie beim drücken", rät der forsche Sven Sette. Oft sei die Frau mit ihrer Kraft am Ende, wenn die Presswehen einsetzen. Mit den flachen Händen auf dem Bauch kann auch er ein bisschen mitpressen. Sette: Unterstützen sie auch gegenüber dem Krankenhauspersonal. Ihre Frau will eine PDA (Rückenmarksnarkose)? Geben sie den Wunsch weiter. Oft hat die werdende Mutter nicht mehr die Power, ihre Anliegen durchzusetzen.

"Schau dem Kind in die Augen und bestehe darauf, die Nabelschnur zu durchschneiden!" Die Aufgabe des Vaters sei es, eine zu starke Mutter-Kind-Bindung zu begrenzen, behauptet Bohdal. Wenn Frau und Kind gut versorgt sind, sei es Zeit für ein Bier.

Reinhold Schäfer, Spezial-Coach für Männer, ermutigt Männer, die sich entscheiden, nicht dabei zu sein. "Sie müssen nicht Held spielen!" Durch moderne Initiationsrituale wie eine viertägige Fastenwanderung durch die Wüste könne Mann "eine ähnliche Grenzerfahrung machen und sich so "der Frau ebenbürtig fühlen". 

taz Bremen vom 24.05.2003

nach oben


Babysprechstunde

Wohin mit den Schreihälsen?

Von Hey/Kaja

Es gibt Kinder, die auffallend viel schreien. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Doch ganz gleich, ob die Kleinen unter Blähungen leiden, Saugprobleme haben oder unruhig schlafen, ob die Wirbelsäule blockiert ist oder sie nicht genügend Schlaf bekommen - früher oder später sind auch die geduldigsten Eltern meist überfordert. Doch es gibt Hilfe für die kleinen Schreihälse, schnelle sogar. In Bremen gibt es mehrere "Schreiambulanzen", in denen die Vielschreier vorgestellt werden können. Während man beim Osteopathen/bei der Osteopathin unter Umständen lange auf einen Termin warten muss, muss man in der Kinderklinik des St. Jürgen-Krankenhaus oder der Schreiambulanz in der Parkstraße zwar auch Termine verabreden, das aber sehr kurzfristig.

Der Begriff "Osteopath" ist in Deutschland nicht geschützt. Der Verband der Osteopathen überprüft die Fortbildung seiner Mitglieder und führt außerdem eine nach Postleitzahlen sortierte Therapeutenliste. Sie ist unter http://www.osteopathie.de/  abrufbar oder ist erhältlich beim Verband der Osteopathen Deutschland e.V. (VOD), Untere Albrechtstraße 5, 65185 Wiesbaden, 0611- 910 36 61. Eine weitere Liste findet man unter http://www.osteopathie.com/ , deren Therapeuten gleichermaßen ausgebildet sind, sich dem Berufsverband aber nicht angeschlossen haben.

Auch im Branchenbuch findet man entsprechende Therapeuten unter dem Stichwort "Osteopathie"

Schreiambulanz in der Parkstraße 50; 349 1236
Schreiambulanz in der St. Jürgen Klinik 497-0, Dr. Thomas Schulz oder Dr. Juliane Klostermann

taz Bremen vom 24.05.2003

nach oben


Schreiende Babys - hilflose Eltern

Spezielle Therapeuten zeigen Müttern und Vätern, wie sie selbst und ihre Kinder zur Ruhe kommen

Von Sabine Doll

Wenn ein Baby schreit, gibt es meist einen klaren Grund: Es hat Hunger oder Durst, die Windel ist nass, es hat Schmerzen oder ist einfach müde. Solche Schreiattacken lassen sich in der Regel recht schnell abstellen. Bei manchen Babys ist das anders: Sie lassen sich durch nichts beruhigen und weinen so ausdauernd, dass die Eltern oft nicht mehr weiter wissen. Professionelle Hilfe bieten spezielle Therapeuten und Schreiambulanzen an. Max brüllte was das Zeug hielt. Nachts, tagsüber - stundenlang erfüllte sein Babygegeschrei die Wohnung.

