Nov 212009
 
Pfingstkirchen in Brasilien, Costa Rica und Guatemala sowie Lutherische Kirche in Costa Rica

Von Klaus A. Baier

Inhalt

1. Pfingstkirchen in Brasilien
2. Pfingstkirchen in Costa Rica und Guatemala
    2.1. Costa Rica
    2.2. Guatemala
    2.3. Gründe für die Attraktivität der Neopentekostalen
3. Lutherische Kirche in Costa Rica

Anmerkungen
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Ich bin viel unterwegs. Ich bin neugierig auf die Welt – vor allem auf die Menschen. Als Theologe mit religionswissenschaftlichem Interesse bin ich nicht nur neugierig auf ihre Sitten und Gebräuche. Mich interessiert auch, was und warum sie glauben, genauer gefragt: Worin haben sie und warum, wodurch und durch wen Erfahrungen gemacht, die sie für sich als Heilserfahrungen interpretieren und qualifizieren und in besonderen Riten, Symbolen und „Weltbildern“ kommunizieren?

Euch wird es ähnlich gehen wie mir: Irgendwelche Erlebnisse und Erfahrungen wecken deine Neugier. Irgend was lässt dich sozusagen in deinem Alltag über etwas stolpern, was deine „selbstverständlichen“ Annahmen über dies und das ins Wackeln geraten lassen. Oder du versucht etwas über einen bestimmten Sachverhalt herauszubekommen und stößt bei deinen Recherchen auf unerwartete Phänomene, die dich befremden oder faszinieren – oder beides zugleich. Wie auch immer: deine Neugier ist geweckt.

Die kann man auf verschiedene Weise befriedigen: Man kann sich aus dem Internet oder aus Büchern informieren, man kann in Mediotheken stöbern, man kann sich aber auch auf den Weg machen, um „vor Ort“ wahrzunehmen, zu verstehen versuchen und was man dort wahrgenommen und verstanden hat am besten mit anderen zusammen zu interpretieren. Daraus können sich neue Fragestellungen ergeben, die ein noch genaueres Hinsehen erforderlich bzw. möglich machen. Diese „Methode“ bevorzuge ich vor allen anderen.

Wenn ich reise, versuche ich darum so genau wie möglich zu erfassen, was um mich herum geschieht, aber auch, was mit mir selbst passiert. Denn jede Reise durch die äußere Welt führt mich auch in meine innere – und dort oft an Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit (und der Wahrnehmungsbereitschaft) und des Verstehens. Unterwegs mache ich mir so viele Notizen wie möglich, zuhause am Schreibtisch sichte und sortiere ich sie. Daraus entsteht dann ein „Bild“ dessen, was ich gesehen habe. Manchmal schreibe ich auf, was mir wichtig ist. Vieles klärt sich für mich, wenn ich andere Quellen heranziehe – aus Büchern und Zeitschriften und aus dem Internet (Google und Konsorten sind die reinsten Plaudertaschen). Einiges, was ich nicht verstand, als ich es sah, wird mir dadurch verständlicher, anderes, was ich meinte verstanden zu haben, rückt wieder in den Schatten und verbirgt sich mir.

Ich bereite mich unterschiedlich intensiv auf eine Reise vor. Meist sind mir die Gründe meiner Reise bewusst, manchmal kenne ich sie gar nicht so genau. Mag sein, dass mich eine bestimmte Frage bewegt, und ich fahre, um eine Antwort zu bekommen. Es kann aber auch sein, dass sich meine Neugierde an einer Erfahrung, einem Erlebnis oder einer Sache entzündet, die mir auf meiner Reise „über den Weg läuft“. So ging es mir mit meiner Reise nach Brasilien. Ich wollte meinen Freund Friedrich G. und seine Frau Helga besuchen, mit ihnen die Festschrift für einen alten Lehrer fertig stellen und vielleicht ein bisschen im südlichen Brasilien herumfahren. Auch wollte ich sehen, wo Alke und ich gelandet wären, wenn wir damals vor 40 Jahren hätten ausreisen können. Und ich wollte einen kleinen Eindruck von der Arbeit der Lutherischen Kirche in Brasilien bekommen, von der ich ja „theoretisch“ schon eine Menge wusste. Aber dann kamen mir die Pfingstler „in die Quere“. Ich wusste ja, dass die Pfingstkirchen weltweit die am schnellsten wachsenden Kirchen des Protestantismus sind. Mir waren sie in vielen Ländern der Welt aufgefallen[1], ich hatte mich mit ihnen anlässlich eines Kongresses in Ho, Ghana und einer Besuchsreise in Togo auch schon ein bisschen „wissenschaftlich“ beschäftigt, hier und da mal etwas über sie und von ihnen gelesen, aber dann nicht mehr weiter beachtet. Sie sind in Deutschland wenig präsent und in der deutschen Theologie spielen sie, bis auf wenige Ausnahmen, keine Rolle. Nun flog ich im Frühjahr 2009 für drei Wochen nach Brasilien und im Spätsommer und Herbst für acht Wochen nach Mittelamerika. Davor war ich im April und Mai ein paar Wochen als Schiffspastor im indischen Ozean unterwegs, und selbst auf den abgelegenen Inseln dort sind die Pfingstler  unüberseh- und unüberhörbar. Oft sind sie zu einer echten Konkurrenz zu den etablierten „alten“ Kirchen, besonders der römisch-katholischen und der traditionellen protestantischen Kirchen geworden. Auch in Brasilien. So schaute ich ein wenig genauer hin und machte mir – nachher daheim auch mit Hilfe von Büchern und Aufsätzen dazu – ein „Bild“ von ihnen.

Mein Studienfreund Friedrich G., mit dem ich mich vor langer Zeit in Neuendettelsau auf den Pfarrdienst in Brasilien vorbereitet hatte und der seit mehr als 40 Jahren dort lebt, erzählte mir, dass seine Tochter Renate mit ihrer Familie seit drei Jahren in San José, Costa Rica wohnt und dort als brasilianische Pastorin in der evangelischen Kirche arbeitet. Von den kleinen lutherischen Kirchen in Zentralamerika hatte ich schon gehört und mich immer gewundert, weshalb es Menschen in jenen Ländern ausgerechnet zu den Lutheranern zieht, die doch im Vergleich mit den großen Pfingstkirchen eher unscheinbar sind und hinsichtlich der in Berichten über die Pfingstler vielfach geschilderten extrovertierten Emotionalität doch eher als reserviert und theologisch als ziemlich rational ausgerichtet gelten. Und da ich mir vorgenommen hatte, irgendwo Spanisch zu lernen, um einmal mit „wacheren Sinnen“ durch Lateinamerika reisen zu können, beschloss ich, das in Costa Rica zu tun und meinen Aufenthalt damit zu verbinden, die lutherische Kirche im Land etwas näher kennen zu lernen – und dabei herauszufinden, was sie für manche Menschen dort im Unterschied zur römisch-katholischen Kirche und zu pfingstlerischen Gemeinden so attraktiv macht. Auch in Honduras wollte ich reisen und dabei einige lutherischen Gemeinden kennen lernen. Kontakte zum Kollegen in Tegucigalpa waren schon locker geknüpft – aber dann kam der Staatstreich in Honduras dazwischen und die weitere Entwicklung im Lande hat es schließlich verhindert, dass ich mit meiner Freundin Ulrike, die dort zur Zeit als Freiwillige in einer sozialen Einrichtung arbeitet, durchs Land ziehen konnte. Wir trafen uns stattdessen in Guatemala; dass es auch dort (außer der deutschen Auslandsgemeinde in Guatemala City) Lutheraner gibt, wusste ich noch nicht; dafür war die Präsenz der Pfingstler umso beeindruckender.

So kam also, dass ich gleichsam „mit der Nase“ auf sie gestupst wurde und das alte Interesse an dieser Bewegung neu entfacht wurde. Ich denke aber auch, dass man die Lutheraner in Süd- und Mittelamerika heute nicht mehr ohne den Horizont, den die Pfingstbewegung über ganz Lateinamerika aufspannt, in ihrer Besonderheit verstehen kann. Es wird dann deutlicher, worin sie sich von den anderen Kirchen im Lande unterscheiden. Die Unterschiede erkennst du aber erst, wenn du die „Anderen“ wahrnimmst und zu verstehen suchst. Worin zeigt sich das „lutherische Profil“? Wenn es gelingt, das, was Lutheraner von anderen „Protestanten“ in Lateinamerika unterscheidet, zu benennen, könnte auch das ökumenische Gespräch zwischen ihnen angeregt werden. Bisher sind nämlich in der Optik der römisch-katholischen Kirche weitgehend alle nicht-katholischen Gruppen „Protestanten“, egal welcher Herkunft; und für die unter dem Begriff „Protestantismus“ versammelten Denominationen und Konfessionen ist die Klärung der Qualität des Verhältnisses untereinander gleichzeitig Voraussetzung für das Gespräch mit den Katholiken.

Bevor ich weitererzähle, will ich sagen, was ich im folgenden unter „Protestantismus in Lateinamerika“ verstehe. Denn der Protestantismus dort ist ziemlich verwirrende Gemengelage.

Ich versammle unter dem Begriff alle Kirchen und kirchlichen Bewegungen, die „irgendwie“ auf die Reformation zurückgehen, auch wenn ihre Uneinheitlichkeit und Vielfalt heute so groß ist, dass man heute gelegentlich schon von „Protestantismen“ spricht. Zu den Protestanten rechne ich also auch die Anglikaner, die sich gleichzeitig als „reformiert, katholisch oder evangelisch“ verstehen, weil sie im 16. Jahrhundert reformatorische Einflüsse vom Kontinent mit römisch-katholischen Elementen verbanden, die bis heute nachwirken. Die verwirrende Vielfalt protestantischen Christentums in Lateinamerika hängt damit zusammen, dass einerseits evangelische Christen aus Deutschland ihr traditionelles, meist „landeskirchlich“ geprägtes Kirchenverständnis mitbrachten, andererseits der angelsächsische Missionsprotestantismus, der ein Abbild der kirchlichen Entwicklung in den USA ist, die Entwicklung des Protestantismus in Lateinamerika beeinflusste. Und der ist geprägt von Denominationalismus, freikirchlichen Strukturen, Pfingstlertum, evangelikalem und fundamentalistischem Denken. Die Vielfalt ist irritierend. So gibt es in Guatemala und Nicaragua beispielsweise gegenwärtig über 200 nicht-katholische Kirchen, und Mitte der neunziger Jahre entstanden in jedem Jahr zwölf neue. Manche verschwanden allerdings auch wieder. Die Entwicklung wird auf den Säkularisierungs- und Modernisierungsprozess zurückgeführt, der Lateinamerika im 19. Jahrhundert erfasste und bis heute andauert; dadurch sei die Monopolstellung der römisch-katholischen Kirche unterminiert worden und breche in manchen Ländern heute in sich zusammen.[2]

„Säkularisierung“ und „Modernisierung“ sind Begriffe, die der Freiburger Germanistikprofessor Uwe Pörksen „Plastikwörter“ nennen würde. Wer solche Wörter verwendet, gibt vor, „alles“ erklären zu können. Sie armieren den Experten mit Wörtern, die ihm die Interpretationshoheit für Phänomene geben, die in Wirklichkeit nicht so leicht zu deuten sind. Solche Begriffe weisen über das empirisch Einlösbare weit hinaus und „vergewaltigen“ die eigene Erfahrung. Ihnen fehlt die geschichtliche Dimension. Sie klammern das Konkrete aus und machen es zu einem Baustein für Wirklichkeitskonstrukte, in denen es „untergeht“. Der „Universalitätsanspruch“ eines Plastikwortes vernichtet die subjektive Erfahrung und rückt sie in den Raum des Beliebigen bzw. ersetzt sie durch ein einziges „die Wirklichkeit“ erklärendes „Verbalsubstrat“. Das ist m.E. eine sublime Weiterführung des Weltkolonialismus. Aber lassen wir das hier. Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich lieber erst mal hinsehe, bevor ich mir ein Urteil fälle, und dass keine meiner auch im folgenden unternommenen Interpretationsversuche weiter reicht als bis an den Rand meines Schreibtisches. Ich versuche etwas zu verstehen. Aber ich behaupte nicht, damit etwas wirklich und auf Dauer erklärt zu haben. Im Übrigen erklären „Plastikwörter“ ja auch nichts – sie tun nur so. Denn was hilft es mir, wenn z.B. alle beim Hören des Begriffs „Modernität“ mit dem Kopf nicken, aber jeder etwas anderes darunter versteht? Ich bevorzuge die Autonomie der Erfahrungen in unterschiedlichen Lebensbereichen. Jeder macht andere Erfahrungen. Wenn ich zu verstehen und zu interpretieren versuche, dann nur, um mich meiner Erfahrung zu vergewissern und sie einem anderen – wenn er denn will – mitzuteilen. Mehr nicht.

So, Schluss der Vorreden und nun zu meinen Erlebnissen, Erfahrungen und Verstehensübungen. Erwartet nun keinen Reisebericht von mir. Vieles gäbe es zu erzählen: von der beeindruckend schönen und zugleich durch Raubbau gefährdeten Landschaft, von der bedrückenden Gewalt, die in manchen Städten und Gebieten herrscht, von der Armut in den Ländern, von der kulturellen Vielfalt, von exotischen Früchten und einheimischer Kochkunst, von Maya-Stätten, von der atemberaubenden Hitze an der Karibikküste und der Schwüle im Urwald, vom Baden in warmen Seen und kühlen Gebirgsflüssen, von Gefühlen der Abwehr gegenüber dem Fremden und zugleich dem Verlangen, mehr über es zu erfahren, von Frust und Freude beim Sprachenlernen u.v.m. Aber ich erzähle (fast) nur von Pfingstlern und Lutheraner.

1 Pfingstkirchen in Brasilien

Im Februar und März 2009 reiste ich nach Blumenau, Santa Catarina im Süden Brasiliens und besuchte Landschaften und Orte, in denen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts deutsche Siedler (in der Gegend um Blumenau vor allem aus Pommern) eine neue Heimat gefunden haben. Aus allen Landesteilen des Deutschen Reiches kamen Immigranten ins Land. Sie siedelten vor allem in den drei südlichen Staaten Brasiliens, also in Rio Grande do Sul, in Santa Catarina und Paraná, ferner im Staat Espiritu Santo nördlich von Rio de Janeiro. Viele von ihnen waren evangelisch-lutherische Christen. Sie gründeten Gemeinden, die sich zu regionalen Kirchenverbänden zusammenschlossen, aus denen im Laufe der Zeit die Evangelische Kirche Lutherischer Konfession in Brasilien (IECLB) entstanden ist. Sie umfasst heute in 18 regionalen Synoden ca. eine Million Mitglieder und ist damit die größte lutherische Kirche in Südamerika.

1.1. In fast allen Ländern Zentral- und Südamerikas gibt es lutherische Gemeinden und Kirchen, die sich teils dem Lutherischen Weltbund (Lutheran World Federation, LWF) angeschlossen haben, der weltweit ungefähr 66 Millionen Mitglieder repräsentiert, teils dem eher an einem konservativem Luthertum nordamerikanischer Prägung (Missouri-Synode) orientierten Internationalen Lutherischen Rat (International Lutheran Council, ILC), der etwa fünf Millionen Mitglieder umfasst. Obwohl die Lutherische Kirche in Brasilien (IECLB) unter den mehr als 190 Millionen Einwohnern Brasiliens als kleine Kirche bezeichnet werden muss, übernimmt sie selbstbewusst gesellschaftliche Verantwortung. Es ist ihr gelungen – oft mit Hilfe des Martin-Luther-Bundes, des Gustav-Adolf-Werkes (beide Werke haben ihre Zentralen in der BRD) oder des Lutherischen Weltbundes – diakonische Einrichtungen zu schaffen. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden im Lande ausgebildet. Ein wichtiges Zentrum für die Weiterentwicklung lutherischer Theologie im lateinamerikanischen Kontext ist die Escola Superior de Teologia in Sao Leopoldo, RS. Sie bietet seit Kurzem auch Fernkurse zum Thema „Confessionalidade Luterana“ an (in Vorbereitung sind Kurse zur Bibel- und Diakoniewissenschaft).

