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Presseartikel zu dem Buch von Ute Scheub
"Das falsche Leben - Eine Vatersuche"

Inhalt

Auszug aus "Das falsche Leben - Eine Vatersuche"


Ekel, Scham, Schuldgefühl

Ute Scheub: "Das falsche Leben - Eine Vatersuche"

Von Elke Nicolini

35 Jahre musste Ute Scheub vergehen lassen, bevor sie sich der SS-Vergangenheit ihres Vaters zuwenden konnte. "Das falsche Leben - eine Vatersuche" ist eine späte Aufarbeitung, durch die Arbeit am Buch weicht bei der Autorin der Hass auf den Vater. Scheub und dem Leser wird klar, wie es passieren kann, dass so einer sich in die Gemeinschaft - selbst in die schlechteste - flüchtet.

Ein Mann steht am Rednerpult, spricht wirr, verhaspelt sich, klagt die Kirche an, bedauert verloren gegangene Kriegskameradschaft. Dann ganz klar: "Ich werde jetzt provokativ und grüße die Kameraden von der SS." Er schluckt Zyankali und stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Dies geschieht 1969 auf dem Kirchentag in Stuttgart. Günter Grass hat zuvor aus einem Roman gelesen und sich gegen ritualisierten politischen Protest gewandt. Die Medienresonanz auf diesen Selbstmord ist gewaltig und auch Günter Grass widmet dem Mann einige Seiten in seinem "Tagebuch einer Schnecke". Es handelt sich um den Apotheker Manfred Augst, der Frau und vier Kinder hinterlassen hat. Seine Tochter Ute Scheub ist zu der Zeit 13 Jahre alt. Von der SS-Vergangenheit des Vaters hat sie nichts gewusst. Sie schreibt in ihrem Buch:

"Ekel, Scham, Schuldgefühl. Wenn ich mich gerade nicht ekelte, dann schämte ich mich, und wenn ich mich nicht schämte, fühlte ich mich schuldig. Ich schämte mich für meinen unmöglichen Vater und seine braunen Kameraden und vor allem für mich selbst. Wie konnte ich mich bloß so freuen über seinen Tod? Ich war ein Tochterschwein, eine Schweinetochter. Bald würde mir ein rosa Ringelschwanz wachsen."

In diesen Sätzen des Buchs offenbart sich der Kern des Konflikts. Die Autorin, die verschiedene Bücher veröffentlicht hat und zu den Gründungsmitgliedern der Tageszeitung taz gehört, musste 35 Jahre vergehen lassen, bevor sie sich ihrem Vater und dieser späten Aufarbeitung zuwenden kann. Einem Vater, der sie als Kind hat spüren lassen, dass er weibliche Wesen für minderwertig hält, der kalt und unzugänglich war und offensichtlich nicht aus seiner Haut heraus konnte.

Als Initialzündung wirkt der zufällige Fund eines Abschiedsbriefs Manfred Augsts. Und während sie all die weiteren Dokumente und Aufzeichnungen von ihm sichtet, die sich im Hause finden und sie mit der historischen Forschung vergleicht, sieht sie sich mit unzähligen Fragen konfrontiert. Was sind das für Sonderkommandierungen, von denen Augst in Feldpostbriefen an die Familie schreibt, sie aber nicht weiter erläutert? Was wusste er, an welchen Gräueltaten hat er sich beteiligt? Litt er unter Schuldgefühlen? Oder litt er, weil er aus der Bahn geworfen war, ein Protagonist der "betrogenen Betrüger", wie die Autorin Hannah Arendt zitiert. Jene, die vergessen hätten, dass ihre eigene Verschwörung gegen die gesamte Welt diese Welt dazu bringen könne, sich gegen sie zu vereinigen.

Manfred Augst, Jahrgang 1913, war Nazi - man möchte sagen, von ganzem Herzen - und Mitglied der SS. Es ist vor allem das Gefühl der Gemeinschaft, das den in einem strengen, lieblosen Elternhaus Aufgewachsenen so anzieht. Dazu die völlige Ein- und Unterordnung in die Phalanx der Nationalsozialisten: der Einzelne ist nichts, das Volk ist alles, wie sie befanden. Ute Scheub zitiert einen Brief, den ihr Vater 1940, im ersten Kriegsjahr, aus Berlin an seine Familie schreibt:

"So ist das Leben nicht besonders schön, aber zum Aushalten. Ebenso wie der Krieg. Die Leute haben sich im Allgemeinen zu ihrem Vorteil geändert. Wir sind beim Ausgehen ja meist im ehemals roten Wedding - aber diese roten Revolutionstypen haben hier nirgends mehr die große Schnauze wie früher. Alles wehrt sich gegen sie. Unser Dienst ist immer Saft und Kraft."

In den letzten Jahren haben etliche Autoren sich mit den Tätern in ihrer Familie beschäftigt. Allen Recherchen ist die große Angst gemein, auf Belege der schrecklichsten Verstrickungen zu stoßen. Und dennoch suchen Täterkinder fieberhaft nach Beweisen, die in fast allen Fällen nicht zu finden sind. Letztendlich aber wissen sie um die erforschten Fakten der Geschichte, die ihnen keine Entlastung gewähren.

Manfred Augst zählt zu denen, die sich nach dem Krieg im demokratischen Deutschland nicht orientieren konnten. Zwar warf er sich mit ähnlichem Elan wie damals bei der SS in die kirchliche Arbeit. Doch hat die Kirche ihn bitter enttäuscht. Interessanter Weise stimmte er in vielen Punkten mit den politischen Forderungen seines ältesten Sohnes überein, der damals dem Sozialistischen Studentenbund nahe stand, der linken Vertretung der Studentenschaft. Doch über sich und seine Vergangenheit wollte und konnte der Vater nicht sprechen und erstickte daran, wie die Autorin meint.

Wie geht man als kritischer Zeitgenosse mit einer Biographie um, deren Stationen und Entwicklungen diametral dem eigenen Verständnis von einem erfüllten, guten Leben gegenüberstehen? Das Bewusstsein für Recht und Unrecht, das Mitgefühl für Mitmenschen, für Unterdrückte, die Toleranz Andersdenkenden gegenüber und vor allem die Lebensfreude entfernen die Tochter von ihrem Vater. Fassungslos sieht sie aus den Unterlagen, dass zu seinem Weltbild die Einheit von Tod und Leben gehört. Bei ihm heißt das: Geburt will Tod und Sterben meint Gebären. Sie fragt sich:

"War auch mein Vater todessüchtig? Ich weiß es nicht. Seine Feldpostbriefe klingen, als hätte er sie verfasst, während er lässig an seiner Flak-Kanone lehnte, als zünde er sich genüsslich eine Zigarette am Weltenbrand an. Angst? Wut? Heimweh? Sehnsucht nach Frieden? Nichts davon. Nur kalte Abwehr. Auch meine Gefühle für ihn nähern sich dem absoluten Gefrierpunkt."

Und doch ist durch die Arbeit am Buch der Hass auf den Vater gewichen. Der Autorin wird klar, wie es passieren kann, dass so einer sich in die Gemeinschaft - selbst in die schlechteste - flüchtet. Diese Erkenntnis verringert für sie nicht seine Schuld und auch nicht ihre Schuldgefühle den Opfern gegenüber. Sie findet den Mut, sich die bange Frage zu stellen, ob sie wirklich vor der Täterschaft gefeit gewesen wäre.

Einmal mehr wird hier in diesem Buch die Erkenntnis vermittelt, dass es nicht in erster Linie auf Bildung und Wissen ankommt, um gegen obszöne Menschenverachtung gewappnet zu sein, dagegen Verbrechen zu akzeptieren oder gar zu begehen. Das wichtigste Rüstzeug erfährt der Mensch in seinem Gewissen, der höchsten biologischen Entwicklung auf Erden, wie Ute Scheub den Hirnforscher Antonio Damasio zitiert. Denn es halte ihn an, das eigene Überlebensinteresse der Moral unterzuordnen.

Deutschlandradio vom 26.02.2006

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"Das falsche Leben"

Ute Scheub geht auf Vatersuche

Es war wahnsinnig heiß. Damals,1969, auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Auch in den verschiedenen Hallen ging es hitzig zu.

Günter Grass liest aus seinem unveröffentlichten Buch "Örtlich betäubt" jene Stelle, in der ein Schüler beschließt, aus Protest gegen den Vietnamkrieg seinen Dackel zu verbrennen. Bevor die Diskussion losgeht, ergreift ein Mann das Mikrofon. Er redet wirr, 2000 Leute hören ihm unwillig zu, er schließt mit dem Satz: "Ich provoziere jetzt. Ich grüße meine Kameraden von der SS". Dann nimmt er ein Fläschchen, trinkt es aus und sagt zu der jungen Frau neben ihm "Das war Zyankali, mein Fräulein". Der Mann, ein 56-jähriger Apotheker aus Tübingen, stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.

Augst wie Angst

Günter Grass porträtierte diesen Mann 1972 in seinem "Tagebuch einer Schnecke", nannte ihn Manfred Augst. Augst wie Angst. Ute Scheub, Journalistin und Autorin, ist die Tochter dieses Selbstmörders. In ihrem soeben erschienenen Buch "Das falsche Leben - Eine Vatersuche" nennt auch sie ihren Vater Manfred Augst.

Scheub ist 13, als sie vom Tod ihres Vaters erfährt. Sie ist "schockgefroren". Ihre erste Reaktion: eine rasende Freude, endlich geht ihr Traum in Erfüllung. Er ist weg, dieser verhasste, lieblose, autoritäre Vater ist weg. Doch kurz danach schämt sie sich entsetzlich: "Trauere!" befielt sie sich selbst, "Trauere, Du Rabentochter!"

Er ist weg

Anstoß für das Buch der Berliner Journalistin gibt eine Kiste voller Dokumente, die Ute Scheub 35 Jahre nach dem Ereignis auf dem Dachboden des Elternhauses in Tübingen findet: Feldpost, Aufzeichnungen, 14 Abschiedsbriefe. Es sind Versuche des stummen Vaters, seine hohen Ideale von Vaterland, Herrenrasse, Kameradschaft in Worte zu fassen, in einer "unerträglich verschwurbelten, total abstrakten Sprache", wie Ute Scheub sagt.

Sprechen konnte ihr Vater nie über seine Kriegserlebnisse - wie viele seiner Generation schwieg er und "erstickte letztendlich an seinem Schweigen".

"Zuchtwart"

In ihrem Buch rekonstruiert Ute Scheub nun die Geschichte ihres Vaters, meist sachlich und ruhig, mal fassungslos, mal wütend über diesen "150-prozentigen" Nazi.

Der Vater: Übereifrig trat Manfred Augst schon sehr früh in die NSDAP ein, dann in die SA, dann in die SS. Er studierte an der SS-Uni Jena Rassenkunde und will "Zuchtwart" werden. Das ging sogar den Nazis zu weit. In einem Brief erklären sie ihm, dass es diesen Beruf nicht gebe. 1939 wurde er zur Flak eingezogen.

Nichts mehr zu kämpfen

Er gehörte zum "Wachbataillon General Göring", schob Wache in dessen Trutzburg Carinhall in der Schorfheide. 1942 kämpfte er im Afrika-Regiment mit General Rommel, schoss laut Fronttagebuch mehrere britische Flugzeuge ab, nach 1943 wurde er nach Italien geschickt. Selbst als der Krieg zu Ende war, irrte er noch immer durchs Land, wollte weiterkämpfen.

Doch es gibt nichts mehr zu kämpfen. Im Nachkriegsdeutschland kommt Manfred Augst nicht zurecht. Er sucht nach neuen Gemeinschaften, tritt in verschiedene Vereine ein, immer auf der Suche nach "höheren Werten, tiefem Sinn" (Grass). 

"Autoritäre Strukturen"

"Ich glaube", erzählt Ute Scheub im aspekte-Interview, "er ist in ein richtiges Loch gefallen, ideologisch, weltanschaulich. Das hat er erst mal versucht, zu stopfen, dieses Loch, indem er den Führer in den Himmel verlagert hat. Er ist zu seinen christlichen Wurzeln zurückgekehrt, hat aber immer und ewig beklagt, in dieser Demokratie könne man doch nicht leben; es fehlte ihm an Gemeinschaft, es fehlte ihm an Führung. Er wollte unbedingt in autoritäre Strukturen zurück.

Er hat eine Weile lang überlegt, nach Kolumbien auszuwandern, dann sollte es Südafrika sein, das rassistische Südafrika, dann sogar die DDR - Hauptsache autoritär. Er konnte offensichtlich gar nicht für sich alleine leben, als autonomes Individuum. Das ist das Tragische daran."

"Das Gegenteil sein"

Ute Scheub hat politisch einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Sie wurde Mitbegründerin der taz, hat Häuser besetzt und in Gorleben gekämpft:

"Ich wollte unbedingt das Gegenteil sein von meinem Vater, der für mich eine negativ prägende Figur war, in meiner Jugend und in meiner Kindheit. Ich wollte Feministin werden, weil er Patriarch war, und ich wollte "links" werden, weil er "rechts" war; ich wollte Internationalistin werden, weil er ein extremer Nationalist war. Und ich wollte mich auch ausdrücken können, weil er das nicht konnte. Ich wollte also nicht in der Falle landen, in der er letztlich erstickt ist. Deswegen bin ich dann auch Journalistin geworden".

Reflexionen über beide Seiten

Das Spannende an Ute Scheubs Buch sind die Reflexionen über beide Seiten: über die Täter, die schwiegen und mit ihrem Schweigen die ganze Familie terrorisierten, und über die Täterkinder, die jetzt reden, schreiben, aufarbeiten, die die Tabus nicht weiter hüten, sondern sie brechen und Familiengeheimnisse preisgeben.

