Feb 152019
 
Lernen und Bedeutungsentwicklung bei sechsjährigen Kindern am Beispiel Brückenbau

Von Hannelore Schwedes | Universität Bremen

Englische Webseite

Ausgangspunkt dieses Beitrags sind Videoaufzeichnungen verschiedener Kinder, die die Aufgabe lösen, mit quaderförmigen Holzbauklötzen (ca. 5 x 10 x 2 cm) eine Brücke über einen Fluss (einen blauen Papierstreifen) zu bauen, so dass die Brücke später von verschiedenen Tieren, u.a. einem Elefanten, überquert werden kann. Die Brücke muss also das Gewicht eines Elefanten tragen.

Die Videoaufnahmen zeigen verschiedene Lösungsmöglichkeiten dieser Aufgabe und unterschiedlich erfahrene Brückenbauer. Zentrale Lernerfahrung ist die Entdeckung des Prinzips des Gegengewichtes, um überkragende Bauteile stabil zu lagern.

Drei Prozesse der Aufgabenlösung sollen beschrieben werden und dabei das Handeln, Lernen und die Bedeutungsentwicklungen der Kinder diskutiert werden. Die drei kurzen Sequenzen einer Aufgabenlösung wurden zum einen ausgewählt, um an ihnen verschiedene Dimensionen und Differenzierungen der Bestimmung von lernen und des Bedeutungsbegriffes zu diskutieren, zum anderen kann in einem Beispiel die Bildung eines neuen Begriffes, die Entwicklung der Idee vom Gegengewicht, beobachtet werden und im Rahmen einer allgemeineren Hypothese, die sich auf das Lernen aufgrund der Benutzung von Körperanalogien bezieht, diskutiert werden.

Drei Jungen (Peter, Kurt und Armin) bauen nach einem jeweils unterschiedlichen (Roh)-Entwurf eine Brücke, und sie zeigen dabei auch je unterschiedliche handwerkliche Fähigkeiten und Erfahrungen beim Umgang mit den Bauklötzen. Ein Junge lernt das intendierte Prinzip des Gegengewichtes, der zweite beherrscht die verschiedensten Möglichkeiten, Gleichgewicht herzustellen und damit auch das Prinzip des Gegengewichtes, der dritte Schüler bleibt trotz mehrfachen Scheiterns seiner Konstruktion bei seinem Ausgangsbild des Brückenbogens, findet aber das Prinzip des Gegengewichtes nicht, das im sich gegenseitigen Stützen der beiden Teilbögen bestünde – aber auch noch die Haftung (Reibung) der einzelnen Bausteine aneinander mit einbeziehen müsste.

Abb. 1 Peters Brückenbau

Peter baut eine Bogenbrücke. Er legt die Bauklötze der Länge nach parallel zum Fluss und legt Stein auf Stein, jeden folgenden immer ein wenig mehr zur Mitte hin verschoben. Er baut symmetrisch, von beiden Seiten des Ufers her, so dass sich die beiden schrägen Türme in der Mitte treffen sollen. Obwohl seine schrägen Brückenseiten mehrfach einstürzen, ändert er seine Konstruktion nicht ab, z.B. dass er die Bauklötze senkrecht zur Uferkante legte; dann könnte er mit seiner Konstruktion Erfolg haben, die Brücke wäre dann allerdings (zunächst wenigstens) schmäler. Peter scheint jedoch ein unverbrüchliches Vertrauen darein zu haben, dass seine Konstruktion funktionieren müsse, der Erfolg scheint für ihn vor allem eine Frage des vorsichtigen Aufeinanderschichtens der Steine zu sein – ähnlich wie beim Kartenhaus, das auch in sich zusammenstürzt, wenn man die Karten ungeschickt aufeinander stellt: Die Aufgabe wird durch den Lehrer schließlich dadurch vereinfacht, dass die Breite des Flusses reduziert wird, so dass Peter schließlich doch noch zu einem erfolgreichen Abschluss seines Plans gelangt. Erstaunlich zu beobachten ist die hohe Konzentration, mit der Peter die Klötze aufeinander schichtet und die Unterstützung, die Peter seinem Bauwerk mit der Hand gibt. Er schmiegt seine Hand der geplanten Rundung an, dabei stützt er nicht die obersten, zuletzt aufgesetzten Steine, sondern intuitiv richtig, die Steine von der Mitte bis ins untere Drittel des Brückenbogens, denn dort liegt irgendwo auch die Stelle, von wo der schräge Turm abreißt und umkippt. Insgesamt bleibt jedoch der Eindruck, dass Peter die erfolgreiche Konstruktion darin sieht, dass jede Seite in sich das Gleichgewicht halten müsse, wie bei der Aufgabe, einen möglichst hohen Turm zu bauen.