Die IECLB ist eine in sich deutlich strukturierte, mit einer klaren lutherischen Verfassung versehene, in ihr Umfeld hineinwirkende „missionarische“ Kirche, die – obwohl wie alle Kirchen Nord- und Südamerikas eher freikirchlich strukturiert[3] – viele volkskirchliche Elemente aufweist, kurzum: eine institutionell organisierte, aber deutlich extrovertierte Kirche mit klarem lutherischen Profil.

Aufgrund zahlreicher Kontakte zwischen Deutschland und Brasilien, insbesondere zwischen der Evangelischen Kirche in Bayern und der IECLB, ist das ja auch bei uns weitgehend bekannt. Weniger bekannt dagegen ist, dass auch diese Kirche seit ungefähr 40 Jahren durch die für viele Menschen sehr attraktive Arbeit sog. „protestantischer“ Kirchen herausgefordert wird, die dem neopfingstlerischen Umfeld zugerechnet werden[4]. Manche von ihnen haben ihre Wurzeln in den USA oder Kanada, viele aber wurden von brasilianischen „Gründungsvätern“ ins Leben gerufen, so dass man sie nicht – wie in manchen Reiseführern zu lesen ist – einfach auf das missionarische Wirken nordamerikanischer christlicher Fundamentalisten zurückführen kann. Mich interessieren diese Kirchen seit ich als Jungendlicher in einer schwedischen pfingstlerisch orientierten Baptistengemeinde die besondere Spiritualität dieser Frömmigkeit erlebte. Ich denke, dass man sich mit ihnen beschäftigen muss, wenn man die besondere Herausforderung erkennen will, denen sich die historischen protestantischen Kirchen, die in der Literatur oft als main-line-churches bezeichnet werden[5], stellen müssen. Auch wir Lutheraner. So habe ich versucht, auf  meinen Reisen nach Brasilien, Costa Rica und Guatemala so viel wie in der kurzen Zeit möglich über sie zu erfahren. Geholfen haben mir dabei mein Spanischlehrer Santiago in Coronado und meine Kollegin Dr. Renate Gierus, Pastorin der Igreja Lutherana en Costa Rica in San José, CR. Aber auch viele andere freundliche Menschen, die ich unterwegs traf und die mir halfen, etwas mehr zu verstehen.

1.2. Wenn man in Brasilien unterwegs ist, fallen einem vor allem im nahen Umfeld der Busbahnhöfe die zahlreichen Hinweisschilder auf, mit denen diese Kirchen auf sich aufmerksam machen. Manchmal kann man ganze Gottesdienste mit verfolgen, die über einen Lautsprecher auf die Straße oder den Platz hinaus übertragen werden. Lauthals und großflächig wird zum Besuch im „Haus des Heils“, im „Leuchtturm des Evangeliums“, in die „Wahren Kirche Jesu Christi“ usw. eingeladen, wobei nicht immer ganz deutlich ist, welche der vielen unterschiedlichen Kirchen da einen Versammlungsraum haben. Traditionelle nordamerikanische und kanadische traditionelle Pfingstkirchen sind ebenso vertreten wie mir völlig unbekannte Gruppierungen, die oft durch die Initiative einiger weniger Gemeindeglieder oder sogar nur eines Menschen in kurzer Zeit entstanden sind – und oft ebenso rasch wieder verschwinden. Seit etwa 40 Jahren treten vermehrt die sog. Neopfingstler auf, auf die ich nachher noch öfter zu sprechen komme. Neben den Pfingstlern sind evangelikale Kirchen in ganz Lateinamerika anzutreffen, vor allem die Misión Cetroamericana und die Iglesia del Nazareno.

Immer noch dominant und durch ihre Kirchengebäude an zentralen Plätzen jeder einst von den portugiesischen Kolonialisten in Brasilien errichteten Stadt unübersehbar präsent ist die römisch-katholische Kirche, der rund 80 % der Bevölkerung angehören (was – wie bei uns – nichts über den Grad der Bindung an diese Kirche aussagt). Zu den bekannteren „protestantischen“ Kirchen in Brasilien (und auch in vielen anderen Ländern Mittel- und Südamerikas vertretenen Kirchen) zählen neben der IECLB die Baptisten. Und natürlich die traditionell protestantischen Kirchen wie Anglikaner, Methodisten, Kongregationalisten und Presbyterianer, die schon seit über 100 Jahren in Mittel- und Südamerika vertreten sind. Diese mainline-churches haben von zumeist fundamentalistischen und / oder charismatisch-neopfingstlichen Gruppen Konkurrenz bekommen. Sogar die den klassischen Pfingstkirchen zuzurechnende Assambleia de Deus (Assembly of God) ist davon betroffen.

Diese (wie andere) traditionelle Pfingstkirchen bildeten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA aus der sog. Heiligungsbewegung, von wo aus sie sich rasch nach Europa (vor allem in Norwegen und Schweden) und Südamerika ausbreitete; die ältesten Pfingstgemeinden in Brasilien sind die 1910 gegründete Congregação Christã no Brasil in Sao Paulo und die Assembléia de Deus in Belém von 1911(mit 4,5 Millionen Mitgliedern die stärkste protestantische Denomination in Brasilien). Auch sie sind durch die Mission neopfingstlicher Gruppen erheblich unter Druck geraten.

1.3. Man rechnet mit 26 Millionen Protestanten (etwa 15 % der Bevölkerung) in Brasilien – Tendenz steigend, vor allem auf Seiten der Neopentekostalen, die in den letzten Jahren hohe Zuwachsraten aufweisen. Die IECLB ist also mit ihren eine Million Mitgliedern eine der kleineren Kirchen Brasiliens. Die meisten „Protestanten“ sind eigentlich (Neo-)Pfingstler.

Ich habe gelesen, dass der (Neo-)Pentekostalismus in den meisten Ländern Lateinamerikas ein Phänomen der Mittel- und Oberschicht sei.[6] Ich kann das jedenfalls für Brasilien, Costa Rica und Guatemala nicht so pauschal bestätigen. In Brasilien haben vereinzelte neopfingstliche Gruppen vor allem Mitglieder aus der gehobenen Mittelstand; das hängt aber mit eher zufälligen Faktoren zusammen wie dem Wohnviertel, in dem die Gemeinde entstanden ist. Die größten Pfingstgemeinden wie z.B. die Igreja Pentecostal Deus é Amor und die Igreja Universal do Reino de Deus sind Unterschichtkirchen. Deus é Amor ist inzwischen über 25 weitere Länder verteilt, besitzt allein in Brasilien 6.365 Kirchen (Stand 2004) und gewinnt vor allem unter jenen Menschen Mitglieder, die an der Peripherie der Gesellschaft leben – unter Armen, die um ihre Gesundheit bangen und oft verzweifelt nach Arbeit suchen, unter Obdachlosen, Drogenanhängigen und Leuten, die durch Diebstahl ihr Überleben zu sichern suchen. Die Igreja Universal do Reino de Deus verfügt allein in Brasilien über etwa 7.000 Gemeindehäuser und Kirchen (von „Glaubenskathedralen“ genannten pompösen Versammlungsorten in großen Städten bis zu eher einer Lagerhalle ähnelnden Schuppen in armen Vierteln oder an Busbahnhöfen) und ist in über 70 Ländern verbreitet (darunter in Frankreich, Portugal, Australien und in den USA). Sie besitzt den drittgrößten Fernsehkanal Brasiliens und mehr als 70 Radiostationen, dazu die Wochenzeitung Folha Universal (Auflage über eine Million). Der Schwerpunkt ihres Wirkens liegt freilich nach wie vor in Brasilien. Trotz eines beachtlichen Spendenaufkommens (es soll den Jahreseinnahmen von VW do Brasil entsprechen) seien etwa 63% der geschätzten 2 Millionen Mitglieder (es werden keine Mitgliederlisten geführt) zu jenen in Brasilien zu rechnen, die nur bis zu zwei monatliche Minimumlöhne (etwa 400 Euro) verdienen – pro Jahr! Ich hörte aber auch, dass gerade diese Kirche in Brasilien schweren Vorwürfen ausgesetzt ist: Betrug, Ausbeutung der Mitglieder, sogar als kriminelles Unternehmen zum Zweck der Bereicherung wird sie gebrandmarkt. Ich vermag nicht zu beurteilen, was an diesen Anschuldigungen dran ist. Vermutlich spielt eine gehörige Portion Neid bei den etablierten Kirchen mit. Aber dadurch wird man dem Phänomen nicht auf die Spur kommen, dass so viele Menschen gerade aus armen Schichten diesen Kirchen „Glauben Hoffnung und Liebe“ schenken.

Ich habe in allen möglichen Wohnvierteln der Städte und in den abgelegensten Dörfern die Gebäude ganz unterschiedlicher Pfingstkirchen gesehen. Da jede Gemeinde autonom ist und darauf auch Wert legt, weil man jeglicher Institutionalisierung misstraut (da werde man leicht zu einer Spielart der main-line-churches und also der „Hure Babylon“) und selbst einem lockeren organisatorischen Zusammenschluss skeptisch gegenüber steht, gibt es eben auch reiche und arme Gemeinden. Eine Art finanziellen „Lastenausgleich“ zwischen ihnen scheint es nicht zu geben, wohl aber werden sie – je nach den Beziehungen, die die Gemeindeleiter herstellen können – von Pfingstkirchen aus den USA und Kanada finanziell und personell unterstützt.

1.4. Neo-Pfingstler, Neo-Pentekostale – was sind das eigentlich für Leute? Wie der Name schon sagt, sind es Pfingstkirchen, das „Neo“ aber bezeichnet Eigenarten, die wir bei den traditionellen Pfingstkirchen nicht antreffen. Sie zeichnen sich durch eine ausgeprägte Dämonologie aus, die alle Übel der Welt (soziale Verwerfungen, Kriege, Drogen, Prostitution, Krankheiten usw.) auf das Wirken von Dämonen zurückführt. Die Gottesdienste der Neopfingstler sind daher nicht mehr vornehmlich Ereignisse, bei denen die Gegenwart des Heiliges Geistes im Zungenreden (Glossolalie) erwartet und erfahren wird[7] wie das in den traditionellen Pfingstkirchen weitgehend der Fall ist, sondern im praktizierten (und, wie behauptet wird, erfolgreichen) Exorzismus. Ferner ist auffallend, dass sie den „Grad des Glaubens“ am Erfolg messen, den jemand in der Welt hat – vor allem hinsichtlich seines Wohlstandes, aber auch seines politischen Einflusses. Wir haben es hier wohl mit einer Umformung traditioneller Pfingsttheologie und -frömmigkeit zu tun: Es geht jetzt nicht mehr darum, sich innerlich auf das baldige Ende der Welt und den Anbruch des „Tausendjährigen Reiches“ vorzubereiten[8], sondern die „Erlösung“ wird im Hier und Jetzt erwartet. Die Erlösung wird nicht spirituell-jenseitig gedacht, sondern ist durchaus materialistisch diesseitsbezogen. Denn Christus ist ja schon – in seinen Gaben sichtbar, unsichtbar als Person – da.[9]

Die Neopfingstler haben ein ausgeprägtes manichäisches Weltbild[10]. Sie wissen, woher alles Böse kommt: Für das Elend in der Welt, Krankheit und Armut, Alkoholismus und Prostitution, Drogenkonsum und Gewalt und vieles mehr, was die Menschen plagt, sind Satan und sein Gefolge, die Dämonen verantwortlich. Er liegt seit Anbeginn der Zeit mit Gott im Kampf – einem Kampf, der nicht nur in den Seelen der Menschen stattfindet, sondern überall in der Welt: in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst. Es ist der Kampf zwischen dem „Reich der Finsternis“ und dem „Reich des Lichts“. Wehe, wer zwischen die Fronten gerät oder gar von den Kräften der Finsternis überwältigt wird! Zwar habe Jesus am Kreuz bereits den Sieg errungen, aber noch immer stehen weite Teile der Welt unter dem Einfluss Satans und seiner Gehilfen, den Dämonen. Wer den Geist Gottes empfangen hat, der kennt die Kräfte und kann sie bannen – und genau das zu können beanspruchen die Neopfingstler.

Das hat Konsequenzen für den Umgang mit Armut und Not. Für die sind nun nicht mehr Menschen und von ihnen gestaltete Verhältnisse verantwortlich, sondern die Mächte der Finsternis. Sie nehmen Besitz vom Menschen und bringen ihn ins Elend. Das entlastet den Einzelnen von seinem Anteil daran, aber es entlastet in den Augen der Armen auch die Politiker und Wirtschaftsmanager, denn nicht diese sind für Ungerechtigkeit und Missmanagement verantwortlich, sondern die Dämonen. Abhilfe könne man nur erwarteten, wenn sie aus den Fängen Satans befreit würden – dann würden sie sich im Lande für eine von satanischen Ideen befreite Politik einsetzen und gegen Abtreibung, die Legalisierung homosexueller Lebensgemeinschaften, den Drogenkonsum, sozialistische Parteien (die mit dem Kommunismus gleichgesetzt werden) und für die Durchsetzung „christlicher“ Moralvorstellungen im Lande einsetzen. Das impliziert auch ein rigoroses Vorgehen gegen andere Religionen wie z.B. gegen die Umbanda und Candomblé in Brasilien, weil in diesen afro-brasilianischen Kulten zu unreflektiert mit den Geistern umgegangen werde; oder gegen Muslime, die man nicht nur bei Neopfingstlern gelegentlich pauschal dem „Reich des Bösen“ zurechnet. Damit werden aber andere Religionen für die Übel der Gesellschaft verantwortlich gemacht! Eine brisante Mischung aus Glaube und Vorurteil.

Wie kann man der Dämonen Herr werden? Indem man sie im Namen Jesu Christi austreibt. Das hat ja Jesus selbst schon getan (vgl. Mk 5,1-20, 9,14-29 u.v.a. ). So auch die, die ihm nachfolgen (Mt 10, 5ff)! Der Exorzismus spielt in den neopentekostalen Gemeinden eine lebendige Rolle. Damit erlangt aber auch der große Macht, der den Exorzismus durchführt, also in der Regel der Pastor einer Gemeinde, ein Mann – durchaus konform mit dem immer noch lebendigen Einfluss des Machismo, der alle lateinamerikanischen Gesellschaften bis heute durchdringt[11].

