Dez 082011
 

Presseschau Mai 2010 bis Januar 2011

Die Presseschau befasst sich schwerpunktmässig mit der Gewalt gegen Christen

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 Glaube, Liebe, Hoffnung vom 15.01.2011

Im Jahr 2010 gab es in Indien 149 antichristliche Übergriffe: dies geht aus dem Bericht der „Evangelical Fellowship of India“ hervor, in der sich verschiedene protestantische Konfessionen zusammenschließen. Der Bericht, der dem Fidesdienst vorliegt, erinnert an die Gewalt extremistischer hinduistischer Gruppen in 18 Staaten der Indischen Föderation mit besonderer Häufigkeit in den Staaten Karnataka, Andra Pradesh (Südindien) Madhya Pradesh und Chattisgarh (Mittelindien). In den vergangenen Jahren war es zu besonders schweren Vorfällen im Staat Orissa gekommen. Die Aufmerksamkeit der internationalen Presse für Orissa und das daraus folgende Engagement der lokalen Behörden führten dazu, dass es dort kaum mehr zu Gewalt kommt. In anderen Regionen hingegen können extremistische hinduistische Gruppen – die zu den Hauptakteuren der Gewalt gehören – weiterhin ungestört agieren, da dort allgemeine Gleichgültigkeit und Straflosigkeit herrscht, oft auch weil die dort regierende nationalistische hinduistische Baratiya Janata Party extremistische Gruppen legitimiert und schützt.

Wie aus dem Dokument hervorgeht, betreffen die Übergriffe sowohl Personen als auch Einrichtungen und Institutionen oder ganze Gemeinden, die sich zu liturgischen Feiern versammeln.

Denunziert wird vor allem auch sexuelle Gewalt gegen christliche Frauen insbesondere im Staat Karnataka mit dem Ziel der Einschüchterung oder der Zwangsbekehrung zum Hinduismus.

Als Hauptursache nennen die Autoren die Straffreiheit der Täter. Außerdem weist der Bericht auf das Phänomen der antichristlichen Propaganda in den Medien auf, die religiösen Hass schürt und Gewalt begünstigt.

In diesem Zusammenhang appellieren die christlichen Konfessionen an die Regierungsvertreter und die Polizei mit der Bitte um mehr Schutz, um die Garantie der Religionsfreiheit und der unveräußerlichen Rechte aller Bürger unabhängig von deren Religionszugehörigkeit.

Katholische Bischöfe besorgt über Gewalt gegen Christen   
AFP vom 04.01.2011

Die katholischen Bischöfe in Deutschland haben sich besorgt über die zunehmende Gewalt gegen Christen in aller Welt gezeigt. Christen und andere religiöse Minderheiten müssten in ihren Heimatländern in Sicherheit und Würde leben können, sagte der Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe, Prälat Karl Jüsten, der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“. Jeder Staat müsse die auf seinem Territorium lebenden Menschen ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit wirksam schützen und ihre Menschenrechte garantieren.

Jüsten appellierte in diesem Zusammenhang auch an die Bundesregierung, ihren Einfluss geltend zu machen, damit die von Verfolgung bedrohten religiösen Minderheiten in ihren Heimatländern bleiben könnten. Wenn es jedoch erneut zu einer Fluchtbewegung komme, habe auch Deutschland die Verpflichtung, schutzbedürftige Menschen aufzunehmen.
Der Leiter des Verbindungsbüros der katholischen Kirche zur Bundesregierung verwies zudem darauf, dass es eine Unterdrückung von Christen nicht nur in Ländern mit islamischer Mehrheit gebe. Deshalb habe die Bischofskonferenz zuletzt die Lage in Indien angeprangert, wo nationalistische Hindus aggressiv gegen Christen vorgingen. Für weltweites Entsetzen hatte in der Silvesternacht ein Anschlag auf koptische Christen in Ägypten gesorgt. Dabei wurden 21 Menschen getötet.

Gewalt gegen Christen nimmt weltweit zu
RP Online vom 03.01.2011
Von Godehard Uhlemann

Nach dem Anschlag auf eine koptische Kirche in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria mit 21 Toten hat Papst Benedikt XVI. in Rom die Regierungen in aller Welt aufgerufen, die Christen besser zu schützen. Neben den vielen Gläubigen, die wegen ihres Glaubens getötet wurden, starben im vergangenen Jahr weltweit 23 katholische Priester. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen in Deutschland, Schneider, sagte: „2011 darf kein Jahr der Christenverfolgung werden.“

In vielen Ländern der islamischen Welt werden Christen verfolgt. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf erinnerte gestern an die Terrorattacke Ende Oktober 2010, als in der syrisch-katholischen Kathedrale in der irakischen Hauptstadt Bagdad mehr als 50 Gläubige getötet wurden. Seit Jahren sind Christen im Irak Ziel von Übergriffen. Im Irak leben nach Schätzungen rund 200 000 bis 250 000 assyro-chaldäischen Christen (von einst rund 1,5 Millionen). Schutzgelder werden von ihnen erpresst, Kirchen zerstört oder Frauen und Mädchen entführt.

Mitte Dezember hatten Anhänger der militanten islamischen Gruppe al Shabaab in Somalia eine christliche Bibliothek zerstört. Das Gebäude wurde verwüstet, alle Bibeln und Bücher sowie die Mediathek wurden nach dem islamischen Mittagsgebet auf dem Hauptplatz des Ortes Luuq verbrannt. Die Christen in Somalia leben im Untergrund. Der Anführer von al Shabaab hatte erklärt, die Aktion sei ein Schlag gegen die fehlgeleiteten christlichen Somalis.

Auch in Indien waren Christen in der Vergangenheit im Bundesstaat Orissa Ziel von Extremisten. Tausende Christen waren in die Wälder geflüchtet, Häuser und Kirchen wurden niedergebrannt, mehr als 25 Menschen kamen um.

In Nigeria kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen dem muslimisch geprägten Norden und dem überwiegend christlichen Süden. Bei den Spannungen der Gruppen geht es auch um wirtschaftliche und politische Macht.

Liebe deine Feinde
Hamburger Abendblatt vom 03.01.2011
Von Christoph Rind

Die Gewalt gegen Christen ist ein globales Problem.

Es gibt diese kurzen besinnlichen Momente beim Jahreswechsel, die ein wenig Hoffnung in uns keimen lassen, dass es in der Welt vielleicht doch ein wenig friedvoller zugehen mag, als uns die vielen Nachrichten über sinnlose Gewalt weismachen wollen. Der Selbstmordbomber vor der christlichen Kirche im ägyptischen Alexandria hat diese Hoffnung zunichtegemacht, kaum dass dieses neue Jahr 2011 eine Chance auf einen unbeschwerten Start bekommen hätte.

Der Anschlag führt uns vor Augen, was viele gern verdrängen möchten: Es sind Christen, die weltweit die größte Gruppe stellen unter den Menschen, die wegen ihrer Religion bedroht sind. In Saudi-Arabien dürfen sie keine Gottesdienste feiern; in Indien und in Nigeria entlädt sich immer wieder gewalttätiger Hass gegen sie; in China droht ihnen Verfolgung außerhalb der kontrollierten Staatskirche. Viele traditionell-muslimische Länder bestrafen den Wechsel vom Islam zum Christentum mit dem Todesurteil. Gewalt gegen Christen ist ein globales Problem.

Selbst wenn die Regierungen in Ägypten und in anderen nicht christlichen Ländern die Neujahrs-Forderung des Papstes erst nehmen würden, das Leben der Christenminderheit in ihrem Land besser zu schützen, stünden sie vor einem unlösbaren Problem. Letztlich kann niemand fanatische Terroristen wirkungsvoll stoppen. Wer sich gleich selbst mit wegbombt, um Andersgläubige zu vernichten, wird sich nicht durch drastische Strafandrohungen davon abbringen lassen.

Der Schutz religiöser Minderheiten kann auch nicht allein zu einem Problem der Sicherheitsorgane erklärt werden. Nirgendwo lassen sich sämtliche Kirchen, Moscheen, Tempel oder Synagogen mit garantierter Sicherheit schützen. Und die im Zuge fanatischer Gewalt oft reflexhaft folgende Gegengewalt ist schon gar keine Lösung, sondern meist nur neuer Antrieb für eine sich verstärkende Gewaltspirale.

Es gibt am Ende nur einen Weg aus dem Terrorkrieg der Religionen. Auch die Christen mussten ihn in 2000 Jahren unter Schmerzen erst lernen: die Toleranz Andersgläubigen gegenüber. Das fällt schwer, wenn neue Opfer zu beklagen sind. Aber in allen Weltreligionen gibt es die Aufforderung, den Feind zu lieben. Das ist viel verlangt. Aber nur wer sich damit anfreundet, kann Rache und Gewalt eindämmen.

Lage der Christen weltweit
Frankfurter Rundschau vom 02.01.2011

Im Nahen Osten geraten Christen immer mehr ins Fadenkreuz von Terroristen. Wie ist das in anderen Weltgegenden? Die Frankfurter Rundschau liefert einen Überblick.

NAHOST

Im Irak sind kurz vor dem Jahreswechsel erneut zwei Christen getötet worden. Zudem seien bei Angriffen auf 15 von Christen bewohnte Häuser 14 Personen verletzt worden. Im vorigen Jahr hatte es in Irak immer wieder Anschläge und Gewalt gegen Christen gegeben. Beim schwersten Terrorangriff im Jahr 2010 waren am 31. Oktober in der syrisch-katholischen Kathedrale Bagdads 58 Menschen getötet worden.Derzeit leben nach Schätzungen noch 400000 Christen in Irak.

In Saudi-Arabien, wo der Islam als Staatsreligion gilt und sogar der Besitz einer Bibel verboten ist, finden Gottesdienste in der deutschen Botschaft statt.
Syrien, Jordanien und Libanon gelten als Musterländer. Trotzdem wandern auch hier viele Christen aus.Nach Angaben gibt es in Libanon noch 40 Prozent Christen, in Syrien dagegen sei die Zahl von 30 Prozent in den 70er Jahren auf heute sechs Prozent gefallen.

TÜRKEI

Die rund 120000 Christen bilden eine verschwindende Minderheit, denn 99,8 Prozent der 73 Millionen Türken sind Muslime. Größte Gruppe unter den Christen sind die 70.000 Armenier, gefolgt von den rund 30000 Katholiken. Daneben gibt es an die 10.000 syrisch-orthodoxe und etwa 3.000 griechisch-orthodoxe Christen. Die Zahl der Protestanten wird auf rund 3.000 geschätzt.

Praktisch rechtlos sind in der Türkei die christlichen Gemeinden. Sie können de facto keine Kirchen errichten, bekommen aber auch Schwierigkeiten, wenn sie sich in Privathäusern zum Gottesdienst versammeln. Der höhere öffentliche Dienst ist Christen ebenso verschlossen wie die Offizierslaufbahn. Viele christliche Geistliche leben in ständiger Angst, denn es bleibt nicht bei Diskriminierungen. Mehrere Morde an Christen machten in den vergangenen Jahren Schlagzeilen: 2006 wurde der katholische Priester Andrea Santoro beim Gebet in Trabzon erschossen – „Allah ist groß“, habe der 16-jährige Täter gerufen, berichteten Zeugen. 2007 wurden in Malatya drei christliche Missionare, unter ihnen ein Deutscher, stundenlang von Fanatikern grausam gefoltert, bevor ihnen die Täter die Kehlen durchschnitten. Im Juni 2010 wurde der Vorsitzende der türkischen Bischofskonferenz, Luigi Padovese, von seinem muslimischen Fahrer erstochen.