Stillen, schaukeln, wiegen, füttern, singen - mit nichts konnte Andrea Förster ihren acht Wochen alten Sohn beruhigen. "Ich kannte mein Kind in dieser Zeit nur mit zusammengekniffenen Augen, puterrotem Kopf und wie es mit Armen und Beinen wild durch die Gegend ruderte", erinnert sich die 33-Jährige. Max ist ein so genanntes Schrei-Baby. Experten schätzen, dass in Deutschland jedes siebte bis zehnte Kind betroffen ist, also deutlich mehr weint und brüllt als andere Babys. Mütter und Väter dieser Kinder sind ratlos, weil sie nicht wissen, was mit ihrem Nachwuchs los ist und sie ihm offenbar nicht helfen können.

Durchwachte Nächte, ständige Sorge, Selbstzweifel, aber auch Scham plagen sie. "’Was habe ich falsch gemacht? Warum passiert das gerade mir?’ Diese Fragen stellen die Mütter und Väter als erstes, wenn sie in die Schreiambulanz kommen. Sie sind komplett erschöpft, voller Schuldgefühle und fühlen sich oft als totale Versager", beschreibt der Psychologe Thomas Harms. Vor neun Jahren gründete er mit dem Zentrum für primäre Prävention und Körperpsychotherapie (ZEPP) die erste Schreiambulanz in Bremen und hat seitdem dutzende Babys schreien gehört. "Früher ging man davon aus, dass Verdauungsprobleme die Ursache für das Schreien sind. Doch bei Untersuchungen konnte sich der Verdacht ’Drei-Monats-Kolik’ meist nicht bestätigen", so Harms.

Experten zufolge tut die Mehrheit der Schreihälse ohne organisches Leiden ihren Unmut kund. Präzise Ursachen lassen sich meist nicht feststellen, vielmehr übertragen sich Stress und widrige Umstände auf das Baby.Eine Einschätzung, die auch der Kinderarzt Thomas Schulz teilt: "Auf jeden Fall muss ausgeschlossen werden, dass ein organisches Leiden der Grund ist; das ist aber nur bei einem bis zwei Prozent der Fall." Der Kinder- und Jugendpsychiater kümmert sich an der Prof.-Hess-Kinderklinik in Bremen um unruhige Babys und ihre Eltern. Den Ausdruck Schreibaby versucht er dabei zu vermeiden.

"Dieser Begriff bezieht sich auf die so genannte Dreier-Regel, mit der man versucht hat, diese Babys zu klassifizieren." Sie lautet: Wenn ein Kind mindestens drei Stunden täglich, an mindestens drei Tagen in der Woche, mehr als drei Wochen lang schreit - dann erfüllt es den Tatbestand eines Schreibabys. Schulz: "Uns interessiert vielmehr, wie intensiv und belastend die Eltern das Schreien empfinden, in welchen Situationen es auftritt und wie die Eltern damit umgehen." Max war ein Wunschkind. Sobald er auf der Welt war, schwirrte Andrea Förster jede Minute besorgt um ihren Sohn herum. Irgendwann begann er dann fast ohne Unterlass zu schreien. Nächtelang bekamen Mutter und Sohn die Augen kaum zu. Andrea Förster weiß heute, dass sie mit ihrer ängstlichen Überfürsorge bei Max Schreireaktionen ausgelöst hat und dass er dadurch zu wenig Schlaf bekommen hat. Herumtragen, Tee geben, füttern, spielen, wickeln, ablenken - das volle Programm machte Max immer müder und er schrie umso mehr. Thomas Harms: "Hinzu kommt die Anspannung der Eltern, die sich mit jedem Schreien noch aufschaukelt." Der Psychologe hat einen Teil seines Therapieprogramms "Emotionelle Erste Hilfe" genannt.

Ziel ist zum einen, "emotionale Blockierungen des Babys zu lösen, die durch traumatisierende Ereignisse während und nach der Geburt hervorgerufen wurden", so Harms. Das seien zum Beispiel schwierige Geburten oder auch emotionale Krisen der Mutter während der Schwangerschaft, die sich auf das Kind übertragen haben. Die Trennung vom Vater des Kindes, der Verlust eines Angehörigen, große Sorge um das Baby, aber auch Angst vor der Geburt und post-natale Depressionen seien Auslöser für solche Krisen. Der zweite Schritt sei, den Eltern zu zeigen, wie sie in den Krisensituationen ruhig bleiben können. Harms: "Entspannungs- und Atemtechniken gehören dazu." "Man muss den Müttern und Vätern das Gefühl nehmen, sie seien schlechte Eltern.

