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Die Quantelung der Zeit

Der Physiker Martin Bojowald vertritt eine neue Theorie über die Entstehung des Universums

Von Reinhard Lassek

Am Anfang des Universums steht der Urknall. Und was war davor? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Physiker Martin Bojowald. Der Wissenschaftsjournalist Reinhard Lassek stellt dessen Forschungsergebnisse vor.

Mit Hilfe der Urknalltheorie gelingt es Physikern, sowohl den Geburtsakt als auch die früheste Entwicklungsphase unseres Universums plausibel zu beschreiben. Die Frage, was vor dem großen Knall war, bleibt aber ausgeklammert. Neueren Überlegungen nach sind indes Einblicke in die Zeit davor durchaus denkbar. Allerdings nur dann, wenn der Ursprung unseres Universums kein "Big Bang", sondern ein "Big Bounce" war - ein großer Sprung oder Rückprall. Zu den Forschern, die für ein neues Verständnis des Urknalls plädieren, gehört der Physiker Martin Bojowald. Bis 2005 arbeitete er am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam. Seither lehrt und forscht Bojowald am "Institute for Gravitation and the Cosmos" der Universität des US-Bundestaates Pennsylvanien. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Beiträge, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurden, gilt der 36-Jährige als einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der "Schleifen-Quantengravitation", einem Forschungsfeld, dessen hoch komplexen und abstrakten Inhalten in einer allgemeinverständlichen Darstellung enge Grenzen gesetzt sind.

In einer Welt, die von "exotischen Quanteneffekten", "negativer Zeit" und "umgestülpten Raumverhältnissen" geprägt ist, hat letztendlich nur der naturwissenschaftlich-mathematisch Gebildete eine Chance, sich noch halbwegs zurechtfinden. Glücklicherweise ist der Rat des Philosophen Friedrich Nietzsche, je abstrakter die Wahrheit sei, die man lehren wolle, desto mehr müsse man die Sinne zu ihr verführen, bei Bojowald auf offene Ohren gestoßen. Über zahlreiche Analogien zur Alltagswelt und Anleihen aus Literatur und bildender Kunst versucht Bojowald, auch dem interessierten Laien Zugänge in jene aufregende Welt der modernen Physik zu verschaffen.

Zur Erinnerung: Die Allgemeine Relativitätstheorie, auch "Theorie der Gravitation" genannt, und die Quantentheorie konstruieren ein Universum, dass von vier Fundamentalkräften bestimmt wird: Die starke und schwache Kraft wirken dabei als Kernkräfte lediglich auf der subatomar-mikroskopischen Ebene. Die elektromagnetische Kraft und die Schwerkraft bekommen wir hingegen als makroskopische Erscheinungen alltäglich zu spüren. Sowohl die Relativitätstheorie, die den Makrokosmos beschreibt, die äußere Struktur des Universums, als auch die Quantentheorie, die den Mikrokosmos veranschaulicht, den inneren Aufbau der Materie, konnten mit geradezu unvorstellbarer Genauigkeit experimentell bestätigt werden. Was Physiker jedoch quält, ist, dass die beiden großen Theorien sich nicht miteinander verknüpfen lassen. Sie stehen vielmehr verbindungslos nebeneinander. Die Revolution der Physik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann, ist noch immer unvollendet. "Die Quantentheorie", erklärt Bojowald, "wird zwar für eine Beschreibung der Materie im Universum genutzt, nicht aber für die Gravitationskraft oder gar für Raum und Zeit selbst."

Im Standardmodell der Physik, das alle bekannten Teilchen und Kräfte umfasst, stellt die Gravitation quasi den nicht integrierbaren Außenseiter dar. Und solange jenes mutmaßliche Gravi-ton, ein Teilchen, das die Schwerkraft vermittelt, unentdeckt bleibt, wird dies auch so bleiben. Die größte Herausforderung der gegenwärtigen Physik liegt nach wie vor darin, Quantentheorie und Gravitation zu einer einheitlichen Theorie der Quantengravitation auszuformulieren. Eine solche Weltformel würde alle physikalischen Phänomene unter ein theoretisches Dach stellen. Die Quantengravitation wäre gewissermaßen der heilige Gral, der die großen Brüche der Physik heilen könnte, indem eine mathematisch widerspruchsfreie Herleitung aller physikalischen Grundkräfte ermöglicht würde.