Hier treffen die Neopfingstler nicht nur in Brasilien auf den weitverbreiteten Glauben an böse Geister, der von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt wird. Magisch-fetischistische, animistische und spiritistische Vorstellungen sind sehr verbreitet. Dämonen werden auch in der katholischen Volksreligion als eine Realität angesehen, mit der sich ein jeder auseinandersetzen muss, wenn er z.B. von einer Krankheit heimgesucht wird. Der Glaube an das Einwirken irrationaler Kräfte gehört zum elementaren Fundus katholischer Volksreligiosität in Lateinamerika, und man darf vermuten, dass der seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil propagierte und von den meisten Priestern praktizierte aufgeklärte Katholizismus die römisch-katholische Kirche der Volksreligiosität eher entfremdet hat. In das Vakuum schießen nun Neopfingstler. Sie greifen auf magische populär-katholische Praktiken zurück, segnen z.B. Gegenstände oder Pülverchen, mit denen man die bösen Geister austreiben könne, und verstehen es, die Emotionen der Gläubigen durch Lieder mit einfachen Texten und eingängigen Melodien anzuheizen. Da wirkt die herkömmliche katholische Liturgie (aber auch die lutherische!) wie der Gesang aus einer anderen Welt, die jedenfalls nicht die der „einfachen Leute“ ist.

1.5. Wenn man den Predigten neopentekostaler Evangelisten zuhört[12], fällt einem auf, dass immer sehr viel von Geld geredet wird. Nicht nur, dass man aufgefordert wird, um des Seelenheils willen gut und reichlich zu spenden, sondern auch, weil es ein Ausweis für das Kommen des Reiches Gottes und die Glaubensstärke des Einzelnen ist, wenn es einem finanziell gut geht. Den erfolg- und siegreichen gehört das Reich Gottes!

Die Neopfingstler sind anders als ihre traditionellen Vorgänger davon überzeugt, dass schon die jetzige Welt der Ort des Heil ist; denn das Tausendjährige Reich, das dem Weltende vorangeht, und das von den traditionellen Pfingstkirchen als unmittelbar bevorstehend geglaubt wird, ist für sie bereits angebrochen. Das führt aber auch dazu, dass man die Welt nicht mehr wie die ursprünglichen Pfingstler sich selbst und also dem Verderben anheim gibt, sondern dass man Einfluss auf ihre Gestaltung nehmen will. Statt Weltentsagung also Weltbeherrschung! Die Welt kann nun auch als Quelle von Reichtum und Überfluss angesehen werden. Das Evangelium bringt erfolgsorientierte Menschen hervor, die sich größerer Gesundheit und besseren Wohlstands erfreuen. Wie sagte doch einer der Prediger in einem der zahlreichen Fernsehgottesdienste, die ich hörte: „Gott ist ein reicher Vater, und er will reiche Kinder. Er will euch an seiner Weltherrschaft beteiligen! Er will, dass ihr die Herrscher der Welt seid. Denn er allein will der Herr sein. Und wenn einer sagt, ich habe noch nicht viel davon gemerkt, dass mehr Geld als vor meiner Bekehrung im Beutel ist, dann soll er mal seinen Glauben analysieren: wenn er nichts spürt von Macht und Reichtum, dann ist was falsch, hört ihr: Dann ist was verkehrt bei diesem Menschen. Dann hat er Gott nicht genug angerufen, dann hat er keinen starken Glauben, hat womöglich auch den Zehnten nur ungern oder gar nicht gegeben. Hört ihr, der Glauben muss Nutzen für euer Leben bringen – aber ob und wie viel er bringt, das hängt von eurem Glauben ab.“ So einfach ist das also: Indem mangelnder Glauben und Armut auf diese Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden, braucht man auch keine Antwort darauf zu geben, wer denn verantwortlich für wirtschaftliche und soziale Not ist – das ist immer der Einzelne selbst, der nicht genug glaubt.

Diese Botschaft kommt gut an – nicht nur bei den Armen, auch bei den Reichen, denn beiden gibt sie eine Erklärung dafür, warum der eine arm und der andere reich ist. Die Dämonen sind Schuld an den Problemen, und wenn man sie austreibt, ist ein Leben in Reichtum und Glück möglich. Darum können Reiche Neopfingstler sein, ihr Glaube hat ihnen geholfen. Und die Armen? Nun, sie wissen, dass sie wohl noch nicht genug glauben, aber wenn sie sich bemühen, werden sie auch bald am Reichtum partizipieren. Die Neopfingstler machen die Armut zu einem zentralen Thema – und das ist es in den meisten lateinamerikanischen Ländern ja auch. Aber ihre Antwort ist prekär – sie zementieren die Ungerechtigkeit indem sie die Hoffnung auf ihre Überwindung verbreiten. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass in überschaubaren Bereichen, also in einem Dorf oder einem Stadtteil sich tatsächlich etwas ändert, wenn Menschen sich neopentekostalem Gedankengut öffnen. Allein die Aussicht auf Erfolg motiviert dazu, sich für seine Verwirklichung einzusetzen. Neopentekostale Gemeinden weisen eine viel geringere Zahl von Drogen- und Alkoholkranken auf, die „Arbeitsmoral“ hat zugenommen, die Verantwortung der Männer für ihre Familien wird stärker wahrgenommen, so dass das Elend der alleinerziehenden Mütter – in Süd- und Zentralamerika weit verbreitet – gelindert wurde, Schulen werden eingerichtet, das Glücksspiel zurückgedrängt, Gewalt in den Familien und Wohnvierteln nimmt ab usw. Und m.E. zeigt der Zulauf zu den Neopfingstlern, dass viele Menschen in Lateinamerika nicht länger bereit sind, sich mit ihrer verzweifelten Lage abzufinden. Also durchaus positive gesellschaftliche Effekte, und man sollte sie nicht trivialisieren, indem man ihre theologische Fragwürdigkeit herauskehrt und etwa lutherisch korrekt argumentiert, hier würde der unevangelischen Werkgerechtigkeit Tür und Tor geöffnet, das „Sola gratia“ mit Füssen getreten und die wahren Machtverhältnisse verschleiert. Mag ja sein – aber auch wenn die Neopfingstler die Bibel in der ihnen eigenen und uns fremden Weise auslegen und die gesellschaftlichen und politischen Ursachen für das Elend weiter Teile der Bevölkerung nicht benennen, so kann man doch eigentlich nur zustimmen, wenn einem Neopfingstler auf kritische Fragen antworten: „Was willst du? Wenn ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes doch eingetreten! Und seine Wirkungen kannst du ja selbst erkennen. Warum schaust du also so scheel?“

Was soll man dazu sagen? Ich nehme es gelassen. Was mich immer wieder beeindruckt hat, ist der Eifer, mit dem in Pfingstkreisen die Bibel gelesen wird. Häufig sah ich Frauen und Männer im Bus, im Restaurant, auf Parkbänken, sogar in der Warteschlange vor den Geldautomaten und Bankschaltern, die in der Bibel lasen. Und die Prediger schwenken sie während ihrer Predigt meist in der linken Hand hoch über ihren Köpfen, blättern aber auch immer wieder hierhin und dorthin, um ihre Ausführungen zu untermauern. Die Bibel hat in dieser protestantischen Glaubensform ganz offenkundig eine zentrale Stellung. Auch wenn uns ihre Auslegung anachronistisch und fundamentalistisch erscheint, so regt ihre Lektüre doch zum Nachdenken an und kann Veränderungen im Verhalten bewirken. Warten wir es ab – die zweite und dritte Generation dieser protestantischen Gemeinschaften könnte uns Lutheranern näher stehen als wir ahnen. Es kommt freilich sehr darauf an, uns mit ihrer Form des Glaubens unverkrampft auseinanderzusetzen und die Anfragen, die sich daraus an unsere Art zu glauben ergeben, ernst zu nehmen. Wer könnte dafür besser geeignet sein, als lutherische Kirchen, die in diesem Umfeld leben und wirken?

1.6. Auffallend ist bei pfingstlerischen Gruppen ihre Bindung an charismatische Führerpersönlichkeiten. Wie bereits erwähnt, waren (und sind) es häufig einheimische Prediger und Evangelisten, die eine Gemeinde gründen. Von den 52 namhaften protestantischen Denominationen in Brasilien gehen nur 15 auf die Mission ausländischer Kirchen zurück. Der „Protestantismus“ ist weder in Brasilien noch in anderen Ländern des Subkontinentes ein exogenes Phänomen, er hat sich im Laufe der letzten vier Jahrzehnte zu einer inneramerikanischen Spielart des weltweiten Protestantismus gewandelt. Mit durchaus bedeutsamen Eigenarten. So fällt auf, wie stark die Stellung des Predigers ist, und seine Art der Schriftauslegung ist für die jeweilige Gruppe verbindlich, was sicher dem „protestantischen Schriftprinzip“ ganz zuwider läuft und eher mit der Autorität zu tun hat, die bis heute einem caudillo in der ibero-amerikanischen Gesellschaft zugesprochen wird. Auffallend ist ferner die Skepsis, ja Abwehr institutioneller Gemeindestrukturen. Sie vermitteln eine Art evangelische Spiritualität ohne den institutionell-juristischen Überbau, was sie m.E. gerade in Ländern mit einer traditionell „katholisch“ Kultur so attraktiv macht. Wenn man Pfingstler fragt, warum sie sich zur Gemeinde halten, erzählen sie einem von Erfahrungen, die sie gemacht haben, antworten also in Kategorien der Betroffenheit, nur sehr selten hört man auch von Leitungspersönlichkeiten theologisch-begriffliche Argumente. Und wenn man genauer hinhorcht und nachfragt, merkt man bald, dass fast alle ihre Glaubensvorstellungen aus ihren Herkunftskirchen mitgebracht haben und sie in das neue „Glaubenshaus“ integrieren.

1.7. Wie auch immer: Die mainline-churches, die evangelikalen Gemeinden und die traditionellen Pfingstkirchen gehören seit den 1960er Jahren nicht mehr zu den wachsenden Gruppen, wie das seit den Erweckungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ohne große Unterbrechungen stets der Fall gewesen war. Statistisch gesehen gehören sie zum ersten Mal zu den Verlierern, während die neuen Pfingstkirchen mit höheren Zuwachsraten (oft sogar über die Zuwachsrate der Gesamtbevölkerung hinaus) rechnen konnten.

Die Gründe, die dafür genannt werden, sind umstritten. Einige vertreten die Ansicht, das Wachstum der ethisch eher konservativ orientierten neopentekostalen Kirchen sei auf ihre striktere Moral und ihre eindeutig biblizistisch ausgerichtete Theologie zurückzuführen. Da Religionen letzte Werte vermitteln bzw. die Sinnfrage zu beantworten haben, seien jene Religionen am erfolgreichsten, die wirkliche Forderungen an ihre Anhänger stellen und ein verbindliches Engagement für die Verwirklichung der von ihr vermittelten Werte verlangt. Das statistische Material allerdings lässt einen solchen Schluss nicht zu. Zum einen ist nicht deutlich, was hier als „konservativ“ gilt. Es gibt Kirchen, die als theologisch konservativ erscheinen, die aber gesellschaftspolitisch alles andere als konservativ sind, sondern eher dem „linken Spektrum“ mit einer „fortschrittlichen“ Sozialethik zugerechnet werden können.[13]

Auch die andere Annahme ist umstritten. Man hat gesagt, dass Familien in konservativen Kirchen mehr Kinder bekommen, was für eine natürliche Zunahme spricht. Wenn also in den konservativen Kirchen mehr Kinder geboren werden, wachsen diese Kirchen, auch wenn keine Übertritte zu ihnen stattfinden und sie ihrerseits keiner Verluste durch Über- oder Austritte zu verzeichnen haben. Doch auch diese Hypothese ist umstritten. Denn im Unterschied zur römisch-katholischen Kirche befürworten die Neopfingstler die Familienplanung (nicht die Abtreibung), so dass die Geburtenrate in diesen Kreisen eher rückläufig ist. Allerdings gibt es einen Unterschied, der ins Gewicht fällt. Offenbar gelingt es den Pfingstlern eher, ihre Mitglieder an sich zu binden. Das hängt aber offensichtlich weniger damit zusammen, dass sie rigorosere Forderungen an ihre Mitglieder stellen als damit, dass sie näher dran sind am Lebensgefühl und an den Problemen ihrer Leute.

Das Wachstum der Pfingstkirchen beruht daher zu einem hohen Grad auch auf dem pädagogischen Geschick, den Nachwuchs (also die zweite Generation) in den eigenen Reihen zu halten. Die erfolgreiche Sozialisation der Jugend bietet ihnen einen Vorsprung vor den mainline-churches.

Die lutherische Kirche in Brasilien zählt sicherlich neben der großen katholischen Kirche zu einer der mainline-churches im Lande. Eine mainline-church zeichnet sich ja nicht durch ihre Größe aus. Maßgebend für eine solche Kirche ist ihre klare Verfassungsstruktur, ihre Kooperationsbereitschaft mit anderen Kirchen, ihre breite gesellschaftliche Verankerung, ihre Fähigkeit, unterschiedliche theologische Ansätze unter einem verbindlichen Bekenntnis zu tolerieren und eine gewisse Anciennität. Denn es handelt sich bei ihnen um Kirchen, die eine längere Geschichte haben und die sich bewusst in den Prozess dieser Geschichte hineinstellen, und aus ihr für die Gegenwart immer wieder Anregungen gewinnen. In Süd- und Mittelamerika ist die römisch-katholische Kirche ohne Zweifel eine mainline-church. Aber gehört nach der von mir vorgenommenen Definition auch die kleine, nur etwa 1.500 Mitglieder umfassende evangelische Kirche in Costa Rica zur mainline-church? Ich denke schon – auch wenn sie (wie übrigens auch in Nicaragua, El Salvador und Honduras) eher einer der vielen kleinen Gemeinden gleicht, die ihre Wurzeln bei den Pfingstlern, den Nazarenern oder in der Seventh Day Adventist Church haben. Bevor ich auf diese kleinen lutherischen Kirchen, insbesondere auf die in Costa Rica, näher eingehe, möchte ich das religiöse Umfeld, in dem sie leben, etwas näher beschreiben und ein paar Gründe nennen, warum der Einfluss der Pfingstkirchen und anderer, meist fundamentalistisch orientierter Kirchen, in jenen Ländern so groß ist.

2. Pfingstkirchen in Costa Rica und Guatemala

In fast allen lateinamerikanischen Ländern stellt die katholische Kirche einen wesentlichen Faktor im gesellschaftlichen und politischen Leben dar. Ihre offizielle Rolle war lange Zeit die einer konservativen Institution[14]. Sie war an der Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse und eigener Privilegien ebenso interessiert wie daran, ihren politisch-ideologischen Einfluss auf breite Teile der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Bis auf Costa Rica haben die modernen Verfassungen die institutionelle Trennung von Staat und Kirche längst vollzogen. Dennoch genießt sie in allen Ländern hohes Ansehen und spielt vor allem bei der Erziehung der Eliten eine große Rolle.

