Nov 152000
 

Auf dem Wege zu neuer Wirklichkeit

Von Kai Hellbusch

Zusammenfassung

Niemand, der mit Gebsers Bewusstseinsstrukturen nur etwas vertraut ist, wird davon ausgehen, dass es genau eine Wirklichkeit für die Menschen gibt, oder genau zwei, deren eine dann die erkennbare wäre, die vor Augen liegt, und die andere die Jenseitige, die vielleicht die wichtigere, eigentlichere, wahrere wäre. Wirklichkeit ist Praxis, unsere Wirklichkeit ist unser Leben. Die Bewusstseinsstrukturen sind erst dadurch sinnvoll und können erst dadurch so tief konstituierend sein, wie Gebser sie uns vorstellt, dass sie jeweils eigene Wirklichkeit besitzen bzw. herstellen. Genau dadurch auch ist Gebsers Konzeption eindeutig nach-metaphysisch. Verschiedene Wirklichkeiten, verschiedene Wahrheiten in der Zeit, eine gewisse Antizipation von Zukunft voraussetzend, und zugleich mit einem spezifischen eigenen Wahrheitsanspruch versehen, der nicht darin besteht, rational irgendetwas zu verifizieren oder zu falsifizieren, sondern der die Verifikation im Verstandenwerden birgt: so taugt diese Konzeption in herausragender Weise dazu, dem Anspruch der Verantwortung, der an uns gestellt ist, zu genügen, und uns zu einer Orientierung zu verhelfen. Diese Konzeption zu verstehen, heißt sie zu kennen, und zwar am eigenen Leibe, mit dem eigenen Sein. Das ist ihre Schwierigkeit, denn das ist mit sehr viel Arbeit und Distanz, mit sehr viel unterschwelliger Übung verbunden. Aber dies ist unser Einsatz auf dem Wege zu neuer Wirklichkeit.

Vortrag auf der Jahrestagung der Internationalen Jean Gebser-Gesellschaft am 30.9.2000
mailto:Kai.Hellbusch@gmx.de 

Mein Vortrag wird aus drei Teilen bestehen: zuerst frage ich nach der Bedeutung des Wortes Wirklichkeit; das wird vielleicht etwas anstrengend, weil mit etlichen griechischen Begriffen gespickt. In diesem Abschnitt greife ich stark auf Georg Picht zurück, der – wie Gebser – ein völlig verdrängter Philosoph war. Dann frage ich nach dem Zusammenhang von Wirklichkeit und den Bewusstseinsstrukturen Gebsers, und zuletzt versuche ich, Aspekte des Weges zu einer neuen Wirklichkeit aufzuzeigen.

1. Was heißt das Wort Wirklichkeit?

In der Welt, die unsere Lebensumstände bestimmt, nämlich in der Wissenschaft, versteht man etwa seit der Mitte des letzten Jahrhunderts unter „wirklich“ das, was „faktisch“ ist. In der Tradition des französischen Positivismus aus dem 18. Jahrhundert versteht man das Faktische dann als das „Positive“. Im Hintergrund dieser beiden Interpretationen des Wirklichen steht eine bestimmte Methodik der Erkenntnis von Gegenständen überhaupt, nämlich die „Objektivation“. In der Nachfolge von Kant wird Wirklichkeit als Objektivität, das Wirkliche als das Objektive verstanden. Auf diesem Hintergrund hat sich im 20. Jahrhundert ein Wirklichkeitsverständnis ausgebildet, das mit Faktizität und Positivität nicht gleichgesetzt werden darf, aber sie ständig durchdringt. „Objektiv“ im strengen Sinne des Wortes sind nämlich nur solche Phänomene, die wir quantitativ bestimmen können. Was mathematisch nicht berechnet werden kann, wird als ein objektives Datum nicht mehr zugelassen. Das gilt für die Natur- und die Sozialwissenschaften. Nun stellt sich aber in den Sozialwissenschaften immer wieder heraus, dass Objektivität, Faktizität, Positivität und Quantifizierbarkeit nicht alle Sachverhalte, mit denen sie zu tun haben, abzudecken vermögen. Deswegen wird, gleichsam als Lückenbüßer für ein Feld von Wirklichkeit, das sich diesen präzisen Bestimmungen entzieht, ein ziemlich vager Begriff von Empirie verwendet, auf den man mindestens dort zurückgreifen muss, wo menschliches Bewusstsein die gegebenen Sachverhalte beeinflusst – denn Daten des Bewusstseins sind keine „Fakten“. Wirklich ist also auch das empirisch Gegebene.

Zudem ist Wirklichkeit – heimlich und im Alltagsverstand – immer auch mit dem Anspruch verbunden, Wahres zu sein. Die wahre Wirklichkeit wird auch in den Naturwissenschaften, gerade auch in ihren neuesten Sparten, auf sehr naive Weise vorausgesetzt. Sehr naiv deshalb, weil ihr Wahrheitsanspruch unreflektiert bleibt, und mit dem Erforschten und Erkannten lediglich gehandelt wird. Praktische (empirische) Wissenschaft beruht zudem auf einem unreflektierten Begriff der Praxis, wobei Praxis wiederum sehr eng mit Wirklichkeit verbunden ist, wie wir noch sehen werden.
Nun gibt es aber jenseits aller dieser Wirklichkeitsbegriffe ganz andere Gestalten, in denen die Wirklichkeit sich zeigt. Wirklich – im Sinne von wirkend – ist vor allem die Macht. Als wirklich erscheint auch die öffentliche Meinung. Wirklich sind Erfolg oder Misserfolg. Wirklich sind soziale Ansprüche und soziale Ressentiments, und wirklich sind alle anderen Aspekte von Moral. Wirklich sind in der modernen Welt, so paradox das klingen mag, ihre Fiktionen. Wirklichkeit ist also ein überaus unklarer und vielschichtiger Begriff. Ich frage – zum Zwecke der Aufhellung – nach seiner Herkunft.