Das kosmologische Standardmodell der Physik ist die Urknalltheorie. Sie ist eine Folgerung aus Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Demnach muss man sich die Welt unmittelbar vor dem Big Bang, also vor 13,7 Milliarden Jahren, als einen Einheitszustand vorstellen. Am Anfang war die Singularität: Materie, Rau m und Zeit waren eins. Die gesamte Materie konzentrierte sich in einem Punkt von unendlich kleinem Volumen, hoher Dichte und Temperatur. Ein Zustand also, mit dem sich der Ursprung, aber auch der Kollaps des Universums gut charakterisieren lässt.

Denkt man Richtung Ursprung, dann bezeichnet der Urknall indes weniger eine Explosion in einen bestehenden Raum hinein, sondern vielmehr einen zeitlichen Nullpunkt, den Beginn der gemeinsamen Entfaltung von Materie, Raum und Zeit.

Jenes Urknall-Szenarium hat für Physiker jedoch gravierende Schönheitsfehler: "Es ist nicht nur ein physikalisches Dilemma", wendet Professor Bojowald ein, "dass bei unendlich großer Energiedichte keine Materie bestehen kann, sondern auch mathematisch höchst problematisch, und führt zum Zusammenbruch der Einsteinschen Gleichungen." Der Urknall selbst ist streng genommen physikalisch ohnehin nicht beschreibbar. Denn Physik setzt ja immer die Existenz von Materie in einem vier-dimensionalen Raum-Zeit-Gefüge voraus. Die bekannten Naturkräfte und Gesetzlichkeiten konnten sich jedoch erst entwickeln, nachdem der Zerfall der singulären Urkraft in jene vier Fundamentalkräfte abgeschlossen war. Und dies war-wenn auch nur um Sekundenbruchteile - zweifellos erst nach dem Urknall der Fall.

Fäden und Schleifen

Wie gesagt, lässt sich ohne eine Theorie der Quantengravitation die physikalische Welt als Ganzes nicht plausibel beschreiben. Doch diese Theorie der großen Vereinigung existiert noch nicht. Es gibt allenfalls vielversprechende Ansätze. Hoffnungsvollste Kandidaten dabei sind derzeit die String- und die Loop-Theorie. Beide postulieren völlig neue Vorstellungen von Teilchen -winzigen Strukturen weit unterhalb jener Dimensionen, mit der es Teilchenphysiker bislang zu tun hatten. Es geht dabei nicht mehr um punktförmige Objekte, sondern um die Schwingungszustände winzigster Fäden, "Strings", oder um die Knotenpunkte eines über Schleifen, "Loops", geknüpften raumzeitlichen Netzwerks.

Bojowald setzt auf die Loop-Theorie. Die Schleifen-Quantenkosmologie löst den herkömmlichen kontinuierlichen Zeitbegriff zugunsten einer diskreten Zeit auf. Und dies garantiert eine Umgehung jener Urknall-Singularität, bei der die Werte für die Raumzeit-Krümmung sowie die der materiellen Dichte und Temperatur ins Unendliche und somit Sinnlose anwachsen.

Doch was ist unter "diskreter Zeit" zu verstehen und worauf beruht ihre überragende Bedeutung für die Beschreibung kosmologischer Ursprungs-Szenarien?

Anders als die Relativitätstheorie, die von einem Raum-Zeit-Kontinuum ausgeht, sorgen quantenmechanische Vorstellungen dafür, dass sich die Raumzeit in allerkleinste Einheiten, quasi in Raumzeit-Atome, aufteilen lässt. Im Gegensatz zur kontinuierlichen Zeitlinie, die theoretisch unendlich viele Zeitpunkte aufweist, liefert die Quantelung der Zeit nur noch eine begrenzte Anzahl diskreter Zeitpunkte. Diese bilden eine Art Raster. "Zeit" kann sich nach Bojowald "nicht mehr beliebig ändern, sondern nur im Vielfachen eines kleinsten Zeitschritts".