Durch die Arbeit an dem Buch hat sich das Verhältnis von Ute Scheub zu ihrem Vater verändert, sie hat so etwas wie Mitgefühl für Manfred Augst entwickelt. Am Ende des Buches sind seine Leichen im Keller nicht mehr ihre Leichen: "Auf der privaten Ebene hab' ich mich versöhnt, hab' meinen Frieden gefunden mit meinem Vater. Aber auf der politischen nicht. Das ist mir auch extrem wichtig, da gibt es überhaupt keine Entschuldigung für solche Leute".

ZDF vom 21.04.2006

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Noch so einer!

Von Helga König

Die Journalistin Ute Scheub ist die Tochter des Apothekers Manfred Augst. Dieser hat 1969 auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart Selbstmord begangen. Seine letzten Worte, die er vor zweitausend Kirchentagsteilnehmern formulierte, lauteten: " Ich grüße meine Kameraden von der SS" ! Wer dieser Mensch war, hat sich Günther Grass, der als Redner bei der Veranstaltung zugegen war, schon damals gefragt. Ute Scheub, die zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt war, stellt sich diese Frage noch immer.

Die Autorin schreibt von ihrem Hass auf diesen Mann, mit dem sie sich fünfunddreißig Jahre nicht befassen wollte, weil er zu seinen Lebzeiten durch sein Schweigen, seine unnachgiebige Härte und seinen generellen Mangel an Empathie seine gesamte Familie tyrannisierte. Ute litt unter diesem fürchterlichen Despoten, dem sie sich nicht entziehen konnte, weil sie noch ein Kind war. Was hat ein Mensch im Laufe seines Lebens getan, um so zu verhärten? Weshalb ist der Mann schließlich freiwillig aus dem Leben geschieden?

Genau diesen Fragen spürt die Tochter nach. Sie setzt sich mit den Aufzeichnungen ihres Vaters auseinander, der schon in den 30er Jahren als SS- Mann den Willen Hitlers, der zu seinem eigenen wurde, gnadenlos in die Tat umsetzte. Die Sprache Manfred Augsts war noch 1969 sehr nationalsozialistisch eingefärbt. Der Apotheker hatte es nicht geschafft sich der alten Ideologie zu entledigen, weil er nicht bereit war seine Handlungen, die er während der NS-Zeit begangenen hatte, zu hinterfragen. Anstelle sich mit seinem Unrecht auseinanderzusetzen, verschanzte er sich stattdessen in seinem mentalen Bunker, wie Scheub konstatiert, der ihm allerdings den Zugang zu seinen Mitmenschen verwehrte.

1934 begann Augst in Jena "Rassenkunde und Anthropologie " zu studieren. Sein Pharmazie-Studium absolvierte er erst zu Ende der 50er Jahre während der immer noch naziverseuchten Adenauer-Ära, mit der sich die Autorin in der Folge detailliert beschäftigt. Auch zeigt sie Zusammenhänge zur 68er Bewegung auf, die sich nicht als normaler Generationenkonflikt begreifen lässt, sondern vielmehr die zwingend notwendige intellektuelle Auseinandersetzung mit den vielen Alt-Nazis im neuen Establishment war. Augsts ursprünglicher Berufswunsch war der des " Zuchtwarts". Allein die Berufswahl sagt viel über den Grad der Verblendung dieses Mannes aus.

Wie groß die Anzahl der Menschen war, die er anschließend in Polen und in Norditalien kaltblütig ermordet hat, lässt sich nur erahnen. Ute Scheub konnte es nicht in Erfahrung bringen, nicht zuletzt, weil die alten Seilschaften sich nach Kriegsende gegenseitig Alibis verschafften und Tatbestände erfolgreich vertuschten. Aber die Tochter vermutet, dass ihr Vater seine Krieghandlungen erbarmungslos durchführte. Die Autorin hat sich wirklich breit gefächert mit der NS-Zeit befasst und das wohl schon seit ihrem Politologie-Studium. Sie schreibt von den Verbrechen der Deutschen an den Juden, den Sinti und Roma und an den vielen Zivilisten unterschiedlicher Nationalitäten in ganz Europa und thematisiert die Absurdität des Rassenwahns, das absonderliche Sippendenken und die nationalsozialistischen Wertvorstellungen, wonach das Volk alles ist und der Einzelne nichts bedeutet und ein Freund, im Gegensatz zu einem Kameraden ein beliebig ersetzbarer Mensch ist.

Die Unfähigkeit einer ganzen Generation Mitleid mit den Opfern zu empfinden hat Folgen für die Kinder, wie Psychologen erforscht haben.

"Schuldgefühle, Hass auf den Vater, Autoaggression, Ängste, ungreifbar wie wabernde Nebelschwaden. Das Gefühl ein Nichts zu sein. Unwertes Leben zu sein..."

Ute Scheub wollte sich von all dem befreien, indem sie sich mit der Person Manfred Augst intellektuell auseinandergesetzt hat. Der Sohn eines kaltherzigen, geizigen, pietistischen Vaters - eines schwäbischen Volksschullehrers -, wurde von diesem gnadenlos gedrillt und führte im Grunde ein sehr einsames, bedauernswertes Leben.

Trotz dieser frühkindlichen Missstände und unheilvollen Prägungen kann Manfred Augst die Verantwortung für sein menschenverachtendes Tun aber nicht abgesprochen werden. Dies sieht auch seine Tochter Ute so. Nach dem Krieg engagierte sich Augst in der evangelischen Kirche, die , wie Scheub recherchiert, während der NS-Zeit leider selten wirklich klare Stellung gegen das monströse Treiben der Nazi-Schergen bezogen hat. Die christlichen Werte blieben Manfred Augst bis zu seinem Tod fremd. Er klagte die Kirche an, weil sie ihm nicht das zu geben vermochte, was er so dringend benötigte. Was dies tatsächlich war, konnte er bis zu seinem Tod nicht konkret definieren. Dem alten SS-Mann gelang es nicht seine Schuld anzunehmen. Er verweigerte sie und lebte durch seinen Selbstmord stattdessen ein archaisches Opferritual aus, durch das er offensichtlich auf die vielen , wie er glaubte, unverstandenen Kameraden der SS aufmerksam machen wollte. Seine Frau und seine vier Kinder waren für ihn kein Thema. Sie ließen ihn letztlich kalt. Die Bunkermentalität verstellte Augst den Blick für das Leid anderer, selbst seiner Nächsten.

Ute Scheub hat sich durch ihre tiefgehenden Reflexionen vom Schatten ihres Vaters befreien können. Sie hat ihre Traumatisierung hinter sich gelassen und kann sich nun endlich dem Hier und Heute zuwenden! Ein kluges, wichtiges Buch einer feinfühligen, intelligenten, bemerkenswerten Frau! Empfehlenswert

Asyl für obdachlose Bücher  vom 28. 02. 2006

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Zyankali auf die Kameraden 

Von Willi Winkler

Nach dem Krieg sitzt er am Küchentisch und schweigt: Ute Scheub rapportiert den inneren Todeskampf ihres Vaters, eines SS-Offiziers.

Reden konnte er nicht, aber er musste es doch loswerden. Seine Wehklage über mangelnde Partnerschaft, das Versagen der Kirche, der Politik, am Ende der ganzen deutschen Menschheit. Niemand im Saal verstand so recht, was der Mann am Mikrofon zwei eigentlich sagen wollte. Er konnte gar nicht mehr aufhören, überzog seine Redezeit, stotterte, suchte Hilfe auf seinen Zetteln und fand doch keine. «Hunger nach Gerechtigkeit» lautete das Motto des Kirchentags, und dieser Mann, 56, Brille, dünn, aufgeregt, allem Anschein nach verwirrt, fühlte sich eindeutig ungerecht behandelt.

Klar und verständlich kamen nur seine letzten Worte: «Ich grüsse meine Kameraden von der SS.» Dann setzte er ein braunes Fläschchen an die Lippen und trank. Bevor er umsank, gab er als letzten Triumph seiner Nachbarin eine unwahrscheinliche Erklärung: «Das war Zyankali, mein Fräulein.»

Auf dem Evangelischen Kirchentag im Sommer 1969 in Stuttgart, drei Tage vor dem ersten Mondspaziergang, hielt man das für einen Schwächeanfall in dem brütend heißen Saal, aber der stotternde Redner hatte alles gesagt und verstarb auf dem Weg ins Krankenhaus. Auf dem Podium hatte Günter Grass aus seiner Novelle «Örtlich betäubt» gelesen, vom übereifrigen, idealistischen Schüler Philipp Scherbaum, der in Berlin auf dem Ku’damm vor den sahnefressenden Damen im «Café Kranzler» seinen Dackel anzünden und verbrennen will. Ein Protest gegen Vietnam, ein Protest vor allem gegen die Gleichgültigkeit der Welt. Aber Grass konnte das nicht billigen, er rechnete in seinem Buch mit den Apo-Studenten ab, die er nicht verstand, und wandte sich gegen den «ritualisierten Protest», den er nicht bloß aus Berlin kannte. Im Januar des Jahres hatte sich in Prag der Student Jan Palach verbrannt, als Protest gegen die russische Armee, die im Sommer zuvor das Land besetzt hatte. Der Vietnam-Protest ging in Deutschland und überall in der Welt weiter; in Saigon hatten sich mehrere Mönche auf der Strasse angezündet.

Die Welt war im Aufruhr. In Deutschland scharte die NPD überraschend viele Wähler um sich, die genug hatten von den langhaarigen Kriminellen, die demonstrierten statt zu studieren. In Stuttgart war Grass nicht bloss Schriftsteller, sondern als Agent der Wählerinitiative für Willy Brandt unterwegs und empfahl, sogar in Reimform, bei den Bundestagswahlen in zwei Monaten die «Espede» zu wählen.

Den Mann, der da ins Mikrofon stammelte, hatte er schon oft gesehen: «Ich kannte die Aufgeregtheit fünfzigjähriger Männer, die alles, aber auch alles in einem einzigen, randvollen Bekenntnis los werden, quitt machen wollen. Ich kannte ihre leeren, Werte beschwörenden Gesten, ihren Kriegsbildertraum, als Einzelkämpfer (wie damals bei Monte Cassino oder am Kuban-Brückenkopf) auf verlorenem Posten zu stehen, ihren Halt suchenden Griff in die Luft, ihre flatternde ‹Ein einziges ewiges Deutschland!› suchende Stimme und jene aufsteigende Hitze, die ihre Gesichter fleckig werden lässt.»

Der Selbstmörder Manfred Augst (der bereits im «Tagebuch einer Schnecke» von Günter Grass auftaucht) hinterliess seiner Familie vierzehn Abschiedsbriefe und konnte doch nicht sagen, was ihn bedrückte. Er hatte sich lange auf diesen öffentlichen Tod vorbereitet und zuletzt nur noch dafür gelebt.

Seine Tochter, die damals dreizehn war, hat jetzt aus den hinterlassenen Papieren, aus Gesprächen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern die Vorgeschichte dieser Tat rekonstruiert, die 1969 den friedens- und studentenbewegten Kirchentag überfiel. Nach der erinnernden Recherche seiner Tochter war dieses theatralische Ende fast unvermeidlich.

Traumberuf «Zuchtwart»

Ihr Vater kam aus einer typischen pietistischen Schwabenfamilie, in der sich die religiöse Kasteiung bestens mit pädagogischen Schlägen zu jeder Gelegenheit vertrug. Fromm sollten die Kinder aufwachsen, gehorsam und immer fleißig schaffen. Das Leben ist hart und nur durch noch härtere Arbeit zu bestehen. «Der Bausparvertrag ist auch gesichert. So kann ich diesen Schritt verantworten», notierte sich der Vater als Rechtfertigung für seinen Selbstmord. Im Elternhaus wurde auf Zucht und Ordnung gehalten. «Zuchtwart» wollte Manfred Augst dann auch werden, und er bewarb sich ernsthaft beim Ministerium darum. Er wollte als Wissenschaftler auf die Reinheit der Rasse achten und Züchtungsergebnisse optimieren.

Der Rassenwahn, gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Sozialdarwinismus als sektiererische Lehre entstanden, hatte im «Dritten Reich» endlich Hochschulreife erreicht. Augst studierte die staatlich geförderten Rassentheoretiker, träumte von einer Assistentenstelle und bald von einem eigenen Institut. In den Polen-Feldzug ließ er sich von daheim eine Kamera schicken, um «rassisch minderwertige Ostvölker» für spätere Vorträge aufzunehmen.

Zuerst aber galt es den Krieg zu bestehen, im Osten, in Afrika und auch in Italien, das sich so feige aus der gemeinsamen Schlacht zurückgezogen hatte. Die Tochter kann nicht mehr feststellen, ob ihr Vater denn wirklich an Geiselerschießungen beteiligt war, ob er die so genannten Vergeltungsaktionen gegen Partisanen mitgemacht hat und zum Kriegsverbrecher wurde. Nach allem, was ihr von seinen Papieren in die Hände gefallen ist, war dieser Soldatenvater vor allem ein Schwächling, ein geprügeltes Kind, das nicht wusste, wohin mit sich auf der Welt. Der Nationalsozialismus, das Soldatentum, die Selbstauslöschung in der Kameradschaft kamen ihm in seiner Schwäche gerade recht.

In der Rotte wurde gemeinsam marschiert, auch gesungen, gern auch zugeschlagen und so gründlich ausgerottet, wie es einer Herrenrasse doch zukam. Der Einzelne verschwand in der Uniform und in der kontrollierten Masse. Die Welt, das Leben hatte endlich einen Sinn, den der Führer und viele Unterführer vorgaben; diesem Befehl brauchte man bloß zu folgen.