Was bedeutet also das Wort Wirklichkeit? Es ist die Übersetzung sowohl eines griechischen Wortes wie eines lateinischen Wortes; die griechische Herkunft ist wichtiger, die lateinische ist mächtiger geworden in unserer abendländischen Geschichte: dieses lateinische Wort lautet realitas. Res, die Sache, die dem Wort realitas zugrunde liegt, bedeutet weder „Objekt“ noch „Ding“, sondern res heißt eben „Sache“ in jener Bedeutung des Wortes, die von der Jurisprudenz in dem Begriff „Sachenrecht“ festgehalten wurde. „Sache“ ist alles, worüber man verfügen kann. Res publica ist nicht identisch mit der griechischen Polis oder dem neuzeitlichen Staat; res publica ist vielmehr alles, worüber im Namen des römischen Volkes verfügt werden kann. Der Gegensatz dazu ist res privata, also alles, worüber im Namen der Familie verfügt werden kann. Das Wort „Realität“ bezeichnet nun die Summe aller jener Merkmale, die eine res als res konstituieren; daher kann man festhalten: realitas impliziert als seinen Bedeutungshorizont die Verfügbarkeit. Nun liegt es auf der Hand, dass die eben genannten Begriffe für Wirklichkeit – Objektivität, Faktizität, Positivität, Quantifizierbarkeit, Empirie – verschiedene Aspekte der Verfügbarkeit bezeichnen. Es spiegelt sich in ihnen derjenige Prozess der Geschichte, der die Menschen dazu geführt hat, die gesamte Wirklichkeit als Realität, also als verfügbar zu betrachten. Diese Auffassung der Wirklichkeit als Realität muss als die einzig zulässige Form, die Wirklichkeit zu betrachten, dann erscheinen, wenn der Mensch sich selbst als autonomes Subjekt versteht und sich so zum Herren sowohl der Natur wie seiner eigenen Geschichte zu machen versucht. Das bedeutet für den Wirklichkeitsbegriff: Gerade die Realität ist Projektion. In der Gestalt der Realität zeigt sich die Wirklichkeit nicht so, wie sie von sich aus ist. Sie zeigt sich vielmehr so, wie sie durch menschliches Denken und Handeln gesehen und geformt werden muss, wenn sie der Verfügung des Menschen unterworfen werden soll.

Dies ist der eine Strang des Wirklichkeits-Begriffs, der für unsere heutige Welt konstitutiv ist. Heute erleben wir ein für dieses Wirklichkeitsverständnis kurioses Phänomen, das die tiefe Krise unserer Entwicklung anzeigt: Die Wirklichkeit, die sich der Mensch als autonomes Subjekt mit seiner entsprechenden objektiven Wissenschaft mittlerweile geschaffen hat, ist immer schwieriger zu handhaben, ja sie wächst dem Menschen allmählich über den Kopf, und das heißt: sie entzieht sich seiner Verfügung, entzieht sich also ihrem Realitätssein.

Das griechische Wort, dessen Übersetzung „Wirklichkeit“ ist, lautet ™nšrgeia. So übersetzt wurde es von Meister Eckhard, der ja nicht nur der große deutsche Mystiker war, sondern auch der alle späteren überragende Sprachgestalter des Deutschen. Energeia ist ein von Aristoteles erfundenes Kunstwort, das den Bezug zum Werk, zum ergon, ausdrücken will. Energeia entspricht keineswegs dem, was wir beim Wort Energie denken. Auf Aristoteles und diesen Begriff der energeia griff auch Hegel zurück, der als Meistermetaphysiker für den philosophischen Begriff der Wirklichkeit immer noch eine große Rolle spielt.

Der Satz aus dem IX. Buch der Metaphysik des Aristoteles, in dem der Begriff der energeia eingeführt wird, lautet verdeutscht: „Das Werk ist das Ziel; die ™nšrgeia aber ist das Werk (weshalb auch das Wort ™nšrgeia im Hinblick auf das Werk gebildet ist), und sie spannt sich hin auf die Entelechie.“ Ich will jetzt diesen Satz nicht auslegen, aber darauf hinweisen, dass auch das Wort Entelechie ein bei dieser Gelegenheit gebildetes Kunstwort des Aristoteles ist und das telos, das Ziel, in sich enthält.

Das Werk ist das Ziel: das versteht sich leicht. Das Werk ist immer Ziel der Handlung, die ein Werk vollbringt. Nun unterscheidet Aristoteles aber – und wir seitdem auch – zwei Grundformen, in denen sich ein Handeln auf sein Werk und damit zugleich auf sein Ziel beziehen kann: Die einen Hand-jungen ergeben ein Werk, das als etwas Selbständiges und Anderes neben dem Handeln steht, wie der Tisch, den der Tischler hergestellt hat. In diesem Fall liegt die energeia, die Wirklichkeit, in dem, was hergestellt worden ist, also dem Tisch. Handlungen dieser Art heißen poiesis. Die anderen Handlungen sind nicht auf ein selbständiges Werk gerichtet, sondern bei ihnen gibt es gar kein herauskommendes Werk. Beispiele hierfür sind das Sehen (als Werk des Auges), auch das geistige Schauen, das Erkennen, also die Theorie, und auch das Leben. Diese Art Handlungen heißt Praxis. Interessanterweise ist also bei Aristoteles die Theorie eine Form der Praxis, und sogar eine besonders hohe Form.

™nšrgeia ist also bei Aristoteles die Grundverfassung von pr©xij überhaupt, insofern pr©xij ein Vollzug ist, der sein Werk in sich selbst enthält; vollkommen ist dieser Vollzug, dieses Handeln dann, wenn er sein Ziel erreicht und in den Zustand der Entelechie gelangt. Alle Praxis ist ein Vollzug von Leben. Die höchste Stufe des Lebens und damit die höchste Stufe der ™nšrgeia, der Wirklichkeit, überhaupt ist nach Aristoteles die nÒhsij, also jener Vollzug, in dem das höchste Erkenntnisvermögen, der noàj, sein Werk in sich selbst trägt und dadurch sein noàj-Sein erfüllt. Noàj – meistens übersetzt als „Geist“– ist nun einer der schwierigsten Begriffe überhaupt, und es gibt nicht nur bei Aristoteles sondern auch in der älteren griechischen Philosophie verschiedene Aspekte oder Arten des noàj. Gemeinsam ist aber allen Verwendungen dieses Begriffes, dass immer auch das spezifisch menschliche Vermögen zur Wahrheit ausgedrückt wird. Wahrheit ist auch solch ein komplexer Begriff, und er ist zudem – wie die anderen genannten Begriffe auch – eine Erfindung des mentalen Bewusstseins. Wenn wir ein Gefühl für die Reinheit von Wahrheit erlangen wollen, müssen wir an die Mathematik denken, deren Wahrheit völlig unabhängig von einem Gedachtwerden oder gar einer materiellen Grundlage immer und überall gilt.
Wirklichkeit ist also im Grunde Wahrheit, und sie ist zugleich Praxis, schließt also die ganze Lebensführung ein. Wir können unser Leben nicht führen, ja, wir können nicht leben, ohne immerzu Wirklichkeit herzustellen.