AFRIKA

Spannungen zwischen Muslimen und Christen herrschen in Afrika vom Osten in Kenia bis zum Westen in Senegal. Zahlreiche Länder wie Elfenbeinküste, Ghana, Nigeria, Sudan und Kenia wurden in ihrem Norden in Mohammeds Namen missioniert, im Süden sind sie christlich. Einige dieser Staaten von den Spannungen zwischen den beiden Religionen regelrecht zerrissen, wie Sudan, wo am 9. Januar ein Referendum über die Abspaltung des christlichen Südens vom muslimischen Norden stattfindet. Oder der Vielvölkerstaat Nigeria, wo es regelmäßig zu schweren Zusammenstößen der Gläubigen beider Religionen mit oft Tausenden von Toten kommt – erst an Weihnachten wurden wieder mindestens 86 Christen bei mehreren Bombenanschlägen in Zentralnigeria getötet. Im gegenwärtigen Konflikt in der Elfenbeinküste spielt die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung auch eine – wenn auch eher nebensächliche – Rolle.

Es gibt auch Staaten, in denen Christen und Muslime friedlich nebeneinander leben, obwohl sie von Muslimen und von Christen bevölkert sind, wie Sierra Leone oder Ghana. Der Vergleich zwischen diesen Staaten und den von Unruhen Geschüttelten zeigt, dass das Gemisch erst explosiv wird, wenn zu den religiösen Differenzen ethnische kommen. So sind in Nigeria so gut wie alle Hausa Muslime, während die Igbos Christen sind. In Sudan ist das noch offensichtlicher: Hier sind die Muslime Araber, unter denen sich vor hundert Jahren noch Sklavenjäger befanden, während die Christen zu unterschiedlichen afrikanischen Völkern gehören.

INDIEN UND PAKISTAN

Doppelt verfolgt werden die Christen oftmals in Indien und Pakistan: wegen ihrer Religion und wegen ihrer Kastenzugehörigkeit. Etwa 20 bis 30 Millionen Christen leben im hinduistischen Indien, weitere zwei bis drei Millionen im islamischen Pakistan. Die allermeisten Christen sind Dalits (Unberührbare) oder stammen aus den untersten Kasten. Sie konvertierten zum Christentum, weil ihnen die Kirchen verhießen, dass sie vor Jesu gleich sind. Doch diese Hoffnung hat sich meist nicht erfüllt. In beiden Ländern stehen viele Christen weiter ganz unten in der sozialen Hierarchie. Im indischen Orissa und anderen Bundesstaaten gab es wiederholt Übergriffe auf Christen und Kirchen. Vor allem aber in Pakistan hat sich ihre Situation verschlechtert.

Das Schlagwort von der „Christenverfolgung“, das jetzt wieder vom Vatikan benutzt wurde, trifft dies aber nur begrenzt. Tatsächlich werden in Pakistan inzwischen alle religiösen Minderheiten verfolgt, auch muslimische. Bei den Christen wird dies aber in Pakistan ebenso wie in Indien oft noch durch Kastenkonflikte verschärft. So beklagen Christen immer wieder, dass sich andere weigern würden, zum Beispiel Wasser von ihnen zu nehmen, weil dieses „unrein“ sei. chm

NORDKOREA

Das kommunistische Regime gehe gegen Mitglieder von Untergrundgemeinden, denen nach Schätzungen etwa 200 000 Menschen angehören, „mit Verhaftungen, Arbeitslagerstrafen für die gesamte Familie eines entdeckten Christen oder Hinrichtungen vor“, schreibt das Hilfswerk Open Doors in seinem Anfang 2010 erschienenen „Weltverfolgungsindex“. 70.000 nordkoreanische Christen seien in Lagern gefangen. dpa

Christenverfolgung weltweit   
Wiener Zeitung vom 02.01.2011

Die Mehrheit der wegen ihrer Religion bedrohten Menschen sind Christen. Das Hilfswerk Open Doors gibt an, dass weltweit rund 100 Millionen Christen in rund 50 Ländern wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Oftmals müssten sie um ihr Leben fürchten. Mancherorts setzt der Staat Gewalt gegen Christen ein, in anderen Ländern erwächst der Hass aus der Gesellschaft.

Irak

Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 sehen sich die Christen im Irak zunehmend der Verfolgung ausgesetzt. Die dramatische Zuspitzung der Lage führte dazu, dass sich die Zahl der Christen im Zweistromland mehr als halbiert haben soll – von 1,2 Millionen auf unter 600.000. Im vergangenen Oktober wurden bei der Erstürmung einer Kirche in Bagdad durch islamistische Extremisten fast 60 Menschen getötet.

Nigeria

Christen und Muslime stellen in Nigeria jeweils die Hälfte der Bevölkerung. Über Weihnachten wurden bei blutigen Angriffen auf Christen mindestens 80 Menschen getötet. In und um die Stadt Jos im Zentrum des Landes explodierten Bomben, Dutzende Angreifer attackierten eine Kirche in der Stadt Maiduguri, Häuser gingen in Flammen auf. Jos liegt im Bundesstaat Plateau, in dem sich schon häufig Gewalttaten zwischen Muslimen und Christen ereigneten.

Christliche Kopten fürchten Gewalt in Ägypten

Trotz der gesetzlichen Religionsfreiheit müssen mehr als sieben Millionen Menschen in Ägypten, die der christlichen Minderheit der Kopten angehören, Gewalt fürchten. Es kommt zu Übergriffen, Zwangsislamisierungen und Morden. Ihr Hilfegesuch an Präsident Hosni Mubarak war vergeblich. Konvertiten drohen Repressalien oder Gefängnis. In der Silvesternacht riss ein Selbstmordattentäter in der Großstadt Alexandria bei einem Anschlag auf eine koptische Kirche 21 Menschen mit in den Tod.

Nordkorea

Mit Abstand am schlimmsten, schreibt das Hilfswerk Open Doors in seinem Anfang 2010 erschienen „Weltverfolgungsindex“, werden Christen in Nordkorea verfolgt. Das kommunistische Regime gehe gegen Mitglieder von Untergrundgemeinden, denen nach Schätzungen etwa 200.000 Menschen angehören, „mit Verhaftungen, Arbeitslagerstrafen für die gesamte Familie eines entdeckten Christen oder Hinrichtungen vor“. 70.000 nordkoreanische Christen seien in Lagern gefangen.

Spektakuläre Mordfälle in der Türkei

Schätzungen zufolge leben in der Türkei noch rund 100.000 Christen, nachdem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die meisten Griechen und Armenier im ehemaligen Kleinasien gewaltsam vertrieben worden waren. Jährlich treten mehrere hundert Muslime in der Türkei zum Christentum über. Kirchen haben in der Türkei bis heute keinen eigenen Rechtsstatus, zudem ist die Ausbildung von Priestern verboten. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu spektakulären Mordfällen: Anfang 2006 erschoss ein 16-Jähriger den katholischen Priester Andrea Santoro im nordtürkischen Trabzon. Drei Protestanten – ein Deutscher und zwei zum Islam konvertierte Türken – wurden im April 2007 in Malatya von Extremisten ermordet. Im Juni 2010 wurde der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, Luigi Padovese, von seinem Fahrer umgebracht – die Hintergründe der Tat sind nach wie vor ungeklärt.

Saudi-Arabien

Die Ausübung des Christentums, sogar der Besitz einer Bibel oder eines Kreuzes, ist in Saudi-Arabien streng verboten, obwohl das Land nicht wenige christliche Gastarbeiter etwa von den Philippinen oder aus Indien beherbergt. In dem Staat, auf dessen Gebiet die für den Islam heiligsten Städte Mekka und Medina liegen, dürfen keine Gottesdienste gefeiert werden; christlichen Geistlichen ist die Einreise untersagt. Beim Abfall vom islamischen Glauben droht die Todesstrafe.

Indien

Spannungen zwischen Christen und Hindus gibt es in Indien seit vielen Jahren, die Situation ist je nach Region aber sehr unterschiedlich. Christen machen nur rund 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens aus; vor allem die Unionsstaaten Goa und Kerala an der Westküste sind aus historischen Gründen aber stark vom Christentum geprägt. In manchen Unionsstaaten habe sich hindu-nationalistischer Hass wiederholt in gewalttätigen Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten entladen, konstatierte unlängst der Vorsitzende der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, Ludwig Schick. Er erinnerte an den August 2008, als eine Gewaltwelle durch den ostindischen Unionsstaat Orissa schwappte. Nach seinen Angaben zerstörten radikale Hindus christliche Einrichtungen, 118 Menschen verloren ihr Leben, 54.000 Christen ihr Dach über dem Kopf.

China

In China leben nach offiziellen Angaben 16 Millionen Christen, nach Schätzungen christlicher Religionsgemeinschaften mindestens 40 Millionen. Die katholische Kirche in China ist seit dem Bruch der Kommunisten mit dem Vatikan 1951 gespalten. Auf der einen Seite gibt es die von Peking kontrollierte Staatskirche, die die Autorität Roms ablehnt. Ihr gehören nach offiziellen Angaben fünf Millionen Gläubige an. Zudem gibt es die Rom-treue Untergrundkirche mit geschätzten rund zehn Millionen Gläubigen. Ihre Mitglieder stehen loyal zum Papst, leiden deswegen aber unter staatlichen Repressalien. (APA)

Christen werden in vielen Ländern bedrängt und verfolgt
greenpeace magazin vom 02.01.2011

Die Mehrheit der wegen ihrer Religion bedrohten Menschen sind Christen. Das Hilfswerk Open Doors gibt an, dass weltweit rund 100 Millionen Christen in rund 50 Ländern wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Oftmals müssten sie um ihr Leben fürchten. Mancherorts setzt der Staat Gewalt gegen Christen ein, in anderen Ländern erwächst der Hass aus der Gesellschaft. Einige Beispiele:

IRAK

Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 sehen sich die Christen im Irak zunehmend der Verfolgung ausgesetzt. Die dramatische Zuspitzung der Lage führte dazu, dass sich die Zahl der chaldäischen Christen dort mehr als halbiert haben soll – von 1,2 Millionen auf unter 600.000. Im vergangenen Oktober wurden bei der Erstürmung einer Kirche in Bagdad durch islamistische Extremisten fast 60 Menschen getötet.

NIGERIA

Christen und Muslime stellen in Nigeria jeweils die Hälfte der Bevölkerung. Über Weihnachten wurden bei blutigen Angriffen auf Christen mindestens 80 Menschen getötet. In und um die Stadt Jos im Zentrum des Landes explodierten Bomben, Dutzende Angreifer attackierten eine Kirche in der Stadt Maiduguri, Häuser gingen in Flammen auf. Jos liegt im Bundesstaat Plateau, in dem sich schon häufig Gewalttaten zwischen Muslimen und Christen ereigneten.

ÄGYPTEN

Trotz der gesetzlichen Religionsfreiheit müssen mehr als sieben Millionen Menschen in Ägypten, die der christlichen Minderheit der Kopten angehören, Gewalt fürchten. Es kam zu Übergriffen, Zwangsislamisierungen und Morden. Ihr Hilfegesuch an Präsident Husni Mubarak war vergeblich. Konvertiten drohen Repressalien oder Gefängnis.