Nach dieser Erhebung des Herzens, dieser zwölfjährigen Euphorie mit Koppelschloss und dem Wahlspruch «Unsere Ehre heißt Treue» und rassischem Grössenwahn muss das Normalleben für den in die Freiheit entlassenen SS-Offizier die wahre Katastrophe werden. Als gelernter Züchter heiratet er, wenn auch rassisch leicht minderwertig, und zeugt vier Kinder, die mit ihm in knausrigster Armut aufwachsen. Er kann für die Familie nicht mehr den Osten erobern, und er scheitert auch bei der Ersatzlösung, in die sich die anderen Deutschen retteten, der Teilhabe am nachgeholten Wirtschaftswunder.

Nach dem Krieg arbeitet er im Sozialdienst, engagiert sich in der Bewegung gegen den Atomtod, unterstützt sogar seine älteren Söhne, als die den Wehrdienst verweigern wollen, und er schweigt. Er arbeitet in einer Apotheke, holt das Pharmaziestudium nach und schweigt.

«Mein Vater hatte einen Erstickungstod erlitten», schreibt die Tochter und meint es auch metaphorisch. Bei der Einnahme von Blausäure hört die Atmung auf, aber mit diesem finalen Akt hat Manfred Augst doch nur abgeschlossen, was er all die Jahre praktiziert hatte: «Er war an seinem Schweigen erstickt.»

Die Frau als Blitzableiter

Was er nicht sagen kann, versucht er zu schreiben. Er verfasst endlose Pamphlete mit schrecklich verkrampften Sätzen und immer voller Vorwürfe gegen die Welt. Für seine Frau, für seine vier Kinder ist er immer da, aber er redet nicht. Sie fürchten ihn, sie hassen ihn, sie wissen sich so wenig wie ihm zu helfen. Die Ehe, die er ganz auf der Höhe der Zeit eine «Partnerschaft» (in den Notizen sozialingenieursstreng mit «Pa» abgekürzt) nennt, kann ihm nur die zivilistische Schwundform eines raren Glücksgefühls aus der SS bieten.

Partnerschaft heisst für ihn, dass er sich mit seiner Frau einmal in der Woche zu einem Gespräch verabredet, in dem er über die Welt, über Rechte und Pflichten monologisiert. Als seine Frau einmal unaufmerksam ist und keine Geduld für seine Tiraden hat, weil sie schwer krank ist und Schmerzen leidet, schmollt er wochenlang. Und als sie beinah am Krebs stirbt, schreibt er ihr in die Klinik die dürre Weisheit «Krebs ist ungelebtes Leben» und dass sie ihn nie richtig geliebt habe. Besuchen kommt er sie nicht. Er ist damit beschäftigt, seinen Ausbruch zu planen, seinen Opfergang für Deutschland, für die alten Werte, für die verlorene Kameradschaft der SS.

Manfred Augst war sicher nicht der einzige Vater, der aus dem Krieg zurückkam und am Tisch nichts sagte, sondern seine Familie mit seinem Schweigen terrorisierte. Für Ute Scheub ist der ihre nicht bloß ein typischer Vertreter seiner Generation, sondern beispielhaft für die deutsche Nachkriegsgeschichte, in der die Vergangenheit, an der doch fast alle Anteil hatten, nur mehr als «die dunklen Jahre» zur Sprache kam. Mit dem juristischen Institut des «Befehlsnotstands» wurden aus Tausenden von Mördern ausführende Organe, die immer ihre Pflicht getan hatten.

Manfred Augst hatte die seine begeistert getan. Dass er dafür keine Anerkennung fand, dass er für die kurze Zeit in seinem Leben, in der er nicht unter sich selber zu leiden hatte, sein übriges Leben lang büssen sollte, hat er nicht verwunden. Die Familie hat ihn erduldet, weil er doch krank war. Ob er zu heilen gewesen wäre, ist zumindest zweifelhaft. Am Ende nahm Augst Sprechunterricht, als Apotheker hatte er Zugang zu Medikamenten, aber er wählte das Zyankali.

Nicht der öffentliche Tod des Vaters vor zweitausend kirchentagsbewegten Menschen war das Trauma für die Familie, sondern sein ganzes Leben. Niemand verstand ihn, aber es gab auch keine Sprache, in der er sich hätte verständlich machen können. Dafür rächte er sich und sass als steinerner Gast immer dabei, ein Memento an die Vergangenheit, die doch nicht vergangen war. Als die Nachricht von seinem Tod kam, weinte seine Frau, sie war so erleichtert wie ihre Kinder. Bei der Beerdigung musste die Tochter ein hysterisches Lachen unterdrücken.

In der Bild-Zeitung, auch das gehört in die aufgeregte Welt von 1969, wurde im Zusammenhang mit dem Selbstmord ausgerechnet der moderate Günter Grass als «Wolf im politischen Schafspelz» beschrieben, der «mit seiner Demagogie versucht, das Volk zu zerstören». Ihrem Vater war nicht zu helfen, aber seine Tochter hat sich durch ihr Buch von einer deutschen Erblast befreit. «Ich wachte auf, erfrischt, lebenslustig, voll mit prickelndem Sauerstoff. Schlagartig wusste ich: das Gefühl, bedroht zu werden, hatte aufgehört. Mein Vater hatte aufgehört, mir Angst zu machen.»

Manfred Augst konnte nicht reden. Seine Tochter hat jetzt für ihn gesprochen. Bei allem Entsetzen über diesen finsteren Mann ist es ein Werk töchterlicher Liebe geworden. Ihr Buch ist bestimmt das gruseligste, das in diesem Frühjahr erschienen ist, ein deutsches Märchen.

Die Weltwoche 12/2006

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"Dem Menschen habe ich verziehen, dem Nazi nicht"

Interview mit Ute Scheub über ihr Buch "Das falsche Leben"

Das Interview führte Geneviève Hesse

Seit einigen Jahren melden sich verstärkt die Kinder der Tätergeneration zu Wort. Mit ihren Erinnerungen an Väter, Mütter, Großeltern begeben sie sich auf Spurensuche. Sie schreiben von Verstrickungen in das NS-Regime und von den Wirkungen auf die nachfolgende Generation. Nun hat Ute Scheub, Mitbegründerin der "tageszeitung", ein Buch über ihren Vater geschrieben. Über seine SS-Vergangenheit hatte er stets geschwiegen - sich dann aber 1969 auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart vor tausenden Menschen vergiftet. Seine letzten Worte waren: "Ich grüße meine Kameraden von der SS!"

Das Parlament: Erst 35 Jahre nach dem öffentlichen Selbstmord Ihres Vaters im Jahre 1969 auf dem evangelischen Kirchentag schreiben Sie über ihn. Warum hat es so lange gedauert?

Ute Scheub: Ich habe öfter Anläufe gemacht, um über ihn zu recherchieren, aber mich hat immer wieder den Mut verlassen. Im Jahre 2004 habe ich zufällig viele Dokumente über ihn entdeckt: Seine 14 Abschiedsbriefe, die Feldpostbriefe, seine SS-Dokumente und die Unterlagen seines Studiums über die Rassenkunde an der SS-Elite-Universität Jena. Das war der äußerliche Anlass. Mir fiel es schwer, mit der Familienloyalität zu brechen. Man redet nicht schlecht über seine Eltern in der Öffentlichkeit - so bin ich erzogen worden. Ganz massiv war auch die Angst zu entdecken, dass mein Vater ein Verbrecher ist. Ermutigt haben mich zwei Freundinnen und literarische Vorbilder, unter anderem Wibke Bruhns, die auch ihre Familiengeschichte aufgeschrieben haben.

Das Parlament: Sie geben Einblicke in die Intimität Ihrer Verwandten. Fühlen Sie sich deswegen illoyal?

Ute Scheub: Meine Loyalität ist inzwischen erweitert. Ich habe nicht nur gegenüber der Familie eine Verpflichtung, sondern auch gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, ihren Angehörigen und Nachkommen. Meinen jüdischen Freunden und Bekannten möchte ich auch gerecht werden.

Das Parlament: Wie erklären Sie, dass viele Kinder von Nazi-Tätern erst vor kurzem ihre Familiengeschichte öffentlich gemacht haben?

Ute Scheub: Man braucht einen zeitlichen Abstand, um es zu tun. In den 50er- oder 60er-Jahren wäre es unmöglich gewesen. Man wäre wohl öffentlich hingerichtet worden. Jetzt kann eine andere Generation sprechen, die mit bestimmten deutschen Traditionen gebrochen hat. Ein weiterer Grund ist, dass alle Täter und Opfer in zehn Jahren nicht mehr leben werden. Wollen die Nachgeborenen das kulturelle und lebendige Gedächtnis erhalten, müssen sie jetzt schriftlich festhalten, was vorher innerfamiliär in der Erinnerung war.

Das Parlament: Sie werfen Ihrem Vater sein Schweigen vor. Aber Sie schreiben, es wäre schrecklich gewesen, jeden Tag mit einem Verbrecher die Suppe zu löffeln. Was hätte er also tun sollen?

Ute Scheub: Er hätte sich retten können, wenn er sich zu seinen Taten bekannt hätte. Natürlich ist das unheimlich hart. Aber besser ist es, wenn Kinder einmal die Wahrheit hören, als wenn sie sich ein Leben lang darüber in Fantasien ergehen müssen. Das gilt generell für alle Familiengeheimnisse. Eltern denken gerne, sie sollten Kinder schonen. Aber Kinder kriegen unheimlich genau mit, was verschwiegen wird. Sie machen sich ihre eigenen Fantasien, die meistens noch viel schlimmer als die Realität sind.

Das Parlament: Ihre Gefühle zu Ihrem Vater schwanken zwischen Wut und Mitgefühl. Mitgefühl mit dem Täter - ist das überhaupt möglich?

Ute Scheub: Nein, ich habe kein Mitgefühl mit dem Täter, um Gottes Willen, nur Wut. Das Mitgefühl habe ich mit dem Kind und mit dem Jugendlichen, der später zu meinem Vater wurde und der in einer eisigen Atmosphäre aufgewachsen ist und keine Chance hatte, Mitmenschlichkeit zu entwickeln. Ganz entscheidend für seine Generation waren die Väter, die als lebendige Tote aus dem Ersten Weltkrieg zurückkamen. Nach diesem ersten Völkergemetzel haben die Väter auch geschwiegen. Sie haben stellvertretend ihre Söhne in den Zweiten Weltkrieg geschickt, um sich dafür zu rächen.

Das Parlament: Haben Sie Ihrem Vater verziehen?

Ute Scheub: Dem Menschen, der in einer fürchterlichen Zeit der emotionalen Härte und Kälte aufwuchs - dem habe ich verziehen. Dem Nazi kann ich aber nicht verzeihen, weil er anderen etwas getan hat. Das müssten die Opfer oder ihre Angehörigen tun. Ich bin die Falsche dafür. Diese Differenzierung ist mir sehr wichtig. Sie geht in den aktuellen Autobiografien von Täter-Kindern manchmal verloren. Ich will mich aber auch nicht höher stellen und sagen, ich hätte es sicher ganz anders als er gemacht. Im Nachhinein ist es ganz leicht, so etwas zu behaupten.

Das Parlament: "Die Leichen im Keller meines Vaters sind auch meine Leichen", steht auf dem Cover Ihres Buches. Sie schreiben aber, wie Sie einen Brief in sein Grab legen, in dem steht, es seien einzig und allein seine Leichen. Sind es nun Ihre oder seine?

Ute Scheub: Ich weiß, dass es nicht meine Leichen sind. Und trotzdem fühle ich mich immer wieder dafür verantwortlich. Auch andere Täterkinder fühlen sich unendlich schuldig. Ihr ganzes Leben büßen sie für die Taten ihrer Eltern und kommen nie aus diesem Gefühl heraus. Sie wollen die Dinge wieder ins Gleichgewicht bringen. Manche Täterkinder konvertierten zum Judentum oder heirateten eine Jüdin und streckten ihren Nazi-Eltern die Zunge raus: "Ätsch, eure Enkel sind Juden." Andere gingen ins Kloster. Es gibt natürlich auch welche, die alles abwehrten - zumindest scheinbar.

Das Parlament: In der Bundesrepublik herrschte lange Schweigen über die NS-Vergangenheit. Im Ausland haben Sie nach anderen Bewältigungsstrategien der Vergangenheit gesucht. Was haben Sie herausgefunden?

Ute Scheub: In Südafrika gab es nach der Abschaffung der Apartheid Initiativen von Führungsfiguren, die integer sind. Nelson Mandela und Bischof Desmond Tutu haben ihren Peinigern öffentlich verziehen. Das war ein glorioses Vorbild. In der Wahrheitskommission, die Tutu mitgegründet und geleitet hat, wurden die Täter amnestiert, wenn sie die Wahrheit ausgesagt haben. Manche erschrecken bei diesem Gedanken, weil eine Amnestie der Täter für die Opfer auch etwas Hartes ist. Aber es ist heilsamer als Gerichtsprozesse, bei denen die Täter leugnen und irgendwann abgeurteilt werden. Die Täter müssen sich bekennen und der Öffentlichkeit sagen: "Ich war ein Mörder" oder "Ich war ein Folterer". Es ist ein massiver Gesichtsverlust und eine harte Strafe, die Sinn macht, insbesondere für die Opfer. Sicher ist das Verfahren nicht perfekt und einige haben nur formell gebeichtet. Aber solche Täter-Opfer-Ausgleiche sind für mich überzeugender als das, was bei uns gelaufen ist.