Der geistesgeschichtliche Weg von diesem Wirklichkeitsverständnis zur neuzeitlichen Realität hat sich – sehr verkürzt – folgendermaßen entwickelt: Der noàj, die höchste Wirklichkeit, ist bei Platon und bei Aristoteles nicht, wie die „Vernunft“ der neuzeitlichen Philosophie, ein auf sich selbst zu-rückbezogenes, ein reflexives „Vermögen“, sondern er bezeichnet die reine Offenheit der Seele für die Wahrheit des Seins. Aristoteles benutzt nun den Begriff des Logos, um das Instrument zu bezeichnen, mithilfe dessen der Mensch dieser Wahrheit ansichtig werden kann. Die berühmte aristotelische Bestimmung des Menschen als „Lebewesen, das den Logos hat“ bedeutet also, dass das Wesen des Menschen darin liegt, dass er die Möglichkeit hat, die Wahrheit zu erkennen. Aus dem Wesen der Wahrheit wird das Wesen des Menschen abgeleitet; der Logos ist das Instrument, an dem man erkennen kann, dass das Wesen des Menschen dem Wesen der Wahrheit zugeordnet ist. Die Ausarbeitung der Funktionsweise des Logos, also der Logik, und deren Hypostasierung als der Grund dessen, was Menschen wissen können, war diejenige Tat des Aristoteles, die die Erkenntnisform unserer Wissenschaft möglich gemacht hat. Die für die abendländische Geistesgeschichte noch entscheidendere Weiterführung des Logos-Konzeptes wurde in der Logos-Metaphysik der Stoa vorgenommen: sie deutete das Instrument Logos, das ein Hilfsmittel war, um und macht es zum Wesentlichen des Menschen, und nicht nur des Menschen, sondern auch der Natur: die Gesetze der Natur sind jetzt identisch mit den Gesetzen der Logik. Das ist die Basis für alle neuzeitliche Vernunft-Philosophie und Naturwissenschaft, und damit für die Wissenschaft allgemein.

Descartes hat dann den Grundriss des transzendentalen Subjektes der neuzeitlichen Philosophie konstruiert. Das vernunftbegabte Lebewesen erkennt die Wahrheit dadurch, dass es denkt. Zum Denken gehört zweierlei: erstens das, was gedacht wird; zweitens, dass gedacht wird. Dass gedacht wird, setzt ein Ich voraus, das denkt. Dieses Ich ist das in jedem Wissen Mitgewusste, in jedem Denken Mitgedachte; es ist also der nicht zu erschütternde Grund des Denkens. Weil in allem, was gedacht werden kann, das denkende Ich immer mitgedacht wird, ist nicht nur das Denken sondern auch das in ihm Gedachte immer reflexiv auf das Ich zurückbezogen. Denken kann das, was in ihm gedacht wird, nur so vorstellen, dass es durch die Form der Vorstellung auf das denkende Ich zurückbezogen, dass es ein diesem Ich Entgegengestelltes, dass es obiectum, ein Gegenstand ist. Das Denken selbst enthält durch diesen doppelten Bezug auf das obiectum einerseits, das „Ich“ andererseits seine reflexive Struktur.

Die Subjektivität ist also so beschaffen, dass sie die ihr immanenten Strukturen in der Form der Objektivation aus sich heraus in die Welt projiziert. Diese Projektionen der Subjektivität sind das, was wir mit vollem Recht als „objektive Realität“ bezeichnen. „Realität“ ist nicht die Wirklichkeit der Natur, sondern wir können heute sagen, sie ist jene Deformation von Natur, die sich uns mittlerweile als Zerstörung präsentiert. Diese Deformation, die man als Negation der Wirklichkeit bezeichnen könnte, begründet die Faktizität der heutigen Welt. Unsere reale Umwelt ist, wie Hegel erkannt hat, „objektiver Geist“, also in die Welt projizierte Subjektivität. Die Geschichte der Konstitution des Subjektes ist in jedem Gegenstand, den wir gebrauchen, insofern er Projektion von Subjektivität ist, real enthalten. Die Natur ist zum bloßen Objekt-Bereich geworden, Staat und Gesellschaft werden nach mechanischen Modellen, also nach dem Vorbild physikalischer Systeme organisiert. Das Verfahren der Objektivation liegt dem Entwurf der gesellschaftlichen Planungssysteme zugrunde. Die von Wissenschaft, Technik und Industrie produzierte künstliche Welt unserer Zivilisation ist ein Spiegelsaal der Subjektivität. Wir sehen rings um uns herum nichts anderes, ja wir vermögen meistenteils nichts zu denken und nichts zu empfinden, was nicht ein Selbstporträt des Menschen wäre, der seine Selbstgewißheit darin sucht und findet, dass er Subjekt ist.

Wenn wir, weil uns das Unbehagen bereitet, den Versuch machen wollten, in eine Art von Gegenwelt zu entfliehen und uns in eine angeblich heile Natur zurückzuträumen, so wäre das ein trügerisches Unternehmen. Alle Versuche, der Realität zu entfliehen, verstärken nur deren Eigendynamik. Man kann die Objektivationen der Subjektivität nur überwinden, wenn man der Subjektivität nicht den Rücken kehrt, sondern sie durchdringt, sie transparent macht und so die Möglichkeiten aufbrechen lässt, durch deren Erkenntnis sie sich verwandeln muss. Darauf komme ich im letzten Abschnitt zurück.

Wenn man nach Wesen und Herkunft des Begriffs der Wirklichkeit fragt, kommt man also automatisch auf die Wahrheit und so in das Kernstück der Geistesgeschichte, das Metaphysik heißt und das die Denk- und Handlungsformen unserer Welt noch immer bestimmt, obwohl spätestens seit Nietzsche deutlich geworden ist, dass die Metaphysik in eine tiefe Krise geraten ist: Sie erweist sich als nicht mehr tauglich, die Probleme unserer Zeit – von der Umweltzerstörung über das „interkulturelle“ Zusammenleben bis hin zur individuellen Orientierung des einzelnen Menschen – zu lösen, sondern das ihr verhaftete Denken schürt diese Probleme noch. Dennoch gilt für sie das gleiche, was ich eben über die Subjektivität gesagt habe: wir können die Metaphysik nicht einfach für alt-modisch erklären und ihr den Rücken kehren, sondern wir müssen sie überwinden, denn sonst dominiert sie weiterhin das Denken und Handeln auf dem erschreckend unreflektierten Niveau, das heute gang und gäbe ist.

Festhalten möchte ich hier, dass sich metaphysisches Denken auszeichnet durch das Konzept transzendentaler oder absoluter Subjektivität, also durch das Subjekt-Objekt-Denken, und durch die einheitsstiftende Wahrheit als dem Horizont dieses Denkens. Ich habe vieles weggelassen, was zu sagen nötig wäre, um das Ganze vollständig zu verstehen, vor allem den Gottes-Begriff, der am Grunde aller Metaphysik seine notwendige Absicherungsfunktion ausübt. Seitdem dieser Gott nicht mehr die Welt regiert, steht alles metaphysische Denken auf tönernen Füßen. Des ungeachtet bestimmt es nach wie vor unsere Welt. Ein erstes, was wir tun können, um dieses Denken nicht weiter zu fördern, ist, die Rede vom Subjektiven und vom Objektiven in all ihren Spielarten zu vermeiden. Zu anderen Möglichkeiten, die die Konzeption Gebsers als nachmetaphysisch erkennbar machen, komme ich später.