NORDKOREA

Mit Abstand am schlimmsten, schreibt das Hilfswerk Open Doors in seinem Anfang 2010 erschienen «Weltverfolgungsindex», werden Christen in Nordkorea verfolgt. Das kommunistische Regime gehe gegen Mitglieder von Untergrundgemeinden, denen nach Schätzungen etwa 200.000 Menschen angehören, «mit Verhaftungen, Arbeitslagerstrafen für die gesamte Familie eines entdeckten Christen oder Hinrichtungen vor». 70.000 nordkoreanische Christen seien in Lagern gefangen.

TÜRKEI

Schätzungen zufolge leben in der Türkei rund 100.000 Christen – offizielle Angaben fehlen. Die meisten gehören zur orthodoxen Glaubensrichtung. Jährlich treten mehrere hundert Muslime in der Türkei zum Christentum über. Kirchen haben in der Türkei bis heute keinen eigenen Rechtsstatus, zudem ist die Ausbildung von Priestern verboten. Zu Morden kam es Anfang 2006, als ein 16-Jähriger einen katholischen Priester erschoss. Zwei Protestanten wurden im April 2007 in Malatya von Extremisten ermordet.

SAUDI-ARABIEN

Die Ausübung des Christentums, sogar der Besitz einer Bibel oder eines Kreuzes, ist in Saudi-Arabien streng verboten. Es dürfen keine Gottesdienste gefeiert werden; christlichen Geistlichen ist die Einreise untersagt. Nach Angaben des US- Außenministeriums predigen Imame in Moscheen offen gegen die christliche Religion. Beim Abfall vom islamischen Glauben droht die Todesstrafe.

INDIEN

In Indien werden die geschätzt 24 Millionen Christen massiv verfolgt. Spannungen zwischen Christen und Hindus gibt es seit vielen Jahren. Die Situation sei in den Provinzen unterschiedlich. In einigen Bundesstaaten aber habe sich hindu-nationalistischer Hass wiederholt in gewalttätigen Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten entladen, konstatierte unlängst der Vorsitzende der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz, Ludwig Schick. Er erinnerte an den August 2008, als eine Gewaltwelle durch den indischen Bundesstaat Orissa schwappte. Nach seinen Angaben zerstörten radikale Hindus christliche Einrichtungen, 118 Menschen verloren ihr Leben, 54.000 Christen ihr Dach über dem Kopf.

CHINA

In China leben nach offiziellen Angaben 16 Millionen Christen, nach Schätzungen christlicher Religionsgemeinschaften mindestens 40 Millionen. Die katholische Kirche in China ist seit dem Bruch der Kommunisten mit dem Vatikan 1951 gespalten. Auf der einen Seite gibt es die von Peking kontrollierte Staatskirche, die die Autorität Roms ablehnt. Ihr gehören nach offiziellen Angaben fünf Millionen Gläubige an. Zudem gibt es die Rom-treue Untergrundkirche mit rund zehn Millionen Gläubigen. Ihre Mitglieder stehen loyal zum Papst, leiden deswegen aber unter staatlicher Verfolgung.

Sorge um verfolgte Christen
Südkurier vom 27.12.2010

Kirchenvertreter und Politiker haben die Verfolgung von Christen in aller Welt beklagt. „Die Christen sind gegenwärtig die am meisten verfolgte Religionsgruppe“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch.

Untersuchungen zeigten, dass 100 Millionen Christen von Diskriminierung, Schikanen oder Gewalt betroffen seien. Laut Zollitsch sind große Teile des Mittleren Ostens, aber auch Pakistan, Indien und China die Hauptschauplätze von Christenverfolgungen. Im Irak sei die Hälfte der christlichen Bevölkerung ins Ausland getrieben worden. Ähnlich äußerte sich Papst Benedikt XVI. in seiner Weihnachtsbotschaft.

Auch Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) bekräftigte, die Christen seien die Religionsgruppe, die derzeit weltweit mit am stärksten bedrängt oder verfolgt werde. „Diese Entwicklung hat sich leider auch in diesem Jahr fortgesetzt, wahrscheinlich sogar verstärkt“, sagte Kauder. Der Unionspolitiker mahnte, die neue irakische Regierung noch mehr daran zu erinnern, alles zum Schutz der Christen im Land zu tun. Kritik äußerte Kauder an der Türkei-Politik der Europäischen Union. Es sei nicht akzeptabel, dass in der Türkei weiterhin keine Priester ausgebildet werden dürften. Auf die Politik der türkischen Regierung, das Christentum in der Türkei praktisch auszutrocknen, sollte Brüssel endlich reagieren.

Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck beklagte mangelndes Interesse am Problem der Christenverfolgung. Auch die Wertkonservativen seien in dieser Frage zu zurückhaltend. Verfolgte Christen in der Welt hätten ein Recht auf Solidarität. „Auch um unserer selbst willen müssen wir mit ihnen solidarisch sein“, sagte Gauck.

Laut Hilfsorganisationen erlebten Christen im vergangenen Jahr in Nordkorea, Eritrea, Ägypten und Pakistan eine klare Verschlechterung der Lebensbedingungen. Gewaltsame Übergriffe gab es über die Weihnachtstage in Nigeria und auf den Philippinen. Im Norden Nigerias wurden an Heiligabend sechs Menschen bei Angriffen auf drei Kirchen getötet. Auf der philippinischen Insel Jolo explodierte während einer christlichen Weihnachtsmesse eine Bombe. Sechs Menschen wurden verletzt. In beiden Fällen werden Islamisten hinter den Gewalttaten vermutet.

Indien: Aggression gegen Christen
Radio Vatikan vom 21.12.2010

Im indischen Bombay sind am Wochenende christliche Weihnachtssänger von Hindu-Fundamentalisten zusammengeschlagen worden. Wie die Christenorganisation CSF am Montag in Bombay weiter mitteilte, schleppten die Fundamentalisten die rund zwei Dutzend jugendlichen Sänger anschließend zur Polizei und bezichtigten sie der Beleidigung von Hindus. Die katholische CSF verlangte eine Bestrafung der Schläger. Nach ihren Angaben wurden die Sänger von der Polizei wie Schuldige behandelt. Erst nachdem der Minderheitenbeauftragte des Bundesstaates eingeschritten sei, seien die Christen freigelassen worden; die Schläger kamen mit einer Verwarnung davon.
Auch im zentralindischen Bundesstaat Amdhya Pradesh war es in der letzten Woche zu Gewalt gegen einen Christen gekommen. Ein Dutzend Personen drangen in das Privathaus eines Priesters ein und schlugen diesen zusammen. Der Geistliche wurde schwer verletzt und musste ins Krankenhaus. Die Kirche der Region rief die Behörden zum Schutz der christlichen Minderheit während der Weihnachtstage auf. In Amdhya Pradesh sind die Christen in der absuluten Minderheit; es sind weniger als ein Prozent.

 

Indien: Marienkirche verwüstet
Radio Vatikan vom 18.12.2010

Unbekannte haben die Marienkirche in Guntkal im indischen Unionsstaat Andra Pradesh überfallen und die Statuen verstümmelt. Dies teilt die indische Bischofskonferenz in einer Verlautbarung mit. Die Bischöfe „äußern sich besorgt im Hinblick auf die Gewalt an Einrichtungen, Kultstätten und Personal der christlichen Kirchen, zu der es in Indien immer noch zu häufig kommt“. Wie der Gemeindepfarrer berichtet, fanden die Gläubigen beim Besuch des Sonntagsgottesdienstes die enthaupteten Statuen der Gottesmutter, des heiligen Johannes und von Maria Magdalena vor. Bischof Anthony Poola von Kurnool bat die christliche Gemeinde nach dem Vorfall, Ruhe zu bewahren und sich nicht provozieren zu lassen, damit des nicht zu einem Teufelskreis gewaltsamer Reaktionen kommt. Das Marienheiligtum in Guntkal wird jedes Jahr von Tausenden katholischen Wallfahrern, aber auch von vielen Nichtchristen besucht.

Union: Gewalt gegen Christen erreicht eine neue Dimension
Domradio vom 17.12.2010

Die Bundestags-Unionsfraktion hat Einschränkungen der Religionsfreiheit in zahlreichen Ländern beklagt. Die Gewalt gegen Christen erreiche eine neue Dimension. Das sagte die Fraktionssprecherin für Menschenrechte, Steinbach in Berlin. Das Ausmaß der Gewalt gegen Christen in Irak, Indien, Pakistan und Nordkorea sei schockierend. Der Bundestag debattiert heute über Bedrohungen der Religionsfreiheit. Dazu liegen drei Anträge der Koalitionsfraktionen, von SPD und Grünen vor. Auf der Besuchertribüne des Parlaments wollen führende Kirchenvertreter aus mehreren Ländern, darunter dem Irak und der Türkei, der Aussprache folgen.

Tausende Christen flüchten aus dem Irak
Die Zeit vom 17.12.2010

Der Terror gegen christliche Einrichtungen zeigt Wirkung: Tausende Christen verlassen den Irak. Die Vereinten Nationen sprechen von einem Exodus. Immer mehr Christen kehren dem Irak den Rücken, weil Verbrechen gegen sie kein Ende nehmen. Die Gewalt erreichte Ende Oktober ihren Höhepunkt mit einem Angriff auf eine Kirche in Bagdad, seitdem flüchten Tausende Christen. Das teilte das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) in Genf mit. „Nach dem Anschlag auf die Kirche in Bagdad am 31. Oktober und weitere gezielte Angriffe hat in den christlichen Gemeinden in Bagdad und Mossul ein langsamer aber konstanter Exodus begonnen“, sagte eine UNHCR-Sprecherin.
Ein Al-Qaida-Kommando hatte die Kirche im Zentrum Bagdads Ende Oktober während der Sonntagsmesse gestürmt und mehr als hundert Gottesdienstbesucher als Geiseln genommen. 44 Gläubige, zwei Priester, sieben Sicherheitskräfte sowie alle Angreifer kamen bei der Geiselnahme und der anschließenden Befreiungsaktion ums Leben, 60 weitere Menschen wurden verletzt. Die irakische Regierung hatte daraufhin beteuert, die christliche Minderheit in Zukunft besser schützen zu wollen. Unter Druck fühlen sich in der Hauptstadt Bagdad derzeit die christlichen Besitzer von Geschäften und Gastronomiebetrieben, die Alkohol verkaufen. Denn der mehrheitlich mit religiösen Schiiten besetzte Stadtrat hat kürzlich zahlreiche ihrer Läden schließen lassen.

Unionsfraktionschef Volker Kauder hat den Christen im Irak für das kommende Jahr finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt. Mit dieser Entwicklungshilfe sollten ihnen ein Anreiz gegeben werden, ihre Heimat nicht zu verlassen, sagte Kauder in einer Debatte des Bundestags zum Thema Religionsfreiheit. Diese Unterstützung werde nicht so umfangreich sein, dass sie nicht zu leisten sei. Alle Parteien im Bundestag mahnten weltweit Religionsfreiheit an. Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP verwiesen in einem vom Bundestag angenommenen Entschließungsantrag darauf, dass „Religionsfreiheit in 64 Ländern der Erde (…) sehr stark eingeschränkt oder gar nicht existent“ ist. Daher müsse es Aufgabe jeder deutschen Außenpolitik sein, auch im internationalen Kontext für das elementare Menschenrecht auf Religionsfreiheit einzutreten.