Das Parlament: Frau Scheub, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Parlament vom 03.04.2006

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Der Abgang

Ute Scheubs Suche nach dem faschistischen Vater

Von Elke Buhr

Sie ist nicht die Tochter von Albert Speer oder einem anderen NS-Promi. Ihr Vater war weder Generalgouverneur noch KZ-Kommandant, und ob er Kriegsverbrechen begangen hat, ist nicht herauszubekommen. Trotzdem ist die Vater-Geschichte von Ute Scheub spektakulär - nicht zuletzt, weil sie bereits seit über dreißig Jahren in der deutschen Literaturgeschiche aufgehoben ist. So kann sie ihr Buch Das falsche Leben - eine Vatersuche mit einem prominenten Zitat beginnen: ",Der Tod trat auf dem Weg zum Robert-Bosch-Krankenhaus ein', notierte Günter Grass in seinem Buch Aus dem Tagebuch einer Schnecke über einen 56-jährigen Apotheker, der sich am 19. Juli 1969 mit Blausäure vergiftet hatte. Öffentlich. Auf dem Stuttgarter Kirchentag. Direkt vor dem Dichter und seinem etwa zweitausend Menschen zählenden Publikum."

Ute Scheub war dreizehn Jahre alt, als sich ihr Vater, der Apotheker Manfred Augst, öffentlich das Leben nahm. Augst, ehemals begeisterter Nazionalsozialist, SS-Mann und Soldat, hatte sich stotternd auf dem Kirchentag zu Wort gemeldet: Kirche und Gesellschaft hätten versagt, er wolle nun ein Zeichen des Protests setzen. Er grüßte "die Kameraden von der SS", schluckte das Zyankali und brach zusammen.

Günter Grass hat die Szene damals so verfolgt, dass er Augsts Hinterbliebene - Frau, drei Söhne und Tochter Ute - besuchte. "Man war sich einig, dass man ihn nicht gekannt habe, dass er fremd (und befremdlich) dazwischen gestanden sei, dass man erst jetzt, da der Druck nachlasse, über ihn nachzudenken beginne", schreibt Grass. Scheub erinnert sich vor allem an die ungeheuere Erleichterung, die dieser Tod für sie, sein jüngstes Kind, bedeutet hatte: "Ein Lebenstraum erfüllt! Er war weg".

Dann kam die Scham: Schlechte Tochter, die nicht trauert. Verdrängung und eigenes Leben folgten: Das Gegenteil von dem sein, was der Vater war, so beschreibt es Scheub, die später als Journalistin die tageszeitung mitbegründete. Nachdenken wollte sie erst dreißig Jahre später wieder - dass sie selbst Mutter geworden ist, habe es ihr erleichtert, schreibt sie; die anhaltende Konjunktur solcher Erinnerungsliteratur wird ihr Übriges getan haben.

Die Suche nach dem Vater führte auf den Dachboden, zu Kisten mit den umfangreichen Aufzeichnungen, die Augst hinterlassen hatte. Geredet hatte er nicht, dafür um so mehr geschrieben: Scheub fand nicht nur einen, sondern zahlreiche Abschiedsbriefe, Aufzeichnungen, frühere Korrespondenz. Aus ihnen, aus den spärlichen Informationen, die über die Verwandtschaft zu bekommen war und aus aufgezeichneten Gesprächen mit der verstorbenen Mutter schüttelt Scheub beharrlich, nicht ohne Widerwillen und mit Hilfe einiger Spekulation, ihr Vaterbild heraus.

Ein schwächliches Kind kommt da ans Licht, mit einer wegen Krankheit abwesenden Mutter und einem harten, gefühllos prügelnden Vater gestraft; ein zielloser Jugendlicher, der früh in der Hitlerjugend den Halt fand, der ihm fehlte; ein fanatischer 21-Jähriger, der sich 1934 in Jena für "Rassenkunde" einschrieb und sich beim Reichsernährungsministerium darum bewarb, "Zuchtwart" zu werden - einen Beruf, den selbst die Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahn noch gar nicht erfunden hatten. Die große Karriere im NS-Staat hat Augst nicht gemacht - wahrscheinlich war seine ideologische Verbohrtheit so übertrieben, dass er wieder zum Querulanten wurde, vermutet Scheub.

Nach dem Krieg klappte die "Entnazifizierung" des "Mitläufers" auf dem Papier, aber nicht im Geiste. Augst gründete zwar eine Familie, schaffte den Abschluss als Apotheker, suchte Halt in der evangelischen Kirche und sogar bei den ostermarschierenden Pazifisten, doch sich auseinandersetzen mit seiner Schuld, verstehen, gar bereuen konnte er nicht. Seine Familie erlebte ihn nicht anders als hart, lieblos und verstockt.

Klaus Theweleit hat in seiner großartigen Studie Männerphantasien die psychische Struktur des faschistischen Mannes eingehend beschrieben: diesen schon als Kind zur Härte erzogenen, soldatisch gepanzerten Körper, der seine Ich-Grenzen nur mit Hilfe von Schlägen erkunden und als Erwachsener die Angst, sich aufzulösen, nur im faschistischen Volkskörper und in den Explosionen des Krieges kontrollieren kann. In allen Details beschreibt Scheub (leider ohne ihre Inspirationsquelle anzugeben) ihren Vater als einen solchen Nicht-Zu-Ende-Geborenen; als einen, dessen psychische Maschine rettungslos stockte, als er kein Rädchen im großen Ganzen mehr sein durfte.

Wie sie selbst dabei sich am Vater reibt, wie sie hadert und emotionalisiert, möchte man allerdings gar nicht so genau wissen. Und wie sie einem ihre Geschichte aufdrängt - da balanciert Scheub gefährlich nah am Selbsterfahrungskitsch. Doch wenn Scheub exemplarisch am Umfeld des Vaters die Kontinuität der braunen Seilschaften auch in der Bundesrepublik herausarbeitet, wenn sie die zerstörerische Wirkung des reuelos falschen Lebens in der Familie beschreibt, die die heutigen Generationen immer noch beeinflusst, dann bekommt ihre ganz persönliche Vatersuche dennoch jene öffentliche Relevanz, die Manfred Augst mit seinem theatralischen Abgang vergeblich ersehnt hatte.

Frankfurter Rundschau vom 15.03.2006

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Der Verhasste

Ute Scheub sortiert die Hinterlassenschaften ihres Nazi-Vaters

Von Doris Weickmann

Eine skurrile Szene: Auf dem Tübinger Bergfriedhof vergräbt eine Frau ein Papier. Es handelt sich um einen Brief zwecks Aufnahme moralischer "Entschuldungsverhandlungen". "Lies das gefälligst!", ruft die Frau, nachdem sie das Kuvert versenkt hat. Der Adressat ist ihr toter Vater, Manfred Augst. Tochter Ute hat ihm soeben schriftlich mitgeteilt, dass sich weigert, weiterhin "seine Schuld zu tragen".

Welche Verbrechen Augst begangen hat, weiß Ute Scheub bis heute nicht. Sicher ist: Er war ein eingefleischter Nazi, ein schrecklicher Vater, ein herzloser Ehemann. Einerseits. Andererseits gefiel er sich als "Christ und Pazifist", nachdem der Untergang des Dritten Reiches auch seinen eigenen Berufswunsch – "menschlicher Zuchtwart" – pulverisiert hatte. Für die 1956 geborene Tochter ist er ein ganz normaler deutscher Spießer. Von seinen Nachbarn unterscheidet er sich nur durch die Weigerung, "den geläuterten Demokraten zu spielen". Und durch seinen Selbstmord.

Dreißig Jahre hat Ute Scheub, Journalistin und Mitbegründerin der taz, diesen Vater in sich begraben. Dann stolperte sie auf dem elterlichen Dachboden über einen Karton mit Manuskripten und vierzehn Abschiedsbriefen. Vor ihr entrollte sich nicht nur "Das falsche Leben" des gefühlsverkrüppelten Vaters, sondern auch der Faden ihres eigenen, insgeheim an ihn geketteten Schicksals.

Wirre Rede auf dem Kirchentag

Minutiös hatte Manfred Augst damals, im Sommer 1969, sein Ende geplant. Auf dem Stuttgarter Kirchentag hielt er eine wirre Rede, leerte danach ein Zyankali-Fläschchen und skandierte: "Ich grüße meine Kameraden von der SS." Dann fiel er tot um. Günter Grass, Augenzeuge des Vorfalls, hat Augst 1972 porträtiert ("Aus dem Tagebuch einer Schnecke") und ihm dabei das Pseudonym verpasst, das auch die Tochter schützend beibehält: Angst und Augen fließen hier ineinander – die Angst der Kinder vor dem tyrannischen Familienoberhaupt und die Augen aller, die über Jahrzehnte hin verschlossen sind.

Der Zufallsfund auf dem Dachboden erhellt den blinden Fleck in der Familien-Charta. Mit jedem Zettel, den Ute Scheub aus dem Staub zieht, gewinnt der Vater an Kontur: ein geprügeltes Kind, das dem Herrenmenschen-Wahn der Nazis verfällt; ein Karrierist, der beim berüchtigten Hans F.K. Günther Rassenhygiene studiert, der SS beitritt und ins Wachbataillon "Hermann Göring" aufsteigt; ein Obergefreiter, der sich von Polen bis Afrika für Volk und Führer ins Zeug legt; ein Enttäuschter schließlich, der "vom Hitler- zum Jesusjünger" mutiert und dennoch ein teutonischer NS-Anhänger bleibt.

Den Kindern freilich, die nach dem Krieg geboren werden, kann er damit nicht kommen. Also entschließt er sich, zu schweigen. Manfred Augst verbunkert sich in seinem Inneren – ein depressiver, "monomanischer Vater", der in Erwägung zieht, die ganze Familie auszulöschen. "Die Welt will mich nicht," davon ist er überzeugt. Sonst hätte sie ihn kaum mit Karriereknick und Ehehölle bestraft. Er muss sich, wie die Tochter erkennt, überall und stets als Opfer begreifen, "um sich nicht als Täter sehen zu müssen." Die Quittung fällt deutlich aus: "Dafür hasste ich ihn."

Von den Mitscherlichs über Klaus Theweleit bis Tilmann Moser haben Wissenschaftler immer wieder jene Mischung aus Verdrängung, Verlogenheit und Verpanzerung analysiert, die Nachkriegsdeutschland prägte. Die Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses, die Ute Scheub hautnah erlebt hat, zeitigt bis heute Folgen. Sie bürdete den Nachgeborenen traumatische "Gefühlserbschaften" (Scheub) auf und schrieb sich als Negativ-Matrix in ihre Biographien ein. Die bedingungslose Abkehr vom Vater hat Ute Scheub selbst durchexerziert: Seinem rechten Weltbild hielt sie ein linkes entgegen, seiner patriarchalen Aufgeblasenheit ihr feministisches Credo. Dass er "ein miserabler Vater" war, kann sie ihm verzeihen. Dass er niemals "auch nur ein einziges Wort des Mitgefühls" für die NS-Opfer fand, nicht. Wie man diese Ambivalenz fruchtbar machen kann, zeigt Ute Scheubs Buch auf beeindruckende Weise.

Süddeutsche Zeitung vom 25.04.2006

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Das war Zyankali, mein Fräulein!

Er grüßte seine SS-Kameraden und tötete sich vor Tausenden. Grass hat über ihn geschrieben. Und jetzt auch seine Tochter

Von Volker Weidermann

Was für eine merkwürdige Nebenfigur war dieser Manfred Augst. Dieser sonderbare, lästige, wirr redende Herr, der sich im Jahr 1969 immer wieder in die Aufzeichnungen des Schriftstellers und Wahlkämpfers Günter Grass hineindrängte, die dieser 1972 unter dem Titel "Aus dem Tagebuch einer Schnecke" als Buch veröffentlichte. Grass berichtet darin von seiner Wahlkampftour für Willy Brandt, von deutscher Geschichte und Politik und von seiner Familiengeschichte. Und von einem erschütternden Ereignis:

Es war am 19. Juli, es war wahnsinnig heiß in Deutschland, und Günter Grass machte halt auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Zehntausende waren gekommen. Grass schreibt: "Das neue Theologiebedürfnis weitete alle Poren. Frühchristlich lief viel ziellose Jugend barfuss. Die Sprüche der kleinen und großen Propheten trugen sich auf und ab." Grass las in Halle 1 vor der Arbeitsgruppe "Der Einzelne und die Anderen" vor 2.000 Zuhörern. Er las aus seinem damals noch unveröffentlichten Buch "örtlich betäubt" die Stelle, wo der Schüler Scherbaum beschließt, aus Protest gegen den Vietnam-Krieg seinen Dackel auf dem Kurfürstendamm zu verbrennen. Der Dackel stirbt am Ende nicht. Es ist eine Groteske wider den ritualisierten Protest. Ein halbes Jahr zuvor hatte sich Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz, aus Protest gegen die sowjetische Invasion, öffentlich verbrannt. Grass warnte, eine Diskussion begann, wie viele Diskussionen vorher, und floss so dahin. Dann trat Augst ans Mikrofon, zwei Fläschchen in der Hand. Augst redete wirr, er klagte die Kirche an, weil sie ihm die Partnerschaft versagt habe, er sprach von alter Kriegskameradschaft und fehlenden Werten, er verlor sich in Merkwürdigkeiten, bedauerte, dass er der freien Rede nicht mächtig sei, las aus vorbereiteten Zettelchen vor und steuerte plötzlich auf einen letzten Satz zu: "Ich werde jetzt provokativ und grüße meine Kameraden der SS!" Buhen und Zischen unter den Zuhörern, Nervosität auf dem Podium, Grass schreibt mit, und nur wenigen fällt auf, wie Augst eines der mitgebrachten Fläschchen öffnet und austrinkt. "Das war Zyankali, mein Fräulein", sagt er zu einer neben ihm stehenden Frau, dann bricht er zusammen. Hilfe kommt zu spät. Auf dem Weg ins Krankenhaus ist Manfred Augst gestorben.