Abb. 2 Armins Brückenbau

Armin ist ein sehr gewandter Bauer. Seine Konstruktion der Brücke ähnelt eher einem Tor oder Torbogen (vgl. Abb. 2). Dies wird noch betont durch den Klotz, den er oben senkrecht in die Mitte der Brücke bzw. des Tores stellt. Erst als er erinnert wird, dass die Tiere über die Brücke gehen sollen, entfernt er diesen Klotz wieder. Auch Armin baut seine Brücke symmetrisch, von beiden Seiten des Flussufers her. Zur Überquerung des Flusses werden die Steine senkrecht zur Flussrichtung angeordnet.

Die Prinzipien der Waage, des Gleich- und Gegengewichtes sind ihm vertraut. Ein Bauklotz wird nur ein Stück weit über den Auflagepunkt vorgeschoben, damit das Gewicht des Bausteins auf der anderen Seite noch groß genug ist, um den nächsten senkrecht aufgesetzten Baustein noch zu tragen. Ein Kippen des Bausteins beim nächsten Schritt, gerade eben mit den Augen wahrgenommen, wird sofort mit Auflegen eines Bauklotzes als Gegengewicht beantwortet.

Auch beim Legen der obersten Reihe Bauklötze werden die Steine zuerst mittig aufgelegt, um dann später, wenn zwei weitere Klötze für die Funktion des Gegengewichtes zur Hand sind, nach vorne zu in Richtung auf die Flussmitte hin verschoben zu werden.

Abb.3 Kurts Brückenbau

Am interessantesten ist der Bauprozess von Kurt, da bei ihm verfolgt werden kann, wie er die Idee des Gegengewichtes erfindet. Kurt baut zunächst ein massives Brückenlager, legt dann die Bausteine zum Überbrücken quer zur Flussrichtung auf, hat hinter die Überbrückungsklötze einen weiteren Stein gelegt (quasi als Widerlager) und hofft, durch Zusammendrücken der beiden Überbrückungsklötze mit Hilfe des gesamten Brückenlagers seiner Brücke genügend Stabilität zu verleihen. Seine Konstruktion jedoch hält nicht, die Überbrückungsklötze kippen zur Mitte des Flusses hin nach unten weg.

Drei Kinder, drei Aufgabenlösungen – aber auch drei Lernprozesse?

Kurt beginnt von Neuem, unterstützt jetzt die Überbrückungsklötze von der Mitte des Flusses her mit der Hand, überlegt, spürt, vervollständigt probeweise seine Brückenkonstruktion und legt wägend einen Klotz, den er gerade in der Hand hält, als Gegengewicht auf den einen Überbrückungsklotz und legt gleich danach einen zweiten Baustein als Gegengewicht auf den gegenüberliegenden Überbrückungsklotz. Jetzt werden zwei weitere Bausteine parallel zu den ersten zur Verbreiterung der Brücke eingefügt und schließlich noch weitere Klötze als Gegengewicht zur Erhöhung der Stabilität der Brücke aufgelegt.

Benutzen wir vorläufig die in der Erziehungswissenschaft gängige Definition von Lernen als erfahrungsbedingte Verhaltensänderung!

Im ersten Anlauf werden wir wahrscheinlich nur bei Kurt sagen, er habe etwas gelernt, denn als Pädagogen verfolgen wir mit dem Stellen einer Aufgabe in der Regel (mehr oder minder) konkrete Lehrziele, hier die Entwicklung des Begriffs vom Gegengewicht.

