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Das falsche Leben - Eine Vatersuche

Von Ute Scheub

Piper Verlag 2006

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... In den fünfziger und sechziger Jahren war das Schweigen meines Vaters das Schweigen aller. Bleideutsch lag es auf der Bundesrepublik Heuchelland, bedeckte sie mit undurchdringlichem Nebel, machte die Menschen unfreundlich und unglücklich. Erwachsene brachten ihren Kindern bei, nie zu lügen, doch ihre Kinder spürten, wie sich die Balken im Hause bogen. Erwachsene forderten ihre Kinder auf, sich für ihre schlechten Taten zu schämen, doch sie selbst blieben schamlos. »Alle logen sinnlos vor sich hin, selbst im kleinsten persönlichen Bereich«, berichtet in Gabriele von Arnims Buch »Das große Schweigen« eine Zeitzeugin, die es irgendwann nicht mehr aushielt und auswanderte. »Es war, als ob überall kleine Warnlampen blinkten: bloß nichts fühlen. So bin ich aufgewachsen: bloß nichts fühlen.«

Wo waren all die Nazis nur geblieben? In Westdeutschland duckten sich an die neun Millionen frühere NSDAP-Mitglieder weg, um nicht bestraft zu werden, die meisten blieben tatsächlich straflos. Die Alliierten verurteilten einige der schlimmsten Verbrecher vor dem Nürnberger Tribunal, dann verloren sie wegen des beginnenden Kalten Krieges jedes Interesse an Strafverfolgung und übergaben die Akten in deutsche Hände. Ein schrecklicher Fehler. Wenigstens hätten sie für eine Reform des deutschen Strafrechts sorgen sollen, um zu verhindern, dass die obersten Schreibtischtäter, wie später geschehen, nur wegen »Beihilfe zum Mord« verurteilt werden konnten. Aus insgesamt etwa 106.000 Ermittlungsverfahren folgten bis heute gerade mal rund 6.500 Verurteilungen, und viele verurteilte Täter wurden durch Amnestiegesetze des Bundestags beglückt.

Genau betrachtet beruhten die Fundamente der Bundesrepublik auf einem andauernden moralischen Skandal. Eine der ersten Amtshandlungen des Bundestags in der neu gegründeten Bundesrepublik im Dezember 1949 war die Straffreiheit für Zehntausende von Nazis. Um ihr wahres Motiv zu verbergen, gewährten die Parlamentarier Amnestie für zwei grundverschiedene Dinge: für minderschwere NS-Straftaten und für Schwarzmarktdelikte der Nachkriegszeit. Ein zweites »Straffreiheitsgesetz« von 1954 wiederholte diese obszöne Vermischung von Kohlenklau und Judenverfolgung, nur dass diesmal auch schwerere Straftaten unter die Amnestie fielen. Beide Male erfuhr die Öffentlichkeit kaum etwas davon, da keine Partei im Bundestag Klartext zu reden wagte. Ähnliches passierte im April 1951, als ein neues Gesetz unter dem unscheinbaren Namen »Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen« die Wiedereingliederung von über 300.000 Beamten und Ex-Berufssoldaten in den öffentlichen Dienst erlaubte. Damit wurden Zehntausende erheblich belasteter Alt-Nazis wieder in Beamtensessel gehievt, darunter die Mehrzahl des Gestapo-Personals oder der NS-Richter.

Von den Angehörigen des Volksgerichtshofs oder den Sonderrichtern, für etwa 32.000 Todesurteile verantwortlich, wurde kein Einziger je bestraft. Kein akademischer Propagandist der Rassenhygiene, Zwangssterilisierung und »Ausmerze« wurde jemals zur Verantwortung gezogen. Die Schreibtischtäter der Mordzentrale Reichssicherheitshauptamt, die Auschwitz bauten und den Genozid an Juden, Sinti und Roma planten, blieben von der Justiz unbehelligt, von den rund 8.000 Angehörigen der SS-Wachmannschaften in Auschwitz wurden gerade mal 40 verurteilt. Kaum ein Rüstungsindustrieller, Bankier oder Wehrwirtschaftsführer wurde zur Rechenschaft gezogen. Wenn überhaupt, dann waren es vor allem die kleinen Rädchen in der Kette des industriellen Massenmords, die vor Gericht kamen. In der DDR wurden übrigens doppelt so viele NS-Täter abgeurteilt, aber auch dort durften Ex-Wehrmachtsgeneräle in höchste Ränge der Volksarmee aufsteigen.