Grass will den sonderbaren Selbstmörder als Fußnote seines Buches beiseite schieben. Doch Augst drängt sich immer wieder in die Geschichte hinein. Wer war dieser Mann? Wer oder was war schuld an diesem Selbstmord als Fanal? Schließlich besucht er Augsts Familie. Er kommt zum Kaffee und bleibt zum Abendbrot. Frau Augst, drei Söhne, eine Tochter. Grass sitzt auf dem verwaisten Platz von Manfred Augst. Auch Grass hat zu Hause drei Söhne und eine Tochter. Für einen Abend sind die Familien vertauscht. Günter Grass ist Augst. Der SS-Mann mit dem großen Abgang.

Die Tochter ist die kleinste. Sie ist dreizehn Jahre alt, sitzt mit am Tisch und schweigt. Bewundert den Schriftsteller und ihre Brüder, die so gelassen mit ihm zu plaudern verstehen. Grass erwähnt sie später nur in einem Satz. Das war am 16. Dezember 1969, "als Willy schon Kanzler war".

Fünfunddreißig Jahre später sucht die kleine Tochter von damals auf dem alten Dachboden nach ihrer alten Lieblingsvase aus grünem Glas und findet alte Zettel, Aufzeichnungen ihres Vaters und zehn Abschiedsbriefe, die er über die Jahre geschrieben hatte: "Jetzt könnt Ihr wahrscheinlich im Haus bleiben", steht da, "wenigstens noch länger. Der Bausparvertrag ist auch gesichert, so kann ich diesen Schritt verantworten." Die Tochter liest und liest, die Briefe des peinlichen Vaters, des Schreckensvaters, des Nazivaters, den sie in ihrem Leben nicht ein einziges Mal lachen sah, der die Familie terrorisierte, seine Frau, die Söhne und der mit seinem öffentlichen Selbstmord die Familie zur bedauerten Kuriosität ihrer Heimatstadt Tübingen machte, zum Gespött.

Die Tochter ist die Journalistin Ute Scheub, die vor mehr als fünfundzwanzig Jahren die linksalternative "taz" mitbegründete, für die sie auch heute noch schreibt. Ute Scheub hat jetzt die Geschichte ihres Vaters geschrieben. Der Mann, den Grass Manfred Augst nannte, ein Pseudonym, das Scheub beibehält. Es ist eine Suche. Sie versucht zu verstehen, wie schon Grass es versucht hatte. Sie rekonstruiert das Leben eines Täters, der schon früh Mitglied der NSDAP geworden war, dann bei der SA, der SS, immer eifrig, übereifrig oft. "Er war ein hundertfünfzigprozentiger Nazi", schreibt Scheub, "ein ideologischer Dogmatiker, und ironischerweise beförderte ihn gerade diese Eigenschaft manchmal an den Rand der ,Bewegung'. Einmal, so erzählte später sein jüngerer Bruder, habe er einen ganzen SA-Zug aufgehalten, weil dieser das Lied ,Es zittern die morschen Knochen' falsch gesungen habe." Er studierte Rassenlehre beim berüchtigten Professor Hans F. K. Günther, dem sogenannten "Rasse-Günther", gehörte zum "Wachbataillon General Göring", kämpfte im Krieg an allen Fronten, und als am 3. Mai 1945 an seinem Kampfplatz die Kämpfe eingestellt werden, irrt er noch durchs Land, um an irgendeiner anderen Stelle weiterzukämpfen. Für Deutschland. Bis es endlich auch für Manfred Augst nichts mehr zu kämpfen gibt.

Seine Tochter erzählt das heute alles ruhig, fragend, manchmal erschüttert, manchmal kühl und staunend. Sie erzählt es als die exemplarische Geschichte der schweigenden Generation der Väter. Und wie dieses Schweigen eine Familie terrorisierte und alles Familienleben schließlich tötete. Sie erzählt, wie ihre Mutter ihr die Todesnachricht überbrachte und sie sich zwingen mußte, einige Tränen zu vergießen. Bis ihr Bruder ihr sagte, sie solle endlich damit aufhören. Jeder könne sehen, daß sie schauspielere. Von dem Begräbnis berichtet Scheub, das ist vielleicht der unheimlichste Moment des Buches, vom Begräbnis ihres eigenen Vaters, bei dem sie die ganze Zeit mit dem Lachen kämpfte. Ein unbändiger Wunsch zu lachen erschütterte das Mädchen beim Anblick des Sarges ihres eigenen Vaters. Was für ein unglaublicher Moment. Wieviel sagt er über die zerstörende Wirkung des Schweigens.

Die große Kunst von Scheubs Buch ist, daß sie beides erzählt. Die persönliche Geschichte, den lebenslangen Kampf gegen den Vaterschatten, das Verdrängen zunächst, das unbedingte Andersseinwollen dann. Das Leben als eine Negativfolie des Vaters. Alles exakt und unbedingt gegenteilig machen zu wollen und damit in eine neue fatale Abhängigkeit zu geraten. Und dann sich langsam freizureden, freizuschreiben, freizuarbeiten. Mit der Gründung einer radikal anderen Zeitung. Mit ihrer täglichen Arbeit. Und damit erzählt Scheub auch die Geschichte ihrer Generation, der Täterkinder. "Jetzt, da die meisten Täter tot sind, fällt der Tabubruch leichter, Familiengeheimnisse preiszugeben."

Und am Ende steht sogar eine Art Versöhnung: "Lass ihn doch in Frieden ruhen", sagt sie zu sich. Und Günter Grass hatte schon damals am Ende seines Buches bedauert: "Jetzt zu spät, Augst das Du antragen."

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19.02.2006

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Mein Vater, der Nazi

1969 schockierte er die Öffentlichkeit mit seinem Freitod. Seine Tochter war 13. Jetzt hat sich Ute Scheub auf Spurensuche begeben

Von Antje Hildebrandt

Die Frage hat sie lange gequält. Was wohl passiert wäre, wenn er geredet hätte.

"Der runde Esstisch im Wohnzimmer. Sechs Stühle, alle besetzt. Das Essen ist aufgegessen, die Teller stehen noch da. Ich bitte euch sitzen zu bleiben, sagt mein Vater. Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen. Stille. Die Mutter, die Kinder spüren die Anspannung. Vater mit Schweißperlen auf der Stirn. Ich habe Menschen umgebracht."

Dazu ist es nie gekommen. Er hat nicht geredet. Deshalb hat sie dieses Szenario durchgespielt. Man kann die Angst nur bekämpfen, wenn man sich ihr aussetzt. Ute Scheub hat es getan und ein Buch darüber geschrieben. Es heißt "Das falsche Leben", sie nähert sich darin einem Mann, der ihr, solange sie zurückdenken kann, immer fremd geblieben ist: ihrem Vater.

Es ist eine sehr persönliche Geschichte. Sie beginnt mit einem spektakulären Ende. Juli 1969. Ein Mann, einst überzeugter Nationalsozialist, findet sich im zivilen Alltag der Nachkriegszeit nicht mehr zurecht. Die Dinge sind dieselben geblieben, aber sie tragen jetzt andere Namen. Es ist, als werde plötzlich eine andere Sprache gesprochen. Eine, die er nicht versteht oder nicht verstehen will. Wie buchstabiert man C-O-U-R-A-G-E?

Diese Frage treibt auch den Schriftsteller Günter Grass um, auch er ein Kriegsheimkehrer. Im Juli 1969 stellt er auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart seinen neuen Roman vor: "Örtlich betäubt." Es ist ein Plädoyer für die Aufarbeitung der Naziverbrechen.

Er kann nicht ahnen, dass im Publikum ein Mann sitzt, der sich durch dieses Plädoyer persönlich angegriffen fühlen muss. Ute Scheubs Vater. Er steht mitten in der Lesung auf und ruft vor 2000 Zuhörern "Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS!" Dann setzt der Mann ein Fläschchen Zyankali an die Lippen und trinkt.

Ute Scheub wendet ein Foto ihres Vaters zwischen den Händen. Sie strahlt die Gelassenheit einer Frau aus, die mit sich selber im Reinen ist. Sie guckt nur ein bisschen pikiert, wenn man ihr Fragen nach ihrem Vater stellt. Sie sagt dann: "Haben Sie mein Buch nicht gelesen?" Sie hat in diesem Moment denselben trotzigen Gesichtsausdruck wie der Mann auf dem Schwarzweiß-Bild. Es zeigt einen hageren Brillenträger mit ernstem Gesicht, es sieht aus, als beiße er sich auf die vollen Lippen. Seine Tochter sitzt im Wohnzimmer eines Reihenhauses in Berlin-Zehlendorf und schaut zum Garten heraus. Knöterich rankt sich an einem mächtigen Baumstamm empor.

Die Liebe zur Natur hat sie vom Vater geerbt. Wenn sie an ihn zurückdenkt, dann hat sie das Bild eines Kleingärtners vor Augen. Unkraut jätend. Sie sagt, es habe ihn mit einer grimmigen Befriedigung erfüllt, zumindest in seinem eigenen Reich bestimmen zu dürfen, was ausgemerzt werden musste und was am Leben blieb. Den nächsten Satz spuckt sie förmlich aus: "Er hat von einer Karriere als Rassewart geträumt."

Der Freitod war lange geplant. Der Vater hatte Abschiedsbriefe geschrieben, 14 an der Zahl, einer wirrer und unleserlicher als der andere. 35 Jahre später findet sie seine Tochter zufällig auf dem Dachboden, wo sie nach einer alten Vase sucht, zusammen mit Feldpostkarten, die er seinen Eltern aus dem Krieg geschickt hat. Sie lesen sich wie Urlaubsgrüße: "Mir geht es immer gut."

Die Tochter stutzt. Je mehr sie liest, desto weniger versteht sie. Und desto dringender wird ihr Wunsch, die Erinnerung an diesen Mann zwischen zwei Buchdeckel wegzusperren. Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen.

Anhand der Stempel auf den Feldpostkarten kann Ute Scheub in einem Militärarchiv nachvollziehen, wo ihr Vater wann gedient hat. Erst als Flak-Kanonier des Wachbataillons General Göring in Deutschland; ab 1942 mit dem Afrika-Corps General Rommels in Italien, Albanien, Korfu und Bengasi; und nach einem Krankenhausaufenthalt in Österreich wegen Gelbsucht und Ruhr ab 1943 als Aushilfssanitäter in Italien.

Bei ihren Recherchen stößt sie schnell an ihre Grenzen. Die Flak-Akten wurden alle vernichtet. Zwei Militärorden, das ist alles, was ihr von ihrem Vater blieb. Und das Wissen, dass die deutsche Flak in Italien mehr als 600 Ortschaften heimsuchte und an die 10.000 Zivilisten ermordete – Partisanen nicht mitgerechnet. Ihr Vater war dabei. Ute Scheub sagt, sie habe sich lange mit der Frage gequält, wie sie ihr eigenes Gewissen hätte erleichtern können, wenn sie Anhaltspunkte dafür gefunden hätte, dass ihr Vater an einem Massaker an Frauen und Kindern beteiligt gewesen wäre. "Was hätte ich dann machen sollen? Den Kontakt zu den Hinterbliebenen der Opfer aufnehmen?"

Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt, so, als fröstele sie. Ihre Stimme zittert ein bisschen, auch heute gibt es nur Vermutungen, keine Beweise. Sie sagt, hätte sie die Wahrheit herausgefunden, hätte sie sie auch aufgeschrieben. Hätte. Es scheint, als sei sie darüber erleichtert, dass der Vater ein Phantom bleiben darf. Dass sie ihm nicht den letzten Rest dessen rauben musste, was man Würde nennt.

Man wird nicht so recht schlau aus diesem Mann. Es ist ein Leben voller Widersprüche. Etwas muss mit ihm passiert sein nach 1945. Plötzlich demonstriert er gegen Wiederbewaffnung und Atomtod und hilft seinen Söhnen dabei, den Kriegsdienst zu verweigern. Er leidet an Depressionen. Und die Tochter vermutet, Die Ursache der Krankheit sei, dass er sich seine Schuldgefühle nicht eingestehen konnte. Die nahe liegendere Frage, ob es nicht gerade das Bewusstsein um seine Schuld war, das ihn in den Selbstmord trieb, stellt sie nicht. Sie ist die Tochter, sie kann nicht aus ihrer Haut heraus.

Er hat ihr seine Schuld aufgebürdet, 35 Jahre lang hat sie unter dieser Last gelitten. Um sich davon zu befreien, hat sie dieses Buch geschrieben. Sie übernimmt jetzt keine Verantwortung mehr für das, war er getan hat. Soll er gefälligst selber dafür geradestehen.

Sie war 13, als der Mann starb, der die Menschheit in Nützlinge und Schädlinge einteilte. Sie sagt, sie sei geradezu erleichtert gewesen, als ihr die Mutter die Nachricht von seinem Tod mitteilte. Schon damals habe sie sich mehr für sich selbst als für seinen Freitod geschämt: "Ich konnte nicht weinen." Für sie war er ein Fremder. Er ist es bis heute. Was ihn bewegte, darüber hat er nie gesprochen. Er hat seine Erinnerungen wie in einem Tresor verschlossen. Fast schien es, als hätte es das Dritte Reich nie gegeben. Keinen Hitler. Keinen Zweiten Weltkrieg. Keine Toten.

Doch der Krieg war gegenwärtig, die Kinder spürten, wie er das Klima in der Familie vergiftete. Sie litten unter diesem Mann, der sich zu Hause wie ein Feldwebel gebärdete, hart gegen sich selbst und andere. Der wirre Vorträge über Vaterliebe hielt, aber es nicht schaffte, die Kinder einmal in den Arm zu nehmen.