2. Wirklichkeit als Funktion der Bewusstseinsstrukturen

Wir haben gesehen, dass die objektive Realität, die Projektion des absoluten Subjekts, die immer noch bestehende Grundlage der Wissenschaften ist, und dass diese Wissenschaften unsere Welt und damit einen Großteil unserer Wirklichkeit bestimmen, und zwar auf eine negative, zerstörerische Weise. Damit ist jedoch noch lange nicht behauptet, dass wir einerseits eine böse Naturwissenschaft haben, die einen sehr reduzierten Wirklichkeitsbegriff zu verallgemeinern bemüht ist, und andererseits eine Lebenswelt oder Alltäglichkeit, in der wir die Wirklichkeit packen können, wie sie ist. Diese Meinung ist ein beliebtes Vorurteil besonders der Phänomenologen, und es wird gerne als Argument gegen den postmodernen Konstruktivismus oder Dekonstruktivismus benutzt. Es geht hier aber nicht darum, einen „Konstruktivismus“ oder dergleichen zu verteufeln, sondern es geht darum, eine notwendige Form von Konstruktivismus aufzuzeigen. Der kann nur dann von vornherein geleugnet werden, wenn die Hypothese der vermeintlichen Unmittelbarkeit des mitteleuropäischen Bewusstseins und der mitteleuropäischen Lebenswelt zugrunde gelegt wird, die in der Philosophie einen ganz großen Schaden angerichtet hat, vor allem mit Heidegger. Diese Unmittelbarkeit, also die selbstverständliche Geltung des mitteleuropäischen Bewusstseins als Normalität des Gegenstände-Erkennens oder gar des Sich-in-der-Welt-Befindens, gibt es nicht, was die Phänomenologen auch immer sagen mögen. Denen ist der grundlegende Teil ihrer kulturellen Prägung nicht transparent, und dadurch verlieren sie auch und vor allem den Blick für die eigene Relativität und tragen das schlechte Erbe der unzeitlichen Vernunft-Metaphysik weiter. Dennoch gibt es natürlich den intellektuellen postmodernen Konstruktivismus – eine eigene Sache, die hier keine Rolle spielt. Das Gemachte und bewusst Konstruierte ist sauber zu trennen von dem „Konstruktivismus“, den die Bewusstseinsstrukturen immer schon bewirken.

Ich habe auf den Begriff der Wirklichkeit, wie er sich aus der griechischen Herkunft und Bedeutung ergibt, so großen Wert gelegt, weil von dort aus sichtbar wird, dass Wirklichkeit immer ein Herzustellendes ist, das von den geistigen Sensorien des Menschen abhängt und das auf der Fundamentalebene unserer Konstitutionsleistung angesiedelt ist. Genau dies gilt auch von den Bewusstseinsstrukturen. Wir wollen also mit Gebser Wirklichkeit als Funktion der Bewusstseinsstrukturen auffassen. Gebser hat hinreichend wenige Bewusstseinsstrukturen, so dass die entsprechenden Wirklichkeiten einigermaßen klar gesehen und wahrgenommen werden können.

Ich nehme an, die meisten von Ihnen kennen Gebsers Bewusstseinsstrukturen. Deshalb gehe ich nur kurz auf sie ein.

Bewusstseinsstrukturen sind die grundlegenden Vehikel für uns Menschen, die Welt wahrzunehmen und uns in einer Welt zu befinden. Sie sind dann nicht das Geistige, wenn man unter dem Geistigen die kognitiven Fähigkeiten, die Intelligenz oder so etwas versteht. Sie sind aber dann als Geistiges anzusehen, wenn wir wissen, dass all unsere Sensorien und Konstitutionsaspekte – damit meine ich unser Denken, die Gefühle, die Triebe, unseren Körper und was dergleichen Menschen-Einteilungen mehr sind -, dass also all dies zusammengebündelt ist zu der Einheit, die wir sind und die dominiert wird von einer nicht-individuellen Bewusstseinsart von bestimmter Struktur, also von einer Bewusstseinsstruktur.

Bewusstseinsstrukturen sind also etwas völlig anderes als Stadien oder Bereiche des Bewusstseins, die verschiedene Grade von Bewusstheit oder Schematisierungen dessen, was bewusst werden kann, bezeichnen. Die Bewusstseinsstrukturen sind konstitutiv für die Wirklichkeit des Menschen, weil sie seine Filterungen und Strukturierungen des ihn Umgebenden und ihm Begegnenden ermöglichen und so erst seine Welt entstehen lassen. Daher erheben die Bewusstseinsstrukturen einen fundamentalen Geltungsanspruch. Ohne Bewusstseinsstrukturen gibt es uns nicht und selbstverständlich für uns nichts.

Wir können also auf keine Weise unsere Abhängigkeit von den Bewusstseinsstrukturen unterlaufen und uns ihnen entziehen. Wohl aber können wir, weil es verschiedene Bewusstseinsstrukturen gibt, ihr Verhältnis untereinander in uns und ihre Transparenz für uns verändern. Dass wir dies können, zeigt schon an, dass wir zur Zeit nicht in einer Phase leben, in der eine der Bewusstseinsstrukturen effizient dominiert, also all unsere Möglichkeiten zu ihrer Realisation beansprucht, sondern in einer Übergangszeit, in der eine neue Bewusstseinsstruktur zu etablieren ist.

Es dominiert also immer eine Bewusstseinsstruktur, und wenn sie es nicht auf effiziente Art tut, dann auf defiziente, d.h. zerstörerische. Wir wissen, dass unsere Welt bestimmt ist von der zerstörerischen Dominanz der mentalen Bewusstseinsstruktur, und wir wissen auch, dass in den solcherart geprägten Zeiten die defizienten Aspekte der älteren, nicht mehr dominierenden Bewusstseinsstrukturen vehement zutage treten.

Das hat erhebliche Auswirkungen auf unsere Wirklichkeit. Wir haben gesehen, dass Wirklichkeit Praxis ist, also Lebensführung. Das bedeutet, dass wir, indem wir leben und unsere Wirklichkeit herstellen, eine Art Übereinkunft oder Balance zwischen uns und unserer Umwelt schaffen. Die Art, wie und in welchem Umfange dies geschieht, bestimmt unsere Wirklichkeit. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn bei solch defizienten und dazu disparaten Umweltaspekten viele Menschen groß im Ausblenden sind und in kleinen eigenen Wirklichkeiten oder in defizient bunten Wirklichkeiten leben. Es gehört Erhebliches dazu, den Wust von defizienten Umwelten auszuhalten und sie transparent zu bekommen, zumal ihre Defizienz und zerstörerische Kraft und Reichweite umso deutlicher werden, je transparenter sie werden. Man kann das wohl nur aushalten, wenn die eigene Wirklichkeit am Grunde von einer Kraft mitbestimmt wird, die in hohem Maße effizient und eben kraftvoll ist. Gebser hat diese Kraft als das Geistige oder den Ursprung oder – später, nachdem er Aurobindo als den großen Wirklichkeitshersteller erkannt hatte – als das universale Bewusstsein bezeichnet, das im integralen Bewusstsein für uns wirklich wird.