2.1 Costa Rica

Freilich wie in Brasilien mit abnehmender Tendenz. In Costa Rica beispielsweise gehören inzwischen 20 bis 25 % der Bevölkerung anderen Kirchen an, und in Guatemala rechnet man sogar mit bis zu 35 %. Wenn diese Zahlen auch nirgends statistisch verifiziert worden sind, so merkt doch jeder Reisende, dass bis in die kleinsten Ortschaften hinein schlichte oder durchaus repräsentative Versammlungshäuser und Kirchen stehen, die man schon an ihrem Namen als protestantische (Pfingst-) Kirchen erkennt: „Leuchtturm des Glaubens“, der „Halleluja-Ort“, das „Haus der Hilfe Gottes“, „Himmel auf Erden“, „Der Erlöser ist da“, „Gemeinschaft des Heils“, „Licht in der Finsternis“ usw., und dann schon etwas traditioneller Bezeichnungen wie „Assembléia de Deus“, „Assembléia de Espiritu Santo“ oder „Igreja de Jesu Christo“. Während die römisch-katholischen Kirchen traditionelle Namen tragen wie z.B. San Isidro de Coronado, San Sebastian oder San Raffael, erzählen die Namen der Pfingstgemeinden eine kleine Geschichte: Hier sind Erfahrungen gemacht worden und wer dort hinkommt, kann hoffen, wieder Erfahrungen zu machen. Es sind Erfahrungen der „Hilfe Gottes“, der „Erlösung“, der „Gegenwart des Heiligen Geistes“, des „Lichtes in der Finsternis“ usw. Mit der Wahl dieser Namen wendet man sich zugleich von der Tradition ab, aus der man kommt. Das wesentliche Ereignis einer Gemeinde, das sie zur „Kirche Jesu Christi“ werden lässt, zur „Assembléia de Espiritu Santo“ ist die Erfahrung des Heils – und das kann auch ganz materielle Seiten haben. Das „Heil“ sozusagen „pur“ in Form der liturgischen und dogmatischen Repräsentation vermitteln, heißt ja, den „ganzen Menschen“ zu „verpassen“. Wenn „Heil“ erfahren wird, dann „spirituell“ und „materiell“ (bzw. im umfassenden Sinne „sozial“). Die Gemeinschaft der Glaubenden als Gemeinschaft im bzw. am Heil ist immer eine Gemeinschaft an den Heilsgütern im umfassenden Sinne. Das haben diese neuen Gemeinden offenbar begriffen – und daher ihr Erfolg vor allem unter den Armen, die sich in diesen Ländern von der katholischen Kirche abwenden.

Mehr als in Costa Rica habe ich über die Pfingstkirchen Lateinamerikas in Guatemala erfahren. Einiges wird man auf Costa Rica übertragen können – doch eines habe ich auf dieser Reise wieder einmal gemerkt: man sollte eigentlich nicht verallgemeinern, nicht die Eindrücke aus dem einen auf die im anderen übertragen. Dennoch lassen sich meiner Erfahrung nach in Guatemala Grundelemente dieser neuen Kirchen erkennen, die in anderen Zusammenhängen wieder auftauchen.[15]

2.2 Guatemala

Besonders gravierend scheint die Abwanderung von der katholischen Kirche zu den Pfingstlern in Guatemala zu sein. Meine Eindrücke sind subjektiv. Ich war nur 14 Tage in diesem Land. Aber einiges fiel mir doch auf. Davon will ich erzählen.

Eine Anmerkung vorweg. Wenn im folgenden von der neopfingstlichen Kirche die Rede ist, so ist das ein eigentlich viel zu wenig präzise. Ich wies schon darauf hin, dass man zwischen den traditionellen Pfingstkirchen und den Neopfingstlern unterscheiden muss. Die „typischen“ Neopfingstler in Zentralamerika trifft man vor allem in urbanen Zentren an. Die Gottesdienste finden oft in Theatersälen, Messehallten und großen neuen Kirchengebäuden statt, die Besucher strömen aus allen Vierteln herbei, sind also gar keine Gemeinde im traditionellen Sinne. Die Mehrzahl von ihnen entstammt der Mittel- und Oberschiecht. In den ländlichen Gebieten findet man zahlreiche „Ableger“ der städtischen Kirchen, aber hier sind es die „kleinen Leute“, die sich versammeln; viele Indiginas[16] findet man in diesen Kirchen (im Unterschied zu den historischen protestantischen Gemeinden, wo sie kaum vertreten sind); die Musik ist weniger „poppig“, sondern viel traditioneller und dem musikalischen Geschmack der ländlichen Bevölkerung angepasst. Manchmal umfasst eine Gemeinde nur 15 bis 30 Personen, und da die Neopfingstler eine ausgeprägte Tendenz zu Kirchenschismen haben, sind auf dem Lande zahlreiche Gemeinden entstanden, die sich von ihren neopfingstlichen Mutterkirchen abnabeln und oft sogar wieder der traditionellen Pfingstbewegung annähern. Etwa pauschal kann man sagen: aus zu den Neopfingstlern konvertierten Katholiken werden traditionelle Pfingstler – und manche von ihnen wandern weiter, z.B. zu den Evangelikalen, manchmal sogar zu den Lutheranern.

Und noch eine Vorbemerkung. Wenn im folgenden die „neuen Kirchen“ im Mittelpunkt stehen, dann einmal deshalb, weil sie mir am meisten auffielen. Aber auch deswegen, weil vor allem die protestantischen mainline-churches die mainline-churches in Guatemala fast gar nicht mehr in Erscheinung treten – wenn sie hier denn jemals von größerer Bedeutung gewesen sind. Ein Gemeindeglied der deutschen Gemeinde in Guatemala City, das ich in der deutschen Gemeinde in San José/ CR traf, meinte, die historischen protestantischen Kirchen stürben dort wohl bald aus und machten den Neopfingstlern Platz. Und die, die es noch gäbe, seien eigentlich auch keine mainline-churches im eigentlichen Sinne mehr, sondern eher dem evangelikalen Sektor zuzurechnen. Jedenfalls seien die paar Methodisten, Lutheraner, Episkopale, Mennoniten und Presbyterianer auf keinen Fall mehr als Vertreter der mainline-Protestantismus nordamerikanischer Prägung anzusehen. In den vornehmlich von Indiginas bewohnten Gebieten seien sie kaum zu finden, und wenn doch, dann sind die Indiginas in den seltensten Fällen Mitglieder eines kirchlichen Leitungsgremiums. Einige der protestantischen Kirchen haben sich zu einem „Evangelischen Kirchenrat“ zusammengeschlossen (Consejo de Iglesias Evangélicas de Guatemala), zu der aber auch die evangelikalen Nazarener und sogar eine Pfingstkirche (Full Gospel Church) gehören. Das ist alles etwas verwirrend, und für einen, der nur wenige Wochen im Lande gereist ist, nicht recht zu verstehen, schon gar nicht zu überprüfen. Und damit nun endlich zu den Ursachen des rasanten Wachstum pfingstlerischer Kirchen, soweit ich sie wahrgenommen habe. Verschiedene Gründe werden dafür genannt.

2.2.1 Die katholische Kirche sei immer entschieden gegen Sozialreformen gewesen und habe die von den USA initiierte Antikommunismuskampagne, die seit 1954 alle zentralamerikanischen Staaten erfasste, unterstützt; die Kirchenoberen, vor allem z.B. der Erzbischof von Guatemala Mariano Rosselli Arellano sei einer der heftigsten Verfechter im Kampf gegen den internationalen Kommunismus gewesen. Der höhere Klerus und viele Männer aus dem Offizierscorps hätten die Großgrundbesitzer bei der Ausbeutung der Landbevölkerung unterstützt. So sei es kein Wunder, dass vor allem in der ländlichen Bevölkerung der Widerstand gegen die römisch-katholische Kirche gewachsen sei.

2.2.2 Ein weiterer Grund sei darin zu sehen, dass die katholische Kirche als verlängerter Arm des US-Imperialismus angesehen worden sei. In der Tat wurden in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts verstärkt Priester und Ordensleute aus den USA und Europa geholt, die den Antikommunismus in der Bevölkerung verankern sollten. Zwischen 1952 und 1959 z.B. stieg in Guatemala die Zahl der Missionare um 132 %, so dass der ausländische Klerus in Guatemala bald in der Überzahl war. Die meisten dieser Priester waren auf dem Lande tätig, während die einheimischen es vorzogen, in den Städten zu bleiben. Viele der ausländischen Priester kamen völlig unvorbereitet ins Land. Sie beherrschten weder die Sprache der Indianer, noch kannten sie ihre Sitten und Bräuche. Die gesamte Indígena-Kultur war ihnen fremd. So mögen sie dazu beigetragen, dass – insbesondere in Guatemala – Angehörige der Maya-Völker sich von der katholischen Kirche abgewandt haben.

2.2.3 Allerdings haben nach und nach gerade ausländische Priester und Ordensleute an der Entwicklung der sog. „Theologie der Befreiung“ mitgearbeitet, die das Leiden der Armen zum Ausgangspunkt ihrer theologischen Reflexion und pastoralen Arbeit machten. Die Missionare waren schockiert über das Ausmaß der Armut, des Elends und der Ungerechtigkeit, die sie vor allem in Guatemala, Nicaragua und El Salvador vorfanden. (Costa Rica spielt hier eine Sonderrolle, politische Unterdrückung und Ausbeutung wie in den genannten Ländern hat es dort in dem Ausmaß nicht gegeben.) Mit der Zeit wurde den Priestern klar, dass es nicht nur darum gehen kann, die Messe zu lesen, sondern dass es notwendig ist, das Leben der Menschen zu verändern. Damit war die Konfrontation mit dem Militär vorprogrammiert, für das Begriffe wie Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit nur subversive kommunistische Propaganda bedeutete. Immer mehr Priester haben sich mit den Armen solidarisiert. Ihr Engagement im sozialen Bereich wurde für sie zunehmend lebensbedrohlicher. Teils wurden sie des Landes verwiesen, teils mussten sie fliehen. Die Kirchenleitung war gespalten. Auf der einen Seite haben wir die opportunistische Haltung des Papstes und des Erzbischofs von Guatemala, Mario Casariegos (ein Opus-Dei-Schüler); auf der anderen Seite einige Bischöfe, die entsetzt waren über die brutale Vorgehensweise der Armee gegen die immer stärker werdende Guerilla im Lande. Sie begannen nach den Ursachen der herrschenden Ungerechtigkeit und Gewalt zu fragen. So kam es im Juli 1976 zu einer gemeinsamen Erklärung, die von allen Bischöfen Guatemalas (mit Ausnahme des Erzbischofs Casariegos) unterschrieben wurde. Die Bischöfe verurteilten in ihrem Dokument „Vereint in Hoffnung“ die bestehende Gesellschaftsordnung, die soziale Spannungen und Unfrieden hervorbringt sowie Angst und Unsicherheit gegenüber dem Staat auslöst. Sie forderten die Beseitigung der Ursachen von Armut, Not und Rechtlosigkeit und erklärten ihre Absicht, gewaltfrei an der Seite des Volkes und ihrer Organisationen für einen geistigen und materiellen Wiederaufbau Guatemalas zu kämpfen. Die Antwort der Militärmachthaber war grausam. Mehrere Priester wurden umgebracht, Nonnen vergewaltigt, verschleppt und ermordet, der Blutzoll unter den Klerikern war enorm. Nach dem Tode des Erzbischofs Mario Casariegos 1983 änderte sich die Haltung in den obersten Reihen der Kirchenleitung. Prospereo Penados del Barrio übernimmt das Amt des Erzbischofs und wird aufgrund seines im März 1988 veröffentlichten Hirtenbriefes „Schrei nach Land“ zur Zielscheibe diverser Unternehmerverbände und Agroindustrieller in Guatemala. Ihm wurde marxistische Infiltration vorgeworfen, und er bekam Morddrohungen ins Haus. Noch am Vorabend eines Friedenschlusses zwischen der Guerilla und dem Militär 1998 in Guatemala wurde der 75jährige Weihbischof Juan Gerardi vor seinem Haus mit 11 Schlägen eines Betonblocks auf den Schädel getötet. Gerardi war einer der prominentesten Fürsprecher der indigenen Bevölkerung. Sein Tod löste im ganzen Land lähmendes Entsetzen aus. Die Zusammenhänge und der Zeitpunkt ließen sofort auf ein militärisches Mordkommando schließen, da der Bericht des erzbischöflichen Menschenrechtsbüros über die begangenen Menschenrechtsverletzungen die Armee für über 80 % der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht hat. Gerardi wurde mit einer großen Trauermesse in der Kathedrale von Guatemala beigesetzt, an der weder der Präsident noch die Minister seines Kabinetts teilnahmen.

2.2.4 Die Behauptung, große Teile der Bevölkerung Guatemalas würden sich von der katholischen Kirche wegen deren Verquickung mit der herrschenden Klasse abwenden, erscheint mir auf Grund der historischen Ereignisse wenig plausibel. Aus dem gleichen Grunde könnten viele die evangelikalen Kirchen verlassen, weil einer der blutigsten Schlächter im Bürgerkrieg, General Efrain Rios Montt, der 1982 durch einen Putsch an die Macht kam, ein ehemaliger Pastor der neopfingstlichen Iglesia del Verbo war, eine der vielen Kirchen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, die in den 70er Jahren in Guatemala an Einfluss gewannen. Aber das hatte offenbar keinen Einfluss auf die Wahrnehmung der evangelikalen Kirchen und der Pfingstkirchen als einer echten Alternative zu dem, was man bisher kannte.

2.2.5 Als weiterer Grund für die Hinwendung zu den „neuen Kirchen“ wird darin vermutet, dass die katholische Kirche – und zwar seit es sie in Lateinamerika gibt – auch in Zentralamerika die ursprüngliche Religion (im Falle Guatemalas die der Mayas) zurückgedrängt habe. Und darum wende man sich heute weitgehend von ihr ab. Dieses Argument halte ich für völlig unbegründet. In den ländlichen Gebieten Guatemalas (in Costa Rica war die Situation eine andere, denn dort hatten die Eroberer die Indianer bis auf heute etwa 30.000 Menschen ausgerottet) hat die römisch-katholisch Kirche einen ziemlich unverkrampften Umgang mit der immer noch lebendigen Religion der Mayas gepflegt. Die Maya-Gottheiten, soweit „das Volk“ sie schätzte, konnten sogar Platz auf den Altären angeboten bekommen – wenn auch nur im „unteren Bereich“ oder als untergeordnete Engel. Der Gott Maximo beispielsweise verwandelte sich in Judas – aber immerhin, er war präsent und übt bis heute Macht und Faszination aus. Die Maya-Gottheiten hatten ihren eigenen Tempel gelegentlich gleich neben der Kirche oder man betete sie auf den Treppenstufen an, die zur Kirche hinauf führten. Sie waren sozusagen „zuerst da“. So konnte ich in Chichicastenango z.B. noch etwas von der Kraft der alten Gottheiten spüren – und die Riten vor und an der Kirche muteten sehr elementar und intensiv an. Inbrünstiges Beten, Blumen- und Kerzenopfer, Weihrauch, das Vergießen von Schnaps (und Coca Cola), Proskynese usw. – all das wurde offenbar nicht nur geduldet, sondern gehörte mit hinein in die Verehrung des christlichen Gottes, seines Sohnes und – vor allem – der Mutter Gottes. In den Pfingstkirchen wäre so etwas undenkbar! Die „Maya‑Gottheiten“ werden dort eher mit Repräsentanten Satans gleichgesetzt. Wenn also irgendwo die indigenen Gottheiten verfolgt und eliminiert werden, dann dort!

2.2.6 Es müssen andere Gründe sein, weshalb so viele Menschen sich den „neuen Kirchen“ zuwenden. In der Hauptkirche von Santiago am südlichen Ufer des Atitlan-Sees haben die Heiligenbilder vieler ehemals katholischer Kirchen, die nun verlassen sind bzw. nun den „neuen Christen“ als Versammlungsort dienen, Asyl gefunden. Etwas traurig sehen sie aus, wie sie da in ihren alten bunten Gewändern an den Seitenwänden entlang aufgereiht stehen.