Die von den Alliierten initiierte »Entnazifizierung« war damit endgültig gescheitert. Nach Kriegsende hatten sie so genannte Entnazifizierungsverfahren durchführen lassen, bei denen unbelastete Laienrichter in Spruchkammern die Deutschen in fünf Kategorien aufteilten: »Hauptbeschuldigte«, »Belastete«, »Minderbelastete«, »Mitläufer« und »Entlastete«; letztlich aber stuften sie nur 0,6 Prozent der Betroffenen als Schuldige und 99,4 Prozent als »Minderbelastete«, »Mitläufer« und »Entlastete« ein. Mein Vater hatte offensichtlich Angst vor seinem Verfahren, in vielen Briefen bat er ehemalige Kameraden, ihm einen »Persilschein« auszustellen. ...

Das Schwierige ist, dass wir uns sowohl gegenüber den Opfern als auch gegenüber unseren Tätereltern schuldig fühlen. Kinder leben auf Kosten ihrer Eltern, sie werden von ihnen genährt, gekleidet, behütet, sie stehen ihr Leben lang in der Schuld ihrer Familie. Selbst wenn sich die Verhältnisse umdrehen, wenn die Kinder ihre alten Eltern pflegen, selbst dann gleicht sich diese gefühlte Lebensschuld nicht aus. Einem Vater die Wertschätzung zu verweigern, dass er ein behütender Vater und guter Mensch war, ist ein massiver Verstoß gegen diese uralten Regeln des Zusammenlebens. Habe ich deshalb jahrelang geträumt, dass mein Vater zurückkommt und ultimativ seine Anerkennung verlangt?

Geblieben ist mir eine Schuld- und Schambereitschaft. Ständig fühle ich mich für irgendetwas schuldig, und es vergeht kaum ein Tag in meinem Leben, an dem ich mich nicht für eine Kleinigkeit in Grund und Boden schäme. Ich habe die Scham gut gelernt, von der Pike auf, denn in meiner Familie ging es äußerst schamhaft zu, niemand zeigte sich nackt, niemand wollte sich eine Blöße geben. Im Laufe der Jahre ist mir die Schamhaftigkeit nach innen gewachsen. Ich kann nackt herumspazieren und mich an FKK-Stränden aalen, nunmehr klebt meine Schambereitschaft auf der Innenseite meiner Haut. Nichts fällt mir leichter, als mich mickrig und schuldig zu fühlen und mich dafür zu schämen. Nur für eins schäme ich mich nicht: für meine Wut. ...

Die Kirchen hätten nach Kriegsende vormachen können, was das heißt: Beichte, Reue, Umkehr. Es wäre ihre ureigene Aufgabe gewesen. Aber, schreibt der Psychoanalytiker Tilmann Moser, »die Kirche bot eher Fluchthilfe nach Südamerika an oder verwahrte sich gegen Unrecht bei der Entnazifizierung, statt Handreichungen für Seelsorge und Beichte zu erarbeiten«.

Ich schaue mir das so genannte Stuttgarter Schuldbekenntnis von Oktober 1945 an, mit dem die Evangelische Kirche zum ersten Mal ihre Mitverantwortung für die Verbrechen der Nazi-Zeit zu formulieren versuchte: »... Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.« Schon das waren eher blumige Umschreibungen als klare Worte, und selbst diese dimmte der Stuttgarter Prälat Karl Hartenstein wenig später bei seiner Eröffnungsansprache auf dem Treffen der internationalen Ökumene noch einmal herunter: »Das ist die Kraft der Einheit der Kirche, dass keines über den anderen richtet und anklagt, weil wir alle miteinander Mitschuldige sind vor diesem Kreuz und Mitbegnadete von dem, der die Welt geliebt hat.« Aha. Wir sind alle schuldig, wir sind alle unschuldig, egal, was wir gemacht haben. Genau so fühlte sich mein Vater, der Christ und Nazi: schuldig schuldlos, schuldlos schuldig.

Warum hätte er reden sollen? In diesem Land voller schuldlos Schuldiger?