In diesem Kontext hat Armin – obwohl er die Aufgabe exzellent bewältigt – nichts gelernt, eben nichts dazugelernt, er konnte schon alles, er war zu „klug“. Auch Peter hat nichts gelernt, er hat die Aufgabe nicht bewältigt, die Idee vom Gegengewicht nicht entwickelt, er ist „dumm“ geblieben. Nur aufgrund einer „Lehrer“invention, die vereinfachte Ausgangsbedingungen herstellte, konnte er die Aufgabe für sich befriedigend beenden. Diese Bestimmung von Lernen als intendierte Verhaltensänderung ist insofern problematisch, als sie sich vorrangig auf Lehrziele (des Lehrers) bezieht, nicht auf die Ziele des Lernenden (bzw. nur insoweit, als es dem Lernenden gelang, von außen vorgegebene Ziele zu seinen eigenen zu machen). Lehrziele verstellen dem Beobachter leicht den Blick dafür, Verhaltensänderungen wahrzunehmen, die zwar nicht intendiert waren, aber dennoch stattfanden und wichtige Schlüssel für das Verständnis von Lernprozessen liefern.

Fragte man die Schüler danach, ob sie etwas gelernt hätten, so würden sie die Frage vermutlich mit ja beantworten, wir haben gelernt, eine Brücke zu bauen, und eher eine Klassifizierung in der Richtung viel – wenig gelernt vornehmen entsprechend ihrer Einschätzung von der Schwierigkeit der Aufgabe. Ihre (subjektive) Vorstellung von Lernen ließe sich dabei etwa folgendermaßen formulieren: „Wenn ich etwas gelernt habe, kann/weiß ich etwas, was ich vorher nicht konnte/wusste.“

Allerdings wird die Feststellung gelernt – nicht gelernt immer im Hinblick auf die Bewährung bezüglich eines konkreten erreichten oder noch zu erreichenden Handlungszieles vorgenommen werden.

Diese Bestimmung von Lernen durch die Lernenden, die sich vorrangig an der Erreichung von Handlungszielen orientiert, deckt sich insofern mit der Beschreibung von Lernen als erfahrungsbedingter Verhaltensänderung, als sie sich auch auf zwei Zeitpunkte (vorher – nachher) bezieht, nämlich eine Situation, in der eine bestimmte Fähigkeit (noch) nicht zur Verfügung stand, ein (erwartetes) erfolgreiches Verhalten (noch) nicht gezeigt wurde und eine zweite Situation, in der eine neue Verhaltensweise benutzt wird, die dann in aller Regel zur Bewältigung der Situation führt. In der Zwischenzeit wurden Erfahrungen gemacht (Beobachtungen, Übungen, Probehandlungen, Versuche, Denken), die die neue Verhaltensweise stimulierten.

Die erziehungswissenschaftliche Definition von Lernen als Verhaltensänderung reflektiert die Situation, dass Lernen nicht direkt beobachtet werden kann, weder vom Lernenden selbst noch von einem Außenstehenden. Lernen kann nur indirekt erschlossen werden. Wir beobachten unter bestimmten Bedingungen (Übungen, Aufgaben usw.) bestimmte Verhaltensänderungen und folgern daraus, dass aufgrund äußerer Einwirkungen und der Reaktionen des Lernenden darauf, d.h. aufgrund von Interaktionen mit der Umgebung, Lernen stattgefunden hat.

Wenn Schüler sagen, sie haben gelernt, eine Brücke zu bauen, kann damit im Detail natürlich sehr Unterschiedliches gemeint sein, z.B.: einen Plan für eine Brücke entwerfen, einen Plan umsetzen, einen Plan mit vorgegebenen Materialien realisieren können, Eigenschaften der Klötze kennen (Gewicht, Reibung, Haftung, Schwerpunkt), Klötze in verschiedener Funktion einsetzen können als Fundament, als Stütze, als Verbindung, als Gegengewicht), Erfahrungen besitzen mit Schwerkraft und Gleichgewicht, Belastbarkeit einer Konstruktion einschätzen können, oder es mag auch einfach heißen, ich habe bei der Aufgabe, eine Brücke zu bauen, auftretende Schwierigkeiten oder Probleme erfolgreich bewältigt. Vorher hatte ich noch keine (oder keine solche) Brücke gebaut, wusste ich nicht, ob es gelingen würde, jetzt steht die Brücke da.