Es genügt also eben leider nicht, die Bücher zu lesen, in denen die zugrunde liegenden Strukturen und die großen Bögen des Geschehens beschrieben werden; das hat jeder erfahren, der Gebsers Bücher weiterempfohlen hat und diese dann nicht verstanden oder nur ein bisschen verstanden oder für interessant gehalten, jedenfalls nicht in ihrer Wahrheit angenommen wurden. Man muss wohl so sein, dass man die Fragen, auf die diese Bücher antworten, von sich aus stellt, aus seiner eigenen Wirklichkeit, und das scheint erst dann zu funktionieren, wenn diese Wirklichkeit so gut gegründet ist, dass sie die gebotene Weite hat.

Es gibt bei Gebser, wie wir wissen, fünf Bewusstseinsstrukturen – die archaische, die magische, die mythische, die mentale und die integrale -, die jeweils eigene Wirklichkeiten konstituieren; es dominiert immer eine dieser Bewusstseinsstrukturen und stellt sozusagen den Horizont dar, in dem die Wirklichkeiten der anderen Bewusstseinsstrukturen ihren Platz und ihre Stellung finden sollen.

In Zeiten der Defizienz ist es natürlich besonders schwierig, den Wirklichkeiten älterer Bewußtseinsstrukturen nahe zu kommen. Wir Heutigen haben keinen direkten Zugang zu der effizienten Wirklichkeit einer dominierenden älteren Bewusstseinsstruktur. Die aktuellen Erscheinungen solcher Wirklichkeit aber, die uns in unserer Lebenswelt begegnen, tragen weitgehend den Charakter der Defizienz; sie stellen eine Form des Hinter-den-Anforderungen-Zurückbleibens dar. Weil wir also die Wirklichkeiten früherer Bewusstseinsstrukturen nur durch unsere jetzige Konstitution gefiltert wahrnehmen können, weil aber die Bewußtseinsstrukturen nicht nur im Laufe der Menschheitsgeschichte, sondern auch im Heranwachsen eines jeden einzelnen Menschen ihre effiziente Ära hatten und haben, kann es sinnvoll sein, bei den Bildern und Gedanken, die uns Wirklichkeiten älterer Bewusstseinsstrukturen verdeutlichen sollen, nicht nur zu den „objektiven“ Beständen wie Sprachen und archäologisch-ethnologischen Zeugnissen zu greifen, sondern auch zum kindlichen Erleben und Erfahren. Das hat auch den Vorteil, nicht nur an unser Vorstellungsvermögen zu appellieren, sondern die jeweils eigene Erinnerung zu aktivieren.

Es ist also für Gebser-Kenner klar, dass unsere Wirklichkeit des objektiven Denkens keine Selbstverständlichkeit ist, und dass jede einzelne Bewusstseinsstruktur in ihrer Eigenheit ihren Beitrag zur Wirklichkeit leistet. Das fängt schon bei den Gegenständen an: Wenn wir von Sprachen wissen, in denen die Katze, die von rechts kommt, einen anderen Namen trägt als diejenige, die von links kommt, dann können wir davon ausgehen, dass der Begriff „Katze“ ein Ausdruck einer bestimmten Art ist, die Welt zu sehen, und dass eine Wirklichkeit, in der zwar Katzen vorkommen, nicht aber der Begriff der Katze, eine andere Wirklichkeit ist als die unsrige. Dieses Beispiel verweist auf die Wirklichkeit des magischen Bewusstseins, denn es zeigt die ganz vorperspektivische Ortsbezogenheit des Magischen an. Magische Wirklichkeit zeigt sich auch dort, wo ein Teil vollgültig für das Ganze steht, im sozialen Bereich, wenn wir uns einer Gruppe anheimgeben, aber auch in unserm sexuellen Erlebnisbereich, oder wenn wir vor dem Schlafengehen unters Bett gucken, ob da nicht vielleicht doch ein Gespenst hockt.

Das mythische Bewusstsein ist, wie wir uns erinnern, ausgezeichnet durch die Entdeckung eines Innenbewusstseins, eines inneren Zeitbewusstseins, die durchs Erzählen, durch Geschichten gefördert werden.

Ich habe lange darüber nachgedacht, wie man die Wirklichkeit des Mythischen sich deutlich machen kann. Die Anhänglichkeit an Geschichten ist vielleicht eine Möglichkeit: mancher mag sich noch erinnern, wie es war, als Dallas im Fernsehen lief und die Welt der Fernsehserien einläutete. Wie viele Leute haben sehnsüchtig auf den Tag gewartet, an dem die nächste Folge kam! Aber dies ist nur ein schwaches Beispiel. Schöner ist vielleicht die Erinnerung an die leuchtenden Augen der Kinder, wenn die Fortsetzung der gestern erzählten Geschichte anstand. Aber deutlicher noch ist für uns wohl, dass wir uns an das Selbstproduzieren von Geschichten erinnern können, die nicht unbedingt einen wahren Bezug zur Erwachsenenwirklichkeit haben mussten: was wir jetzt als mutwilliges Lügen bezeichnen würden, hatte zu anderer Lebenszeit den Charakter wichtiger Wirklichkeit, der einzig wichtigen Wirklichkeit.

Wir können also verschiedene Wirklichkeiten akzeptieren; wir wissen, dass es einen von Gebser so genannten Vitalzusammenhang gibt, der es ermöglicht, die dem mentalen Bewusstsein normalen Regeln des sinnlich-geistigen Wahrnehmens zu umgehen und beispielsweise telepathisch zu wissen oder einfach nur die Fügungen, die sich ergeben oder zeigen, nicht als un-heimlich, sondern als vertraut zu erleben. Wir können das tief Befriedigende der wirklichen Polarität erfahren; so wie in der mythischen Wirklichkeit vielleicht Diesseits und Jenseits durch die Integration der Ahnen ins tägliche Leben zu Ergänzung kamen, so können wir beispielsweise die Polarität des männlichen und des weiblichen Prinzips erfahren. Wir wissen unser Ich zu schätzen, das unter anderem die Voraussetzung für unsere Du-Fähigkeit wie für unsere Verantwortungsfähigkeit ist, außerdem sauberes Denken und was dergleichen mentale Errungenschaften mehr sind. So komponiert sich unsere Wirklichkeit aus verschiedenen Strukturen; wir kennen umso mehr von ihr, je transparenter uns diese Strukturen sind.