Indien: Medienkampagne gegen vergewaltigte Christin
Radio Vatikan vom 16.11.2010

In Indien hat eine öffentliche Hetzkampagne gegen eine Christin begonnen, die vor zwei Jahren von 50 hinduistischen Männern vergewaltigt und öffentlich gefoltert worden war, ohne dass die Polizei eingegriffen hatte. Die heute 29-jährige Inderin Meena Barwa aus dem Servitenorden war im August 2008 im indischen Bundesstaat Orissa eines der ersten Opfer einer Welle von Gewalt geworden. Die Regierung war gegenüber der Gewalt gegen Christen im 2008 untätig geblieben. Nachdem die Schwester nun ihren mutmaßlichen Tätern gegenübergestellt worden war, wird sie selbst als kriminell dargestellt. Außerdem werden die Kirche und die Menschenrechtsorganisationen von vielen Medien in dem Land kritisiert.

Indien: Jetzt schlägt der Südwesten Alarm
Radio Vatikan vom 07.10.2010

Christ zu sein in Indien – das bedeutet derzeit immer öfter Unsicherheit oder gar Todesangst. Alarm schlägt diesmal der Südwesten des Landes: In Bundesstaat Karnataka klagen Christen über anhaltende Übergriffe durch Hindu-Nationalisten. Vor zwei Jahren kam die hindu-nationalistische Partei BJP an die Macht. Seither verzeichneten die Christen mehr als 1.000 Gewalttaten, erklärten jetzt rund 100 Kirchenvertreter, darunter zahlreiche Bischöfe, auf einem christlichen Forum in Bangalore. Dass die Situation indischer Christen nach wie vor unbefriedigend ist, kann auch die indische Ordensschwester Maria Nirmalini bestätigen. Sie hat sich vor kurzem in Orissa, am Schauplatz der Christenverfolgungen von 2008, ein Bild gemacht: „Die christliche Gemeinschaft steht immer noch unter Schock, es gibt Unsicherheit und Angst. Ich habe im April 2010 ein Camp in Kandhamal besucht. Dort gab es etwa 20 bis 25 Christen, die komplett isoliert von ihrem Dorf lebten. Wer mit ihnen spricht, bekommt Schwierigkeiten. Das ist nicht menschlich! Diese Leute werden komplett aus der Gesellschaft ausgegrenzt!“

Aufklärung und Rechtsprechung waren im Fall der Pogrome von Orissa schwerfällig in Gang gekommen. Nur wenige der Peiniger sitzen bis heute hinter Gittern. Es gebe aber auch Hoffnungszeichen, berichtet die Schwester im Gespräch mit uns: so habe ein nationales Volksgericht in Neu Delhi Ende August zur Aufklärung beigetragen. Zudem sei einer der hinduistischen Unruhestifter, Mitglied der BJP, verurteilt worden. Das sei nicht zuletzt dem Einsatz engagierter Menschenrechtler und Rechtsexperten zu verdanken, so Schwester Nirmalini: „Sie haben einen Bericht über die Zeugenaussagen verfasst und den Ministerpräsidenten und Präsidenten getroffen. Sie haben den Politikern berichtet, dass die Vorfälle von Kandhamal auf kollektiver Gewalt beruhten, die durch den rechten Flügel der Hindus verursacht worden war. Sie haben den Premierminister aufgefordert, dem ins Auge zu sehen. Und wir waren froh und haben es als Zeichen der Hoffnung verstanden, als dann schließlich Herr Manoj Pradhan verhaftet und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde.“

Verbesserungsbedarf sieht die Schwester im Fall der Opfer von Orissa ebenso bei den finanziellen Entschädigungen der Christen durch die Regierung: „Es gab Abfindungen für rund 2500 Leute. Die Regierung zahlte jeweils etwa 30.000 Rupien. Doch das war nicht genug, denn viele Menschen waren auch krank und mussten Medikamente zahlen. Außerdem kann man mit 30.000 Rupien kaum ein neues Heim aufbauen, die Kinder müssen ja auch in die Schule – es war einfach nicht genug.“

Bildung – genau das ist der Einsatzbereich von Schwester Maria Nirmalini. Die Leiterin einer Privatschule in Neu Delhi ist zurzeit Gast des katholischen Hilfswerkes missio in Aachen, und zwar im Rahmen des Monats der Weltmission Oktober, in dem besonders der Einsatz indischer Ordensfrauen gewürdigt wird. Nirmalini engagiert sich in Indien in unterschiedlichen Ausbildungsprojekten für muslimische, hinduistische wie christliche Kinder. Unter ihren Schützlingen sind auch die Kinder der Vertriebenen von Orissa. Mehr dazu hören Sie bei uns demnächst im Weltkirchenmagazin.

Ein vergessener Völkermord wird aufgearbeitet
Das Kriegsverbrechertribunal in Bangladesh
Deutschlandfunk vom 25.09.2010
Von Barbara Böttger

Zwischen einer und drei Millionen Menschen starben von März bis Dezember 1971 in Bangladesh. Zehn Millionen Menschen wurden nach Indien vertrieben. Erst heute, fast 40 Jahre später, wird nun ein Tribunal einberufen, das die bengalischen Schuldigen am Genozid von damals zur Rechenschaft ziehen soll.

„1971 war die beste und die schrecklichste Zeit. Eine traurige Zeit, weil einer der schlimmsten Genozide des zwanzigsten Jahrhunderts in unserem friedlichen Land stattfand. Die pakistanische Armee und ihre lokalen Kollaborateure – die Razakars und Al Badr – haben drei Millionen Menschen getötet. Aber es war auch eine glorreiche Zeit: Indem die Menschen in diesem Land eine skrupellose professionelle Armee besiegt haben, erkämpften sie sich ihre Unabhängigkeit.“

Ein Video über die Geschichte Bangladeshs aus dem „Liberation War Museum“, dem „Museum des Befreiungskrieges“ in der Hauptstadt Dhaka. Eine idyllische alte Villa unter großen Bäumen mitten im Zentrum der 15-Millionen-Metropole, in der die Schrecken dieses fast vergessenen Völkermordes in Form von Fotos, Dokumenten und Gegenständen wieder lebendig werden. Einer der Gründer, der Verleger und Publizist Mofidul Hoque, beschreibt seine Ziele:

„Eines unserer wichtigsten Ziele ist es, die junge Generation zu erreichen. Wir arbeiten intensiv mit den Schülern und versuchen, die Geschichte in einer authentisch dokumentierten Weise darzustellen. Wer die Tour durchs Museum macht, kann seine eigenen Schlüsse ziehen. Die früheren Machthaber haben der jungen Generation die Geschichte vorenthalten, sie haben sie verfälscht und die Lehrbücher umgeschrieben. Sie haben versucht, den Genozid zu verschleiern. So wurde die Ermordung der Intellektuellen in den Textbüchern ausgelassen. Der Befreiungskampf wurde als ein Konflikt zwischen Indien und Pakistan dargestellt, und die Grausamkeiten des pakistanischen Militärs wurden verharmlost.“

Als die Engländer 1947 ihre alte Kolonie Britisch-Indien in die Unabhängigkeit entließen, schufen sie zwei Staaten mit unterschiedlichen Religionen: Indien mit einer mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung in der Mitte und westlich und östlich davon die beiden fast 2000 Kilometer voneinander entfernten Teile West- und Ostpakistan mit muslimischer Mehrheit. Der östliche bengalische Teil musste die im Westen gebräuchliche Sprache Urdu als Staatssprache übernehmen, obwohl er eine größere Bevölkerung aufwies als der andere Teil. Ostpakistan wurde von Westpakistan wie eine Kolonie behandelt.

Die ihrer Kultur sehr bewussten Bengalen revoltierten schon in den 50er-Jahren gegen die Fremdherrschaft der westpakistanischen Regierung und errangen 1970 mit der Awami-Liga die absolute Mehrheit im gesamtpakistanischen Parlament. Nun hätte ihr Führer Sheikh Mujibur Rahman eigentlich Präsident werden müssen. Dies kam jedoch für den Militärdiktator Yahya Khan und die westpakistanische Opposition nicht in Frage. Unter dem Vorwand von Verhandlungen planten sie insgeheim einen Vernichtungskrieg gegen die Awami-Liga, die bengalische Elite und die Hindu-Minderheit, um ein für alle Mal ihre Vorherrschaft zu sichern. „Killing the Kafirs“ – „Die Ermordung der Ungläubigen“ sollte das geheime Leitmotiv der Soldaten werden. Die Bengalen hingegen fühlten sich um ihren Wahlsieg betrogen und protestierten. Die Hauptstadt stand unter Hochspannung. Auf einer Massenveranstaltung am 7. März 1971 erklärte der Vorsitzende der Awami-Liga Sheikh Mujib:

„Da wir schon soviel Blut vergossen haben, werden wir noch mehr Blut vergießen. Wir werden die Menschen dieses Landes befreien. Wir kämpfen jetzt für unsere Befreiung. Wir kämpfen jetzt für unsere Unabhängigkeit. Joy Bangla! Sieg für Bengalen!“

Universität Dhaka, Februar 1972: Zwei Monate nachdem die indische Armee gemeinsam mit den bengalischen Guerillakämpfern die pakistanischen Soldaten und ihre Kollaborateure in einem Blitzkrieg besiegt hatte. Aus Ostpakistan war die Volksrepublik Bangladesh geworden. Ein junger Mann, vielleicht 19 Jahre alt, beschreibt mit vor Zorn bebender Stimme, wie mitten in der Nacht zum 25. März 1971 allein in der Iqbal Hall 200 Studenten im Schlaf erschossen wurden. Mit Panzern waren die pakistanischen Soldaten auf den Campus vorgerückt und hatten Hunderte von Studenten und einige Professoren umgebracht. Sie wurden in einem rasch ausgehobenen Massengrab verscharrt. Bei Fahrten durch das kriegszerstörte Land sah man menschliche Schädel, Hüftknochen und Kleiderfetzen in den Straßengräben liegen, nachdem das Wasser, das diese menschlichen Überreste bedeckt hatte, verdunstet war. Inzwischen sind viele solcher „killing fields“ entdeckt worden. Überall im Land wurden Denkmäler für die Helden des Befreiungskampfes errichtet. Aber die Angehörigen der zivilen Opfer warten bis heute auf Gerechtigkeit.

Im März dieses Jahres hat die Regierung von Bangladesh ein Tribunal einberufen, das die bengalischen Schuldigen am Genozid, an den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, den Kriegs- und anderen völkerrechtswidrigen Verbrechen, wie es im Gesetz heißt, zur Rechenschaft ziehen soll. Zwei Monate davor wurden einige der Mörder des 1975 erschossenen ersten Präsidenten Bangladeshs, Sheikh Mujibur Rahman, mit dem Tode durch den Strang bestraft. Die Polizei war wegen möglicher Attentate in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden, es blieb jedoch ruhig. Auch heute droht die Oppositionspartei BNP, die dem politischen Lager der Täter nahesteht, mit heftigen Protesten. Denn die jetzige Premierministerin Sheikh Hasina ist die Tochter von Sheikh Mujib. Sie hat die Parlamentswahlen im Dezember 2008 mit dem Versprechen, ein Kriegsverbrechertribunal einzuberufen, mit absoluter Mehrheit gewonnen. Die ersten fünf Angeklagten des Tribunals sind führende Mitglieder der islamistischen Partei Jamaat-e-Islami, die bis vor Kurzem zusammen mit der BNP an der Regierung war. Man sagt dieser religiösen Partei Verbindungen zum Al-Kaida-Netzwerk nach.