Wenn wir als Beobachter noch einmal dem Entstehungsprozess der Brücken folgen, werden wir solche Lernergebnisse für plausibel halten, allerdings direkt zu beobachten sind sie aufgrund der vorliegenden Ausschnitte nicht. Verweilen wir nochmals einen Augenblick bei Peter. Unermüdlich schichtet er die Bauklötze vorsichtig immer wieder, schräg versetzt aufeinander. Er lässt große Sorgfalt walten, richtet die Steine mehrfach wieder parallel zueinander aus, wenn sie etwas verrutscht waren – bemüht, nicht durch manuelle Ungeschicklichkeit das ganze Werk, wie beim Bau eines Kartenhauses, zum Einsturz zu bringen. Peters Frustrationstoleranz scheint riesig zu sein, er zeigt weder Ärger noch Ungeduld, wenn seine Konstruktion immer wieder zusammenkracht. Was hat er gelernt? Hat er seine Geschicklichkeit beim Aufeinanderschichten von Bauklötzen verbessert, hat er gelernt, dass man Brückenbogen nicht zu breit bauen darf, damit es geht? Hat er Grenzen für schräges Aufeinanderschichten der Steine entdeckt, weiß er, wo die Schräge am effektivsten gestützt werden kann, oder hat sich sein Selbstbild – ich bin (k)ein (besonders) erfolgreicher Brückenbauer – verändert? Mit Ausnahme der Steigerung der Fertigkeit beim Bauen, können wir all dies zwar vermuten, aber nicht mit Sicherheit sagen, weil uns die Beobachtungssituation mit der Bewährung für die neuen gelernten Verhaltensweisen fehlt.

Wenn wir von Lernen sprechen, verbinden wir damit zugleich eine dauernde Veränderung im Gehirn, die aufgrund der Verhaltenssteuerung durch das Gehirn zur Expression der neuen Verhaltensweise führt. Varela beschreibt Lernen als eine solche Modifikation der Gehirnstruktur, die aufgrund der Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung zu einer Veränderung der Art der Koppelung des Organismus mit seiner Umwelt führt. (Der Brückenbogen wird nächstes Mal schmäler gebaut.)

Lernen dient der Erweiterung des Verhaltens-Repertoires zur viablen Anpassung an die Umwelt, damit der Mensch (Organismus) adäquat (im Sinne seines Wohlbefindens/seiner Erhaltung) auf Ereignisse der Umwelt reagieren kann (auf die Notwendigkeit, eine Brücke zu bauen, um den Lehrer zufrieden zu stellen oder real einen Fluss/Bach zu überqueren). Interaktion mit der Umgebung ist immer von Gehirntätigkeit, d.h. elektrischer Aktivität von Nervenzellen begleitet. Folgt man der Hebbschen Hypothese, dass das Feuern von Neuronen und die Weiterleitung der Impulse jeweils mit einer Veränderung der Koppelung zwischen den beteiligten Neuronen verknüpft ist, führt jede Interaktion mit der Umgebung zu einer Veränderung der Gehirnstruktur und eine Veränderung der Gehirnstruktur führt zu verändertem Verhalten.

Es stellt sich hier die Frage, ob jede Gehirnaktivität tatsächlich mit einer Veränderung der Koppelungen zwischen den Neuronen verknüpft ist, Lernen also prinzipiell immer stattfindet und wir nur als Beobachter die resultierenden Verhaltensänderungen nicht wahrnehmen können, weil sie zu fein sind oder ob sich Gehirnprozesse unterteilen lassen in Klassen, bei denen alles bleibt, wie es ist, und solche mit Koppelungsänderungen. Eine dritte Alternative wäre denkbar, nämlich eine Unterteilung zu machen nach Prozessen mit starken bzw. eher geringen Modifikationen. Die Veränderung der Koppelung zwischen Neuronen vertiefe dann nach einer Art Sättigungsmodell, so dass bei mehrfach wiederkehrenden Bahnungen zwischen den gleichen Neuronen nur noch kleine bis kleinste Änderungen der Kopplungsstärke auftreten.

Beim „Üben“ kennen wir dieses Phänomen, nach mehrfachen Wiederholungen steigt das Können oder die Perfektion nur noch sehr langsam an, aber auch für die Statusveränderung unseres Wissens, wie Schütz-Luckmann sie beschreiben, könnten solche Sättigungskurven eine Rolle spielen. Gelerntes unterliegt einer Statusverschiebung. Alle Wissenselemente besitzen nur vorläufige Gültigkeit, sie können problematisiert werden. Je mehr sie sich bewährt haben, desto weniger werden sie in Frage gestellt. Kriterien eines hohen / niedrigen Status sind Vertrautheit, Bestimmtheit (Autorität), Klarheit, Glaubwürdigkeit eines Wissenselementes. Selbstverständlichkeiten und Routinen sind nötig, um schnell handlungsfähig zu sein, sie werden im allgemeinen nicht mehr verändert, häufig bleiben sie dann ein ganzes Leben lang gleich, sie bilden den „sedimentierten Wissensvorrat“.