Etwas gärte in ihm, doch sie wussten nicht, was es war. Scham? Mitleid mit sich oder mit den Opfern? Die Familie hatte genug andere Sorgen. Das Geld war knapp bei vier Kindern. Nach dem Krieg musste der Vater wieder bei Null anfangen. Er brachte seine Familie erst als Erntehelfer, dann als Apothekergehilfe durch. Er wurde immer stiller. Am Ende lag er immer häufiger stumm auf dem Sofa und starrte zur Decke. Ute Scheub sagt: "Er ist an seinem Schweigen erstickt."

Behutsam legt sie das Foto ihres Vaters zurück in einen Karton mit anderen Schwarzweiß-Fotos. Sie lebt in einem gelb getünchten Reihenhaus im Wald. Die Räume sind hoch, das rissige Parkett atmet Geschichte Der Bauhaus-Architekt Bruno Taut hat die Siedlung in den 20er Jahren als Refugium für naturliebende Stadtbewohner entworfen, viel Licht, viel Grün, keine Schnörkel.

Ute Scheub hat sich hier mit ihrem Mann und ihrem elfjährigen Sohn eingenistet. Und ein Leben entworfen, von dem sie sagt, es sei die Antithese zum Leben ihres Vaters in Tübingen, "dieser verlogenen Puppenstubenstadt, diesem harmoniesüchtigen Heuchlernest". Ute Scheub rebellierte damals gegen autoritäre Lehrer. Sie las Marx und Simone de Beauvoir und tanzte nach "Negermusik". Sie rauchte Hasch und schnorrte Passanten um ein paar Groschen für eine Flasche Lambrusco an.

Ute Scheub ist jetzt 51, sie hat das Gesicht eines Mädchens, das irgendwann graue Haare bekommen hat. Sie ist noch immer wütend auf ihren Vater. Darüber, dass er sich nicht zu seinen Taten bekannt hat. Dass er sich am Ende als Opfer stilisiert hat, statt sich der Verantwortung zu stellen. Doch es ist nicht allein die Wut, die sie beflügelt hat, dieses Buch zu schreiben. Sie sagt: "Wenn man ein Trauma nicht auflöst, wird es weitergegeben."

Sie hat sich intensiv mit dem Thema befasst. Mit Frauen von Vietnam-Veteranen, die davon träumten, was ihnen ihre Männer nicht erzählen konnten. Mit den Kindern der Opfer des Terroranschlags vom 11. September, die das malten, was ihnen ihre Angehörigen verschwiegen. Man würde gerne wissen, wovon Ute Scheub nachts träumt. Ihr Buch, es enthält eine Leerstelle.

Man könnte sagen, das sei symptomatisch. Die deutsche Nachkriegsgeschichte bestehe im Grunde genommen aus lauter Erinnerungslücken. So gesehen hat diese persönliche Geschichte auch eine politische Dimension. Ute Scheub sagt, sie bekomme jetzt viel Post. Leser hätten ihr geschrieben: "Woher kennen Sie meinen Vater?"

Scheub ist Journalistin geworden, sie hat 1978 in Berlin die linksalternative Tageszeitung "taz" mitbegründet. Sie sagt, sie habe sich bewusst für diesen Beruf entschieden, "um gegen die Schwarzweiß-Malerei anzuschreiben." Die Wahrheit hat immer zwei Seiten.

Ute Scheub sagt, bei der Recherche habe sie eine erstaunliche Entdeckung gemacht: "das kaputt gemachte Kind" im Vater. Sie stilisiert ihn zum Prototypen einer Generation, welche von Vätern gedrillt wurden, die ihrerseits als leere Hüllen aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt waren. Es ist ein holzschnittartiges Bild, das sie da zeichnet. Ein fast hilfloser Versuch, den Schrecken zu versachlichen.

Auch ihr Vater wächst als Sohn eines Kriegsheimkehrers auf. Als Blockwart im Dritten Reich wird er dem Sohn später jene Mischung aus schwäbischem Leistungsdenken ("Schaffe, schaffe – Häusle baue") und Nationalstolz einimpfen, die diesen empfänglich für die Parolen der NSDAP macht. Ute Scheub sagt, ihr Vater sei ein zartes Kind mit einer angeborenen Sehschwäche gewesen. Der geborene Außenseiter. In der Kameradschaft im Krieg glaubt er, seine Einsamkeit überwinden zu können.

Heute leben in Deutschland nur noch 120.000 Männer über 90, doch die Erinnerung an den Krieg, sie lebt weiter – in ihren Kindern und Kindeskindern. Im vergangenen Jahr, als sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 60. Mal jährte, hat Ute Scheub einige von ihnen getroffen, bei Tagungen und Kongressen für traumatisierte Kriegsopfer. Die Gespräche mit ihnen hätten ihr geholfen, das Buch zu schreiben, sagt sie. Das ambivalente Verhältnis zum Vater, es sei zwar geblieben. Doch "das letzte Wort hat die Versöhnliche. Lass ihn doch in Frieden ruhen."

Potsdamer Neueste Nachrichten vom 26.06.2006

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Eine Tochter auf den Spuren ihres Nazi-Vaters

Roman aus Deutschland. Schonungslos offen erzählt eine taz-Autorin von ihrem schwierigen Verhältnis zum Vater, einem NS-Anhänger.

Von Elke Nicolini

Ich werde jetzt provokativ und grüße die Kameraden von der SS." So spricht ein Mann vor dem Mikrophon, schluckt Zyankali und stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Das geschieht auf dem Kirchentag in Stuttgart 1969. Es handelt sich um den Apotheker Manfred Augst. Schon einmal hat ein Autor sich mit diesem Mann literarisch auseinandergesetzt. Günter Grass widmete ihm mehrere Seiten in seinem "Tagebuch einer Schnecke". Denn er war Zeuge dieser Tat, hatte zuvor aus einem seiner Romane gelesen.

Der Selbstmord ruft ein enormes Medienecho hervor, das die Hinterbliebenen tief beschämt. Augst läßt Frau und vier Kinder zurück. Die Tochter Ute Scheub ist zu der Zeit 13 Jahre alt. Sie erfährt den Tod des Vaters wie einen Alptraum. Plötzlich steht sie seiner SS-Vergangenheit gegenüber. Ekel, Scham und Schuldgefühle überwältigen sie.

Ute Scheub, die zu den Gründungsmitgliedern der Tageszeitung "taz" gehört, musste 35 Jahre vergehen lassen, bevor sie sich ihrem verhassten Vater und dieser späten Aufarbeitung zuwenden kann. Einem Vater, der sie als Kind hat spüren lassen, dass er weibliche Wesen für minderwertig hält, der kalt und unzugänglich war und offensichtlich nicht aus seiner Haut heraus konnte. Die Autorin schildert, wie sie ihn erlebt hat. Fast immer abgeschottet vom Rest der Familie, die Kinder zum Durchhalten und zur Härte erziehend. Oft musste das kleine Mädchen schwere Arbeit im Garten leisten. Das war so ziemlich die einzige Leidenschaft, die Manfred Augst in sein späteres Leben retten konnte. Zynisch kommentiert Ute Scheub seine Lust, dem Unkraut den Garaus zu machen. Irgend etwas musste ausgemerzt werden, meint sie.

Als Initialzündung zum Buch wirkt das Lesen eines Abschiedsbriefs von Manfred Augst. Und während sie all die weiteren Dokumente und Aufzeichnungen von ihm sichtet, die sich im Hause in Hülle und Fülle finden, sieht sie sich mit unzähligen Fragen konfrontiert. Was sind das für Sonderkommandierungen, von denen Augst in Feldpostbriefen an die Familie schreibt, sie aber nicht weiter erläutert? Litt er unter Schuldgefühlen? Oder litt er, weil er aus der Bahn geworfen war, ein Protagonist der "betrogenen Betrüger", wie die Autorin Hannah Arendt zitiert. Jene, die vergessen hätten, dass ihre eigene Verschwörung gegen die gesamte Welt diese Welt dazu bringen könne, sich gegen sie zu vereinigen.

Wie geht man als kritischer Zeitgenosse mit einer Biographie um, deren Stationen und Entwicklungen diametral dem eigenen Verständnis von einem erfüllten, guten Leben gegenüberstehen? Das Bewusstsein für Recht und Unrecht, das Mitgefühl für Mitmenschen, die Toleranz Andersdenkenden gegenüber und vor allem die Lebensfreude entfernen die Tochter von ihrem Vater. Und doch ist durch die Arbeit am Buch der Haß auf ihn gewichen. Ute Scheub wird klar, wie es passieren kann, dass so einer sich in die Gemeinschaft - selbst in die schlechteste - flüchtet.

In den letzten Jahren haben sich etliche Autoren mit den Tätern in ihrer Familie beschäftigt. Allen Recherchen ist die große Angst gemein, auf Belege der schrecklichsten Verstrickungen zu stoßen. Und dennoch suchen Täterkinder fieberhaft nach Beweisen, die in fast allen Fällen nicht zu finden sind. Letztendlich aber wissen sie um die erforschten Fakten der Historie, die ihnen keine Entlastung gewähren. Ute Scheub geht in ihrem Erkenntnis vermittelnden Buch noch darüber hinaus und stellt sich die bange Frage, ob sie denn wirklich vor Täterschaft gefeit gewesen wäre.

Hamburger Abendblatt vom 29. 04.2006

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Mein Vater, der Fremde

Im Sommer 1969 vergiftete sich ein ehemaliger SS-Mann mit Zyankali - öffentlich, auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Seine Tochter hat jetzt ein Buch über ihn geschrieben

Von Felix Müller

"Er ist - buchstäblich - an seinem Schweigen erstickt", schreibt Ute Scheub über ihren Vater. In seinem "Tagebuch einer Schnecke" (1972) gab Günter Grass ihm den Namen Manfred Augst

Der Tag, an dem sich Manfred Augst das Leben nahm, war ein schweißtreibend heißer Samstag. Schwüle 25 Grad lagen am 19. Juli 1969 über dem Talkessel von Stuttgart. An seinem nördlichen Rand, auf dem Messegelände am Killesberg, herrschte in der Halle 1 mit gut 2000 Besuchern subtropisches Klima.

Die Teilnehmer des Evangelischen Kirchentages harrten dennoch geduldig aus, in kurzen Hosen und mit freien Oberkörpern, sich unablässig Luft zuwedelnd. Die Veranstalter hatten den Besuch von Günter Grass angekündigt, und wenig später saß der Dichter auf dem Podium und las aus "Örtlich betäubt", seinem neuen, noch unveröffentlichten Roman. Darin wird geschildert, wie ein Schüler ein bizarres Fanal gegen den Vietnamkrieg setzen möchte: Er will auf dem Kurfürstendamm seinen Dackel verbrennen. Protest und Ritual, Individuum und Gesellschaft: Der Text war wie geschaffen für ein Kirchentags-Teach-In und eine ausgiebige Diskussion unter Studenten. Gleich nach der Lesung hätte es losgehen können. Doch es ging nicht los. Jemand störte: Manfred Augst.

"Und dann trat dieser Mann vors Saalmikrofon", schreibt die Journalistin Ute Scheub, "redete wirr, stammelte herum, verhedderte sich in seinen Satzfetzen. Menschen wie er, die vor 1945 an Deutschlands Größe geglaubt hätten, würden nun als "Verbrecher' gebrandmarkt... Deshalb wolle er nun ein Zeichen des Protestes setzen. Sein letzter Satz: "Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS.' Das Publikum, vorwiegend junge Leute aus der Studentenbewegung, buhte. Der Mann setzte ein Glasfläschchen an die Lippen und trank es aus. "Das war Zyankali, mein Fräulein', sagte er zu einer jungen Frau neben ihm, bevor er zusammenbrach." Manfred Augst, 56 Jahre alt und Apotheker aus Tübingen, stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Ute Scheub ist seine Tochter.

35 Jahre nach seinem Tod begann sie, sich auf die Suche nach dem Leben des Vaters zu machen. Ihr Buch, das dieser Tage erscheint, ist nicht nur eine sehr persönliche, oft wütende Abrechnung mit einem Menschen, der für sie immer ein Fremder geblieben ist. Es beschreibt auch den Lebensweg eines Täters, der mit der eigenen Schuld nicht umgehen konnte und am Ende daran scheiterte.

Wer Ute Scheub heute in ihrem Häuschen in Zehlendorf besucht, begegnet der Klarheit eines Menschen, der sich den schmerzhaften Seiten seiner Herkunft gestellt hat. Die Mitbegründerin der "taz", die heute als freie Autorin arbeitet, kann inzwischen laut über einige Eigenheiten des Vaters lachen - wie etwa über seinen verschwurbelten, tief im Ungefähren gründelnden Umgang mit der Sprache. Viele andere Dinge machen sie nach wie vor wütend: seine soziale Inkompetenz, das Schweigen und die Kälte, die von ihm ausgingen. Dieser differenzierte Blick ist es wohl, der sie davor bewahrt, von der Vergangenheit erdrückt zu werden.

Es war im Sommer 2004, als sie auf einem schwäbischen Dachboden einen Karton mit Papieren fand - ungezählten Feldpostschreiben, Notizen und Abschiedsbriefen, die ihr Vater hinterlassen hatte. Deren Lektüre und die übrigen Recherchen für ihr Buch, sagt sie, seien "nie frei von Ambivalenz" gewesen. Sie wollte genau wissen, wer dieser Mann war, einerseits. Doch andererseits war die Suche immer überschattet von der Gefahr, im Keller ihres Vaters auf Leichen zu stoßen, von denen sie vorher nicht wusste.

Bevor man von seinem Leben erzählt, sollte man darauf hinweisen, daß Manfred Augst nicht sein wirklicher Name ist. Günter Grass hat ihn sich ausgedacht für das "Tagebuch einer Schnecke", in dem er die Ereignisse auf dem Kirchentag literarisch verarbeitet hat. "Augst wie Angst", schreibt Ute Scheub. Seinen wahren Namen möchte sie lieber verschweigen.