Eigentlich neigen Bengalen nicht zur Gewalt. Sie haben seit Jahrhunderten als Muslime, Hindus, Buddhisten und Christen friedlich zusammengelebt. Man erlebt sie eher als heißblütige politische Disputanten, als Liebhaber romantischer Gedichte oder als gute, bisweilen korrupte Geschäftsleute, denn als fanatische Muslime. Aber ohne Zweifel haben die Erfahrung eines Völkermordes dieses Ausmaßes und die bis heute andauernde Straflosigkeit der Täter das politische Klima dieses Landes und die Psyche der Bevölkerung beeinflusst. Mofidul Hoque vom Museum für den Befreiungskampf, erklärt, warum es 39 Jahre gedauert hat, bis die Verantwortlichen für den Völkermord zur Rechenschaft gezogen werden:

„Einer der Gründe war, dass die pakistanischen Kriegsgefangenen, von denen 200 wegen Genozid angeklagt waren, im Rahmen eines regionalen Abkommens an Pakistan überstellt wurden, verbunden mit dem stillschweigenden Versprechen von Pakistan, sie wegen Völkermordes anzuklagen. Aber dieser Prozess hat nie stattgefunden. Für die Kollaborateure vor Ort wurde ein Kollaborateur-Gesetz verabschiedet. Viele von ihnen wurden wegen geringer Verbrechen oder Familien- und Dorffehden angeklagt. Als der Umgang mit diesem Gesetz für die Regierung zu schwierig geworden war, erließ Sheikh Mujib eine Amnestie, die jedoch nicht für schwerwiegende Verbrechen wie Mord, Brandschatzung und Raub galt. Danach wurde 1973 der ‚International Crimes (Tribunal) Act‘ erlassen, nach dem Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden müssen. Aber Bangladesh konnte diesen Prozess nicht führen, weil Sheikh Mujib zusammen mit seiner Familie 1975 ermordet wurde. Nun kamen diejenigen an die Macht, die mit den Pakistanern kollaboriert hatten, und führten ein diktatorisches Regime ein. Deshalb wurde uns für so viele Jahre die Gerechtigkeit vorenthalten.“

Die Zahl der Toten, die in der Zeit von März bis Dezember 1971 umgekommen sind, schwankt zwischen einer Million und drei Millionen Menschen. 200.000 Frauen wurden vergewaltigt. Genaue Zahlen existieren nicht. Aber in jeder Familie des 150-Millionen-Volkes gibt es Opfer aus dieser Zeit. Außerdem wurden zehn Millionen Menschen – mehrheitlich Hindus – über die Grenze nach Indien vertrieben. Viele Tausende Dorfbewohner mussten zudem innerhalb des Landes fliehen, sie wurden ausgeraubt und ihre Häuser angezündet.

Die Aufarbeitung von Verbrechen dieses Ausmaßes wird sie nicht von Siegermächten wie im Fall der Nürnberger Prozesse erzwungen, braucht in der Regel Zeit. Die neuen Machthaber nach der Ermordung von Sheikh Mujib haben ihre Angst vor Rache und ihre Schuldgefühle gegenüber den Opfern mit religiösen Argumenten verbrämt: Man habe doch nur die Einheit Pakistans als islamischer Staat erhalten wollen. Mofidul Hoque:

„Sie haben die Verfassung geändert und eines der vier Prinzipien, den Säkularismus, ersetzt durch den Glauben an den Allmächtigen Allah. Und sie haben den religiösen Parteien, die vorher verboten waren, erlaubt, am politischen Prozess teilzunehmen. Überall haben sie die fundamentalistischen Kräfte unterstützt, die gegen die Grundprinzipien der Entstehung von Bangladesh, nämlich Demokratie, Säkularismus und Nationalismus waren.“

Die Welt half tatkräftig beim Wiederaufbau von Bangladesh: Das Land erhielt mehr Entwicklungs- und humanitäre Hilfe als irgendein anderes Land. Aber niemand forderte Rechenschaft von den Tätern. Mofidul Hoque:

„Die Vereinten Nationen unternahmen absolut nichts was den Genozid betrifft. Das änderte sich erst nach dem Ende des Kalten Krieges in den frühen 90er-Jahren, als der jugoslawische Genozid im Herzen von Europa und der Genozid in Ruanda stattfanden und Kriegsverbrechertribunale eingesetzt wurden. Um über einen Völkermord zu verhandeln, bedarf es eines internationalen Konsenses, aber die UN waren geteilt in einen sozialistischen und einen westlichen Block. Inzwischen beobachten wir jedoch einen Wandel sowohl auf der internationalen als auch auf der nationalen Ebene. Nach der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs im Jahr 1998 wurde das Rom-Statut angenommen. Und jetzt werden kein Land und keine Gruppe, die einen Genozid begehen, mehr ungeschoren davonkommen. Diese Völkermordprozesse, insbesondere der Prozess in Kambodscha, haben unser Volk inspiriert.“

Rückblende: November 1971 – erste Begegnung ausländischer Journalisten mit der Tragödie: Ein Flüchtlingslager auf einem ausgetrockneten Salzsee bei Kalkutta. Eine Million Menschen kampieren unter sengender Sonne, einige haben Schutz gesucht in Betonröhren, andere bereits ein Zelt ergattert. Latrinen gibt es zu wenige, es stinkt zum Himmel. Dantes Inferno muss ähnlich ausgesehen haben. Eine indische Ärztin und ein katholischer Priester versuchen, das Elend zumindest ein wenig zu lindern. Besucher des Flüchtlingslagers sind schockiert, betroffen und hilflos angesichts der ausgestreckten Arme halbverhungerter Kinder und der Blicke ausgemergelter alter Frauen, mit denen sie konfrontiert werden.

Die indische Regierung und viele freiwillige Helfer haben die meisten Flüchtlinge vorerst retten können. Aber kurz nach der Kapitulation der pakistanischen Armee wurden sie mit einem Lebensmittelpaket versehen zurückgeschickt auf den langen Fußmarsch in ihr zerstörtes Land, den die Schwächsten nicht überlebten. Dort fanden die Familien die Überreste ihrer abgebrannten Hütten vor, das Vieh war verendet, ihre Habseligkeiten geplündert und in vielen Fällen waren Angehörige nicht mehr am Leben. Aber immerhin lebten sie nun in einem unabhängigen Staat. Viele ihrer Söhne und Töchter hatten als Guerillakämpfer an der Befreiung mitgewirkt. Video „History of Bangladesh“:

„Tausende Jugendliche in den Dörfern schlossen sich den Freiheitskämpfern an. Nachdem sie ein kurzes Training absolviert hatten, begannen erfolgreiche Operationen. Einige Gebiete innerhalb des Landes konnten befreit werden.“

Nächtliche Gewehrschüsse sind auch noch nach dem Krieg zu hören. Überaus stolze junge Männer schildern ausländischen Journalisten ihre Kriegserlebnisse. Sie zeigen die Folterkammern innerhalb der pakistanischen Garnisonen mit den Blutspuren an Wänden und Fußböden. Ein Jüngling mit einer sanften Stimme beschreibt in allen Einzelheiten, wie nach dem Sieg gefangene Kollaborateure hingerichtet wurden. Was war wohl mit den Frauen geschehen, die in den Garnisonen als Sex-Sklavinnen gehalten wurden: Halbwüchsige Mädchen, die von pakistanischen Soldaten und ihren bengalischen Helfershelfern auf der Straße oder aus ihren Häusern abgeführt und zur Vergewaltigung in die Garnisonen verschleppt wurden?

Um es den weiblichen Opfern zu erleichtern, über ihre Erfahrungen zu reden, fordern Anwältinnen, an den anstehenden Ermittlungen des Tribunals beteiligt zu werden. Es gäbe genügend hochqualifizierte Juristinnen. Aber die Regierung hat ihre Nominierungsvorschläge bisher nicht berücksichtigt. Das siebenköpfige Anklageteam ist ausschließlich männlich besetzt.

Heute ist Bangladesh mit dem geschundenen aber befreiten Land von 1971 kaum mehr zu vergleichen. Zu jener Zeit hatten es viele im Westen schon beinahe abgeschrieben. Inzwischen ist der Prozentsatz der Menschen unterhalb der Armutsgrenze von damals 70 Prozent auf jetzt 40 Prozent gesunken, die Wirtschaft wächst um jährlich etwa sechs Prozent. Die Regierungschefin erhielt gerade am Rande der UN-Vollversammlung in New York eine Auszeichnung dafür, dass Bangladesh die Kindersterblichkeit seit 1990 um zwei Drittel verringert hat. Die Millenniumsziele der Vereinten Nationen, insbesondere die Halbierung der Hungernden bis 2015, wird das Land voraussichtlich erreichen. Auch der Augenschein gibt den Statistikern Recht: Man sieht heute kein Kind mehr mit aufgeblähtem Hungerbauch, und fast alle Kinder einschließlich der Mädchen gehen zur Schule. Der Ökonomieprofessor Abul Barkat kommt jedoch aufgrund von Feldforschungen zu einem anderen Ergebnis:

„Sehen Sie, die Prozentzahlen sind nicht so wichtig, bei der Armut kommt es vielmehr auf die Individuen an. Prozentual können es vor 30 Jahren 70 Prozent gewesen sein. 70 Prozent von damals 70 Millionen Einwohnern waren 49 Millionen, aber jetzt bedeuten 40 Prozent von heute 150 Millionen Einwohnern 60 Millionen arme Menschen. Deshalb bin ich mehr an den absoluten Zahlen als an Prozentsätzen interessiert. Außerdem hat Armut viele Facetten: schlechte Gesundheit und mangelnde Bildung, Korruption und fehlende Sicherheit. Was ist mit einer Familie mit zwei gebildeten aber arbeitslosen Mitgliedern? Und wie wirkt sich geistige Armut aus? Während laut offizieller Statistik die Armut abnimmt, nimmt der religiöse Fundamentalismus zu. Ich habe dazu geforscht: Der Grund für religiösen Fundamentalismus ist die Armut.“

Nachdem Abul Barkat an der Universität von Dhaka einen öffentlichen Vortrag darüber gehalten hatte, wie die Islamisten mit einem Netz von Unternehmen, Schulen und Hilfsorganisationen eine eigene „Ökonomie in der Ökonomie“ aufgebaut haben, die doppelt so schnell wächst wie die offizielle, erhielten er und seine Familie mehrfach Todesdrohungen per Telefon. Abul Barkat:

„20 Prozent ihrer Mittel werden für Politik ausgegeben. Und es gibt eine enge Beziehung zwischen ihnen und dem militanten Fundamentalismus. Aufgrund ihrer Effizienz und ihrer ideologischen Motivation versuchen sie, die Religion dazu zu benutzen, um die Macht im Staat zu übernehmen.“

Ist die Gefahr einer Islamisierung des Landes wirklich so groß? Die erfahrene Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Sultana Kamal:

Die Islamisierung nimmt zu. Unglücklicherweise wurde das von den vorigen Regierungen unterstützt. Eine Regierung ist ein Bündnis mit der Jamaat-e-Islami eingegangen, die eindeutig das Ziel verfolgt, Bangladesh zu islamisieren. Die meisten unserer Institutionen wurden nach diesem Modell umgestaltet. Aber andererseits bin ich fest davon überzeugt, dass die Menschen in Bangladesh nichts akzeptieren werden, was exzessiv oder extrem ist, insbesondere im religiösen Bereich, weil die Menschen hier an eine liberale Religion glauben.

Das Oberste Gericht hat die Verfassungsänderungen nach der Ermordung von Sheikh Mujibur Rahman, die den Säkularismus beseitigt und Militärputsche legalisiert hatten, inzwischen für ungültig erklärt. Die Ermittler des Kriegsverbrechertribunals sind einem der Hauptschuldigen des Genozids, dem ehemaligen Führer der Jamaat-e-Islami, Ghulam Azam, dicht auf den Fersen. Sie haben Massengräber und Gefängnisse in verschiedenen Landesteilen besichtigt und viele Zeugen befragt. Die Anklage steht kurz bevor. Die Behörden des Landes sind angewiesen, keine der auf einer Liste mutmaßlicher Kriegsverbrecher aufgeführten Personen außer Landes reisen zu lassen.