Wenn man die Kirche betritt, sieht man gleich auf der rechten Seite die Gedenktafel an jene Männer und Frauen, darunter an einen Priester aus den Vereinigten Staaten von Amerika, die hier 1990 vor den Mordbanden des Militärs Schutz gesucht hatten und niedergemetzelt wurden. Die Erinnerung an den Märtyrertod dieses Priesters und vieler anderer Kirchenleute ist noch frisch. Trotzdem der katholische Klerus an der Seite der Verfolgten in Guatemala einen hohen Blutzoll gezahlt hat, muss die Kirche heute einen so starken Mitgliederschwund hinnehmen – und ihre Heiligen müssen in fremden Kirchen um Asyl bitten. Bis heute versteht sich die katholische Kirche als „a watchdog and defender of the poor“ – und trotzdem verlassen so viele diese Kirche. Der Grund dafür kann also nicht allein in der katholischen Kirche liegen. Aber an der Lage der Kirche durchaus. Das Militär beschuldigte die katholische Kirche der Kollaboration, wenn nicht sogar der aktiven Unterstützung der Guerilla. Manche Gemeinden wurden ihrer Priester beraubt. Protestantische Kirchen konnten die Lücken füllen, zumal die offizielle Zuschreibung, die katholische Kirche sei eine Parteigängerin der Guerilla, für viele Indiginas Anlass war, sie zu verlassen: sie, die ohnehin verfolgt wurden, fürchteten als Katholiken erst recht in die Schusslinie zu geraten.

Ein mit dem Bürgerkrieg zusammenhängender Grund für eine Konversion mag auch darin gesehen werden, dass in einer Zeit, in der bisherige Gewissheiten des Zusammenlebens in einer religiös fundierten Gemeinschaft durch kriegerische Auseinandersetzungen brüchig werden, haben neue religiöse Interpretationsangebote Konjunktur. Die Zerschlagung von Gemeindestrukturen, die Vertreibung oder Ermordung kirchlicher Mitarbeiter, die Zerstörung ganzer Dörfer und die Umsiedlung ihrer Bewohner in sog. Musterdörfer, die vom Militär kontrolliert wurden hinterließ traumatisierte Menschen, die ihre bitteren Erfahrungen mit Hilfe neuer religiöser Angebote bearbeiten konnten. Wenn z.B. in der  neopfingstlichen Verkündigung von den Zeichen der Endzeit und des Anbruchs eines neuen Zeitalters gesprochen wurde, konnte man die Gräuel des Bürgerkrieges mit den „Wehen“ vergleichen, von denen in der Bibel die Rede ist und die dem neuen Zeitalter des Tausendjährigen Reiches vorangehen sollten, und damit in einen Interpretationsrahmen einspannen, der es den Zuhörern erlaubte, ihre Erfahrungen in den „Weltplan Gottes“ einzuzeichnen. Und wenn durch das soziale Engagement der Neopfingstler sich die Lebensverhältnisse der Armen und Vertriebenen veränderten, dann kann man das als Zeichen des Anbruchs des Tausendjährigen Reiches interpretieren. Man kann das als Krisenbewältigung mit Hilfe prämilleniaristischer Topoi bezeichnen. So gesehen ermöglichte (und ermöglicht) die „Weltanschauung“ der Neopfingstler durchaus eine Überlebensstrategie in Krisenzeiten. Dazu kommt, dass aufgrund des erwähnten Priestermangels besonders in ländlichen Gebieten der Eindruck entstehen konnte, dass gerade dann, wenn man Beistand braucht, kein Vertreter der katholischen Kirche da ist – dafür aber gleich um die Ecke ein Pfingstbruder, der – ohnehin vom missionarischen Impuls der Pfingstbewegung durchdrungen – alsbald zu Hilfe eilt.

Und trotzdem – der Bürgerkrieg mit seinen Folgen für die katholische Kirche kann nicht der wesentliche Grund für die starke Konversionsbewegung hin zu den Pfingstkirchen sein. Denn der Bürgerkrieg in Guatemala begann schon vor der seit 1978 zu beobachtenden explosionsartigen Zunahme von Konversionen zu den Neopfingstlern.

2.2.7 Am 4. Februar 1976 forderte ein gewaltiges Erdbeben in Guatemala 23.000 Tote. Seitdem haben zahlreiche evangelikale Kirchen im Lande Fuß gefasst. Massiv traten sie 1976 als Hilfstruppen für die Erdbebenopfer auf und verbanden ihre Aufbauarbeit mit der Missionierung. Sie drangen in die entlegensten Dörfer vor und brachen mit rhetorisch und psychologisch geschulten Predigern, verbunden mit modernster Elektronik, in die relativ reizarme Umwelt der Indiginas ein und lockten mit ihren flotten Rhythmen, den pathetischen Ansprachen und ekstatischen Anrufungen durch Verstärker und Lautsprecher zunächst viele Zuhörer an, dann gewannen sie sie für ihre neuen Kirchen. Dem hatte die traditionelle katholische Kirche nichts entgegenzusetzen – zumal die in den Augen der beiden nordamerikanischen Präsidenten Nixon und Reagan und ihrer konservativen Allianzen die katholische Kirche aufgrund ihres sozialen Engagements nicht mehr zu den Verbündeten Nordamerikas gezählt wurde. Ähnlich erging es den historisch protestantischen Kirchen, die mit dem ÖRK zusammenarbeiteten und unter der Dachorganisation „Christlicher Rat der Entwicklungsagenturen“ mehrere Entwicklungsprojekte in Guatemala unterstützte. Die römisch-katholische Kirche verlor in weiten Gebieten ihr Monopol. Die „weißen“ und bürgerlichten Schichten sind nach wie vor katholisch und – wie ich gesprächsweise erfuhr – halten sie die Konvertiten unter den Indiginas für „dumme, verführte Menschen, die nur des Geldes wegen den Glauben wechseln“. Das mag auch nicht ganz falsch sein – natürlich sind sie nicht „dumm und ungebildet“ – aber die sozialen Leistungen, die die neuen Kirchen erbringen, sind doch ein starker Anreiz, sich ihnen auch spirituell zuzuwenden. Dort werden nicht nur die Indiginas ernst genommen (oder sie fühlen sich doch zumindest ernst genommen), sondern auch die Armen in allen zentralamerikanischen Ländern. Die mediale und finanzielle Präsenz der neuen Kirchen trägt sicherlich zu ihrer Attraktivität bei. Deshalb blieb auch nach der Beseitigung der unmittelbaren Folgen des Erdbebens der Zustrom zu ihnen hoch.

2.2.8 Die medizinische Versorgung in den Elendsquartieren der großen Städte und auf dem Lande ist – mit Ausnahme Costa Ricas – katastrophal. Keine Regierung hat es bisher geschafft, hier Abhilfe zu leisten. Die Bewohner der Elendsviertel und in den entlegenen Gegenden fühlen sich mit ihren Gesundheitsproblemen allein gelassen. Die Pfingstgemeinden haben ein dichtes Netzwerk von Sozialstationen und medizinischen Versorgungszentren aufgebaut, die der Bevölkerung helfen. Auch das trägt dazu bei, dass man auch in spiritueller Hinsicht bei ihnen das Heil sucht.

2.2.9 Ich habe schon erwähnt, dass die katholische Kirche in religiösen Belangen der indigenen Spiritualität große Entfaltungsmöglichkeiten gelassen hat, bis dahin, dass man sogar ihren Göttern in oder doch nahe der Kirche Raum gab und der Beobachter manchmal nicht weiß, zu welchem Gott denn nun eigentlich gebetet wird. Die neuen Pfingstkirchen sind rigorose Gegner der „alten Götter“ – das müsste doch eigentlich viele Indiginas abschrecken? Oder findet mit der Abkehr vom Katholizismus in diesen Bevölkerungsgruppen zugleich eine Abkehr von den alten, im Katholizismus bewahrten Göttern statt? Ist der starke Einfluss der Pfingstler darauf zurückzuführen, dass der „Paradigmenwechsel“ von der Maya-Zeit zur neuen Zeit erst jetzt stattfindet? Und dabei die katholische Kirche als mit dem Alten als noch so verwoben angesehen wird, dass man sich auch gleich von ihr abwendet? Ich vermute hier eine der nachhaltigsten Ursachen für die Konversionen, habe dafür freilich keine durch empirische Studien erhärteten Beweise. Wenn man sieht, wie viele Menschen in Guatemala (und in den anderen mittelamerikanischen Ländern ) unterwegs sind, um neue Arbeit irgendwo in einem anderen Landesteil zu finden, oder als migrierende Landarbeiter, die zeitweilig ihre Dörfer verlassen, um auf den Plantagen an der Pazifikküste zu arbeiten; wenn man die riesigen Elendsviertel in den großen Städten, vor allem in Guatemala City sieht, in denen Menschen leben, die ihr Land verlassen mussten, weil es nicht mehr fruchtbar genug war oder sie sich die teuren Düngemittel nicht mehr leisten konnten; wenn man die damit einhergehende Entwurzelung bedenkt, dann erscheint mir die Annahme plausibel, dass mit dem Verlust der Heimat auch ein Verlust der dort herrschenden Konventionen und „Weltdeutungsmodelle“ einhergeht. In vielen Dörfern Zentralamerikas, insbesondere in den Gebieten, in denen viele Indiginas leben, haben zivil-religiöse Bruderschaften, sog. confradias großen Einfluss auf die Zumessung von Einfluss und Bedeutung, die jemand in einer Gemeinschaft hat. Hier wird die Hierarchie eines Dorfes festgezurrt. Der Zwang, sich ihr unter- und einzuordnen, ist für die, die das Dorf verlassen (müssen) nicht mehr so stark. Beim Wunsch, sich ihm gänzlich zu entziehen, kann eine Konversion zu einer Pfingstkirche hilfreich sein.

Aber auch dieses Argument hat eine Schwachstelle: es gibt traditionelle Pfingstkirchen, die den Kontakt mit den volksreligiösen Vorstellungen der Indiginas nicht scheuen. Im Gegenteil: während Neopfingstler in der alten Religion ein Produkt dämonischer Mächte sehen, wird in manchen ländlichen Gemeinden der Pfingstler die Bibel in einer Maya-Perspektive gelesen, also eine gewisse kulturelle Hermeneutik praktiziert, wie sie in Ansätzen die katholischen Dorfpriester schon vor 300 Jahren praktizierten – wenn auch immer unter den argwöhnisch wachsamen Auge der Kirchenoberen.

2.2.10 Welche Gründe man auch immer anführt – an der Tatsache, dass die römisch-katholische Kirche in zentralamerikanischen Ländern von konservativen evangelikalen Kirchen unter Druck gesetzt wird, ist nicht zu übersehen. Diese Kirchen haben nicht nur unter der ländlichen Bevölkerung viele Anhänger, sondern auch in den Städten – und inzwischen sogar in den reichen Schichten (insbesondere in Guatemala), wobei die neopfingstlichten Kirchen als besonders erfolgreich gelten. Die Anhänger dieser Kirchen zählen inzwischen in die Hunderttausende. Das heißt nicht, dass die Bevölkerung „gläubiger“ oder „religiöser“ werden würde. Auch wenn sichere Statistiken nicht vorliegen, so wird man doch auch in Zentral- und Südamerika davon ausgehen dürfen, dass die Einen auf Kosten der Anderen wachsen, dass also die evangelikalen und pfingstlichen Kirchen auf Kosten der mainline-churches wachsen.

2.3 Gründe für die Attraktivität der Neopentekostalen

Was ich in und über die Pfingstbewegung in Guatemala erfuhr und was ich aus früheren Begegnungen mit Pfingstlern erinnerte, habe ich unter der Fragestellung, warum sie für viele Menschen so attraktiv ist, für mich so zusammengefasst.

2.3.1 Leute aus den sog. Unteren Klassen und Menschen in der Krise finden Zugang zu den (neo-)pfingstlerischen Kirchen, weil sie von ihnen „Heil und Wohl“ erhoffen und persönlich bereit sind, dafür etwas zu tun. Sie wollen ihr Leben ändern und erwarten sich Hilfe von „den Protestanten“. Man sollte das nicht einfach als „Werkgerechtigkeit“ abtun – es ist der tiefe Wunsch nach Veränderung (auch der Verhältnisse).

2.3.2 In pentekostalen Gemeinden erfahren Menschen eine Gemeinschaft, in der sie und ihre Probleme wahr- und erstgenommen werden. Spirituelle und soziale Bedürfnisse werden respektiert. Die emotionale Seite des Glaubens spricht viele Menschen mehr an als verkopfte Predigten in den historischen protestantischen Kirchen und gut gemeinte Sozialprogramme von christlichen Hilfsorganisationen. Wer einmal an einem pentekostalen Gottesdienst teilgenommen hat, wird die tiefe Emotionalität und auch die Meinungsfreiheit (die oft in der Form des Gebets zum Tragen kommt) nicht so rasch vergessen, mit der man dort seinem Glauben gefühlsmäßig Ausdruck gibt und in freier Rede vorstellt.

2.3.3 Der Empfang des Geistes ist nicht an das Amt gebunden. Jeder ist dazu bevollmächtigt, sich mit Autorität in Glaubens- und Lebensfragen öffentlich zu äußern. Das ist in der politischen Gemeinde oft nicht möglich – aber wer sagt, dass jemand, der erfahren hat, wie seine Rede andere überzeugte und stärkte, nicht auch in politischen Diskursen einmal ohne Angst vor Repressalien seine Stimme erheben wird?

2.3.4 Eine Pfingstgemeinde ist eine Gemeinschaft von Menschen mit verschiedenen Gaben. Einfache Leute erfahren, dass sie reden, singen, eine Gemeinde leiten können, seelsorgerliche Fähigkeiten haben, Zeugnis ablegen können usw. Warum sollte sie das nicht auch dazu befähigen, einmal politische Verantwortung zu übernehmen?

2.3.5 Der hohe ethische Anspruch, den man bei Pfingstlern oft erkennt und der sich in ganz schlichten Dingen wie Treue zur Familie, Abstinenz von Gewalt und Sucht, in Verantwortungsbereitschaft und persönlicher Integrität äußert, hat dazu geführt, dass man sie auch als Bürger achtet, auf die man sich verlassen kann. Auch das macht sie für viele attraktiv.

2.3.6 Trotz ihrer vielen Unterschiede haben die pentekostalen Gemeinden eines gemeinsam: ihre Musik wandert von Gemeinde zu Gemeinde und unterwandert so die Unterschiede, die oftmals dadurch entstehen, dass jede Gemeinde auch immer Ausdruck ihres Kontextes ist, auch Ausdruck des Glaubens ihres jeweiligen „Gründungsvaters“. Experimentierfreude und pragmatische Übernahme von Elementen aus anderen Gemeinden kennzeichnet diese Gemeinden.

2.3.7 Mögen viele Pfingstgemeinden auch von Pfingstlern aus Nordamerika beeinflusst (gewesen) sein, so kann man doch nicht behaupten (was ihre Kritiker in Lateinamerika gerne tun), sie seien „fremde und von außen importierte“ Kirchen. Manchmal wurden sie sogar, wie vorhin erwähnt, als Werkzeug des CIA angesehen und sicher sind sie gelegentlich (vor allem in Guatemala und Nicaragua) von der US-amerikanischen Politik Nixons und Reagans als „Kampfkolonnen“ gegen die linke Guerilla missbraucht worden. Dieser Vorwurf ist in dieser Pauschalität aber kaum haltbar. Auch wenn die Neopentekostalen oft aus dem städtischen Milieu stammen, so war und ist er doch auch immer eine Bewegung der Armen gewesen, die unter dem Terror der von den USA geförderten Contras schwer gelitten haben. Für dumm sollte man sie nicht halten – sie wissen bis heute, wer an ihrem Elend auch Schuld gewesen ist, auch wenn sie die Verursacher als Gehilfen des Satans ansehen und darum nicht persönlich für ihr Tun verantwortlich machen, so heißt das ja nicht, dass sie ihre Peiniger lieben (wohl aber, dass sie für ihre Bekehrung beten, denn dann ginge es ja auch denen besser).