Ist aber die Unterscheidung von sichtbar und unsichtbar geeignet, um Wirklichkeit zu beschreiben? Ich meine nicht, und ich denke, auch Gebser meinte das nicht. Die Präferenz des Sichtbaren ist eine Eigenart des mentalen Bewusstseins, das diese Präferenz in den am Anfang des Vortrags genannten Wirklichkeitsbestimmungen (positiv, objektiv usw.) bis zur ausschließlichen Geltung getrieben hat. Die Hochschätzung dessen, was vor Augen ist und mit Händen zu greifen, gehört dem Mentalen an. Unsichtbares (wobei wir vorsichtig sein wollen bei der Zuschreibung des Sichtbaren in älteren Bewusstseinsstrukturen) gehört wesentlich mit zur Wirklichkeit des Magischen und des Mythischen. Unsichtbar sind nämlich beispielsweise magische Geister und mythische Ahnen, aber sie sind mächtig und sehr wichtig für die jeweiligen Wirklichkeiten.

Gebser selbst spricht vorwiegend nicht von einer unsichtbaren Wirklichkeit, sondern von dem Unsichtbaren, das mit dem Ursprung und dem universalen Bewusstsein identisch sei. So sagt er in Verfall und Teilhabe, Abschnitt Der unsichtbare Ursprung, dass im integralen Bewusstsein unsere Wirklichkeitserfassung transparent werde, „indem sie das Ganze als Ineinanderspiel des Ursprungs und der Gegenwart, also des Un-sichtbaren und des Sichtbaren“ realisiere. V/2, S. 90. Ganz ähnliche Aussagen gibt es dort mehrfach: „Die ganze Wirklichkeit – soweit sie uns überhaupt zugänglich ist – umgreift aber auch ihre uns unsichtbare Hälfte.“ V/2, S. 73. Die Wirklichkeit besteht also im Ineinanderspiel des Sichtbaren und des Unsichtbaren; dieser Begriff der Wirklichkeit entspricht auch dem Grundgedanken der energeia.

Gebser spricht hier von der Wirklichkeit des integralen Bewusstseins. Auch das integrale Bewusstsein wird seine neuen, übermentalen Sichtbarkeiten haben. Als Brücken und Vorstellungshilfsmittel dahin können uns möglicherweise bestimmte Ergebnisse der heutigen Wissenschaften dienen, auch und gerade, wenn sie explizit das normale Vorstellungsvermögen und den „gesunden Menschenverstand“ übersteigen. Aber: das Wissen darum, dass sich die Dinge in tieferen Schichten nicht so verhalten bzw. nicht so sind, wie wir sie mit Augen sehen und uns vorstellen können, bewirkt noch nicht die Teilhabe an einer anderen Wirklichkeit. Wissenschaftliche Ergebnisse, auch die Bilder und Metaphern, die dort benutzt werden, gereichen immer nur zur Vorstellung oder Vision. Die Wissenschaftler selbst, Physiker oder Mathematiker, die sich mit n-dimensionalen Welten oder anderem Nichtvorstellbaren beschäftigen, zeigen in ihrer Beschäftigung eine besondere mentale Begabung; ihre geistige Tätigkeit hat noch gar nichts mit dem integralen Bewusstsein und seiner Wirklichkeit zu tun. Das Ernstnehmen solcher Ergebnisse der Wissenschaften ist natürlich ein Gebot der geistigen Freiheit; sie aber derart zu interpretieren, dass sie schon an sich, also als wissenschaftliche Ergebnisse, das integrale Bewusstsein präsentieren, heißt bei weitem übers Ziel hinausschießen. Sie sind Hinweise, mehr nicht – auch Gebser hat sie übrigens so verstanden. Am integralen Bewusstsein teilzuhaben, setzt etwas ganz anderes und ganz suprawissenschaftliches voraus: nämlich die Transparenz seiner selbst, für die man sich bereit machen muss, zu der man sich selbst erziehen, die man üben muss.

3. Wie kommen wir nun zu einer neuen Wirklichkeit des integralen Bewusstseins?

Mit der gebotenen Bescheidenheit, die davon ausgeht, dass wir erst nur schwache Anfangspunkte dieses Bewusstseins uns zuschreiben können, lassen sich doch Ansätze auf verschiedenen Niveaus erkennen.

Von Gebser haben wir gelernt, dass die Wirklichkeit des integralen Bewusstseins davon bestimmt sein wird, dass wir die Zeitarten der verschiedenen Bewusstseinsstrukturen realisieren können, also zur Wirklichkeit bringen können. Die Zeit ist das große Thema des integralen Bewusstseins.
Und auch nur über unser Verhältnis zur Zeit können wir die Dominanz des Subjekt-Objekt-Denkes, die alles beherrschende absolute Subjektivität, auflösen, und in den Bereich, in die Wirklichkeit hinter und nach der Subjektivität eintreten.

Um den metaphysischen Zeitbezug zu erläutern, greife ich wieder auf Georg Picht zurück. Das transzendentale Subjekt ist für alle Menschen zu allen Zeiten das gleiche. Sein Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit seiner Erkenntnisse stützt sich auf diese seine Zeitlosigkeit. Die Zeit ist nach der Lehre von Kant nur die Form, in der das Subjekt sich selbst erscheint. Sein wahres, intelligibles Wesen ist außer der Zeit. Die Geschichte dieser spezifischen Zeitlosigkeit beginnt bei Parmenides, der die Einheit der Zeit als die unbewegte Identität einer ewigen Gegenwart verstand. – Diese Erfahrung der Einheit der Zeit ist aus einer neuen Erfahrung der Gestalt des Göttlichen hervorgegangen, die im griechischen Denken des 8.-6. Jahrhunderts allmählich hervorgetreten ist. – Alles, was in der Zeit erscheint, ist in Bewegung, und weil es in Bewegung ist, ist es bloße Erscheinung. Aber die Einheit der Zeit, die die Natur zusammenhält, ist unwandelbar und unveränderlich; daran hat auch Kant noch festgehalten. Weil die unwandelbare Einheit der Zeit die Natur zusammenhält, ist sie das Sein. Sein wird deshalb seit Parmenides als unwandelbare Gegenwart der Einheit gedacht. Das Wesen der Wirklichkeit ist hier die ungebrochene und unvermittelte Gegenwart dessen, was ist. Alles, was gegenwärtig ist, ist darin, dass es gegenwärtig ist, manifest. Dieses Manifest-Sein der unwandelbaren Gegenwart nennen die Griechen „Wahrheit“. Die unauflösliche Einheit von Gegenwart und Manifestation wird in dem griechischen Wort noàj ausgesprochen; deswegen wird Gott als noàj, als die unwandelbare Präsenz der Wahrheit des Seins angeschaut.