Kardinal Gracias von Mumbai verurteilt das Verbrennen des Koran
Zenit vom 07.09.2010

Christliches Zeichen der Solidarität mit muslimischer Gemeinschaft In Indien
Führende Religionsvertreter Indiens haben sich zu einem starken Zeichen der Solidarität gegenüber der muslimischen Gemeinschaft am Freitag im Erzbischöflichen Haus in Mumbai zusammengefunden. Sie verurteilen gemeinsam die Initiative „Koran-Verbrennen“. Die Aktion geht auf eine US-amerikanische christliche Randgruppe zurück, die von Reverend Terry Jones in Florida zum Gedenken an den 11. September angeführt wird. Mit Kardinal Oswald Gracias an der Spitze betonen indische Christen und Muslime „Frieden und Brüderlichkeit“, wie die Nachrichtenagentur AsiaNews berichtet.

Im Gespräch mit AsiaNews sagte der christliche Menschenrechtsaktivist Gul Kripalani, ehemals Präsident der indischen Handelskammer:

 „Es war Zeit, dass wir der Welt mitteilten, dass Christen nicht an Gewalt und Hass glauben. Dies kommt in den Tausenden von Bildungsinitiativen und karitative Einrichtungen, die wir im ganzen Land unterhalten, zum Ausdruck, die Menschen aller Glaubensrichtungen versorgen. Wir müssen offen hervortreten und die Extremisten aus dem Ausland aufhalten, die Hass verbreiten.“

Zaheer Mabbs Rizvi, Sekretär des Gesamtindischen Rates Muslimischer Rechtsgelehrter, dankte dem Kardinal für die Organisation des Treffens. Wenn „eine Stimme“ sich für „Hass“ ausspricht, müsse“ eine vereinte und einhellige Stimme des Friedens und der Harmonie“ als Antwort erfolgen. Dies müsse der Anfang von interreligiösen Initiativen und des Dialoge für den Frieden sein.

In einer scharf formulierten Pressemitteilung schoss die Erzdiözese Mumbai gegen das Ansinnen, den Koran zu verbrennen, in der es hieß, dass dies „umso schockierender sei, da eine solche Kampagne völlig im Widerspruch zu den Lehren von Jesus Christus“ stehe.

„In seinem Leben und seiner Lehre respektierte Jesus alle Religionen und alle Frauen und Männer, die in ihrem Leben aufrichtig Gott und seinen Willen suchen.“

Im Namen aller christlichen Führer von Mumbai und der christliche Gemeinschaft dort distanzierten sich die Verfasser von dieser Initiative. „Als Präsident der katholischen Bischofskonferenz von Indien verurteile ich auch im Namen der ganzen katholischen Kirche in Indien diesen völlig unsensiblen und respektlosen Akt gegen den heiligen Koran“, schrieb Kardinal Gracias. (mk)

Erzbischof von Bangalore an Regierung:
Stoppt anti-christliche Hassprediger
Zenit vom 30.08.2010

Indischer Politiker: Christentum soll als Pflanze des englischen Kolonialismus ausgerissen werden

„Es ist dringend notwendig, Hassprediger zu stoppen, die in vielen Herzen Ausbrüche von Gewalt gegen Christen entzünden und falsche Beschuldigungen verbreiten; vor allem wenn es sich dabei um Politiker handelt, um Führer, die als Repräsentanten der Nation auftreten“.

Diesen flammenden Appel richtete der Erzbischof von Bangalore, Msgr. Bernand Moras, in einem Brief an den Gouverneur des Staates Karnataka (Südindien), H. R Bhardawaj, und an den Premierminister desselben Staates B. S. Yeddyurappa.

Das Schreiben, das dem Fidesdienst letzte Woche übermittelt wurde, ist die Antwort der Kirche auf die Aussagen des Parlamentsmitglieds Prahlad Remane, der Mitglied der hindu-nationalistischen Partei Barathiya Janata Party (BJP) ist. Am Tag der Unabhängigkeit Indiens hatte Remane erklärt, die Kolonialherren Englands hätten Indien als Erbe hinterlassen, „auf systematische Weise den Samen des Christentums im Land verbreitet zu haben“, das eine „schlechte Pflanze“ sei, von der Prahlad Remane will, dass sie „möglichst bald ausgerissen wird.“

Derartige Erklärungen stehen in Einklang mit den schlimmsten Behauptungen des hinduistischen Extremismus, der allein in Karnataka in den letzten zwei Jahren über 2000 Ausschreitungen von antichristlicher Gewalt und Massaker in anderen Staaten Indiens verursacht hat.

Deshalb hat Erzbischof Moras das Schweigen gebrochen und hat an die lokale Regierung geschrieben: „Wir nehmen mit tiefem Bedauern wahr, dass das Parlamentsmitglied der BJP Prahlad Remane falsche Anklagen gegen die Christen verbreitet und auch von Bekehrungen unter Einsatz unlauterer Mittel gesprochen hat“ erklärt der Würdenträger und fordert vom Gouverneur und vom Premierminister sobald als möglich einzugreifen, um solche verantwortungslosen Führer zu stoppen, die den Frieden in der indischen Gesellschaft bedrohen.

„Derartige falsche und ungerechtfertigte Aussagen gießen Öl ins Feuer der Gefühle der Intoleranz“ stellt Msgr. Moras beunruhigt fest, der auch an die Bundesbehörden eine Kopie des Briefes geschickt hat.

Der Erzbischof betonte, dass „gemäß der indischen Verfassung die Werte des Pluralismus, der Laizität, der Toleranz, der gegenseitigen Achtung, der Harmonie“ von allen respektiert werden müssen, vor allem von Personen, die die Bürger auf Landes- und Bundesebene in der gesetzgebenden Versammlung vertreten. Diese „sind berufen, die Rechte der Verfassung der gesamten indischen Bevölkerung zu schützen und zu garantieren, ohne Vorurteile der Kaste, der Hautfarbe oder der Religion“, und beizutragen am Aufbau des Friedens und der Harmonie in der Gesellschaft.

Indien: Christen fordern endlich Gerechtigkeit
Radio Vatikan vom 30.08.2010

„Nachdem ich die Zeugenaussagen gehört habe, gehe ich gebeugten Hauptes angesichts der Schande, die auf mir lastet, weil ich Inder bin.“ Diese pathetischen Worte stammen vom ehemaligen Vorsitzenden des obersten Gerichtshofes in Indien, A.P. Shah. Er war Vorsitzender eines „Volkstribunals“, das helfen sollte, die Christenverfolgungen im Bundesstaat Orissa aus dem Jahr 2008 aufzuklären. Das vom Opferverband „Nationales Solidaritätsforum“ organisierte inoffizielle Tribunal fand vom 22. bis zum 24. August in Kandhamal statt. Neben dem eben zitierten ehemaligen Richter A.P. Shah saßen im Gerichtssaal weitere elf Ehrenamtliche, unter ihnen andere Richter, Menschenrechtsaktivisten und weitere angesehene Personen des öffentlichen Lebens. Orissa, Schauplatz der Christenverfolgungen, liegt in der Erzdiözese Cuttack-Bhubaneswar. Der dortige Oberhirte, Raphael Cheenath, war bei den Gerichtsverhandlungen dabei. Im Gespräch mit Radio Vatikan berichtet von den Anhörungen:

„Wir haben 82 Opfer aus Kandhamal, die jetzt in Delhi leben, vor Gericht gerufen. Die Richter haben sie Gruppe für Gruppe befragt: Wie sie behandelt wurden, wie sie keine Wohnung bekommen haben. All diese Dinge fragen die Richter und geben dann ein Urteil ab.“

Was wollten die Gerechtigkeitsaktivisten mit der inoffiziellen Verhandlung erreichen, eigentlich müsste doch das offizielle Rechtssystem auf dem Subkontinent handeln? Erzbischof Cheenath erklärt:

„Ziel ist zu sehen, was die Regierung bisher gemacht hat und wie sich die Regierung ganz am Anfang verhalten hat, vor allem während der Verfolgungen und was sie danach getan hat, wie die Opfer immer noch leiden – all das untersuchen die Richter“

Noch einmal zur Erinnerung: Vor zwei Jahren ermordeten im nordindischen Bundesstaat nationalistische Hindus mehr als 90 Christen, zerstörten 300 Kirchen und tausende Wohnhäuser und trieben 56.000 Christen in die Flucht. Zwei Jahre nach den Pogromen gegen Christen sind die Täter noch immer auf freiem Fuß. Am Donnerstag, nachdem die letzten Opfer den Zeugenstand verlassen hatten, erging das Urteil der Richter: „Die Parteinahme von staatlichen Institutionen und der Polizei ist skandalös.“ Die staatlichen Behörden seien in die Gewalttaten verwickelt und behinderten ein Vorankommen der Justiz bei der Bestimmung der Täter, so die Anklage des Volkstribunals an den indischen Staat. Von einer gerechten Strafe für die Täter einmal abgesehen, hat sich denn wenigstens die aktuelle Lage der Christen verbessert? Das fragten wir den Erzbischof:

„Es gibt keine Verfolgung im Sinne von Angriffen oder Gewalt, aber Furcht und Angst sind immer noch da. Es gibt mehr als 20 Dörfer, die den Christen nicht erlauben zurückzukommen. Die Versuche der Regierung hatten keinen Erfolg. Sie sagen: ‚Wenn ihr zurückkommen wollt, müsst ihr Hindus werden, dann könnt ihr zurückkehren. Wenn ihr das nicht macht und trotzdem zurückkommt, dann werden wir euch töten.’ Das ist die Angst in mindestens 20 Dörfern. Auch weil die Opfer vor Gericht aussagen, ist diese Furcht da. Manche von ihnen werden beschützt und verstecken sich, weil sie von den Kriminellen bedroht wurden: Ihr müsst vor Gericht die Position eurer Bruderkaste einnehmen, sonst töten wir euch. In dieser Situation haben viele der Opfer ihre Zeugenaussagen gemacht.“

Ein drängendes Problem sind die zigtausend Christen, die 2008 ihr Hab und Gut verloren, in Angst und Verfolgung ihre Heimat verließen und jetzt von vorne beginnen müssen. Hilfe beim Neuanfang bekommen sie von der katholischen Kirche:

„Wir haben mehr als 2000 Häuser in Kandhamal gebaut. Sie haben dort keine Probleme, weil es Dörfer sind, wo die Nachbarn sie willkommen heißen. Wir haben ca. 15.000 Menschen umgesiedelt, der Rest ist irgendwo in Delhi, manche von ihnen leben in Zelten, manche in Mietshäusern, manche haben überhaupt keinen Ort, wo sie hingehen könnten, sie haben Angst, zurückzukommen. Wir hoffen, bis Ende dieses Jahres 3.000 Häuser fertig zu stellen, sodass wir weitere 25.000 Menschen umsiedeln können.“

An diesem Sonntag feierten die Christen Indiens den „Nationalen Tag der Märtyrer“, um all derer zu gedenken, die aufgrund ihres christlichen Glaubens ihr Leben verloren – dabei waren die Gedanken der indischen Christen natürlich besonders bei den Opfern von Orissa, deren Martyrium fast genau zwei Jahren zurückliegt. Es war kein Tag, an dem die Fronten sich verhärten sollten, erklärt der Erzbischof der Diözese Nahik, Felix Anthony Machado. Im Gespräch mit Radio Vatikan erläutert die besondere Bedeutung dieses Tages für den Prozess der Versöhnung in Indien:

„Wir müssen den Sieg des Guten über das Böse feiern. Dieser Tag muss eine Gelegenheit sein, Gott zu danken, denn das Leid ist keine Strafe Gottes. Das Leid ist ein Teil des Lebens als Christ und wir müssen dem Herrn danken, denn das Kreuz ist der Keim des Lebens und des Heils. Indien braucht eine wirkliche Versöhnung. Am Kreuz hat Jesus alles Böse und allen Hass überwunden: Das ist es, was wir Christen auch versuchen müssen, die Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung mit allen Menschen guten Willens wachsen lassen.“

Zwei Gesichter Indiens
Domradio vom 29.08.2010

Feiern für Mutter Teresa – und Aufarbeiten der Massaker von Orissa
Mit zahlreichen Festveranstaltungen feiern Kirche und Staat in Indien seit Donnerstag den 100. Geburtstag von Mutter Teresa. Diesen Sonntag aber hat die katholische Bischofskonferenz Indiens zum „Nationalen Tag der indischen Märtyrer“ erklärt. Gedacht wird der Gewalt gegen Christen vor zwei Jahren im indischen Bundesstaat Orissa. Zwei Gedenktage, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

„Wir können sie nicht vergessen“ – Kalkutta feiert Mutter Teresa – Grußbotschaft des Papstes (26.8.2010)Von August bis Oktober 2008 wüteten hinduistische Nationalisten gegen Christen, brachten Menschen um, vergewaltigten Frauen, darunter eine Ordensfrau; sie brandschatzten Kirchen und vertrieben Zehntausende Christen aus ihren Dörfern. Ein selbsternanntes „Volkstribunal“ unter der Leitung eines pensionierten Richters des Obersten Gerichtshofs hörte in dieser Woche in Neu Delhi Zeugen und Opfer der Gewalttaten und erinnerte an die bis zu 100 Ermordeten. Noch immer leben Tausende Christen in Notlagern, in denen es oft am Nötigsten fehlt. Nur wenige der Verantwortlichen für das Pogrom wurden bislang vor Gericht gestellt.

Immer wieder gibt es Meldungen über Gewalttaten und Unterdrückung von Christen, aber auch Muslimen und Buddhisten aus anderen Teilen Indiens. Joachim von Kölichen, evangelischer Pfarrer für die Deutschen in Nordindien, betont, es gebe zwar keine „systematische Gewalt“ gegen Christen, jedoch Unruhe und auch Gewaltbereitschaft. Er vergleicht die Lage mit einem Topf Wasser auf dem Herd: „Die Oberfläche brodelt noch nicht, aber immer wieder mal steigt eine Blase nach oben.“

Was die offene Gewalt angeht, so stimmt Pater Cosmon Arokiaraj seinem protestantischen Kollegen zu. Doch der Sekretär der bischöflichen Kommission für Dalit (Unberührbare) spricht von einer systematischen Unterdrückung der christlichen und muslimischen Dalit. Als Beleg führt er das Gesetz an, das zur sozialen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung der Dalit eine Art Quotensystem vorsieht. „Davon ausgenommen sind allerdings christliche und muslimische Dalit. Da kann man schon von einem System der Unterdrückung sprechen“, meint er.

Katholiken sind kleine religiöse Minderheit im Milliarden-Land

Christen sind mit geschätzten rund 23 Millionen Mitgliedern eine kleine religiöse Minderheit im Milliarden-Land Indien. Die größte christliche Einzelkonfession ist der Katholizismus. Rund 13 Prozent der Inder gehören dem Islam an. Die Gewalt gegen Christen und andere religiöse Minderheiten geht zumeist von nationalistischen Hindu-Organisationen aus, denen die Bharatiya Janata Party (BJP) nahe steht. „Die BJP will ein hinduistisches Indien“, sagt Cosmon Arokiaraj. „Sie wendet sich gegen alle anderen Religionen, auch den Buddhismus und Sikhismus, die sie nur als hinduistische Sekten ansehen.“

Im Wahlkampf 2009 spielten religiöse Themen keine Rolle. „Die BJP heizt nur dann religiöse Ressentiments an, wenn es ihr zur Erreichung politischer Ziele sinnvoll erscheint“, kritisiert Cosmon Arokiaraj. Denselben Vorwurf erhebt er auch gegenüber den Naxaliten, einem Netzwerk militanter maoistischer Gruppen, die in Orissa und anderen Teilen Westbengalens sowie im Norden Indiens über eine große Anhängerschaft unter den Dalits verfügt.

Dass sowohl die Naxaliten als auch der „Safran-Terror“ der Hindu-Nationalisten nach jüngster Einschätzung der indischen Bundesregierung zu großen „innenpolitischen Sicherheitsrisiken“ geworden seien, hätten sich die Regierungen verschiedener Couleur der vergangenen Jahrzehnte selbst zuzuschreiben, betont Cosmon Arokiaraj. Der Staat habe „total bei der Aufgabe versagt, Jobs, Schulen, Krankenhäuser, ordentliche Wohnverhältnisse für die Armen zu entwickeln“.

Naxaliten wie die Hindu-Nationalisten, erläutert der Pater, seien Minderheiten. Doch im Zeitalter der Globalisierung, die viele in Indien – etwa 70 Prozent der 1,2 Milliarden leben unter ärmsten Bedingungen auf dem Land – als neue Unterdrückung erfahren, fielen Ideologien, die Identität, Gleichheit und Gerechtigkeit versprächen, auf zunehmend fruchtbaren Boden.

Die beiden Jahrestage dieser Woche haben die beiden Gesichter Indiens gezeigt. „Orissa steht für das Indien der Gewalt, der Kasten, der Dalit, der sozialen Ungerechtigkeit“, sagt Cosmon Arokiaraj. „Mutter Teresa symbolisiert das Gesicht jener Inder aller Religionen, die für ein Land der Gleichheit stehen.“

Die »Rattenfresser« und der Monsun
Neues Deutschland vom 07.08.2010
Von Michael Lenz

Auch Deutschland hilft in den nordindischen Bundesstaaten
Bihar und Uttar Pradesh

In den nordindischen Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh hat im Juli der jährliche Monsun begonnen. Das heißt: viel Regen, die Pegelstände des Ganges, des Ghagra, des Ganga, des Koshi und anderer Flüsse, die aus dem Himalaya in Nepal kommend durch die nordindische Ebene fließen, steigen rasant. Das ist gut für die Landwirtschaft, dem wesentlichen Wirtschaftsfaktor im indischen »Kuhgürtel«. Nach der trockenen Jahreszeit mit heißen Temperaturen bis zu 50 Grad Celsius bringt der Regen neues Leben und die Überschwemmungen wertvolle Nährstoffe für die Felder und Wiesen.

Für die arme, besitzlose Landbevölkerung, die de facto rechtlosen Dalit, sind die Überschwemmungen jedoch nichts als eine Katastrophe, die sie ihre Hütten, ihr karges Einkommen und manchmal gar das Leben kostet. Trotz anderslautender Gesetzgebung ist Indiens Kastengesellschaft noch immer sehr lebendig, und die Dalit, die kastenlosen »Unberührbaren«, haben keine Hilfe von den Behörden zu erwarten. Das macht schon auf erschreckende Weise die Lage der Dörfer der Armen deutlich: Sie liegen auf der »nassen Seite« der Dämme, die die Kasteninder und ihren Besitz auf der »trockenen Seite« vor den Fluten schützen. Und die trockene Seite der Kasteninder bleibt für die Dalit selbst dann tabu, wenn die Fluten kommen. »Sie vertreiben uns mit Gewalt, wenn wir auf ihrem Gebiet Schutz suchen«, sagt Gita Devi, Vorsteher des Dörfchens Karanpur.
Den 135 Familien in Karanpur im Distrikt Begusarai in Bihar gehört nichts, nicht einmal das Stückchen Land, auf das sie ihre armseligen Hütten aus Bambus und Palmstroh gebaut haben, und erst recht nicht das äußerst fruchtbare Land rund um das Dorf, auf dem bei unserem Besuch im März sattgrün der Mais wächst, auch nicht die Obstbäume in der Ferne. Die Familien in Karanpur sind die Ärmsten der Armen. Sie sind Musahars, zu deutsch »Rattenesser«, oder genauer, »Die, die von Rattenfutter leben«. In früheren Zeiten gehörte es zu den Arbeiten der Musahar, die im Grunde Leibeigene waren, nach der Ernte die Felder von den Ratten zu »säubern«. Die Ratten wurden getötet, und die Musahar ernährten sich von den Getreidevorräten, die sich die Ratten in ihren Löchern für schlechte Zeiten angelegt hatten.

Auch heute noch dürfen sie die Felder nur als Arbeiter der wohlhabenderen Bauern betreten. Wer es wagt, mal einen Maiskolben, ein Stück Obst mit nach Hause zu nehmen, muss mit härtesten Strafen rechnen. »Einmal ist ein Kind zu Tode geprügelt worden, weil es sich eine Mango genommen hat«, erzählt Katrin Rothhaas, Regionalkoordinatorin Asien Süd der christlichen Hilfsorganisation »ADRA Deutschland«, die mit Mitteln der »Aktion Deutschland hilft« sowie des »Amts für humanitäre Hilfe der EU« (ECHO) in Karanpur und einigen Nachbardörfern ein Katastrophenpräventionsprojekt gestartet hat.

Gut 50 acht- bis zehnjährige Kinder sitzen in der einer nach allen Seiten offenen Halle auf dem kleinen Dorfplatz von Karanpur und lernen lesen, schreiben und überleben. Das ist nicht selbstverständlich. Die meisten Eltern in Karanpur schicken ihre Kinder nicht in die fünf Kilometer entfernte staatliche Schule. Das ist zu weit, aber sie können es sich auch nicht leisten, auf die Arbeitskraft der Kinder zu verzichten. Jeder in Karanpur wird gebraucht, um das karge Leben zu meistern. Kinder können die leichteren Arbeiten verrichten wie die Familienkuh hüten oder Kuhdung zu pizzagroßen Fladen zu formen und zum Trocknen durch die heiße Sonne an die Wände der Wohnhütte zu kleben, um so Feuermaterial zum Kochen zu erhalten.

Das Schulprojekt in Karanpur ist zeitlich befristet und hat nur das Ziel, die Kinder auf den Einstieg in die reguläre Schule vorzubereiten. Ob die Eltern die Kinder dann tatsächlich auf die staatliche Schule schicken werden, bleibt abzuwarten. »Es hat schon einiger Überredungskünste bedurft, damit die Eltern die Kinder in unsere Schule ließen«, sagt Rothhaas. In der von ADRA eingerichteten Schule lernen die Kinder aber auch, wie sie sich im Katastrophenfall zu verhalten haben. Stolz zeigt die kleine Sawita ein Bild von einem kleinen Mädchen, das aus Fluten gerettet wird. Dem sechsjährige Angres Kumar hat es in seinem Bilderbuch der Elefant angetan, der sich unter einem Tisch versteckt und seine dicken Vorderbeine über den Kopf geschlagen hat. Angres Kumar findet das superlustig, obwohl das Bild eine ernste Lektion erteilt, wie Risha Kumari, die Lehrerin in ihrem leuchtend gelben Sari, erklärt: »So lernen die Kinder, wie sie sich bei einem Erdbeben schützen können«, sagt sie. Denn in Bihar steht das Land nicht nur oft unter Wasser, es wackelt manchmal auch gewaltig.