Er wird 1913 in einem Schwarzwalddorf geboren. Sein Vater, ein Volksschullehrer, kehrt aus Frankreich von den Fronten des Ersten Weltkrieges zurück - stark traumatisiert vermutlich, man weiß nicht viel darüber. Aber man weiß, dass er ein strenger Vater war. "Das Klima in der Familie meines Vaters", so Ute Scheub, "war geprägt durch den Herrn im Haus, meinen Großvater. Es wurde nicht viel geredet, geschweige denn diskutiert, der Großvater gab Anweisungen und sorgte dafür, daß er stets im Mittelpunkt stand." Der Sohn hat schon früh ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Integration und Gemeinschaft, nach "Mittunkönnen als Gleicher", wie er es selbst später nennt. Kameradschaftlichen Geist wird er sein Leben lang suchen und beschwören - noch in seinen letzten Momenten auf dem Kirchentag, noch kurz bevor er sich die Giftampulle an die Lippen setzt.

Aus dem Schwarzwalddorf zieht die Familie in eine schwäbische Kleinstadt und erlebt dort Inflation und Massenarbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Protestmärsche und Straßenkämpfe, kurz: die ganze Krise der Republik von Weimar. "1931 war die politische Radikalisierung so nahe auf die Haut gerückt", notierte Augst, "dass man sich damit beschäftigen musste." Zu diesem Zeitpunkt ist er schon Mitglied der NSDAP und der SA. 1933 tritt er als Mitglied Nummer 110 118 in die SS ein, im März 1934 wird er zum Kameradschaftsführer der Hitler-Jugend ernannt. Im Mai zieht er nach Jena, wo er sich als Student der Rassenkunde und der Anthropologie einschreibt.

Man darf sich Manfred Augst in diesen Jahren als einen glücklichen Menschen vorstellen. In dem SS-Mannschaftshaus, in dem er untergebracht war, fand er das, was er sich unter wahrer Kameradschaft vorstellte. "Er wollte sich in ihr auflösen", schreibt die Tochter. "In ihr untergehen. Sich selbst nicht mehr spüren müssen." So weit treibt ihn der Eifer für die "Volksgemeinschaft" und die rassistische Mission des NS-Staates, dass er sich bei Richard Walter Darrés Reichsernährungsministerium gar als "Zuchtwart" für Menschen bewirbt - eine Position, die es dort freilich gar nicht gibt.

Nach einer abgelehnten Bewerbung bei der Waffen-SS (Augst ist kurzsichtig) wird er Anfang September 1939 eingezogen und dient als Flak-Kanonier des "Wachbataillons General Göring". Der Kriegsverlauf verschlägt ihn in den kommenden Jahren an alle möglichen Orte - auch im Ausland, wo er an nicht näher zu klärenden "Sonderkommandierungen" teilnimmt. Im Juni 1942 landet er als Obergefreiter in Rommels Afrika-Korps; zum Kriegsende hin hält er sich in Norditalien auf. Dann ist alles vorbei.

Nach dem 8. Mai 1945 und der Entnazifizierung gründen Augst und seine Frau eine Familie. Drei Söhne kommen zur Welt, schließlich Tochter Ute. Der Vater arbeitet als Apothekerassistent in Tübingen. Doch in die Normalität des Alltags findet er nicht zurück. Etwas fehlt, das er verzweifelt sucht - doch er schafft es nicht, sich verständlich zu machen. Nicht im Gespräch mit seiner Familie, die sich ihm immer mehr entfremdet. Und auch nicht in seinen ausufernden Notizen, die immer wirrer werden. "Wir alle", schrieb er in einem der seltenen klaren Momente, "sind losgelöst worden von Menschen und Dingen und Idealen, die uns lieb und teuer waren, die uns das Leben lebenswert machten." Manfred Augst erlebte das Ende des Dritten Reiches vor allem als Zusammenbruch einer Gemeinschaft, deren Existenz ihm der NS-Staat erfolgreich eingeredet hatte. "In jenen Jahren", schreibt seine Tochter, "war spürbar, dass der Verlust der "Kameradschaft' ein tiefes Loch in seinen Seelenhaushalt gerissen hatte." Darüber möchte er reden. Von dem, was im Krieg wirklich geschah, schweigt er: "Jedem, der ihn darauf ansprach, verbot er aggressiv den Mund." Bis zum Schluss.

Sein öffentliches Ende hatte sich Manfred Augst gewiss als wuchtigen Donnerschlag vorgestellt, der alle Beobachter schlagartig verstummen lassen sollte. Er hielt seine Rede, er trank das Gift: Sein Freitod sollte Einkehr erzwingen, er sollte dauerndes, unbequemes Mahnmal bleiben.

Er konnte nicht mehr feststellen, dass es ihm nicht gelang. Dass auch sein letzter Versuch scheiterte, sich verständlich zu machen - wie er schon so oft zuvor gescheitert war.

Es war ein heißer, schwüler Tag in Stuttgart. Das Rote Kreuz war permanent im Einsatz, um die Opfer der Hitze zu versorgen. Als Manfred Augst nach wirrer und schwer verständlicher Rede zusammenbrach, glaubte man, er habe einen Kreislaufkollaps erlitten. "Manche", schrieb später eine Beobachterin, "hatten die in konkaven Facetten geschliffene Flasche mit dem schwarzen Schraubverschluß in seiner Hand gesehen, als er sich ob der ungewohnten Anstrengung, vor mehr als zweitausend Menschen ins Mikrofon zu sprechen, den Schweiß von der Stirn wischte. Man dachte, sie enthielte Eau de Cologne."

Berliner Morgenpost vom 19.02.2006

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Scheub, Ute - Das falsche Leben - Eine Vatersuche

Von Thomas Borchert

Erinnerungen an Nazi-Eltern sind «in» auf dem Büchermarkt, und ihr Wert über den ganz privaten oder aber kommerziellen hinaus erscheint oft zweifelhaft. Ute Scheub, 1955 geborene Mitbegründerin der «taz», hat ein Buch über ihren gänzlich unspektakulären Nazi-Vater geschrieben, der 1969 sein Leben auf äußerst spektakuläre Weise beendet hat: Er meldete sich bei einer Kirchentags-Diskussion mit Günter Grass in Stuttgart vor 2000 Zuhörern zu Wort, redete verworren und trank nach dem Satz «Ich grüße meine Kameraden von der SS» ein Fläschchen Zyankali.

Grass hat nach dem grausamen Erlebnis die Familie in Tübingen besucht und den Selbstmörder unter dem Pseudonym Manfred Augst im «Tagebuch einer Schnecke» 1980 verewigt. Mehr als zwei Jahrzehnte später findet Ute Scheub auf dem Dachboden des elterlichen Hauses haufenweise Aufzeichnungen ihres Vaters, darunter auch diverse Abschiedsbriefe. Ihre hier einsetzende «Vatersuche», so der Untertitel des Buches, hat lesenswerte Einblicke in den Weg des 1913 geborenen Apothekers zu Tage gefördert. Augst war ein eher schwächliches Kind, ein fanatisch vom Nationalsozialismus überzeugter Student der «Rassenkunde» und im Zweiten Weltkrieg ein eher anonymer SS-Mann, dessen Taten und möglicherweise Untaten im Dunkeln bleiben.

Scheub schildert mit überwiegend kühler Distanz, wie alle Anläufe ihres Vaters zu Befreiung aus seiner inneren Nazi-Zwangsjacke als aktiver Christ und Ostermarschierer für den Pazifismus nach Kriegsende scheitern. Dieses schreckliche innere Gefängnis macht den über die Vergangenheit eisern schweigenden Vater zu einer Plage für die Familie. Die Autorin reichert diese persönliche Geschichte mit wichtigem zeitgeschichtlichem Hintergrund und erhellenden Einsichten etwa einer Hannah Arendt oder eines Elias Canetti über die Struktur der faschistisch geprägten Persönlichkeit an.

Zusammengehalten wird das Buch von der Frage, was der Vater mit seinem Selbstmord in dessen extrem öffentlicher Form wohl erreichen wollte. «Gemeinschaft stiften» zwischen seinen SS-Kameraden aus der Nazi-Zeit und den Christen aus seinen religiös-pazifistisch geprägten Aktivitäten nach dem Krieg, lautet die Antwort der Tochter.

Unverständlich bleibt, warum Scheub bei der Beschreibung ihrer Suche immer wieder subjektive Befindlichkeiten auf niedrigem Niveau auftischt: «Meine Wut auf ihn ist riesig, aber mein Mitgefühl ebenso.» Die Freude der Autorin darüber, dass sie gegen Ende ihrer Vatersuche auf einmal «erfrischt, lebenslustig, voll mit prickelndem Sauerstoff» aufwacht, ist verständlich. Aber vielleicht doch eher was für das private Tagebuch oder einen persönlichen Brief.

Ixlibris 04/2006

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Noch so einer!

Die Journalistin Ute Scheub ist die Tochter des Apothekers Manfred Augst. Dieser hat 1969 auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart Selbstmord begangen. Seine letzten Worte, die er vor zweitausend Kirchentagsteilnehmern formulierte, lauteten: "Ich grüße meine Kameraden von der SS" !

Wer dieser Mensch war, hat sich Günther Grass, der als Redner bei der Veranstaltung zugegen war, schon damals gefragt. Ute Scheub, die zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt war, stellt sich diese Frage noch immer. Die Autorin schreibt von ihrem Hass auf diesen Mann, mit dem sie sich fünfunddreißig Jahre nicht befassen wollte, weil er zu seinen Lebzeiten durch sein Schweigen, seine unnachgiebige Härte und seinen generellen Mangel an Empathie seine gesamte Familie tyrannisierte. Ute litt unter diesem fürchterlichen Despoten, dem sie sich nicht entziehen konnte, weil sie noch ein Kind war. Was hat ein Mensch im Laufe seines Lebens getan, um so zu verhärten? Weshalb ist der Mann schließlich freiwillig aus dem Leben geschieden? Genau diesen Fragen spürt die Tochter nach. Sie setzt sich mit den Aufzeichnungen ihres Vaters auseinander, der schon in den 30er Jahren als SS- Mann den Willen Hitlers, der zu seinem eigenen wurde, gnadenlos in die Tat umsetzte. Die Sprache Manfred Augsts war noch 1969 sehr nationalsozialistisch eingefärbt. Der Apotheker hatte es nicht geschafft sich der alten Ideologie zu entledigen, weil er nicht bereit war seine Handlungen, die er während der NS-Zeit begangenen hatte, zu hinterfragen. Anstelle sich mit seinem Unrecht auseinanderzusetzen, verschanzte er sich stattdessen in seinem mentalen Bunker, wie Scheub konstatiert, der ihm allerdings den Zugang zu seinen Mitmenschen verwehrte. 1934 begann Augst in Jena "Rassenkunde und Anthropologie" zu studieren. Sein Pharmazie-Studium absolvierte er erst zu Ende der 50er Jahre während der immer noch naziverseuchten Adenauer-Ära, mit der sich die Autorin in der Folge detailliert beschäftigt. Auch zeigt sie Zusammenhänge zur 68er Bewegung auf, die sich nicht als normaler Generationenkonflikt begreifen lässt, sondern vielmehr die zwingend notwendige intellektuelle Auseinandersetzung mit den vielen Alt-Nazis im neuen Establishment war. Augsts ursprünglicher Berufswunsch war der des "Zuchtwarts". Allein die Berufswahl sagt viel über den Grad der Verblendung dieses Mannes aus. Wie groß die Anzahl der Menschen war, die er anschließend in Polen und in Norditalien kaltblütig ermordet hat, lässt sich nur erahnen. Ute Scheub konnte es nicht in Erfahrung bringen, nicht zuletzt, weil die alten Seilschaften sich nach Kriegsende gegenseitig Alibis verschafften und Tatbestände erfolgreich vertuschten. Aber die Tochter vermutet, dass ihr Vater seine Krieghandlungen erbarmungslos durchführte. Die Autorin hat sich wirklich breit gefächert mit der NS-Zeit befasst und das wohl schon seit ihrem Politologie- Studium. Sie schreibt von den Verbrechen der Deutschen an den Juden, den Sinti und Roma und an den vielen Zivilisten unterschiedlicher Nationalitäten in ganz Europa und thematisiert die Absurdität des Rassenwahns, das absonderliche Sippendenken und die nationalsozialistischen Wertvorstellungen, wonach das Volk alles ist und der Einzelne nichts bedeutet und ein Freund, im Gegensatz zu einem Kameraden ein beliebig ersetzbarer Mensch ist. Die Unfähigkeit einer ganzen Generation Mitleid mit den Opfern zu empfinden hat Folgen für die Kinder , wie Psychologen erforscht haben. " Schuldgefühle, Hass auf den Vater, Autoaggression, Ängste, ungreifbar wie wabernde Nebelschwaden. Das Gefühl ein Nichts zu sein. Unwertes Leben zu sein..." Ute Scheub wollte sich von all dem befreien, indem sie sich mit der Person Manfred Augst intellektuell auseinandergesetzt hat. Der Sohn eines kaltherzigen, geizigen, pietistischen Vaters, - eines schwäbischen Volksschullehrers - wurde von diesem gnadenlos gedrillt und führte im Grunde ein sehr einsames, bedauernswertes Leben. Trotz dieser frühkindlichen Missstände und unheilvollen Prägungen kann Manfred Augst die Verantwortung für sein menschenverachtendes Tun aber nicht abgesprochen werden. Dies sieht auch seine Tochter Ute so. Nach dem Krieg engagierte sich Augst in der evangelischen Kirche, die, wie Scheub recherchiert, während der NS-Zeit leider selten wirklich klare Stellung gegen das monströse Treiben der Nazi-Schergen bezogen hat. Die christlichen Werte blieben Manfred Augst bis zu seinem Tod fremd. Er klagte die Kirche an, weil sie ihm nicht das zu geben vermochte, was er so dringend benötigte. Was dies tatsächlich war, konnte er bis zu seinem Tod nicht konkret definieren. Dem alten SS-Mann gelang es nicht seine Schuld anzunehmen. Er verweigerte sie und lebte durch seinen Selbstmord stattdessen ein archaisches Opferritual aus, durch das er offensichtlich auf die vielen , wie er glaubte, unverstandenen Kameraden der SS aufmerksam machen wollte. Seine Frau und seine vier Kinder waren für ihn kein Thema. Sie ließen ihn letztlich kalt. Die Bunkermentalität verstellte Augst den Blick für das Leid anderer, selbst seiner Nächsten. Ute Scheub hat sich durch ihre tiefgehenden Reflexionen vom Schatten ihres Vaters befreien können. Sie hat ihre Traumatisierung hinter sich gelassen und kann sich nun endlich dem Hier und Heute zuwenden!