Ist die Zeit gerastert, dann steht dem Universum auch weniger Zeit zu Verfügung. Denn ein Raster bedeutet, dass alles, was zwischen den einzelnen Rasterpunkten, jenen theoretisch kleinsten Zeitschritten, liegt, eliminiert wird. "Es existiert", stellt Bojowald fest, "buchstäblich nichts zwischen zwei aufeinanderfolgenden atomaren Zeitpunkten im diskreten Gitter der Quantengravitation."

Die Einführung der diskreten Zeit hat nicht nur bedeutende Auswirkungen auf die Struktur der Raumzeit selbst, sondern berührt auch die Frage nach der Materie- oder Energiedichte des Universums. Während bei Annahme einer kontinuierlichen Zeitachse die Energiedichte beliebig ansteigen kann, was unweigerlich zum Kollaps des Universums führen muss, bleibt die Energieaufnahme-Kapazität eines diskreten Zeitgitters stets begrenzt.

Ein Zeitgitter funktioniert wie ein poröser Schwamm: Nur eine begrenzte Menge Wasser kann aufgenommen werden. Und einmal vollgesogen, wird überschüssiges Wasser einfach abgestoßen. Ganz ähnlich reagiert auch der Schleifen-Quantenkosmos in der Situation des Urknalls, jenem denkbar höchst-energetischen Ereignis des Universums. Ist der Zeitpunkt der maximalen Energieaufnahme erst einmal erreicht, wirkt das Zeitgitter für zusätzliche Energie abstoßend. "Abstoßende Kräfte", betont Bojowald, "verhindern die Singularität, bewahren die Raum-Zeit vor dem Untergang und ermöglichen eine Welt vor dem Urknall."

Da es außerhalb des Universums nichts gibt, wohin überschüssige Energie verdrängt werden könnte, verbleibt nur noch eine Möglichkeit, den verhängnisvollen Energiezuwachs zu stoppen: Es kommt nicht zum großen Knall, sondern zum großen Rückprall. Das Volumen des Universums wechselt gewissermaßen von minus auf plus. "Die Zeit vor dem Urknall", folgert Bojowald, "impliziert eine Umkehrung der räumlichen Orientierung." Die Raumzeit wird dabei wie ein Handschuh umgestülpt. Und das bedeutet, der Urknall ist kein Nullpunkt mehr, sondern ein Umkehr- oder Durchgangspunkt.

Die Raumzeit hört also im Urknall nicht mehr auf, zu existieren, sondern bleibt erhalten. Das Urknall-Universum hat somit erstmals eine Vorgeschichte. Denn jener Energieüberschuss lässt sich nur verhindern, indem die Ursache für den Energiezuwachs selbst gestoppt und die Expansion der Raumzeit umgekehrt wird: "Auf diese Weise", erklärt Bojowald, "liefert ein Weniger von lokalen Zeitpunkten im Gitter eine physikalische Gegenkraft zum Kollaps und damit ein Mehr an Zeit vor dem Urknall."

Um Missverständnisse zu vermeiden: Bojowald hält die Urknalltheorie, durchaus für geeignet, die sukzessive^ Entstehung von Atomkernen, Atomen! und weiter zusammengesetzter Materie bis hin zu Galaxien aus einem heißen Anfangszustand zu erklären. Doch er sieht auch die Grenzen dieses etablierten Weltbildes, wenn es um eine Vorhersage des Anfangs der Welt geht.

Gibt es Gründe, warum sich auch Nicht-Physiker mit der Schleifen-Quantengravitation beschäftigen sollten? Folgt man Bojowalds Darstellung, dann kann es darüber keinerlei Zweifel geben. Denn schließlich geht es um das grundsätzliche Verständnis unserer Welt, um die Rätsel von Zeit und Raum, aber auch um die faszinierenden Wege, die die menschliche Erkenntnis nimmt, und welche Konsequenzen dies sodann für das jeweils persönliche Welt- und Menschenbild hat. Die herkömmliche "Urknall-Singularität", ist Bojowald überzeugt, "stellt sich als Grenze der alten Sprache heraus, in der sie erstmals formuliert wurde. Sie bedeutet jedoch keine Grenze der Welt."

Martin Bojowald: Zurück vor den Urknall. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009,343 Seiten, Euro 19,95.

zeitzeichen 2/2010

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