Die Juden hätten Jesus getötet, seien deshalb »aller Menschen Feind« und hätten »den Teufel zum Vater«, predigten die Kirchen jahrhundertelang unter Berufung auf Bibelverse von Paulus und Johannes. Besonders die Evangelische Kirche hatte gegen den Nationalsozialismus wenig einzuwenden, hatte doch schon Martin Luther in seiner Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« vorgeschlagen, man solle die jüdischen »Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke(n)« und »ihre Häuser desgleichen verbrenne(n)«. Der größte Teil der Pfarrer begrüßte Hitlers Machtübernahme mit Überschwang, es waren nur Einzelne, die sich später dem Widerstand anschlössen. Kein Bischof und kein Papst protestierte jemals öffentlich gegen die Ermordung der Juden oder der Sinti und Roma, die einzige Sorge der Kirchenleitung bestand darin, dass die getauften KZ-Häftlinge kein Bußsakrament erhielten.

Ohne die tätige Mithilfe der Kirche hätten die deutschen Juden niemals von den deutschen »Ariern« getrennt und der Vernichtung preisgegeben werden können. Alle Deutschen mussten die Religionszugehörigkeit ihrer Eltern und Großeltern nachweisen, wer in die NSDAP oder SS eintreten wollte, hatte seine »rein arische Abstammung« sogar ab dem Jahre 1800 zu beweisen. Viele Pastoren rückten die nötigen Heirats-, Geburts- und Taufurkunden freudig heraus. »Millionen von Arierscheinen, die aus alten Kirchenbüchern herausgezogen wurden, verbürgen die Reinheit der Abstammung und bieten die Gewähr für die Durchsetzung der notwendigen bevölkerungspolitischen Aufgaben«, so begründete die Evangelische Landeskirche von Schleswig-Holstein 1939 ihre Mithilfe bei der Aussonderung der Juden. »Die Kirche hat in der Erkenntnis der großen Bedeutung dieser Dinge für das Volk und seine Zukunft sich freudig in den Dienst der Sache gestellt.« 

Die Kirche habe versagt, schrieb mein Vater in einem seiner Abschiedsbriefe. Sie hat tatsächlich versagt, doch in einem anderen Sinne, als er dachte. »Ich glaube«, schrieb Konrad Adenauer 1946 einen wenig bekannten Brief an den Bonner Pastor Bernhard Custodis, »wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tag öffentlich von den Kanzeln aus dagegen [gegen die Verbrechen der Nazis] Stellung genommen hätten, sie hätten vieles verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis und ins Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das kein Schaden, im Gegenteil. Alles das ist nicht geschehen und darum schweigt man am besten.« Zum Vergleich: Auch im nazi-besetzten Frankreich hielt die katholische Kirche erst still, dann aber rief sie dazu auf, die Juden zu schützen. Ihr Protest war wirksam, die Zahl der Deportierten verringerte sich. ...

Der Berliner Bischof Kurt Scharf ging in einem Kommentar für das »Berliner Sonntagsblatt« ebenfalls auf den Suizid ein, wenn auch nur indirekt: »Gott will nicht, dass Menschen sich innerlich abquälen und dabei allein gelassen werden. Jeder psychisch Kranke ist eine Anklage an die Gesellschaft, in der er lebt. Jeder, der freiwillig aus dem Leben scheidet, vermehrt das Konto der Schuld unserer Gesellschaft, in der dies geschehen konnte.« Scharf, später ein leidenschaftlicher Kritiker der politischen Rechten, grenzte sich damals ähnlich wie Grass von linken und rechten »Extremisten« ab, aber: »Die Fanatiker, die Neurotiker, die Stammler und die Gammler und auch die, die immer dasselbe Steckenpferd reiten, haben an irgendeiner Stelle ihres Wesens eine Wunde empfangen, die nicht vernarben will. Sie sind Symptomträger einer Krankheit unserer ganzen Gemeinschaft.«  ...

Vater von Ute Scheub»Wie Jesus fühle ich mich als in der Welt ohnmächtiger Mensch«, hatte er in einem seiner Abschiedsbriefe geschrieben, »der nun durch seinen Einsatz, sein Ja-Sagen zur Entscheidung zu der Macht und dem Verständnis kommt, das ihm zusteht.« Was für eine Anmaßung. Mein Vater wollte selbst Jesus spielen.