2.3.8 Warum haben sich die Armen von den Theologen der Befreiung ab- und dem Pentekostalismus zugewandt? Nicht ganz leicht zu beantworten! Ich denke, das hängt damit zusammen, dass die Theologie der Befreiung ein Produkt von Leuten ist, die selbst Teil der intellektuellen Elite ihrer jeweiligen Gesellschaft waren (sind). Die Armen fanden sich eine Zeit lang von ihnen vertreten, erkannten aber irgendwann, dass sie mit ihren religiösen Bedürfnissen, die oft volksreligiös verortet waren, dort nicht vorkamen. Die Pfingsttheologie ist keine Theologie, die für die Armen entwickelt worden ist, sondern eine Theologie der Armen von ihnen selbst erarbeitet. Während die Theologen der Befreiung sich auf die Seite der Armen stellten, entschieden sich die Armen für den Pentekostalismus. So ironisch kann es auch in der Kirchengeschichte zugehen.

3. Lutherische Kirche in Costa Rica

Zu den „Wachstumsgewinnern“ gehören nun auch – wenn auch in ungleich bescheidenerem Maße – die einheimischen lutherischen Kirchen in diesen Ländern. Sie sind vertreten in Costa Rica, San Salvador, Honduras und Nicaragua, aber auch in Guatemala, wo sie von der Missouri-Synode[17] in den Vereinigten Staaten, einer streng konservativen lutherischen Kirche, unterstützt und gefördert werden, während die lutherischen Kirchen in den anderen genannten Ländern dem Lutherischen Weltbund angehören. Alle diese Kirchen sind relativ jung. Warum gibt es sie überhaupt? Warum gehen Leute zu den Lutheranern? Warum ziehen sie diese Kirche den vielen anderen und oftmals viel lautstärker agierenden Kirchen vor? Warum verlassen sie überhaupt ihre Kirchen – denn auch die meisten Lutheraner waren vorher römisch-katholische, anglikanische, methodistische, baptistische oder pfingstlerische Gemeindeglieder. Warum entstehen lutherische Gemeinden? Ich habe meinen sechswöchigen Aufenthalt in Costa Rica neben dem Wunsch, ein wenig Spanisch zu lernen, auch dazu genutzt, darauf – wenigstens ansatzweise und vorläufig – eine Erklärung zu finden.

3.1. Die neuere Geschichte der lutherischen Kirchen in Zentralamerika ist eng verflochten mit dem Kampf um soziale Gerechtigkeit und Frieden, der auch nach den verheerenden Bürgerkriegen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts heute noch – wenn auch nicht mehr so blutig – anhält. In diesem Kampf gewannen die Kirchen ihr eigenes Profil, aus Missionskirchen wurden selbständige Kirchen, die in der konkreten Situation die ihnen angemessene Form lutherischer Identität fanden. Diese ist geprägt von einer Verkündigung des Evangeliums, die orientiert ist an den Leiden der Armen und Unterdrückten.

Seit der Kolonialisierung Zentralamerikas durch die Spanier im 16. Jahrhundert hat sich die römisch-katholische Kirche als religiöse Macht etabliert. Der vorhin erwähnte Einfluss einer ganzen Reihe von protestantischen Kirchen hängt auch damit zusammen, dass die USA seit Beginn des 20. Jahrhunderts die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung übernehmen. Aber nicht die main-line-churches gewannen an Einfluss, sondern zunächst evangelikale, dann seit Mitte der Sechziger des vorigen Jahrhunderts pfingstliche und charismatische Kirchen. Die lutherische Mission beginnt relativ spät mit ihrer Arbeit – nämlich erst 1946. In diesem Jahr besuchten Vertreter der lutherischen Missouri-Synode (USA) mehrere Kirchengemeinden in Guatemala. Zwei dieser Gemeinden sind aus der Missionsarbeit einer nordamerikanischen Quäkerkirche entstanden, haben sich aber von dieser getrennt. Zufällig hörten sie von der lutherischen Missouri-Kirche und nahmen Kontakt auf. Eine andere Gemeinde geht auf die Gründung durch deutsche Einwanderer im Jahr 1929 zurück; diese baten die Missouri-Synode um Entsendung eines deutschsprachigen Pfarrers aus den USA, weil deutschen Pastoren nach 1945 die Einreise nach Guatemala verweigert wurde.

Die Missouri-Synode entsandte Pfarrer Robert Gussick, der 1947 in Guatemala eintraf. Im Laufe der Jahre folgten ihm weitere Missionare.

Pfarrer Gussick wurde sehr schnell klar, dass die lutherischen Kirchen in Zentralamerika nur dann eine Chance haben, sich in der Gesellschaft zu beheimaten, wenn es gelang, möglichst bald mit der Ausbildung nationaler Pfarrer zu beginnen. Die ersten Kandidaten waren Männer, die zuvor in evangelikalen und pfingstlichen Gemeinden als Pastoren gearbeitet haben. Sie wurden für die lutherische Gemeindearbeit ausgebildet. In den 60er Jahren schickte man dann Studenten zum Theologiestudium nach Mexiko. Dort studierten sie in einem ökumenischen Institut zusammen mit Studierenden aus verschiedenen protestantischen Kirchen. Sie absolvierten auch Seminare in Soziologie an der nationalen Universität Mexikos. Das hatte zur Folge, dass diese Studenten zu einer großen ökumenischen Offenheit gelangten und die ungerechte soziale Situation in ihren Heimatländern kritisch zu deuten in der Lage waren.

Evangelisten aus den Gemeinden in Guatemala nahmen Kontakt zu einzelnen Personen und Gruppen in anderen zentralamerikanischen Ländern auf. So entstanden in Honduras und Nicaragua, in El Salvador und in Costa Rica neue lutherische Gemeinden und Kirchen, in denen wiederum lokale Leiter eingesetzt wurden. Der größte Teil der Mitglieder gehörte den armen Schichten an, und so wurden alsbald diakonische Projekte initiiert, vor allem in der Gesundheitsfürsorge und in der Erziehungsarbeit. Die lutherischen Kirchen in Zentralamerika übernahmen immer mehr soziale Verantwortung und stellten sich auf die Seite der Unterdrückten. Um die gemeinsame Arbeit mit den verschiedenen Ländern zu koordinieren, wurde 1968 der „Rat der Lutherischen Kirchen in Zentralamerika und Panama“ (CONCAP) gegründet.

Von Anfang an war die Finanzierung der Gemeindearbeit ein großes Problem, denn wegen der großen Armut konnten die Mitglieder der Gemeinde kaum für die Gehälter und für die Unterhaltung der Gebäude aufkommen. Trotz großer Anstrengungen die Gemeinde auch materiell auf eigene Beine zu stellen, rückte die von Pfarrer Gussick erhoffte finanzielle Unabhängigkeit in weite Ferne.

Wegen ihres sozialen und politischen Engagements gerieten die lutherischen Kirchen in Zentralamerika auch ins Visier der von Präsident Nixon initiierten und von Reagan fortgeführten Kirchenpolitik, die einseitig konservative und fundamentalistische Missionsarbeit in Zentralamerika favorisierten. Nicht nur die römisch-katholische, sondern auch die evangelische Kirche geriet ins Visier der Geheimdienste. Dazu kommt, dass die Missouri-Synode in den USA seit 1969 eine kirchenpolitische Wende vollzog, ob unter dem Einfluss konservativer politischer Kreise in Nordamerika oder weil es in jenen Jahren auch in kirchlichen Kreisen chic war, konservativ zu werden, vermag ich nicht zu sagen. Wie auch immer, die Missouri-Synode verlangte unter anderem jegliche ökumenische Zusammenarbeit einzustellen sowie die historisch-kritische Bibelhermeneutik abzulehnen. Das führte in Nordamerika zur Spaltung der Missouri-Synode. Der Konflikt griff auf die Kirchen in Zentralamerika über – mit gravierenden Folgen. Die Kirchenleitung der Missouri-Synode entmachtete Pfarrer Gussick und fordert von den übrigen Pastoren die Beendigung ihrer ökumenischen Initiativen und ihres sozialen Engagements. Die meisten Pastoren und Gemeinden wehrten sich dagegen. Unter dem Einfluss der Theologie der Befreiung lasen sie die Bibel mit den Augen der Armen und fühlten sich den leidenden Menschen – egal welcher Konfession – verbunden. Zudem beschlossen sie, Frauen ins Amt zu ordinieren. Und es ist wohl diese Entscheidung gewesen, die die Missouri-Synode letztendlich dazu bewogen hat, CONCAP aufzulösen und alle finanziellen Transferleistungen einzustellen. Bis heute halten einige wenige Gemeinden in Guatemala und Panama[18] ihre Beziehung zur Missouri-Synode aufrecht – sie haben die Frauenordination nicht eingeführt, verfolgen in der Theologie einen fundamentalistischen Kurs, aber – und das macht es schwer, sie in die „fundamentalistische“ (und unpolitische) Ecke zu stellen – ihr soziales Engagement haben sie ihren Möglichkeiten entsprechend weitgehend beibehalten. Ich habe gehört, dass im Grenzgebiet zu El Salvador und Honduras eine mit der Missouri-Synode eng verbundene lutherische Gemeinde in Guatemala zur Zeit heftig von Großgrundbesitzern attackiert wird, weil sie sich dagegen wehrt, dass der Urwald, der die Lebensgrundlage der dortigen Landbevölkerung ist, großflächig abgeholzt wird und die verbleibende Fläche zu Weide- und Plantagenland wird.

Nach der Trennung von der Missouri-Synode entstanden unabhängige lutherische Kirchen in El Salvador, Nicaragua, Costa Rica und Honduras. Sie schlossen Partnerschaften mit anderen lutherischen Kirchen in der Welt, wurden in den Lutherischen Weltbund und andere ökumenische Kirchenbünde aufgenommen und gründeten 1991 die Gemeinschaft Lutherischer Kirchen in Zentralamerika (CILCA).

Die lutherische Kirche in Costa Rica ist entstanden, weil in den 50er Jahren Hörer des Radioprogramms „Die lutherische Stunde“ eine von der Missouri-Synode weltweit ausgestrahlten Evangelisationssendung, hörten und den „Rat der lutherischen Kirchen in Zentralamerika und Panama“ (CONCAP) baten, einen Pfarrer zu senden, der sie betreut und eine Gemeinde gründet. So kam Pastor Tapani Ojasti nach Costa Rica, ein aus Finnland nach Venezuela eingewanderter junger Mann, der in Argentinien Theologie studiert hatte, in Guatemala sein Vikariat abgeleistet hat und kurz zuvor als Pfarrer ordiniert worden war. Es gelang ihm, in San José eine Gemeinde zu sammeln, deren Mitglieder aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommen. Die Sozialstruktur führte in der Gemeinde allerdings bald zu Konflikten; dazu kam, dass Ojasti sich mit der Kirchenleitung der Missouri-Synode überwarf. 1977 kehrte er nach Europa zurück, die Arbeit seines Nachfolgers scheiterte, und so zog sich die Missouri-Synode 1980 ganz aus Costa Rica zurück.

Erst 1988 gelang  ein Neuanfang. Große Verdienste hat sich dabei der Pfarrer der deutsch-lutherischen Gemeinde in San Jose, Ulrich Epperlein erworben, der mit einigen Studierenden und ehemaligen Gemeindegliedern die Kirchengemeinde neu organisierte und Gottesdienste feierte. Sie nahmen Kontakt zu Bischof Gomez in El Salvador auf und baten ihn um Unterstützung. Schon im gleichen Jahr wurde die Lutherische Kirche in Costa Rica (ILCO) gegründet, die dann auch der Gemeinschaft Lutherischer Kirchen in Zentralamerika (CILCA) beitrat. Gomez ordinierte zwei Frauen und einen Mann in den Pfarrdienst, aber nur Melvin Jimenez, der sein Theologiestudium in den USA beendete, blieb und wurde alsbald zum Kirchenpräsidenten gewählt. Unter seiner Leitung engagiert sich die Kirche besonders für die Rechte der indigenen Bevölkerung Costa Ricas, für die im Lande lebenden Einwanderer aus Nicaragua, für landlose Campesinos, Plantagenarbeiter und Menschen, die in der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden (z.B. Homosexuelle, Drogenabhängige, Aids-Kranke, Straßenkinder) und – weil viele von denen in ausbeuterischen Verhältnissen leben – Hausangestellte (die oft aus Nicaragua stammen). Inzwischen wurde Jeminez zum Bischof der ILCO geweiht.

Ich wollte wissen, wie heutzutage Kirche entsteht. Heute. Denn wie Kirche in der Vergangenheit entstand, wissen wir: durch offensive Missionstätigkeit. Das gilt für manche Kirchen heute auch noch, aber für die Lutheraner in Zentralamerika jedenfalls nicht. Wenn man die genannten historischen Daten generalisiert, kann man drei Gründe für ihr Entstehen nennen:

Die erste Antwortet lautet: dadurch, dass – oft wenige – Menschen sich in dem „Konstrukt von Wirklichkeit“, das sie übernommen haben, nicht mehr wohlfühlen und darum offen sind für Anregungen von außen. Die zweite Antwortet lautet: dass Frauen und Männer die Initiative ergreifen und Kontakte zu solchen Menschen, Organisationen und Institutionen herstellen, von denen sie sich bei ihrer Suche nach einer Neuorientierung Hilfe erwarten. Und zum Dritten: Dass jemand da ist, der die Hoffnung dieser Menschen aufgreift, ihr eine Form gibt, sie zur Sprache bringt, Ideen hat – kurz: jemand, der sich von einer „Vision“ leiten lässt und andere damit „ansteckt“.

3.2. Wie wächst eine Kirche? Noch ist die lutherische Kirche in Costa Rica zahlenmäßig klein – und eine lutherische „Identität“ ist noch eher Programm als Realität. Aber was zieht Frauen und Männer ausgerechnet zu den Lutheranern?