Das stimmt natürlich nicht. Der gemeinsame Start mit dem Baby ist aus verschiedenen Gründen schwieriger und belastet. Hinzu kommt, dass manche Babys länger brauchen, um in die Welt zu finden und dabei deutlich mehr Hilfestellung benötigen. Das Problem liegt in der Feinabstimmung, Eltern und Baby haben noch nicht richtig zueinander gefunden und dabei werden die Signale des Babys oft missverstanden", weiß Thomas Schulz. Damit Baby und Eltern zueinander finden, schauen sich die Therapeuten vor allem an, wie die Väter und Mütter in den Krisensituationen mit den Kindern umgehen.

Das geschieht zum Beispiel per Videoaufnahme oder Schrei-Tagebuch. "Streicheln kann zum Beispiel helfen, das Baby zu beruhigen. Dazu müssen die Eltern aber ihre eigene Anspannung ablegen. Oft kommen auch ganz praktische Dinge hinzu, denn manche Mütter sind schlicht überlastet und brauchen die Möglichkeit, ein Mal am Tag auch ohne Baby ihren Bedürfnissen nachzugehen", sagt Schulz. "Das muss man organisieren." Nach Einschätzung der Therapeuten reichen meist schon wenige Stunden aus, damit Mütter, Väter und Baby zur Ruhe kommen. Schulz: "Die erste Entspannung setzt schon dann ein, wenn die Eltern wissen, sie sind nicht die einzigen und es gibt Hilfe."

Weser Kurier vom 16.06.2006

nach oben


Chefsache Muttermilch

Die "Freien Stillgruppen" geben Infos zum Stillen am Arbeitsplatz heraus

Tipps zum Thema "Stillen bei Erwerbstätigkeit" gibt die Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen (AFS) in dem Infoblatt gleichen Namens, das ab sofort dort bestellt werden kann. Praktische Hinweise zum Stillen sind dort ebenso enthalten wie die vom Mutterschutzgesetz garantierten Stillzeiten.

Nach den neuesten Daten gebe es immer mehr Frauen, die schon früh nach der Geburt wieder ins Berufsleben einstiegen. Laut Stillgruppen bringt eine Absprache mit dem Arbeitgeber nicht nur viel für die Gesundheit von Mutter und Kind, die dank des Stillens weniger oft erkranken. "Die Arbeitgeber erhöhen mit der Anerkennung des Bedarfs an Stillzeiten auch die Zufriedenheit, die Betriebsbindung und die Produktivität der Mitarbeiterinnen." Nicht stillende Mütter müssten zudem häufiger der Arbeit fernbleiben, da ihre Kinder öfter und schwerer erkrankten. " hey

Das Faltblatt "Stillen bei Erwerbstätigkeit" ist bei der AFS, Rüngsdorfer Straße 17, 53173 Bad Godesberg oder unter http://www.afs-stillen.de/ erhältlich. Informationen zu offenen Stilltreffen in Bremen sowie telefonische Stillberatung bei Utta Reich-Schottky, 0421/27 34 01

taz Bremen vom 24.5.2003

nach oben


Warentest zu Spielzeug

Die Stiftung Warentest hat rund 50 Spielzeuge in der Preiskategorie von einem bis 19,50 Euro auf Sicherheit und Schadstoffe hin geprüft. Die allermeisten Spielzeuge bergen, so das Ergebnis, "keine unmittelbaren Gefahren". Getestet wurden typische Spielzeuge für Kleinkinder wie Kuschelpuppen, Holzfiguren oder Badespaßtiere. Bei der Schadstoffanalyse wurde unter anderem auf Formaldehyd, Holzschutzmittel und giftige Schwermetalle geachtet. Alle Detailinformationen finden sich im neuen Testheft, das im Infozentrum der Verbraucherzentrale erworben werden kann. Außerdem können dort in der Infothek aktuelle Warentests zu einer Vielzahl von Produkten und Dienstleistungen eingesehen werden

taz Bremen vom 24.5.2003

nach oben


Auch Hebammen haben Geburtstag

Zwanzig Jahre schon gibt es den Hebammenlandesverband Bremen e.V., der im Mai sein Jubiläum feiert. Seit der Gründung habe sich der Verband unter anderem für die Wiederbelebung der Hausgeburtshilfe eingesetzt. Zahlreiche bundesweite Kongresse, auch zum Thema Stillen, seien zudem veranstaltet worden

taz Bremen vom 24.5.2003

nach oben


Blähungen bei Babys

Damit gestresste Eltern wieder ruhiger schlafen können: Einfache Abhilfe gegen zu viel geschluckte Luft

Viele Eltern sind verzweifelt, wenn ihr Neugeborenes schreiend unter Blähungen leidet. Ursache der Qual sind meist das Schlucken von Luft beim Trinken oder die Bildung von Gärgasen bei der Verdauung. Mit einfachen Tricks kann das Problem jedoch gelindert werden.