Für was wollte er sich opfern? Um seine SS-Kameraden von ihrer Schuld zu erlösen? Oder von ihrer Verurteilung durch die Gesellschaft? Wollte er sich selbst erlösen? Wollte er die Kirche bestrafen? Oder sich selbst? Oder alle zusammen? Er blieb doppeldeutig, unklar, schizoid bis zur letzten Sekunde seines Lebens.

Oder wollte er Hitler nachahmen? Im Bewusstsein der Nazis, schrieb Hannah Arendt, habe ihr Führer »die totale Verantwortung für jede Aktion, Tat oder Untat«, die einer in seiner Eigenschaft als Nationalsozialist verübt hat, persönlich auf sich genommen. Im Bewusstsein der großen Mehrheit der Deutschen, ergänze ich in Gedanken, geht damit jeder Befehl und jedes Verbrechen auf Hitler selbst zurück. Der Führer hat in ihren Augen wie Jesus alle Sünden auf sich genommen, am Ende opferte er sich, damit sie weiterleben konnten. ...

Opfer. Ich empfinde Abscheu vor diesem Wort. Ich kann es nicht ausstehen. Ich kann Menschen nicht ausstehen, die zu »Opfern« aufrufen. Nicht nur, weil sie meistens davon ausgehen, andere, nicht sie selbst, sollten sich oder etwas opfern. Sondern auch, weil dieses Wort die denkbar fürchterlichste Geschichte in sich trägt: die von Millionen Menschenopfern. Kein totalitäres System kommt ohne den Opfergedanken aus, ob Nationalsozialismus, Stalinismus oder der moderne Islamismus, der Selbstmordattentäter losschickt. Politische Führer und Ideologen, die heute Opfer fordern, damit morgen eine strahlende Zukunft anbricht, wissen genau, dass sie lügen und manipulieren, denn noch keine Gesellschaft der Welt hat das Lebensglück durch Menschenopfer herbeiführen können. Ganz im Gegenteil: Opfer schaffen Schuld, Traumata, neue Gewalt. Wir leben nur ein Leben, das der Gegenwart, und wenn politische Führer nicht dafür sorgen, dass es schon heute lebenswert auf der Erde zugeht, sollte man sie aus dem Amt jagen.

Ich reagiere auch deshalb so allergisch auf das Wort, weil es für die Überzeugung meines Vaters zentral war. »Liebe beweist sich im Opfer« schrieb er 1946, »Heilig hängt zusammen mit Opfer« formulierte er 1948, von der »Bereitschaft zu einem als sinnvoll erkannten Selbstopfer« schwärmte er 1964. Seine Texte kreisten ständig um »Glaube« und »Opfer«, man müsse sich für eine Aufgabe opfern, sich für Höheres hingeben, einer Mission folgen, man sei nur dann ein Gläubiger, wenn man zum Selbstopfer bereit sei. ...

»Der bedingungslose Einsatz der Person bis zur Opferung des Lebens ist für uns der Inbegriff aller menschlichen Religiosität und Frömmigkeit«, schrieb mein Vater im Juli 1945. »Darin liegt auch der enge Zusammenhang zwischen echtem Glauben und echtem Soldatentum begründet.« Die »soldatische Glaubensform«, da haben wir sie wieder. Das Opfer ist ihr zentraler Begriff. »Volk will zu Volk, ein Opferstrom soll alle Herzen einen! Hoch über einen deutschen Dom soll Gottes Sonne scheinen!«, hieß es in einem Lied der Hitler-Jugend. »Vom Blut der Helden schlägt das Herz der Welt«, so lautete ein anderer Sinnspruch. »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, hatten Hitlers Partei-Soldaten und Hitlers Wehrmachts-Soldaten gelernt. Und: »Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen.« Also: »Du bist zum Sterben für Deutschland geboren.« Folglich trugen diejenigen, die den Krieg überlebten, schwer an ihrer »Überlebensschuld«. Fühlte sich mein Vater deshalb verpflichtet, seinen toten Kameraden nachzufolgen? »Ich grüße meine Kameraden von der SS ...«

Schlagartig geht mir auf, was mein Vater mit diesem furiosen finalen Akt bezweckte: Auch er wollte durch seinen Opfertod Gemeinschaft stiften. Über ihn, den Toten, sollten Christen und seine SS-Kameraden zur einer neuen Gemeinschaft zusammenfinden, endlich wieder vereint im Glauben.