Wenn der Mensch sich selbst als Subjekt des Denkens versteht, erfährt er die rückgespiegelte Einheit der Zeit als unbewegte Identität. [Man muss, um sich so zu verstehen, den anderen Zweig des griechisch-abendländischen Zeitverständnisses ausblenden, nämlich die ewig gegensätzliche Bewegung (diesen Zweig hat Heraklit aufgedeckt; Platon hat versucht, Parmenides und Heraklit zu vereinen, was ihm aber nicht gelingen konnte).] Die Einheit der Zeit als unveränderliche Identität erscheint uns rückgespiegelt als widerspruchsfreie Rationalität; dies ist das metaphysische Konzept von Vernunft und Wahrheit. Alles, was sich den Schematismen dieser Rationalität nicht unterwerfen will, erscheint in seiner rückgespiegelten Form als das „Irrationale“, das heißt als Trieb, Affekt, Gefühl und Sinnlichkeit. Es wird negiert und ausgeblendet. Dies ist ein notwendiger Bestandteil des Konzepts der Subjektivität und deren Zeitlosigkeit; dieses Konzept und diese Zeitlosigkeit haben wir zu überwinden.

Und auch unter einem anderen Aspekt haben wir die Zeit in unser Verständnis von Wahrheit und Vernunft zu integrieren: die Menschheit muss infolge des qualitativen Sprungs, den die technische Entwicklung und die modernen Machtinstrumente herbeigeführt haben, zum ersten Mal in der Geschichte die Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte übernehmen. Dies ist der Grund, weshalb die Zukunft unwiderruflich konstitutiv für die gesamte Gestaltung der geschichtlichen Gegenwart geworden ist. Aus dieser geschichtlichen Situation kommen wir nicht mehr heraus; der qualitative Sprung ist unwiderruflich. Vernunftgemäßes Handeln ist in dieser Lage nur durch neue, aber vernunftgemäße Formen der Antizipation von Zukunft möglich. Die Beziehung auf Zukunft wird für die Vernünftigkeit von Vernunft konstitutiv. Wenn das so ist, dann lässt sich das Vernunftvermögen natürlich nicht länger als zeitlose Identität mit sich selbst interpretieren. Die Vernünftigkeit der Vernunft erweist sich nunmehr durch ihr Vermögen, sich für jene Sphäre offener Möglichkeit, die wir „die Zukunft“ nennen, zu öffnen. Konstituierte sich die Vernunft im Zeitalter der Metaphysik durch die Erkenntnis der ewigen Gegenwart absoluter, das heißt zeitloser Wahrheit, so wird jetzt für die Vernunft konstitutiv, dass sie ihren Zeitbezug realisiert, dass sie die verschiedenen Formen von Zeitigung in sich aufnimmt. Das Wort „Vernunft“ verlöre aber jeglichen Sinn, wenn wir Vernunft nicht mehr als das Vermögen des Menschen, die Wahrheit zu erkennen, verstehen würden. Ist die Vernunft der Zeitigung unterworfen, können wir die Wahrheit nicht mehr – wie das Zeitalter der Metaphysik – in einer zeitlosen Sphäre suchen.

Aber die Antizipationen der Vernunft sind in der Regel ein unkontrolliertes Spiel der Einbildungskraft mit leeren Möglichkeiten des Denkens und Handelns, möglicherweise von Vorlieben oder Wünschbarkeiten geleitet, also Utopien im fragwürdigen Sinne des Wortes. Der Ernst unseres Lebens, der uns zwingt, das Spiel der Einbildungskraft unter Kontrolle zu nehmen, und als vernunftgemäß nur zuzulassen, wofür wir mit unserer ganzen Existenz einstehen können, tritt erst hervor, wenn wir die Aufgaben der Vernunft als unsere eigene Verantwortung erkennen. Das zeitliche Wesen der Wahrheit und der Vernunft zur Wirklichkeit zu bringen, wird zur Voraussetzung einer besseren Gestaltung der Welt, und wir sind dafür verantwortlich.
Gebser – nicht nur Gebser, aber auch Gebser – hat uns da den Weg gewiesen, indem er die Realisierung der verschiedenen Zeitarten der Bewußtseinsstrukturen in unserer Wirklichkeit zur Aufgabe auf dem Weg zum integralen Bewusstsein erklärte. Wie diese Zeitarten von Gebser benannt worden sind, wie sie sich in den einzelnen Bewusstseinsstrukturen äußern, will ich jetzt gar nicht anführen; das wäre, wenn man es kurz macht, nicht konkret und klar genug; wenn man es aber richtig machen wollte, müsste man sehr tief in die Konzeption Gebsers hineinsteigen. Nur soviel will ich sagen:

Um die Zeitarten realisieren zu können, müssen wir lernen, das, was wir sehen, das Umgebende und Begegnende, so zu sehen, wie es von sich aus ist. Diese Formulierung ist schon zweifelhaft – wie alle Formulierungen, die das integrale Bewusstsein direkt betreffen -, weil wir aus dem neuen Bewusstsein anders sehen und anderes sehen als aus dem alten. Wenn wir aus dem neuen Bewusstsein sehen, sehen wir schon das, was von sich aus ist, und so sehen können wir erst, wenn wir die Zeitarten realisieren können. Es scheint also ein Sprung, wie unspektakulär auch immer, nötig zu sein, für den wir uns aber vorbereiten können.

Einige Aspekte dieser Vorbereitung will ich nennen: zuerst das Absehen vom Wünschenswerten. Dies ist die Frage der Ideale: möglicherweise brauchen wir zwar noch Ideale, solange wir nicht im integralen Bewusstsein stehen, damit sie uns als Orientierungsmarken dienen. Aber die Haltung des Glaubens an Ideale haben wir abzulegen. Der Unterschied zeigt sich schon in der Vehemenz, mit der Ideale vertreten werden. Die funktionalen Ideale ist man immer bereit zu revidieren, die Ideale, an die geglaubt wird, werden bis aufs Blut verteidigt. Diese Verteidigung ist meist ein innerer Prozess der Verhärtung, und solche Verhärtung verhindert mit Sicherheit die spezielle innere Freiheit, die wir brauchen, um an dem Neuen teilzuhaben.