Wichtig ist ihnen offenbar, dass die lutherische Kirche einen ganzheitlichen Ansatz hat. Die Frage, wie sie als Christ leben können, ist ebenso wichtig wie die Frage, was sie als Christ tun können. In meinen Gesprächen mit Gemeindegliedern ist mir aufgefallen, dass sie die Gottesfrage stark mit der sozialen Frage verknüpfen. Darin unterscheiden sie sich sowohl von der römisch-katholischen als auch von vielen pfingstlichen Kirchen. Freilich hat die römisch-katholische Kirche auch ein „soziales Gewissen“ und es gibt durchaus Gemeinden und einzelne Personen, die sich für die sozialen Belange ihrer Mitbürger einsetzen. Sie haben z.B. „Armenküchen“ eingerichtet, in denen Bedürftige einmal am Tag eine Mahlzeit erhalten können; die „Armenfürsorge“ ist in vielen Gemeinden kein Fremdwort. Die lutherischen Christen, mit denen ich sprechen konnte, sehen das wohl – fragen dann aber nach den Ursachen der Armut, nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die sie hervorrufen, und nach der persönlichen Verantwortung, die jeder Einzelne übernehmen sollte, wenn er „das Evangelium für die Armen“ hört. Die persönliche Verantwortung, das persönliche Engagement spielt eine große Rolle bei den Lutheranern. Darin unterscheiden sie sich auch von vielen Pfingstkirchen, in denen alles Übel den Dämonen in die Schuhe geschoben wird, die den Menschen unter ihre Gewalt bringen. Zwar bringen die Pfingstler viel Geld ins Land, unterhalten Schulen, Krankenhäuser und Sozialstationen; vor allem aus den Vereinigten Staaten erhalten sie eine finanzielle Unterstützung, die weit über dem liegt, was die lutherischen Kirchen von ihren Partnerkirchen erwarten können. Der Unterschied zwischen beiden liegt meiner Beobachtung nach darin, dass Lutheraner das Geld, das sie bekommen, nicht dafür einsetzen, um damit mehr Menschen auf ihre Seite zu ziehen bzw. den Mitgliedern der eigenen Gemeinde zu helfen, sondern sich bewusst denen zuwenden, die am Rande der Gesellschaft stehen, um die sich sonst kaum jemand kümmert. Die ILCO arbeitet daher mit Indiginas, mit landlosen Bauern (Landinos), Migranten, Frauen (die oft alleinerziehende Mütter sind), Mädchen und Jungen, Jugendlichen (oft aus den Slums), Homosexuellen, Transsexuellen und Transvestiten (die, wie in allen lateinamerikanischen Ländern auch in Costa Rica keine Möglichkeit haben, offen über ihre Probleme zu sprechen und auf sie hinzuweisen). Für ihr Engagement ist die konfessionelle oder religiöse Zugehörigkeit dessen, dem sie sich zuwenden bzw. mit dem sie arbeiten, nicht ausschlaggebend. Der Mensch, dem sich Gott selbst durch seine Botschaft zuwendet, steht im Mittelpunkt.

In einem Flyer, in dem sie die ILCO selbst vorstellt, heißt es: „Jesus kam, um eine Gesellschaft der Liebe und Gerechtigkeit anzukündigen, die er ‚Reich Gottes‘ nannte. Als Nachfolger Jesu wollen wir dieses Reich Gottes verkündigen und mit anderen Christen und Christinnen gegenwärtig werden lassen – mit Katholiken und Evangelikalen und mit allen Menschen, die die Gerechtigkeit und die Liebe suchen. Das tun wir in der Familie, in der Gemeinde, in der Kirche, in der Gesellschaft. Unsere Kirche unterstützt die persönliche Verpflichtung ihrer Mitglieder, sich in diesem Projekt der Liebe und der Gerechtigkeit Jesu zu engagieren, um ein Zeichen, ein Signal dieser (neuen) Gemeinschaft zu sein.“ (Übersetzung: K.B.)

Darum betont man in der ILCO auch die „Priesterschaft aller Gläubigen“. In dem Flyer heißt es: „Die Bibel sagt, dass alle Glaubenden am priesterlichen Amt Christi teilhaben. Für Christus, in ihm und mit ihm sind wir alle berufen, die frohe Botschaft ‚den Armen, den Blinden, den Kranken, den Unterdrückten‘ zu verkündigen.“ Die, die in der Kirche Ämter innehaben, haben die Aufgaben, die Gemeindeglieder dazu zu befähigen.

Wenn die lutherische Kirche das Priestertum aller Gläubigen so deutlich hervorhebt, so muss man sich den Kontext  vergegenwärtigen, in dem sie das tut. In Costa Rica ist die römisch-katholische Kirche „Staatskirche“. Der Staat ist gehalten, sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu unterstützen und natürlich ist sie hierarchisch gegliedert – das Amt, das sich vom Petrusamt herleitet, steht im Mittelpunkt. Auch in den Pfingstkirchen hat der Pastor eine hervorgehobene Stellung als autoritativ mit der Verkündigung betrauter Amtsträger. Dort wird  er oft in Analogie zu einem Familien- oder Clanoberhaupt als „der Chief“ angesehen. Die lutherische Kirche dagegen versteht sich weniger als die römisch-katholische Kirche als eine Institution. Aber auch nicht als eine von einem Pfarrer oder Evangelisten geleitete autonome Gemeinde ohne das Gemeindeleben organisierende Strukturen, die einen „Personenkult“ und damit das häufig zu beobachtende Auseinanderbrechen einer Gemeinde nach dem Weggang eines Predigers verhindern.

Sie nimmt eine Zwischenstellung ein. Auf der Leitungsebene gibt es Tendenzen, den institutionellen Charakter der ILCO stärker zu betonen als bisher, und auch der organisatorische Aspekt wird nicht vernachlässigt, was sich allein schon daran zeigt, dass man sich zu einer Kirche zusammengeschlossen hat. Die deutlichere Betonung der Kirche als Institution ist ja nicht falsch, wenn man im Gegenüber zur katholischen Kirche z.B. das Bischofsamt, das die Lutheraner in Costa Rica erst seit kurzem eingeführt haben, betont. Man wird in diesem Kontext dadurch eher als eine der apostolischen Kirchen[19] angesehen und setzt sich damit von den in Lateinamerika oft als Sekten bezeichneten neuen Pfingstgemeinden ab. Doch die basisgemeindliche Arbeitsweisen in der Kirche und ihre Stellung in der Gesellschaft wird sie davor bewahren, eine Institution sein zu wollen. Und darum ist es auch für die leitenden Kräfte wichtiger, die Kirche als eine Bewegung zu verstehen, die in die Bewegung Gottes hin zum Menschen und zur Welt hineingenommen ist. Eine Bewegung lebt von den in ihr engagierten Menschen, die organisatorischen und „amtlichen“ Strukturen haben bestenfalls eine Hilfsfunktion, um die Bewegung lebendig zu erhalten. Eine „Amtskirche“ ist die lutherische Kirche in Costa Rica jedenfalls nicht. Und hierin unterscheidet sie sich fundamental von der römisch-katholischen Kirche in Costa Rica. Die lutherische Kirche lebt von Leuten, die sich in Bewegung versetzen lassen, die auch bestimmte Funktionen übernehmen, weil sie dafür geeignet sind (Charismen); sie braucht auch als Bewegung organisatorische Strukturen, die sie auf Dauer stellen, aber sie lebt nicht vom „Amt“, das „von außen“ eingesetzt wird.

An dieser Stelle muss ich nun die drei genannten Gründe für das Entstehen von Gemeinde um einen weiteren ergänzen: Gemeinde entsteht nicht dadurch, dass Einzelne ihr Seelenheil suchen – da werden Menschen eher zu Eremiten, Einsiedlern, zu „heiligen Frauen und Männern“, die sich wohl auch zu Communitäten zusammenschließen, um (z.B. in Klostergemeinschaften) „für das Volk“ etwas tun zu können. Aber eine Gemeinde ist da, wo Menschen sich in die Bewegung Gottes hin zum ganzen Menschen hineinnehmen lassen. Die lutherische Kirche in Costa Rica (wie in anderen zentralamerikanischen Ländern) definiert sich darum ja auch als Bewegung, nicht als Institution. Das Sakrament der Eucharistie, in der römisch-katholischen Kirche Zentrum und Mysterium, ist hier „Element einer Bewegung“ und also auch von zentraler Bedeutung, aber kein „Mysterium“, sondern „Speise auf dem Weg“. So ist es nur konsequent, dass der Begriff „Gemeinde“ im Verständnis von „Parochie“, der bei uns eine so große Rolle spielt, in der ILCO nicht gebräuchlich ist. Dort ist von Communidades de fé (also Glaubensgemeinschaften) die Rede. Dadurch wird der Charakter der Bewegung eher gewahrt als durch den von der Parochial-Vorstellung hergenommenen Gemeindebegriff. Die Gemeinde als Communidade de fé hat eher die Struktur einer „Basisgemeinde“.

3.3 Wie „funktioniert“ die Kirche? Jede Gemeinde ist angehalten, sich selbst zu erhalten. Das gilt für alle Kirchen in Costa Rica in gleicher Weise. Zwar bekommt die römisch-katholische Kirche vor allem zum Unterhalt ihrer Gebäude finanzielle Unterstützung vom Staat, aber die einzelnen Gemeinden müssen sich selbst tragen und z.B. auch die Gehälter der Pfarrer aufbringen. Man kann sich denken, dass es da zwischen den einzelnen Gemeinden riesige Unterschiede gibt je nachdem, in welchem Stadtteil oder Dorf sie bestehen, und deswegen sorgen die Bischöfe auch dafür, dass die Pfarrer in einer Art Rotationsverfahren alle paar Jahre die Gemeinde wechseln. Auch in der ILCO gibt es für die einzelnen Gemeinden keine gesicherten Zuwendungen vom Zentrum her. Einfach, weil da nicht viel zu verteilen ist. Die ILCO ist ja eher ein lockerer Zusammenschluss als eine gegliederte Kirche mit festen institutionell geregelten „Ämtern“ und Strukturen. Man gehört auch nicht zu einer Art „Kirchengemeinde“ (Parochie), sondern hält sich zu ihr, weil man sich an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Kreis engagiert. Man fühlt sich also auch nicht als Gemeindeglied einer „Ortsgemeinde“, sondern als Mitglied eines Kreises von Gleichgesinnten, und wenn man den verlässt, ist man eben nicht mehr dabei. „Karteileichen“ gibt es nicht. Man nimmt teil oder man nimmt nicht (mehr) teil.

Ich habe gefragt, ob die ILCO sich selbst tragen könnte – also ob sie in der Lage wäre, die Finanzmittel, die sie für ihre Arbeit braucht, selbst aufzubringen. Die Antwort ist ernüchternd: Ohne Hilfe von außen würden die Gemeinden zum gegenwärtigen Zeitpunkt finanziell nicht über die Runden kommen. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Gemeinden mehr gäbe. Die Existenz der ILCO hängt nicht am Geld allein – sondern vor allem an den Menschen, die sich in ihr engagieren. Aber Geld ist nun einmal nötig. Und so gibt es durchaus Ansätze, sich auch um die finanzielle Seite der Gemeindearbeit zu kümmern. Auch Ansätze für Solidarität unter den Gemeinden. So musste z.B. aus finanziellen Gründen die Gemeindearbeit in zwei Gemeinden aus Indiginas eingestellt werden, weil man die hauptamtlichen Mitarbeiter/innen nicht mehr bezahlen konnte. Zwei Gemeinden aus dem Gebiet um San José fahren nun zweimal im Jahr auf eigene Kosten in diese Gemeinden, um sie zu besuchen, mit ihnen die Bibel zu lesen, die Menschen in ihrem Bestreben, die Gemeinde zu erhalten, zu unterstützen. Das ist ein Anfang. In der ILCO weiß man, dass zur Selbständigkeit der Kirche auch gehört, finanziell unabhängiger von außen zu werden. Aber auf  längere Sicht wird sie auf die solidarische Finanzhilfe ihrer reichen Schwesterkirchen in den USA und Europa und ihre personelle Unterstützung angewiesen bleiben[20].

3.4 Wer hält sich zur Kirche? In Guatemala habe ich gesehen, dass neben Angehörigen der Mitte- und Oberschicht in den Städten  vor allem Menschen aus den „armen Schichten“ zu den „neuen Kirchen“ stoßen. Ladinos in den Slums der großen Städte, Indíginas in den ländlichen Gebieten und verarmte Campesinos, die ihr Land verlassen mussten, weil es keinen Ertrag mehr bringt oder weil sie von Paramilitärs im Auftrag von Großgrundbesitzern vertrieben wurden, die das Land (oft gegen alle gesetzlichen Bestimmungen) vom Staat „gekauft“ haben. Oftmals sind sie deutlich in unterschiedlichen Gemeinden verteilt. Ähnlich „schichtenkonform“ ist die Verteilung der „Protestanten“ in Costa Rica. Anders in der ILCO.

Bei ihnen habe ich in ein und derselben Gemeinde Menschen aus allen Schichten angetroffen. Sie stammen aus akademischen Kreisen, manche von ihnen sind in der Wirtschaft tätig, andere in der Lehre oder sie arbeiten im sozialen Bereich. Sie gehörten also zur klassischen, in Costa Rica ziemlich breiten  Mittelschicht. Viele, die sich zur Gemeinde halten, gehören allerdings zur in Costa Rica zur Zeit anwachsende Schar der Armen. Mir ist aufgefallen, dass sie ihr Schicksal nicht einfach hinnehmen, sondern versuchen, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, ihr Los zu verbessern. Oft sind es auch hier Einzelne, die im Sinne der Bewegung Gottes sich bewegen lassen. In einem Barrio (Stadtteil) von San José, in San Sebastian, leitet eine 53jährige Frau, die keinen Schulabschluss hat (ihn aber jetzt nachholt) die gesamte Frauenarbeit der Gemeinde; ähnlich wird der Besuchsdienst organisiert oder die Gruppe, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt. Die, die sich für die Rechtslage der oft aus Nicaragua stammenden Hausangestellten kümmert, habe ich schon erwähnt (Asociación de Trabajadoras Domésticas). Auch in der Jugendarbeit werden jugendliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschult, es gibt Männergruppen, die meist von Laien geleitet werden. Die in den Gemeinden stattfindende Bibelarbeit richtet sich an den Fragestellungen der Teilnehmenden aus – auch hier spielen Laien eine große Rolle. Die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen ihnen, im Sinne des „Priestertums aller Gläubigen“ Verantwortung zu übernehmen – durch Bibelkurse (die an der konkreten Situation orientiert im Sinne der Methode der Theologie der Befreiung durchgeführt werden), durch Kurse, in denen lutherisches Gedankengut erklärt und nahe gebracht wird, durch Schulung von Gruppen.

3.5 Welche „Gemeindeformen“ gibt es? Man unterscheidet in der ILCO (je nach Umfang der Arbeit, die getan wird) Communidades de fé (hier findet sich die ganze Palette der kirchlichen Arbeit, also Gottesdienste, Jugendarbeit, Kindergottesdienst, Frauenarbeit, Arbeit mit verschiedenen Zielgruppen usw.) von Puntos de mision (Orte, die nicht regelmäßig besucht werden können, in der auch nicht die genannte breit gefächerte Arbeit geleistet werden kann) und Puntos de servicio (dort wird z.B. Rechtsbeistand geleistet, soziale Hilfestellung geboten usw.). Dabei sind die Grenzen fließend. Manchmal sind die Puntos de servicio auch Orte gottesdienstlichen Lebens. Wie z.B. in Talamaca, wo ein aus der baptistischen Kirche stammender Pfarrer Sozialarbeit im Auftrag der ILCO macht, aber natürlich auch seelsorgerlich tätig ist – obwohl er nicht Pfarrer der ILCO ist.

Der Charakter einer Kirche in Bewegung drückt sich auch darin aus, dass die ILCO kein einziges Kirchengebäude hat, also keinen Sakralbau. Die – wenigen – Gemeindehäuser, über die sie verfügt, nennt sie Salones multiusos oder Casas communarias. Diese Häuser dienen als Treffpunkte – auch für die gottesdienstliche Versammlung. Aber sie sind gelegentlich auch der Ort, an dem sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) treffen, weil das kirchliche Haus auf dem Land oft das einzige ist, in dem man überhaupt zusammenkommen kann. Zwar gibt es überall zahlreiche kleine Kirchen und Gemeindehäuser der anderen „neuen Kirchen“, aber die stehen nur den eigenen Mitgliedern zur Verfügung.