So darf das Loch im Flaschensauger nicht zu groß sein, wie die Bundesvereinigung der Apothekerverbände betont. Bei umgedrehter Flasche dürfe pro Sekunde nicht mehr als ein Tropfen kommen. Auch sollte der Sauger stets mit Milch gefüllt sein, damit keine Luft eingesaugt werde.

Beim Auflösen von Milchpulver dürfe sich kein übermäßiger Schaum bilden. Nicht vergessen werden sollte auch das regelmäßige "Bäuerchen". Die Entstehung von Gärgasen könne vermieden werden, wenn das Baby beim Stillen erst eine Brust ganz leer trinke. Werde das Kind dagegen kurzzeitig an beiden Brüsten angelegt, nehme es zu viel Milchzucker auf, der von den Darmbakterien unter Gasbildung abgebaut werde.

Wenn Eltern beobachten, dass Babys bei bestimmten Lebensmitteln verstärkt Blähungen bekommen, sollte auf diese Nahrungsmittel verzichtet werden. Fenchel-, Kamillen- oder Beruhigungstees können entkrampfend wirken. Nicht zuletzt hilft es, wenn das Kind bäuchlings getragen wird.

taz Bremen vom 24.5.2003

nach oben


Wunschkinder nur für Besserverdienende?

Künstliche Befruchtung soll nicht mehr von den Kassen bezahlt werden.

Die Bundesregierung plant, die künstliche Befruchtung aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen zu streichen. Gegen diese Pläne regt sich nun Protest.

"Wer kann sich schon mehrmals Behandlungskosten von 2.500 Euro leisten?", kritisiert Georg Ehrmann von ,Deutsche Kinderhilfe Direkt' . "Kinderlosigkeit ist keine Krankheit", argumentiert dagegen Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). "Es ist gut und richtig, wenn die gesetzlichen Kassen das nicht mehr bezahlen müssen. Vielleicht ist es ja künftig ein Geschäftsfeld für private Krankenversicherungen oder Zusatzpolicen."

"Künstliche Befruchtung ist eine familienpolitische Leistung, die vom Steuerzahler getragen werden sollte", sagt auch Doris Pfeiffer vom Verband der Angestellten-Krankenkassen. Der Schwarze Peter würde von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zu Finanzminister Hans Eichel (beide SPD) wandern. Laut AOK gaben die gesetzlichen Krankenkassen 142,5 Millionen Euro (2001) für künstliche Befruchtungen aus - davon allein 75 Millionen Euro für Hormone.

taz Bremen vom 24.05.2003

nach oben


"Aus dem Leben herauskatapultiert"

Für junge Mütter bricht mit dem Tod des Partners die Perspektive weg

Von Frauke Fischer

Johanna war im dritten Monat schwanger, als sie und ihr Mann die Diagnose erfuhren: Er hatte Krebs. Die Geburt der Tochter erlebte er schon nicht mehr. "Seine Krankheit dauerte so lange wie die Schwangerschaft", beschreibt Johanna das Nebeneinander von Leben und Tod, von Angst, Verzweiflung, Hoffnung, Wut und Trauer, das sie ausgehalten hat.

Da ist alles auf Wachstum und Entwicklung ausgerichtet, auf Zusammensein. Für den Tod ist eigentlich noch kein Platz. Wenn wir alt sind... später... Er kommt trotzdem. Und mit ihm all jene Erfahrungen, die Johanna mit anderen Menschen teilt, die ihre Partner so früh verlieren, die plötzlich allein mit kleinen Kindern sind und gar nicht wissen, wie die Zukunft nun noch aussehen soll. Ob es überhaupt eine gibt.

"Ich habe immer nur den einen Tag gesehen, die ganze Vergangenheit war weggebrochen", erzählt Christiane über die Tage, Wochen und Monate zwischen der Krebsdiagnose ihres Mannes und seinem Tod. Das Haus gerade gebaut, die Familie wuchs, das zweite Kind war ja unterwegs - "der ganze Lebensplan war plötzlich weg", sagt sie. Dass die Kraft ausreichte, ihren Mann durch die Abfolge von Krankenhausaufenthalten, Operationen und neuen Hoffnungen bis zur endgültigen Gewissheit zu begleiten, verwundert sie selbst. Immerhin war da noch der dreijährige Sohn, dem sie gleichzeitig eine ausgeglichene Mutter sein wollte, der eigene Job - und das Ungeborene in ihrem Bauch. Sie musste organisieren, stärken, trösten, hoffen und fürchten.