Krieg sei fast immer und überall reine Männersache, schrieb Ehrenreich. Weiblichkeit definiere sich durch Kinderkriegen, Männlichkeit aber müsse sich sozial beweisen: mit Waffen und Kriegführung. Im Krieg hat ein Mann die Chance, sich zum »unsterblichen Helden« zu machen, eine männliche Ahnenreihe der Helden zu schaffen, die sich quasi gegenseitig gebären. Die Frauen sind in der Fantasie der Krieger nicht mehr nötig zur Fortpflanzung. »Der Krieg ist unser Vater«, schrieb Ernst Jünger 1926. »Er hat uns gezeugt im glühenden Schöße der Kampfgräben als ein neues Geschlecht, und wir erkennen mit Stolz unsere Herkunft an.« Auch die deutschen Soldaten lernten, sie seien »Helden«, wenn sie sich der Nation opferten. Der Hüter des Altars, der oberste Raubtiergott war im Ersten Weltkrieg der Kaiser, im Zweiten Hitler. »Öfter als einmal haben sich Tausende und Tausende junge Deutsche gefunden mit dem opferbereiten Entschluss, jugendliche Leben so wie 1914 wieder freiwillig und freudig auf dem Altar des geliebten Vaterlandes zum Opfer zu bringen«, schrieb der Führer in »Mein Kampf«. »Wahres Opfer adelt«, sprach er. »Wer nichts wagt, wer nichts opfert, ist ein Feigling, ist des Lebens nicht wert. Wer Großes opfert, wird auch Großes empfangen.«  ...

Hitler wurde von seinen Anhängern vergöttert und sah sich selbst von Gott oder der Vorsehung gesandt: »Christus war der größte Pionier im Kampf gegen den jüdischen Weltfeind. Christus war die größte Kämpfernatur, die es je auf Erden gegeben hat... Die Aufgabe, mit der Jesus begann, die er aber nicht zu Ende führte, werde ich vollenden«, versprach er 1926 auf einer Weihnachtsfeier der Münchner NSDAP. »Ich muss nach Berlin wie Jesus in den Tempel von Jerusalem und die Wucherer hinauspeitschen«, verkündete er kurz vor seiner Machtübernahme. »Die Vorsehung« habe ihn »zur Führung des Reiches« berufen, brüllte er nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 in Linz, nachdem er unter Glockengeläut die Grenze überschritten hatte.

Um mit der Kirche nicht in Konflikt zu geraten, hütete sich Hitler, sich selbst Gott zu nennen, aber er nahm für sich »Unfehlbarkeit« in Anspruch, forderte von seinen Anhängern »blinden Glauben« und hatte nichts dagegen, wenn seine Gläubigen ihn als den neuen Gott sahen. »Christus ist zu uns gekommen durch Adolf Hitler«, freute sich der thüringische Kirchenrat nach der Machtübernahme der NSDAP. ...

Warum »Versöhnung« mit den Toten? Millionen Deutsche sollten im Ersten Weltkrieg nicht umsonst gefallen sein, ihr sinnloser Tod sollte nachträglich zu einem sinnvollen Opfer umgelogen werden, sie sollten »weiterleben« im Schöße der Heimat, der Muttererde, der Nation. Auch deshalb versuchte Hitler die deutsche »Schmach« im Ersten Weltkrieg wettzumachen durch einen Sieg im Zweiten.

Hitler sah das deutsche als das auserwählte Volk, das die Juden niederringen müsse, um die Menschheit zu erlösen. Er ersetzte das Kreuz durch das Hakenkreuz, das Blutopfer des Abendmahls durch Menschenopfer, die biblische Apokalypse durch den apokalyptischen totalen Krieg. Er ersetzte Gott durch »Volk« und »Rasse«, die »Arier« wurden vergottet und vergöttert. Die Nationalsozialisten ließen die Säle für ihre Parteiveranstaltungen vielfach wie Kirchenräume anordnen: links und rechts Bänke, vorne ein Altarraum, durch Stufen erhöht, mit Hakenkreuz an der Stelle des Christuskreuzes und blumengeschmücktem Bild des Führers anstelle von Ikonen. Wilhelm Frick, 1930 in Thüringen der erste Nazi-Minister überhaupt, führte nationalsozialistische »Gebete« an den Schulen ein. Im »Bund deutscher Mädel« wurde das Vaterunser umgedichtet: »Adolf Hitler, Du bist unser großer Führer, Dein Name macht die Feinde erzittern, Dein Drittes Reich komme, Dein Wille sei allein Gesetz auf Erden ...«