Mit der Frage nach der Entstehung von Bedeutung stoßen wir mehr oder weniger automatisch auf die Analyse von Lernprozessen; aber sind Lernen und Bedeutungsentwicklung wirklich identisch? Ist jedes Lernen tatsächlich mit der Konstruktion neuer Bedeutung verknüpft?

Varela unterscheidet zwischen Lernen und Bedeutungsentstehung. Während Lernen eine Veränderung neuronaler Verknüpfungen im Gehirn beinhaltet, sei Bedeutung ein emergentes Phänomen von Gehirntätigkeit, das auftrete als Zeichen für das Erreichen eines Attraktorzustandes im Verlaufe von sich selbst organisierender neuronaler Aktivität. Bedeutung kann nur kontextabhängig erzeugt und zugewiesen werden. Sie entsteht aus dem Zusammenwirken von Wahrnehmung und Handlung in konkreten Lebenssituationen. Handlung und Wahrnehmung beeinflussen sich gegenseitig in den durch Erwartung gesteuerten zirkulären Prozessen von Erwartung, Wahrnehmung und Handlung.

Die Ausbildung der Sensumotorik ist nach Piaget die Grundlage für alle höheren Lernformen. Er hat ausführliche Beschreibungen der kindlichen Entwicklung der Sensumotorik geliefert und zirkuläre Prozesse als Organisationseinheiten für die Assimilation von Erfahrung vorgeschlagen. Er hat damit nachhaltig unsere Vorstellung von der Entwicklung der Intelligenz beeinflusst. Grundlage aller späteren kognitiven Entwicklung ist die Erweiterung und Ausdifferenzierung unserer sensumotorischen Fähigkeiten. Unsere (frühe) Körpererfahrung wird im Verlaufe der nachfolgenden kognitiven Entwicklung als Analogie für die Erschließung weiterer Erfahrungsbereiche benutzt Diese These wird unter anderem von Mark Johnson in seinem Buch „The Body in the Mind“ für den Bereich der Sprachentwicklung ausgeführt.

Wenn man sich vorstellt, dass bei der Benutzung einer Körperanalogie zwar die neuronale Spur von Wahrnehmung und Bewegung der entsprechenden sensumotorischen Einheit bzw. des zugehörigen sensumotorischen Schemas im Gehirn aktiviert wird ohne die (kontrollierte) Bewegung tatsächlich auszuführen, so kann man sich die Erfahrung erschließende Wirkung der Analogiebildung so denken, dass im Zuge eines ablaufenden mentalen Verstehensprozesses neue neuronale Muster(folgen) mit den über die Körpererfahrung aufgerufenen Aktivitätsmustern koordiniert werden und auf diese Weise (in aller Regel sehr effektiv) neue Bedeutung entsteht, so dass die nun interagierenden Neuronengruppen auf der Basis der Ausgangsfolgen die Emergenz eines neuen globalen Zustandes bewirken (Varela).

Die im Videofilm gezeigten Lernprozesse der Kinder beim Brückenbau liefern nun m.E. ausgesprochen interessantes Material, um kognitive Prozesse zu studieren, sie könnten dazu beitragen, unsere theoretischen Vorstellungen über Lernen und Bedeutungsentstehung zu überprüfen, zwischen Lernen und Bedeutungsentwicklung genauer zu differenzieren und Lernregeln sowie Mechanismen der Bedeutungskonstruktion zu entdecken. Die Beobachtung der manuellen Tätigkeit von Kindern scheint mir deshalb besonders ertragreich, weil hier der Übergang von der Kognition im sensumotorischen Bereich hin zu vorwiegend mentaler Aktivität, hin zu reinen Denkhandlungen, eingefangen und damit auch untersucht werden kann.

Insbesondere der Prozess der Aufgabenlösung von Kurt scheint mir für unsere Zwecke ergiebig zu sein. Wir können an diesem Beispiel die Geburt der Idee vom Gegengewicht ziemlich detailliert verfolgen, die Konstruktion eines mentalen Begriffs, die Entstehung von Bedeutung. Wir werden dabei auf die Untersuchung der Benutzung von Körperanalogien verwiesen als ein vielleicht sehr wirksames Instrument für Lernen und die Entwicklung von Bedeutung.