Ein kluges, wichtiges Buch einer feinfühligen, intelligenten, bemerkenswerten Frau!

kriegsgefangenschaft.at 

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UTE SCHEUB: Das falsche Leben

Von Ursula Böhm

UTE SCHEUB © BR Stuttgart, 19. Juli 1969. Zehntausende drängen zum Evangelischen Kirchentag auf dem Messegelände am Killesberg. Es ist ein heißer Samstag, drückend und schwül. Aufgeheizt ist auch die Stimmung in den voll besetzten Hallen. Günter Grass liest aus seinem neuen Roman "Örtlich betäubt", es geht darin um Protest und Ritual, um den Einzelnen und die Gesellschaft.

 Dann tritt ein Mann ans Saalmikrofon und redet wirr. Sein letzter Satz: "Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS." Er trinkt aus einem Fläschchen. Es ist Zyankali. Manfred Augst, so nennt ihn Grass später in einem Buch, stirbt noch auf dem Weg ins Krankenhaus.

Ute Scheub ist seine Tochter. 35 Jahre später hat sie auf dem Dachboden des Elternhauses eine Kiste mit Aufzeichnungen, Notizen und Briefen ihres Vaters gefunden. Ihre erschütternde Spurensuche nach dem fremden Vater hat sie jetzt in einem Buch verarbeitet.

UTE SCHEUB ALS KIND © BR Sie wächst mit ihren drei Brüdern in Tübingen auf. Der Vater arbeitet in einer Apotheke. "Für ihn war ich nicht existent. Ein Loch in der Luft, ein uninteressantes Ding, weil ich ein Mädchen war. Ich schäme mich für diesen Vater nicht erst, seit er tot ist, er war mir durch und durch peinlich." Der Vater war verschlossen und abweisend wie ein Bunker. Ute ahnt, dass er ein Nazi ist, aber was das ist, weiß sie nicht wirklich, darüber wird nie gesprochen, nicht in der Schule und zu Hause erst recht nicht.

AUFZEICHNUNGEN © BR Am 19. Juli ist es heiß. Als Ute, jetzt 13 Jahre alt, vom Freibad nach Hause kommt, sind die Fensterläden geschlossen. "Dein Vater ist tot", sagt die Mutter. Am Abend erzählt eine Tante, dass es Selbstmord war. Die Geschichte mit dem Suizid auf dem Kirchentag steht in den lokalen Zeitungen. Bald weiß die halbe Stadt davon. "Ich lief in Schimpf und Schande über die Straßen", so Ute Scheub.

Der Verstummer, so nennt sie den schweigsamen Vater, hat über alles manisch geschrieben, in seinen Notizen immer von Gemeinschaften geschwärmt, die extrem autoritär und hierarchisch sind. Er sucht schon früh Kameradschaft, will einem höheren Ideal dienen, dazugehören. 1931 wird der Mitglied der NSDAP und SA, 1933 tritt er in die SS ein, seine glücklichste Zeit. Er studiert Rassenkunde.

Ute Scheub beschreibt den Lebensweg eines Täters. Zur Waffen-SS kommt der Vater zwar nicht, weil er sehr kurzsichtig ist, aber er kämpft verbissen an allen Fronten, gehört zu den Sondereinheiten in Afrika und später in Norditalien. Sicher hat auch er Menschen getötet. Ihr Buch "Das falsche Leben" ist eine sehr persönliche, oft qualvolle Aufarbeitung der Vergangenheit. Es ist auch ein erschütterndes Dokument über das Verdrängen der deutschen Geschichte.

BR vom 30.04.2006

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Die Blausäure des Tyrannen

Als sie 13 war, nahm sich ihr Vater öffentlich das Leben, nicht ohne zuvor seine "Kameraden von der SS" gegrüßt zu haben. Die Journalistin Ute Scheub hat das Leben ihres Vaters aufgearbeitet - schonungslos auch gegen sich selbst.

"Das war Zyankali, mein Fräulein", sagte der reifere Herr am Saalmikrophon zu einer jungen Frau, die neben ihm stand. Er hatte wirr geredet, stammelnd, in Satzfetzen, von Zetteln gelesen, vor 2.000 meist jungen Christen, viele liefen barfuss. Denn es war sehr heiß auf dem Kirchentag im Juni 1969 in Stuttgart. Dann hatte er aus dem kleinen Glasfläschchen getrunken. Und er hatte gesagt: "Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS."

Auf dem Podium saß der Dichter Günter Grass. Er gab dem Mann, der sich vor seinen Augen mit Blausäure vergiftet hatte, in seinem "Tagebuch einer Schnecke" den Namen Manfred Augst. Dieser Augst stiehlt sich immer wieder in Momente des Tagebuch-Romans, stört, irritiert.

"Es war ein Traum"

"Augst wie Angst", schreibt 35 Jahre später die Autorin Ute Scheub: "Er war mein Vater." Sie war damals 13. Auch in ihr Leben stiehlt sich immer wieder dieser Manfred Augst, ist in der Erinnerung dieser schwüle Julitag wieder da, an dem ihre Mutter sagt: "Ich weiß, es ist furchtbar für Dich." Aber es war nicht furchtbar für das Mädchen, kurz vor der Konfirmation. Ute Scheub schreibt: "Es war ein Traum... Solange ich denken konnte, hatte ich mir das gewünscht." Und sie schämte sich für diesen Gedanken.

Eine Träne, aus Pflichtgefühl herausgequetscht, mit großer Geste weggewischt. Ihr Bruder sagte: "Hör doch auf damit." Auch ihre Brüder erlebten den Tod des Vaters als Befreiung. Auf der Beerdigung will ein teuflisches Lachen von ihr Besitz ergreifen. "Hurra der Vater ist tot." Nun, als Erwachsene schreibt sie ein aufgewühltes Buch von enttäuschter Liebe, von Hass, Ekel und Schuldgefühlen, von Scham und Überdruss zugleich, von Rebellion.

Aufdeckung statt Schönfärberei

Ein Buch als Abrechnung mit dem Vater? Ein Verstehenwollen, ohne Verständnis zu zeigen. Aufdeckung, nicht Schönfärberei. Eine Spurensuche. Auch nach den Spuren, die er in ihr hinterließ. Dass sie den Namen, den Grass ihrem Vater gab, in ihrem Buch beibehält, verwandelt den Apotheker aus Tübingen auch für sie von einem bösartigen Haustyrannen zu einer tragischen Figur. Und bleibt ihm doch so verbunden, dass sie fast dankbar ist, dass der ungelenke Student der Rassenlehre für seine Examensarbeit nur ein "brauchbar" und "nicht überragend" attestiert bekam, nicht so weit in der NS-Hierarchie aufstieg, dass er für Kriegsverbrechen größeren Ausmaßes verantwortlich gewesen wäre. Ein Widerspruchsgeflecht in dem sich so viele Täterkinder verheddern. Die Tochter schreibt: "Die Leichen in Keller meines Vaters sind auch meine Leichen."

Ute Scheub demonstrierte gegen Krieg und Unterdrückung, für die sandinistische Befreiungsbewegung in Nicaragua, schlug sich mit Stalinisten unter Kommilitonen und Dozenten der Freien Universität in Berlin herum. Das war in den 70er Jahren. Sie war in unseren endlosen nächtlichen Diskussionen in ihren Wohngemeinschaften immer etwas friedlicher, freundlicher und fröhlicher, radikaler nur in ökologischen Fragen. Sie gehörte zu den ersten Sieben der taz. Viele schleppten damals in Berlin irgendeinen Vater mit sich herum. So vielen war die Stadt eine Fluchtburg geworden. Deshalb ist dieses grundehrliche Porträt des Vaters und seiner Generation gleichzeitig eines über ihre Altersklasse, die "keine Macht für niemand" wollte und die sich später in den Grünen etablierte. Lebensentwürfe aus der Negativform der Väter. Links statt rechts, antiautoritär statt autoritär, Internationalist statt Nationalist. Der Abwehr des Vaterschattens als erneute Abhängigkeit, sie wollte "das Gegenteil meines Vaters sein."

Ute Scheub, findet den Abschiedsbrief des Vaters zwischen "unordentlichen Familienangelegenheiten" und altem Geschirr. Sie ist inzwischen fast 50. "Aber die Tür zum Dachboden ist immer noch die Geheimnistür meiner Kindheit. Auch damals hat sie wie ein Gespenst geheult, als ich sie geöffnet habe." Jetzt fällt das Gespenst aus einer brüchigen Pappkiste, besteht aus Blättern mit flüchtigen Notizen, Schreibmaschinenblättern. Im Abschiedsbrief steht: "Der Bausparvertrag ist auch gesichert. ... Was ich Euch darüber hinaus sein könnte bin ich auch so. Meine Hoffnung ist sogar, auf diese Weise Besinnung zu sein für Euch alle." Ute Scheub hatte in Berlin gegen diesen schwäbischen Bausparvertrag-Vater Häuser besetzt.

Zu Härte erzogen

Während die Autorin verschrobene Sätze von gilbem Papier liest, nimmt sie den Leser mit in die SA-Zeit des Vaters, in seine Wachmannschaft bei der Göring-Villa, seinen Krieg und gleichzeitig ihre eigenen Kindheitserinnerungen. Die endlosen Waldspaziergänge mit ihm die endlosen Examina in Vogelstimmen-, Kröten- und Kräuterkunde. Die für das kleine Mädchen zu schweren Gießkannen, die Dornen, die bei der Gartenarbeit die Hände blutig rissen. Das Erziehungsprinzip: abhärten, zu Härte erziehen, Härte zeigen.

Ute Scheub zeigt den gepanzerten Vater, der den eigenen Körper wie einen Feind behandelt, seine Einsamkeit im inneren Bunker. Ein Nazi, der an seinem Schweigen erstickt. Sie blickt in die Kindheit des Sohnes eines jähzornigen Schwarzwälder Dorfschullehrers, "verratener" Weltkriegsheimkehrer, der noch in den 60er Jahren mit dem Rohrstock unterrichtete, an dessen Mittagstisch gebetet wurde, nicht geredet. "Nicht zurückzucken, die Hand oder das Gesäß hinhalten, die Strafe akzeptieren, das geplatzte Fleisch nicht spüren - darum ging es. An der Grenze der eigenen Identität, dort wo auf der Haut auch die Lust siedelt."

Zwischen Gehorsam und Selbstbehauptung

In den wenigen persönlichen Zeilen unter den vielen Phrasen aus dem großen Karton schreibt der Vater, über sich, den Klassenbesten, der bei "Spiel und Kameradschaft manche Zurücksetzung erlitt." Über sich, den Apothekeraspiranten, den der SA-Dienst innerlich ausfüllte. "Diesen nahm ich so, wie ich in der herkömmlichen evangelischen Frömmigkeit empfand." Die Tochter beschreibt den Vater schwankend zwischen Gehorsam und Selbstbehauptung, der in der Kameradschaft der Nationalsozialisten vergessen konnte, wie schmächtig er war, eingebettet in eine Volksgemeinschaft, wenn nicht vom Vater, so doch vom Führer geliebt, Teil einer Sippe, Rasse, aufgehoben in einer rasenden Hetzmeute. Als einziges Gefühlserlebnis die Gruppenekstase.

Auf dem Kirchentag faselte dieser von seiner Meute alleingelassene von alter Kriegskameradschaft und fehlenden Werten, von der Kirche, die seinesgleichen nicht mehr unterstützte, wie einst. Und später das Schweigen. Ist es möglich, fragt die Autorin, dass Täter durch ihre Reaktionen, Gesten, ihr Vermeiden, ihre Abwehr einen Schattenriss ihrer Taten zeigen. Und andere so die verdrängten Erinnerungen fast bildlich spüren? Gibt es eine "Trauma-Übertragung"? Tief in seinem Inneren fühlte ich eine Giftkapsel, schreibt die Tochter, und fragt: Hat die Kapsel auch mich, die Vaterhasserin, vergiftet? Erst in seinen Aufzeichnungen von 1967 findet die Tochter auch die Alpträume ihres Vaters.

Ihre Mutter hat damals extra die Gardinen gewaschen, als sich der berühmte Dichter ankündigte. Dann hat Günter Grass mit der Familie am Tisch gesessen, vom Kaffeetrinken bis zum Abendbrot. Die kleine Ute bewunderte ihre großen Brüder, die so klug und gelassen mit ihm redeten. Grass erwähnt die Jungen später nur in einem Satz. Das Mädchen erwähnte er nicht. Jetzt hat es selbst ein Buch darüber geschrieben, eines von befreiender Offenheit. Auch das ist ein Gegenentwurf.

Stern vom 24.03.2006

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