"Diese Angst manche Nacht, wenn am nächsten Tag ein neuer Befund, eine Chemotherapie oder Operation anstand. Du liegst stundenlang und kannst dich nicht rühren", erinnert sich Christiane. "Da werden ganz andere Kräfte frei gesetzt", glaubt Johanna im Nachhinein. Sie selbst fühlte sich "wie herauskatapultiert aus dem Leben. Wir haben gedacht, das muss doch ein Irrtum sein." Doch die beiden Bremerinnen mussten erkennen: Der Tod nimmt keine Rücksicht auf Wünsche und Sehnsüchte, auf Ängste und Zukunftssorgen, auf Liebe und Glück. "Mitten im Leben... Das ist ja nicht wie bei einem alten Indianer, der in die ewigen Jagdgründe geht", meint Johanna. Überall versuchte sie, Hilfe zu finden, Therapien, die das Leben ihres Mannes retten könnten. Als nichts mehr half und er die letzten Tage in einem Einzelzimmer im Krankenhaus zubrachte, war sie jeden Tag bei ihm. Auch als er starb, als er in ihrem Arm ausatmete, die Hand auf ihrem Bauch. Und dann nicht mehr einatmete.

Eine Pastorin, eine Psychologin und ein Pfleger saßen im Raum. Sie schützten und stärkten das Paar, sprachen und drängten aber nicht. Und Johanna ist heute sicher: "Dass sie einfach nur da waren, ist ein Glücksfall." Christiane erinnert sich an die letzte Zeit ihres Mannes auf der Palliativstation. "Dort haben wir richtige Menschlichkeit erfahren. Ich war so erleichtert, dass jemand unsere Geschichte aushält." Trösten nämlich, wissen die beiden Witwen, kann niemand. Was gibt es auch zu sagen? Welche Erklärung könnte Kraft geben?

In der Zeit nach dem Tod, als das Leben weitergehen sollte, mussten Babies gestillt, Behördengänge erledigt, Formulare abgearbeitet und alles neu organisiert werden. Für Christiane eine furchtbare Erfahrung, "aber die Wochen vor dem Tod waren noch viel furchtbarer", sagt sie und ist froh, dass sie ihren Arbeitsplatz behalten hat. Chef und Kollegen hätten viel Verständnis gezeigt.

Erst jetzt lesen Johanna und Christiane Bücher über Tod und Trauer, um das Erlebte aufzuarbeiten. "Vorher habe ich keine Sekunde über die Zeit danach nachgedacht", erzählt Johanna. Jetzt aber liegt Christiane nachts wach, hat Schweißausbrüche bei der Vorstellung, selbst sterben zu müssen. "Was wird dann mit den Kindern?"

Der Austausch mit anderen Frauen mit ähnlichem Schicksal hilft den Trauernden. Regelmäßig treffen sie sich mit der Familienhebamme Christiane Knoop (siehe unten), die ihren Schwerpunkt auf die Arbeit mit jungen Witwen gelegt hat.

Für Johanna steht dabei fest: "Wenn man sich nah ran traut, ist auch etwas möglich." Der Tod ihres Mannes gehört zu ihrem Leben, auch zu dem der Kinder, die über ihren Vater etwas wissen sollen. Die große, offene Wunde, der Schmerz über den Verlust bleiben, aber Johanna spricht gern über ihren Mann. Dadurch bleibt er ein Teil ihres Lebens, sagt sie. Christiane geht oft mit den Kindern zum Friedhof. Wenn sie auch weinen muss bei all den Erinnerungen an Schmerzen und Verzweiflung, so will sie das Thema doch nicht aussparen. "Das ist nichts Fremdes, sondern Teil von uns geworden und wird es immer bleiben."