Rekapitulieren wir noch einmal Kurts Prozess.

Nach dem Scheitern des ersten Konstruktionsentwurfes, verhindert Kurt ein erneutes Einstürzen der Brücke durch Unterstützung mit der Hand. Er behält die geplante Anordnung der Bauklötze, die optische Idee der Brücke bei und sucht nach einer neuen Konstruktionsidee, nachdem er die alte Konstruktion, die nötige Stabilität durch Zusammenpressen der Klötze zu erzielen, wegen Untauglichkeit verwerfen musste. Kurt vollendet seinen Brückenbauplan probehalber, während er weiterhin die der Brücke noch fehlende Unterstützung mit der Hand ersetzt. Er fühlt das Gewicht der überstehenden Klötze, ihr Abkippen nach innen und sieht ihr leichtes Anheben auf dem Brückenlager. Für längere Zeit verharrt Kurt so, ganz leicht die stützende Hand auf und ab bewegend – als ob er überlegt und nachdenkt. Die Initiierung der Idee vom Gegengewicht könnte gerade in der zuvor beschriebenen Koordination von mentaler Aktivität mit der aktivierten neuronalen Spur der Körpererfahrung vom Gegendrücken, zum Zwecke der Balance, des (Gegen)Haltens entstehen.

In ähnliche Richtung könnte ein Ergebnis aus der Untersuchung von Dieter Schmidt zum Konzeptwechsel weisen, in der der Durchbruch zur Übernahme des intendierten Konzepts durch die Aktivierung der Körpererfahrung „drücken mit konstanter Kraft“ gelang. (Die gleichgroß bleibende Kraft führte nicht zu konstanter, sondern zunehmender Geschwindigkeit der bewegten Flüssigkeit).

Ebenso hat schon U. Maichle in ihren Untersuchungen zu Schülervorstellungen in der Elektrizitätslehre auf die konzeptbildende Kraft von Körperanalogien hingewiesen. Geben-, Nehmen- und Verteilen-Schemata strukturieren die Erfahrungen der Schüler mit elektrischen Stromkreisen, nicht die funktionalen Zusammenhänge des Ohmschen Gesetzes.

Die These, dass Körpererfahrungen mentale Prozesse organisieren, wird durch vielfältige Beobachtungen und Erfahrungen aus anderen Bereichen gestützt. Aebli beschreibt Denken als das Ordnen des Tuns, Vygotski beschreibt als wichtigen Teil von Lernprozessen den Übergang vom äußeren zum inneren Sprechen. Die Gestalttherapie aktiviert vergangene (emotionale) Ereignisse durch das Einnehmen bestimmter Körperhaltungen und -verspannungen, durch die Verstärkung bestimmter Gesten und Bewegungen. Von Wilhelm Reich stammt die Idee der Körper- oder Muskelpanzerung durch dessen Aufweichung oder Auflösung auch erstarrte psychische, hemmende Konstellationen in Fluss gebracht und damit verändert werden können. Varela benutzt den Begriff der Verkörperung mentaler Ereignisse und stützt sich dabei auf Untersuchungen von Mark Johnson, und dieser schließlich zeigt auf, wie unsere Sprache durchsetzt ist von Bildern und Metaphern, die auf Körpererfahrungen beruhen und wie daraus folgend unsere Beschreibung von Wirklichkeit durch die Wahrnehmung unseres Körpers, d.h. unsere Körpererfahrung geprägt ist.

Spätestens mit der Geburt lernt der menschliche Organismus zwischen sich selbst und etwas außer ihm selbst, seiner Umwelt, zu unterscheiden. Die aufgrund der Körperwahrnehmung entstandenen Bilder und Schemata können nun ihrerseits benutzt werden, um die Umwelt zu strukturieren und zu verstehen.

Exkurs: „The body in the mind“

Johnson benutzt den von Ulrich Neißer verwendeten Schema-Begriff, der ihn wiederum aus Piagets Zirkular-Reaktionen weiterentwickelt hat.