Das Perfideste aber war die Verdrehung der Zehn Gebote in ihr Gegenteil. Du sollst töten und du sollst getötet werden, verlangte Hitler von seiner Gefolgschaft. Du sollst dich für Deutschland opfern, denn der Tod ist die Geheimessenz unserer Bewegung. Das Evangelium der Nazis war ein Evangelium der Gewalt, Härte und Rücksichtslosigkeit waren seine obersten Gebote. Umso erstaunlicher, umso unglaublicher, dass die christliche Kirche in Deutschland in ihrer übergroßen Mehrheit an dieser gotteslästerlichen Bewegung nichts auszusetzen hatte, ja ihr sogar Beifall zollte.

Nicht zufällig war es just der Opfergedanke, der Judentum und Christentum ursprünglich auseinander trieb. Auch die alten Hebräer praktizierten das Menschenopfer. Der Gott des Alten Testaments fordert Abraham dazu auf, Isaak zu opfern, doch als er gehorsam das Messer am Hals seines geliebten Sohnes ansetzt, schiebt ihm Gott einen Widder unter: der historische Beginn des Tieropfers, das auch ein in die Wüste gejagter »Sündenbock« sein durfte. Im babylonischen Exil schließen die Juden einen Bund mit Gott, in dem sie endgültig auf das Opfer verzichten und stattdessen die Befolgung des Gesetzes geloben, der Zehn Gebote. »Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer und an der Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer«, heißt es in Hosea 6,6.

Das Christentum aber setzte das Menschenopfer wieder neu in Szene, indem Jesus am Kreuz sterben musste. Der Sündenbock kehrte als Lamm Gottes wieder, das alle menschlichen Sünden auf sich nahm, und wer von seinem Leib aß und seinem Blut trank, war von allen Sünden erlöst, auch wenn er sämtliche Zehn Gebote gebrochen hat. »Mit der Abschaffung des Tieropfers gab die jüdische Religion die letzten Überreste der Totemfeiern der Primitiven auf und beraubte damit die Juden (und damit letztlich die Menschheit) der Möglichkeit, ihre aufgestauten destruktiven Kräfte abzuführen«, schrieb der Psychoanalytiker Ernst Simmel ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkrieges. »Das war der wichtigste jüdische Beitrag zur Zivilisation und zugleich ihr Verbrechen, denn das von ihnen geforderte Opfer übersteigt die menschlichen Möglichkeiten. Das Christentum führte symbolisch die Totemfeste der Urzeit wieder ein ... Der antisemitische Christ braucht noch eine Reinkarnation des archaischen Totemtieres. Er muss es auf Erden finden, um seine aufgestauten destruktiven Aggressionen an ihm auszulassen. Deshalb hat er sich den Juden in Teufelsgestalt geschaffen ...«

Ute ScheubHolocaust bedeutet wörtlich übersetzt Ganzbrand. Die Nazi-Priesterschaft brachte ihrem Raubtiergott Hitler die europäischen Juden als Ganzbrandopfer dar. Je mehr »deutsches Blut« geopfert wurde, darauf macht Gerhard Vinnai in seinem Buch »Hitler - Scheitern und Vernichtungswut« aufmerksam, je näher die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg rückte, je deutlicher sich abzeichnete, dass sich die sinnlosen Opfer des Ersten Weltkriegs wiederholten, desto unerbittlicher arbeiteten die industriellen Menschenvernichtungsfabriken in Auschwitz-Birkenau und anderswo. Sie sollten der Sinnlosigkeit einen »Sinn« entgegenstellen.

Aber auch deutsche Soldaten und Zivilisten wurden zu Millionen geopfert oder opferten sich selbst. Hitler umjubelte schon in »Mein Kampf« jenes »deutsche Märtyrertum« und »edles Menschentum«: »Dieser Aufopferungswille zum Einsatz der persönlichen Arbeit und, wenn nötig, des eigenen Lebens für andere, ist am stärksten beim Arier ausgebildet... Der Selbsterhaltungstrieb hat bei ihm die edelste Form erreicht, indem er das eigene Ich dem Leben der Gesamtheit willig unterordnet und, wenn es die Stunde erfordert, zum Opfer bringt.« ...

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