Wirklichkeit ist das, was jeder Mensch immer wieder erst erschafft. Die verschiedenen Wirklichkeiten der verschiedenen Menschen sind ganz und gar abhängig von ihrer Freiheit bzw. Determination. Wer etwas nicht sehen kann, hält es auch für nicht möglich oder wenigstens für irrelevant und eben nicht „wirklichkeitsgerecht“. Je überzeugter jemand von seiner Wirklichkeit ist, desto weniger vermag er andere Wirklichkeiten für möglich oder sogar für „wahrer“ zu halten als seine eigene. Die Möglichkeit, die Wirklichkeit des integralen Bewusstseins wahrzunehmen, wird in einem solchen Fall natürlich negiert. Ein großes Hindernis auf dem Wege zu einer höheren Wirklichkeit ist die feste Überzeugung der Gültigkeit der eigenen Wirklichkeit. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Eine neue Wirklichkeit ist nur dann eine „wirkliche Möglichkeit“, wenn wir lernen, Wahrnehmung nicht als Bestätigung der eigenen Vorurteile zu verstehen, wenn wir uns also stets bemühen, die Dinge so zu sehen, wie sie ohne unsere Erwartung sind. Andere Menschen sehen, wie sie sind, und deren Wirklichkeiten für erkennenswert zu halten, setzt ein gehöriges Maß an Freiheit oder Teilhabe am Integralen voraus.

Das freie Hinsehen auf das, was ist, und das Absehen vom Idealen oder Ideellen, vom Wünschbaren entspricht auch dem umgangssprachlichen Wirklichkeitsbegriff, der auch eng mit dem Wahren verbunden ist und der in dem Ausspruch: Nun sei doch endlich realistisch! zum Ausdruck kommt. Abgesehen davon, dass Aussprüche dieser Art zumeist aus sehr kleinen Wirklichkeiten getätigt werden, von denen aus vieles, was andere Wirklichkeit ist, nicht gesehen werden kann, meine ich schon, dass sich hier das Feld der neuen Moralität, der Moralität des Integralen eröffnet, die sich nichts mehr vormachen will, auch keine Ideologie. Dieses Feld der Moralität des Integralen ist das schwierigste und unklarste, denn die neuen Formen der Moralität können sich erst klären, wenn die Lebenswelt des Integralen Wirklichkeit geworden ist.

Nun zu weiteren hinderlichen Faktoren: Da ist zunächst einmal das alte (mentale) Denken, das uns verleitet, uns den überall vorkommenden Sachzwänge zu überlassen; es ist überhaupt das Problem des problemorientierten Denkens, das die neue Wirklichkeit verschleiert. Was meine ich damit? Ich meine, dass jemand, der die zweifellos vorhanden großen und kleinen Probleme unserer heutigen Welt, und dazu gehören nicht nur die globalen der Klimaveränderung usw. sondern auch solche der jeweils eigenen Lebensführung, die sich jeder leicht selbst ins Gedächtnis rufen kann, dass also jemand, der immer nur in den Kategorien dieser Probleme wahrnimmt und denkt, dessen Wirklichkeit durch diese Probleme zusammengezurrt ist, auch nichts anderes sehen kann und damit auch die eben genannte Freiheit nicht erlangen kann, die ihn instand setzen würde, die Wirklichkeit des integralen Bewusstseins wahrzunehmen. Wohlgemerkt: ich meine nicht die Haltung, die immer nur das Schlechte und Schwierige zu sehen pflegt, sondern ich meine auch die Haltung derjenigen Menschen, die sich von einem zu lösenden Problem zum nächsten zu lösenden Problem hangeln, die zupackend sind, die – wie man so schön sagt – in ihrer Arbeit aufgehen, die alles als zu Erledigendes betrachten.

Nun haben wir als soziale Wesen andauernd mit solchen und ganz andersartigen Menschen zu tun und wollen oder müssen mit ihnen kommunizieren, deren Wirklichkeit mit der unseren keineswegs übereinstimmt; in diesen sehr häufigen Fällen müssen wir erstens diesen Sachverhalt realisieren, also die Wirklichkeit dieser Konstellation bewahrheiten, und zweitens müssen wir zu einer Art strategischem Handeln greifen, um ein möglichst hohes Maß an Verständigung zu erreichen. Weil Wirklichkeit immer Praxis, immer etwas Herzustellendes ist, an dem alle Beteiligten mitwirken, muss das gefunden werden, was man eine gemeinsame Sprache nennt, was aber viel mehr ist als nur die Worte, die gewechselt werden. Die ganze Wirklichkeit der Handlungspartner ist daran beteiligt. Hierfür ist ein sicheres Stehen in der eigenen Wirklichkeit Voraussetzung, sonst bleibt es bei einem intuitiven Sichadaptieren, das höchstens spiegeln kann, aber nicht kommunizieren.

Das größte Hindernis aber ist die vorhin erwähnte Schwierigkeit, den defizienten Umwelten standzuhalten, besonders für die sensibleren und tiefgründigeren Zeitgenossen. Einen Aspekt, der hiermit zusammenhängt, möchte ich noch erwähnen: die Angst nämlich, untergründig oder offenkundig, die sich in Verkleinerung und Verhärtung umsetzen kann, aber auch in der Tendenz, die Welt beherrschen zu wollen. Wer in seinem Grunde die Angst verspürt, die Welt nicht beherrschen zu können, wird schwerlich in der Lage sein, die Durchlässigkeit zu erlangen, die Voraussetzung der Wirklichkeit des integralen Bewusstseins ist.

Es gibt übrigens einen Philosophen, der ziemlich lange standgehalten hat, dem sehr viel transparent geworden ist, und der das universale Bewusstsein nicht nur gestreift hat, der also durchaus Anteil am integralen Bewusstsein hatte. Am Ende ist er am Problem des strategischen Handelns, das als Praxis immer auch ein strategisches Leben ist, gescheitert – die Differenz zwischen den beiden Notwenigkeiten einerseits der zerstörerischen Entwicklung, die ihm vollkommen transparent war und die er mit absoluter Sicherheit vorhergesagt hat, und andererseits des einzigen Ausweges, der in der Überschreitung des bisherigen Menschen besteht, war zu groß. Es gehört zu den ganz besonders deutlichen Zeichen für die Herrschaft des Defizienten und die geistige Misere unter den Philosophen der Welt, dass dieser meistgelesene, mit den meisten Dissertationen und Habilitationen umrankte und auf Jubiläen geehrte große Philosoph – vor ein paar Jahren hatte er 150. Geburtstag, dieses Jahr 100. Todestag, er heißt natürlich Friedrich Nietzsche – in seiner größten Leistung noch immer ein Unbekannter ist, dass noch niemand diese Leistung herausgearbeitet hat. Aber vielleicht wird sie ja erst von Gebser aus deutlich sichtbar.


Anmerkungen

Picht, Georg: Geschichte und Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta 1993. S. 209-212. ders.: Aristoteles’ »De Anima«. Stuttgart: Klett-Cotta 21992. S. 38f., 43f., 119. ders.: Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Stuttgart: Klett-Cotta 1989. S. 333f., 336, 325.

Picht, Georg: Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Stuttgart: Klett-Cotta 1989. S. 338, 347f., 351. ders.: Geschichte und Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta 1993. S. 188f., 196.


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