Ein Schema ist gebunden an Wahrnehmung und Motorikprogramme. Es ist der Teil eines ganzen Wahmehmungszirkels, der sich intern im Wahrnehmenden befindet. Es ist modifizierbar durch Erfahrung und in gewissen“ Weise spezifisch für das, was wahrgenommen wird. Das Schema nimmt „Informationen“ auf, wie sie auf der sensorischen Oberfläche verfügbar werden, und es wird selbst durch die „Informationen“ verändert. Es dirigiert Bewegungen und Explorationsaktivitäten (wie z.B. das Greif Schema nach Piaget), um mehr „Informationen“ verfügbar zu machen, durch die das Schema wiederum weiter modifiziert wird. Vom biologischen Standpunkt aus ist ein Schema Teil des Nervensystems. Es ist eine Art aktive Anordnung physiologischer Strukturen und Prozesse. Es ist kein Zentrum im Gehirn, aber ein ganzes System, das Rezeptoren und Afferenten sowie feed-back Einheiten und Efferenten einschließt. Die aus der Aktivität der zusammengehörigen Komponenten resultierende emergente Eigenschaft, nämlich die Bedeutung konstituiert auch zugleich das Schema in Abgrenzung zu möglichen anderen Schemata und Aktivitätszirkeln im Gehirn. Ein Schema ist nicht nur ein Plan, sondern auch der Ausführende des Plans, es ist ein Muster der Handlung sowie ein Muster zum Handeln.

Zu der zentralen Stellung von Bedeutung der Konstitution von Schemata passen Untersuchungen, die Anderson berichtet, um die Überlegenheit unseres Gedächtnisses für Bedeutungen zu belegen. Menschen erfassen normalerweise die Bedeutung einer Botschaft, die sie auch behalten, sie erinnern sich aber nicht oder nur schlecht an ihre wörtliche Formulierung, (die wörtliche Formulierung wird aus der Bedeutung und möglicherweise abweichend vom Ausgangssatz rekonstruiert). Auch bezüglich der visuellen Wahrnehmung stellte man bei der Aufgabe, Drudel nachzuzeichnen fest, dass vorrangig die Bedeutung eines Bildes erfasst wurde, während Einzelheiten der Darstellung gar nicht erst gesondert registriert, zumindest aber nicht erinnert wurden. Auch das Nachzeichnen der Drudel hatte den Charakter eines von seiner Bedeutung ausgehenden Rekonstruktionsprozesses.

Als eines von mehreren ausgeführten Beispielen für die Wirksamkeit von Körperschemata in unserem Denken stellt Johnson das in-out-Schema (bezogen auf die englische Sprache) vor. Das in-out-Schema entsteht aufgrund unserer Begegnung mit Behältern und Begrenzungen. Es repräsentiert eine Klasse grundlegender Körpererfahrungen und strukturiert in weiten Bereichen unser Denken. Wir erfahren unseren Körper als (dreidimensionalen) Behälter, in den wir bestimmte Dinge wie Essen, Wasser, Luft hinein tun können und aus dem bestimmte Dinge wie Schweiß, Luft, Blut, Kot, Urin herauskommen. Ebenso machen wir von Anfang an mit unserem Körper die Erfahrung, innerhalb und außerhalb von Behältern zu sein, wie im Uterus, aus dem wir bei der Geburt herausgepresst werden, oder wenn wir in Räume, Fahrzeuge, Fahrzeuge hinein und aus ihnen heraus gehen.

Das in-out-Schema ist wie andere Schemata nicht propositional. Es ist einfach, aber hat genügend interne Struktur, um Schlußfolgerungen zu generieren und andere zu verhindern, es unterstützt unsere Erfahrungsordnenden Aktivitäten, indem es die für das Schema typischen Unterscheidungen trifft. Das in-out-Schema kann am besten durch folgendes Bild illustriertwerden.

Abb. 4

Es enthält das Kreuz und damit den Standpunkt innerhalb und das Dreieck und damit die Orientierung außerhalb des Kreises, der für Behälter und Begrenzung steht. Das in-out-Schema strukturiert den Raum nach Innen- und Außenbereichen und lässt wechselnde Standpunkte, von innen nach außen oder von außen nach innen gucken, zu.