3.6 Die ILCO definiert sich als apostolische und historische Kirche. Apostolisch deshalb, weil sie sich, indem sie sich auf die Bibel bezieht, in die Tradition der Apostel stellt, historisch, weil sie sich auf die durch das Wirken Jesu initiierte Geschichte stellt. Als solche versteht sie sich auch als „katholisch“, das sie näherhin als „universal“ definiert: Sie ist katholisch in dem Sinne, dass sie in alle Teile der Welt gelangt und für alle Menschen offen ist. „Unsere Kirche ist katholisch, weil sie den von den Aposteln überlieferten Glauben mit all jenen Personen teilt, die zu allen Zeiten und an allen Orten für das Projekt Jesu arbeiten.“

Dieses Selbstverständnis (und diesen Anspruch) bringt die ILCO in das ökumenische Gespräch ein. Allerdings – mit der römisch-katholischen Kirche in Costa Rica sind die ökumenischen Beziehungen sehr, sehr locker. Die römisch-katholische Kirche in Costa Rica ist sehr konservativ, ihr Selbstverständnis ist immer noch stark vom vorkonziliaren Ausschließlichkeitsgedanken geprägt. Das macht es ihr fast unmöglich, mit anderen Kirchen „spirituell“ Kontakt zu pflegen. Aber da im Land verfassungsmäßig Religionsfreiheit garantiert ist, wird sie ihre Haltung nolens volens ändern müssen. Seit 1999 (Augsburg) gibt es zwischen der römisch-katholischen und den lutherischen Kirchen die „Vereinbarung zur Rechtfertigungslehre“, in der diese einst die evangelischen und katholischen Kirchen trennende Lehre als nicht mehr kirchentrennend verstanden wird. Die ILCO will mit anderen evangelischen Kirchen zusammen das zehnjährige Jubiläum dieser Vereinbarung festlich begehen und hat dazu die römisch-katholische Kirche eingeladen. Sie hat bisher (Stand Oktober 2009) noch nicht reagiert. Ich bin gespannt, ob und wie sie der Einladung folgt. Ihr Selbstverständnis, die „einzig wahre Kirche“ zu sein, findet neue Nahrung aus der auch in der römisch-katholischen Theologie umstrittenen Erklärung der Glaubenskongregation „Dominus Iesus“ (6. August 2000), in der der Anspruch der römisch-katholischen Kirche, die „wahre Kirche“ zu sein, erneuert wird. Das wird der konservativen römisch-katholischen Kirche in Costa Rica eine Öffnung zu den Lutheranern wohl eher erschweren. Kurzum, das Verhältnis der Lutheraner und Katholiken in Costa Rica ist weder gespannt noch lebendig – es ist noch gar nicht recht zustande gekommen. Von beiden Seiten her muss noch viel getan werden, damit der „ökumenische Geist“ zwischen ihnen lebendig wird.

Der Kontakt zu anderen protestantischen Kirchen dagegen ist gut.[21] Die ILCO ist Mitglied des CLAI (Consejo latiano americano de iglesias), in dem sich neun protestantische Kirchen in Costa Rica zusammengeschlossen haben. Dazu gehören z.B. die Brüdergemeinde (die hier Moranos heißen), die ILCO, die ILCA (eine Abspaltung der ILCO) und die deutsche Auslandsgemeinde in San José, einige baptistische Gemeinden, eine progressive Pfingstgemeinde aus Cartago (einer alten Bischofsstadt 50 km südwestlich von San José) und die Universidade Biblica (UBL). Jedes Jahr zum Reformationsfest gibt es einen gemeinsamen Gottesdienst und jeden Monat ein gemeinsames Treffen. Der Umgang ist offen und brüderlich/schwesterlich, geprägt von gegenseitigem Respekt und getragen vom Bewusstsein, „Kinder der Reformation“ zu sein.

3.7 Trotz des lutherischen Erbes, das die ILCO prägt (der Mensch ist eine Ganzheit; die Kirche spricht den ganzen Menschen an; das „Solus Christus, Sola gratia, Sola scriptura und Sola fide“; die Kirche als ein „Zeichen des kommenden Reiches Gottes“) sind über die handelnden Personen Einflüsse aus anderen Traditionen mit Händen zu greifen. Das liegt daran, dass einige Pastoren früher katholische Priester waren bzw. katholische Theologie studiert haben, bevor sie konvertierten – oft aus dem Gefühl heraus, dass die römisch-katholische Kirche am Leben der Leute nicht wirklich interessiert sei (was sicherlich nicht pauschal behauptet werden darf). Wie auch immer, sie litten am Mangel an Flexibilität und an der mangelnden Bereitschaft, sich den sozialen Problemen der Leute zu stellen. Darum stießen sie zur lutherischen Kirche – aber sie nahmen Elemente ihrer ehemaligen Kirche mit. Außerdem sind die meisten, die sich jetzt zur ILCO halten, katholisch gewesen – und teilweise sind sie es noch. So wird z.B. in einigen Gemeinde die Erstkommunion gefeiert und die Firmung (statt der Konfirmation). Wenn eine ehemalige katholische Nonne evangelisch wird, bringt sie natürlich ihre Tradition mit – und das ist ja auch nicht schlimm, wenn es gelingt, sie in den „evangelischen Kontext“ einzuzeichnen. Ebenso gibt es Einflüsse aus anderen Kirchen, z.B. aus der baptistischen oder pfingstlichen Tradition. Man hat in der ILCO erkannt, dass die Arbeit an einer „lutherischen Identität“ vorangetrieben werden muss, sonst besteht die Gefahr, dass sie wegen ihres sozialen Engagements lediglich als eine Spielart der zahlreichen im Lande vertretenen sozialen NGOs angesehen wird. Die theologische Bildungsarbeit ist sehr wichtig, und da auch die meisten Gemeindeglieder aus einem anderen kirchlichen Umfeld kommen, gewinnt die theologische und pädagogische Einführung in das Luthertum an Bedeutung. Im Mittelpunkt der Arbeit, die meine Gesprächspartnerin, Renate Gierus hier leisten soll, steht dann auch die Ausarbeitung eines kleinen Lehrbuches, das anhand von Luthers Kleinem Katechismus die wesentlichen „Lehrstücke“ der lutherischen Theologie darstellen soll. Natürlich reicht es nicht aus, irgendeine lutherische Theologie zu übernehmen. Die muss aus der Situation hier in Costa Rica entstehen. Die Erfahrungen der Kirche vor Ort müssen den Hintergrund der theologischen Reflexion bilden.


Anmerkungen

[1]
In Ländern ohne das Recht auf freie Wahl der Religion habe ich sie freilich nirgends gesehen, wenn man auch davon ausgehen kann, dass sie auch dort anzutreffen sind. Manchmal hört und liest man, dass ein Missionar oder eine Missionarin – und das ist jeder Pfingstler, egal welchen Beruf er ausübt – wegen seiner Tätigkeit umgebracht wurde.

[2]
Zur Geschichte des Protestantismus in Zentralamerika verweise ich auf H.J. Prien: Der Protestantismus in Lateinamerika.

[3]
Ausnahmen sind die römisch-katholische Kirchen in Costa Rica und Bolivien, wo sie gemäß der Verfassung ihrer Länder den Status von Staatskirchen haben, die finanziell vom Staat unterstützt werden und besondere Privilegien genießen.

[4]
In Lateinamerika wird häufig jede nicht römisch-katholische Kirche als „protestantisch“ bezeichnet. Dazu rechnen dann zum Beispiel auch religiöse Gruppierungen, deren Herkunft aus dem klassischen Protestantismus europäischer oder nordamerikanischer Provenienz mehr als zweifelhaft ist. Selbst der Begriff „Religion“ ist z.B. in Costa Rica der römisch-katholischen Kirche vorbehalten; „Religion“ ist die römische Kirche, alles andere seien „Kulte“; hier klingt noch das vorkonziliare Verständnis von „religio vera et religio falsa“ nach: die wahre Religion ist die römisch-katholische, die „falsche“ alle anderen „Religionsformen“. Auf die Problematik des Begriffs gehe ich hier mal lieber nicht ein – denn eigentlich kann man ja von „falscher Religion“ nicht sprechen, wenn man seine Kirche als die „wahre Religion“ bezeichnet. Dann gibt es eben nur eine – und es ist daher nur konsequent, wenn man in Costa Rica andere „Religionen“ als „Kulte“ bezeichnet. Da stehen dann die Evangelisch-Lutherische Kirche in Costa Rica neben dem Voodoo-Kult an der Karibikküste, und jede nicht römisch-katholische Kirche ist eben ein „protestantischer Kultus“ .

[5]
Der Ausdruck mainline-churches stammt von nordamerikanischen Religionssoziologen, die die Vorortmilieus von Philadelphia als kennzeichnend für das sich von den neuen christlichen Kirchen abhebende traditionelle religiöse Establishment in den USA betrachteten; diese Vororte wurden durch die so genannte „main line“ der Pennsylvania Railroad miteinander verbunden. Zu diesen mainline-churches gehören die Episcopal Church, wie die anglikanische Kirche in den USA genannt wird, außerdem die Presbyterianer, Lutheraner (aus der konservativen Missouri-Synode), Methodisten und die United Church of Christ und die American Baptist Churches, also, kurz gesagt, jenen protestantischen Kirchen, die in den USA im National Council of Churches organisiert sind.

[6]
K. Baumgart: Heiliger Geist und politische Herrschaft bei den Neopfingstlern in Honduras. Frankfurt/ M. 1995, S. 59.

[7]
Das Zungenreden ist eine natürliche Gabe, die in allen Kulturen vorkommt. Wie man sie beurteilt, hängt von den kulturellen Einflüssen ab, denen man ausgesetzt ist. Bei uns Evangelischen wird sie meist als „grenzwertig“ abgetan – frei nach Paulus, der meinte, er wolle lieber ein vernünftiges Wort sprechen als tausend „in Zungen“. Freilich kannte Paulus das Phänomen gut und hat es auch nicht grundsätzlich verworfen und nur dann abgelehnt, wenn es – wie in Korinth und anderswo zu seiner Zeit – als besonderer Ausweis für die Echtheit des Glaubens in den Mittelpunkt gerückt wurde. Alle Gaben des Geistes – und Paulus nennt viele – können dazu missbraucht werden, sich selbst als etwas Besonderes darzustellen, auch das Zungenreden (1. Kor 12-14). Übrigens: die Lehre, dass nur der die Geisttaufe empfangen habe, der in Zungen redet, ist weder (wie oft behauptet wird) in der frühen Pfingstbewegung zentral gestellt worden, noch bei allen neopfingstlichen Charismatikern der Gegenwart. Nur die Assembléia de Deus (Assembly of God) hat das m.W. zum Dogma erhoben.

[8]
Es geht hier um die in den Pfingstkirchen erwartete Endzeit. Die Fragen rund um die Endzeit drehen sich vor allem um das tausendjährige Friedensreich, dass Gott auf der Erde einst errichten wird. Die Endzeitbewegung wird daher auch Milleniarismus oder auch Chiliasmus genannt. Der Milleniarismus wird grob unterteilt in den Postmilleniarismus, welcher die Wiederkunft Christi nach diesem tausendjährigen Friedensreich ansetzt, und den Prämilleniarismus, in welchem Christus auf die Erde wiederkehrt und unter seiner Regierung das Millenium beginnt. Die Neopfingstler sind Prämilleniaristen.

[9]
Man darf die Neopfingstler trotz mancher Ähnlichkeiten nicht mit der sog. charismatischen Bewegung verwechseln. „Charismatiker“ gibt es inzwischen auch in allen mainline-churches, gelegentlich spalten sie sich von ihnen ab und bilden eigene freie Gemeinden. Ein Beispiel dafür ist die Bewegung um den lutherischen Pastor Kopfermann in der St. Petri Gemeinde in Hamburg, der mit einer Gruppe von Anhängern 1988 die Nordelbische Kirche verließ und eine Sondergemeinde (Anskar-Kirche Deutschland) gründete. Die charismatischen Bewegung ist eine geistige Bewegung, welche die besonderen Begabungen hervorhebt, die Gott einem Menschen verleiht: Diese Fähigkeiten sind die so genannten Gnadengaben, oder Geistesgaben (von griech. charis = Gnade). Freilich gibt es eine besondere Affinität zwischen den Neopfingstlern und den Charismatikern, und über diese Schiene dann auch gewissen Einflüsse der Pfingstkirchen auf die Frömmigkeit charismatischer Christen in anderen (mainline) Kirchen.

[10]
Als manichäistisch bezeichnet man eine auf ihren antiken Gründer Mani zurückzuführende Weltsicht, in der sich das göttliche Lichtreich und das Reich der Finsternis als Gegner gegenüberstehen.

[11]
Ganz anders als bei den volksreligiösen „Mischreligionen“ afro-brasilianischen Ursprungs, der Umbanda und Candomblé, wo meist Frauen (mae de santo) priesterliche und prophetische Funktionen übernehmen.

[12]
Das kann man jeden Tag mehrere Male, wenn man mag, ich habe mindesten vier pfingstlerische Fernsehprogramme aufrufen können, man kann auch Versammlungen besuchen, auf denen jeden Wochentag zu bestimmten allgemein bewegenden Themen gesprochen wird, und auf zentralen Plätzen in den größeren Städten kann man Erweckungspredigern zuhören, um die sich immer eine Schar von Neugierigen versammelt.

[13]
Vgl. dazu Erich Geldbach: Protestantischer Konservatismus als Wachstumsphänomen?, in: ZThG 13 (2008) S. 80 ff.

[14]
Unter einer Institution sei hier und im folgenden eine mit Handlungsrechten, Handlungspflichten oder normativer Geltung belegte soziale Wirklichkeit verstanden, durch die Gruppen und Gemeinschaften nach innen und nach außen hin verbindlich (geltend) wirken oder handeln. Unter einer Organisation verstehe ich die Gesamtheit von Personen und Mittel, mit genau definierten Verantwortlichkeiten, Entscheidungsbefugnissen und Beziehungen. Unter einer Bewegung sei hier ein Zusammenschluss von Personen und Gruppierungen zur Durchsetzung bestimmter Vorstellungen, Vorhaben und Aufgaben verstanden

[15]
Hier ist alles viel krasser, die Veränderungen in der religiösen Landschaft liegen offener zu Tage. Und ich bin dort mehr rumgekommen, habe mehr gesehen, gehört und gelesen. In Costa Rica bewegte ich mich vorwiegend im Valle Central und die Hauptstadt San José herum, und die Lutheraner standen im Mittelpunkt meines Interesses.

[16]
Indíginas
ist die politisch korrekte Bezeichnung für die Indianer in Süd- und Zentralamerika, sie Indios zu nennen kommt einer Beleidigung gleich; Indianer ist die Sammelbezeichnung für alle Ureinwohner Amerikas.

[17]
Sie entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus deutschen Auswanderergemeinden unter dem Einfluss deutscher Pfarrer (vor allem aus Bayern), die unter dem Einfluss der Theologie Wilhelm Löhes (Neuendettelsau/ Bayern) standen.

[18]
Auskunft über die Lutherische Kirche in Guatemala, über die Lutheraner in Panama.

 [19]
Also als eine Kirche, die sich wie die römisch-katholische auf die „Apostel und Propheten“  beruft.

[20]
Im Rahmen eines „Dreiervertrages“ befinden sich brasilianische Pfarrer mit ihren Familien in El Salvador, Costa Rica und Honduras. Sie arbeiten in Gemeinden, sind aber auch in der Aus- und Weiterbildung tätig. Der „Dreiervertrag“ ist die Kurzform für die „Vereinbarung über Austausch und gegenseitige Zusammenarbeit zwischen der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB), der Gemeinschaft Lutherischer Kirchen in Zentralamerika (CILCA) und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB)“.

[21]
Soweit mir bekannt besteht aber bis heute keine organisatorische Verbindung mit den in Zentralamerika tätigen Lutheranern, die sich zur Missouri-Synode halten.


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