Weser Kurier vom 24.01.2005

nach oben


Das unfassbare Leid mit aushalten

Familienhebamme Christiane Knoop kümmert sich um junge Witwen mit Kleinkindern

Von Frauke Fischer

Wenn Christiane Knoop einmal in der Woche mit "ihren" jungen Müttern zusammenkommt, muss sie häufig große Traurigkeit und Tränen aushalten. Doch dazu hat sich die langjährige Familienhebamme entschieden. Seit gut einem Jahr betreut sie Frauen, die ihre Partner verloren haben - eine besondere Aufgabe, zu der auch gehört, "sich selbst aussetzen mögen, sich solchen Ängsten und Verletzungen stellen." Beim Umgang mit den starken Emotionen, Verzweiflung, Wut und Ausweglosigkeit hilft der Familienhebamme vom Gesundheitsamt in der Horner Straße ihre Spezialisierung. Vor knapp zehn Jahren nämlich machte sie eine Ausbildung als Trauerbegleiterin bei dem Griechen Jorgos Kanakakis. Der frühere Opernsänger studierte nach eigenem Schicksalsschlag Psychologie und entwickelte eine besondere Form des Umgangs mit Trauer. "Ich bin durch die unzulängliche Versorgung auf die Spezialisierung gekommen", erzählt Christiane Knoop, doch sie hatte damals eher verwaiste Mütter nach Totgeburten oder plötzlichem Kindstod, deren Ängste auch bei späteren Schwangerschaften vor Augen. In Vorbereitungsgruppen mit unbeschwerten Erstgebärenden, spürte Christiane Knoop, gingen solche Frauen unter. Die Familienhebamme, selbst Mutter von zwei inzwischen fast erwachsenen Söhnen, wollte mit individueller Ansprache helfen. Auch in die Ausbildung der Hebammen wurde die Trauerbegleitung aufgenommen. Vor einem Jahr dann kreuzten sich Christiane Knoops Wege mit denen junger Frauen, die noch ganz andere Ängste aushalten müssen. "Plötzlich waren sie da", erinnert sich die 51-Jährige an die Frauen mit ganz verschiedenen Lebensgeschichten, ihre unbegreiflichen Verletzungen, die sie während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt ihrer Kinder durch den Tod ihres Partners verkraften mussten." Da kann man nicht trösten, nur da sein und aushalten", umschreibt Christiane Knoop das unfassbare Leid, für das es keinen Trost, keine Erklärung gibt. "Und das in einer Lebensphase, in der alles auf Wachstum ausgerichtet ist. Richtig anzubieten gibt es nichts, wegreden, wegnehmen geht nicht, aber da sein." Ein Buchtitel von Jorgos Kanakakis drückt für Christiane Knoop aus, was sie den Frauen bei den wöchentlichen Treffen bedeuten will: "Ich sehe deine Tränen." Die biografischen Hintergründe der Frauen im Alter zwischen 30 und 40 sind unterschiedlich, ihr Schicksal aber verbindet sie. Alle haben sie ihre Partner verloren; und das, als die Kinder ganz klein waren, als Leben zu wachsen begann und der Blick eigentlich nur nach vorn gerichtet war. "Wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel" - für Christiane Knoop passt die Redewendung in diesem Zusammenhang genau. Was sie neben allen Emotionen erlebt, sind auch die wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten neben den klassischen Belastungen als junge Mütter. Oft war der Partner der Familienernährer, das gerade gekaufte Haus, die Wohnung mit Krediten belastet, die Frauen wegen der Kinder zu Hause. Dann drohen Umzug und finanzielle Not, Behördengänge müssten gemacht werden. Und dabei reicht die Kraft vielleicht gerade einmal zum Aufstehen. "Eigentlich müsste um diese Frauen ein Schutzzaun gezogen werden, damit sie trauern können, aber das ist nicht so", spricht die Familienhebamme die harte Wirklichkeit an, die den Betroffenen keine Zeit gibt. Dabei sei ein Umzug gerade für die Kinder sehr schwierig. "Sie sind ohnehin verunsichert und brauchen das bisschen Rückhalt in der gewohnten Umgebung dringend." Wenn die Witwen es möchten, geht Christiane Knoop mit zum Sozialamt, setzt sich mit Behörden auseinander oder hilft dabei, Kuranträge zu stellen. "Da kann man so viel geben. Das ist Arbeit an der Basis für die Kinder", sieht sie ihre ganzheitliche Aufgabe. Und wenn sie bei den Gruppentreffen strukturiert, auch mal stoppt und umlenkt in Malarbeit und Meditation, weiß sie, dass ihr eigener Abstand wichtig ist: "In einem aufgewühlten Meer mit lauter Schiffen, die zu kentern drohen, muss es einen Leuchtturm geben."

Weser Kurier vom 24.01.2005

 nach oben

 onmousedown="ET_Event.link('Link%20auf%20www.gaebler.info',