Fünf wichtige Strukturmerkmale kennzeichnen das in-out-Schema:

  1. Die Erfahrung des Enthaltenseins
    Sie beinhaltet zugleich den Schutz vor oder den Widerstand gegenüber äußeren Kräften. Wenn eine Brille im Etui liegt, wird sie gegen Krafteinwirkungen von außen geschützt.
  2. Die Erfahrung des Umschlossenseins
    Sie beinhaltet zugleich die Begrenzung der Kräfte im Behälter. Wenn ich in einem Raum bin oder in einer Zwangsjacke stecke, werde ich in meinen kraftvollen Bewegungen behindert und begrenzt.
  3. Wegen der Begrenzung von Kräften durch das Behältnis hat ein enthaltenes Objekt eine relativ feste örtliche Position. Ein Fisch befindet sich im Aquarium, die Tasse wird in der Hand gehalten.
  4. Die relative örtliche Fixierung im Behältnis bedeutet zugleich, dass das enthaltene Objekt dem Blick des Beobachters entweder zugänglich oder verborgen ist, je nach Standpunkt des Beobachters oder Beschaffenheit der Begrenzung.
  5. Es impliziert die Transitivität der Enthaltenseinsrelation. Wenn B in A ist, dann ist alles, was in B ist, zugleich auch in A.

Unser Tun im täglichen Leben steckt voller in-out-Orientierungen, wie wir leicht an den sprachlichen Beschreibungen verifizieren können. Morgens erwachen wir aus tiefem Schlaf, wir hüpfen aus den Federn in das Zimmer, springen in die Kleider, strecken die Glieder aus und gehen in Benommenheit aus dem Schlafzimmer ins Badezimmer. Wir blicken in den Spiegel und sehen uns aus ihm herausstarren. Wir greifen in den Toilettenschrank, nehmen die Zahnpasta heraus, drücken Zahnpasta aus der Tube, führen die Zahnbürste in den Mund, bürsten die Zähne in Eile und spülen den Mund aus.

Ähnliche Orientierungen und Strukturierungen unserer Erfahrung liefern uns die Schemata von auf(wärts)-ab(wärts), nah-fern, links-rechts, vorn-hinten, (hin)zu-weg.

Die aus der Körpererfahrung gewonnene räumliche in-out Orientierung kann nun metaphorisch auch auf weitere Bereiche unseres Denkens und Handelns aus gedehnt werden. Beispielsweise kann eine Geschichte, im Wettlauf oder ein Zustand als ein Behälter aufgefasst werden, wie aus den folgenden Formulierungen hervorgeht. Erzähl mir deine Geschichte noch einmal, aber lasse die kleineren Details aus. / Ich steige aus dem Wettlauf aus. / Immer wenn ich in Schwierigkeiten bin, hilft sie mir heraus. Oder die Verben auslassen, (her)ausgreifen, (her)ausnehmen können sowohl körperliche Handlungen meinen als auch sich metaphorisch auf mentale Handlungen beziehen. Was physisch herausgegriffen wird, sind räumlich ausgedehnte Gegenstände, was metaphorisch herausgegriffen wird, sind abstrakte, mentale Einheiten.

Die von Mark Johnson aufgezeigte weit reichende Funktion von Körperschemata für die Strukturierung unserer Erfahrung und (damit) für die Konstruktion von Bedeutung scheint darauf hinzuweisen dass wir es hier mit einem grundlegenden Mechanismus von Lernen zu tun haben. Es bleibt zu untersuchen einerseits, wie Körperschemata denn genau entwickelt werden, andererseits ob andere Analogien als Mittel zum Verständnis komplexer Sachverhalte auf Mechanismen bei der Verwendung von Körperschemata zurückgeführt werden können.


Literatur

John R. Anderson
Kognitive Psychologie
Spektrum, Heidelberg 1988

Mark Johnson
The Body in the Mind
University of Chicago Press, Chicago/London 1987

Jean Piaget, Bärbel Inhelder
Die Psychologie des Kindes
Walter Ölten, 3. Aufl. 1976

Francisco J. Varela
Kognitionswissenschaft/Kognitionstechnik
Suhrkamp Frankfurt 1990

Francisco J. Varela
Allgemeine Prinzipien des Lernens im Rahmen der Theorie biologischer Netzwerke
in: Siegfried J. Schmidt: Gedächtnis
Suhrkamp Frankfurt 1991 S. 107


Quelle

Bedeutungsentwicklung und Lernen, Band II, Seite 93 – 107, Herausgeber:
Forschergruppe „Interdisziplinäre Kognitionsforschung“ der Universitäten Bremen und Oldenburg,
Zusammenfassung des Seminars in Wremen vom 11./12. Dezember 1992


Links