Die Musahar und die Dalit ertragen seit Generationen die jährlichen Überschwemmungen durch den Monsun, der seit Menschengedenken regelmäßig das Land heimsucht. Aber in den letzten Jahrzehnten ist alles schlimmer geworden. »Früher stand das Wasser nur so hoch«, sagt Gita Devi und zeigt dabei auf eine Stelle seines Beins gut unterhalb des Knies. »Jetzt aber steigt das Wasser oft mehr als einen Meter. Außerdem kommen die Fluten jetzt häufiger und unvermittelter«, klagt der Mann, der alt aussieht, es aber vermutlich nicht ist, denn kaum einer der Männer in Karanpur wird sehr viel älter als 40.
Die Gründe für das veränderte Überschwemmungsverhalten der Flüsse in Bihar und Uttar Pradesh sind vielfältig. Da sind zunächst die Deiche, die die Überflutungsgebiete verkleinern. Folge: das Wasser steht höher und braucht länger, um wieder abzulaufen. Dann sind da die Dämme zur Erzeugung von Strom durch Wasserkraft. Die liegen größtenteils im Oberlauf der Flüsse im von Karanpur nur 120 Kilometer entfernten Nepal. Steigt der Wasserpegel in den Dämmen, lassen die nepalesischen Dammmanager das überschüssige Wasser ohne große Vorwarnung ab. Es entsteht eine Flutwelle, die sich in rasender Geschwindigkeit in die Ebene von Bihar und Uttar Pradesh ergießt und die durch die Monsunregen schon angeschwollen Flüsse weiter steigen lässt.
Zudem ist der Monsun, der früher präzise wie ein Uhrwerk funktionierte, in den letzten Jahren durch den Klimawandel unberechenbarer geworden. Er kommt später, dauert länger, die Regenfälle werden heftiger. Auch lässt der Klimawandel die Gletscher im Himalaya schmelzen, mehr Wasser kommt die Flüsse runter, die Pegel in den Dämmen steigen und dann siehe oben. »Der Klimawandel ist Dynamit«, sagte Yassine Gaba, Mitarbeiter des ECHO-Büros in Neu Delhi.

Die Überschwemmungen in Bihar hatten in den letzten Jahren biblische Ausmaße angenommen. »Wenn hier eine Katastrophe passiert, dann ist immer gleich eine sehr hohe Zahl von Menschen betroffen«, sagt Gaba und nennt als Beispiel die Flut von 2007 in Bihar. »Sie traf 59 Millionen der 96 Millionen Einwohner von Bihar. Das entspricht der Bevölkerung von Frankreich. Auch die Behörden waren völlig überfordert.« Oder 2009. Der Monsunregen im Verein mit einem Dammbruch machte in Bihar auf einen Schlag 1,2 Millionen obdachlos.

Bihar und Uttar Pradesh gehören zu den ärmsten indischen Staaten. Die landlosen Bauern leben als Tagelöhner, dürfen auf kleinen Fleckchen etwas Gemüse für den Eigenbedarf anbauen, verdienen sich ein paar Rupien mit dem Verkauf der Milch ihrer Kuh. Als Landarbeiter verdienen sie 25 Rupien am Tag. Und das auch nur in den drei Monaten im Jahr, in denen Landarbeiter für die Bestellung der Felder und die Ernte gebraucht werden. Wer keine Arbeit hat, zieht als Wanderarbeiter in die Stadt oder nimmt Kredite zu Wucherzinsen auf. »Sie sind hier alle hochverschuldet«, sagt Rothhaas.

Xavier Thomas, ADRA-Projektleiter vor Ort, sieht in der Landlosigkeit der Armen das Grundproblem, das durch eine gerechtere Landverteilung behoben werden könnte. »Eine umfassende Landreform wäre die Lösung, aber das ist nicht zu erwarten. Selbst Ansätze von Landreformen verpuffen, weil sie nicht umgesetzt werden«, sagt der Inder und fügt kritisch hinzu: »Wem gehört die Regierung? Den Reichen und Mächtigen.« Soziale Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Ausbeutung machten die Dalit und Musahar anfällig für die Parolen der Naxaliten, einer maoistischen Guerillabewegung, die seit einigen Jahrzehnten einen bewaffneten Kampf gegen die indische Regierung führt. Bihar ist eine der Hochburgen der Naxaliten, die inzwischen als das größte innenpolitische Sicherheitsrisiko Indiens gelten.

Indiens Regierung führt einerseits mit Polizei und Armee einen Krieg gegen die Naxaliten. Andererseits hat sie durch umfangreiche Sozialprogramme, die inzwischen einen Löwenanteil im Haushalt ausmachen, begonnen, den Armen zu helfen. Ein Arbeitsbeschaffungsprogramm zum Beispiel garantiert für 115 Rupien am Tag Armen maximal 100 Tage Arbeit pro Jahr. Zur Erinnerung: gut drei Monate pro Jahr können die Dalits und Musahar in Dörfern wie Karanpur ein Einkommen als Landarbeiter verdienen. Mit dem ABM-Programm haben sie jetzt schon ein halbes Jahr garantierte Arbeit. Das ist schon was in Indien. Zumindest in der Theorie.

Die Praxis sieht anders aus. Aus den ABM-Mitteln sollen

Infrastrukturmaßnahmen in den unterentwickelten Dörfern der Armen finanziert werden, die dann von den Dörflern selbst umgesetzt werden. Das können befestigte Wege sein oder auch die Installation von Solarlampen in Abuhar, einem Nachbardorf von Karanpur. An Investitionsprojekten mangelt es in den Dörfern nicht, in denen es von Strom bis zur Gesundheitsversorgung an allem fehlt. Aber es bedarf dazu Dorfvorsteher, Bürgermeister, Provinzpolitiker, die solche Projekte beantragen, die sich für die Armen überhaupt interessieren, die im notorisch korrupten Indien bereit sind, sich nur einen Teil des Budgets in die eigene Tasche zu stecken. Und es bedarf des Mutes der Armen, sich selbst Gehör zu verschaffen.

Den Armen zu ihrem Recht zu verhelfen, ist ein Ansatz der deutschen Hilfe in Bihar und Uttar Pradesh. »Wir stärken die Selbsthilfekapazitäten der Dorfgemeinschaften«, betont Maren Päch, Projektkoordinatorin des Malteser Hilfsdienstes, der in Uttar Pradesh aktiv ist. »Sie werden über ihre Rechte aufgeklärt und ermutigt, gegenüber der Distriktverwaltung Forderungen zu stellen.«

Aber zurück zum Monsun, den Überschwemmungen und den Katastrophenpräventionsprojekten von ADRA und den Maltesern. In den Dörfern haben sie Task Forces gegründet, die in den Überschwemmungszeiten aktiv werden. Eine ist darauf vorbereitet, Ertrinkende zu retten, eine andere fertigt Pläne an, die besonders flutgefährdete Stellen zeigen, die nächste leistet Erste Hilfe, um nur drei Beispiele zu nennen. Was so selbstverständlich klingt, ist in den Dörfern, in denen jeder mit dem eigenen Überleben im Hier und Jetzt beschäftigt ist, alles andere als normal. Rothhaas sagt: »Man kann seine Zukunft nicht planen, wenn man sich in der Gegenwart unwohl fühlt.«

Es gibt auch eine Task Force, die für die Aufklärung der Bevölkerung über Flutrisiken, Schadensminimierungstechniken und soziale Rechte zuständig ist. Und weil es eben Indien ist, arbeitet sie mit allen Tricks und Techniken, die durch die Bollywoodfilme weltberühmt geworden sind: Musik und Tanz, Tanz, Tanz.

Auch wenn man als des Hindi unkundiger Europäer nichts von dem versteht, was die Straßentheatergruppe auf der provisorischen Bühne auf dem staubigen Dorfplatz von Babhein singt und erzählt, macht allein das Zuschauen einen Heidenspaß. Und Spaß haben auch die Dörfler, die an diesem Nachmittag mal Fünfe gerade sein lassen und sich eine Stunde lang wie Bolle amüsieren. Aber jeder ist sich auch bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das Wasser wiederkommt. Dorfchef Aditya Kumar spricht den Menschen aus der Seele, wenn er leise sagt: »Die nächste Flut kommt bestimmt. Alle haben hier Angst.«

Kastenlose in Indien – Menschenwürde für Dalits
jesus.ch vom 26.07.2010
Von Peter Schmid

Indische Christen kämpfen für die Gleichstellung und menschenwürdige Behandlung der Dalits, der Kastenlosen im Land. Das Oberste Gericht soll die staatliche Benachteiligung der Dalits aufheben, die der Hindu-Ordnung den Rücken kehren und Christen oder Muslime werden. Im Riesenland kommt es täglich zu Gewalttaten gegen Kastenlose – und manchmal zu bizarren Protestaktionen.

Dalits erhalten nach dem staatlichen Quotensystem, das eingerichtet wurde, um ihrer sozialen Misere abzuhelfen, einen bestimmten Prozentsatz von Studienplätzen und Beamtenstellen. Doch jene Dalits, die Christen oder Muslime werden, verlieren diesen Anspruch. Gegen diese Ungerechtigkeit kämpft ein Verbund von Organisationen an. Vor sechs Jahren wurde eine Klage beim Obersten Gericht eingereicht. Ob und wie es urteilen wird, ist weiterhin ungewiss.

Protest in Delhi

Um Druck zu machen, führten Vertreter von Dalit-Christen und -Muslimen am 21. Juli in der Hauptstadt New Delhi eine Protestveranstaltung durch, mit Unterstützung der Bischofskonferenz und des Nationalen Kirchenrats. Laut Berichten nahmen mehrere tausend Personen daran teil. Sam Paul vom Allindischen Christenrat AICC unterstrich die Forderung, die Verfassungsweisung von 1950 zu ändern, die Christen und Muslimen mit Dalit-Herkunft den Status der Dalits (und damit ihre Quotenberechtigung) abspricht. Die Bestimmung lautet, dass nur Hindus, Sikhs und Buddhisten auf die Liste der berechtigten Kasten (Scheduled Castes) kommen.

Laut Franklin Caesar, der den Protest organisierte, verletzt diese Bestimmung die verfassungsmässigen Rechte von Dalits – aufgrund von Religion dürfe nicht diskriminiert werden. Die Sprecher der beteiligten Organisationen unterstrichen, dass Christen und Muslime hier miteinander kämpfen. Sam Paul bewertete vor den Versammelten Gesetze positiv, welche die amtierende Regierung Singh zur Besserstellung der Landbevölkerung und der Frauen verabschiedet hat. Nun seien Dalit-Christen an der Reihe. Das Christentum wie der Islam sehen alle Menschen als Geschöpfe Gottes an.

Bürger wie Untermenschen behandelt

Vorfälle der letzten Wochen erhellen die dramatische Lage von Millionen Menschen, denen menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen versagt werden, obwohl sie im modernen Indien grundsätzlich gleichberechtigte Staatsbürger sind und zwischendurch als Wähler umworben werden. Die Volkszählung 2001 ergab 167 Millionen Dalits. Regelmässig berichten Medien, dass Dalit-Mädchen vergewaltigt wurden, nicht selten von mehreren Männern. Der grösste Teil der Vorfälle wird jedoch nicht gemeldet.

Ehrenmord

Die Dalits stehen ausserhalb des Kastensystems der Hindus. Die Verachtung sitzt so tief, dass auch Angehörige der tiefsten Hindu-Kasten sich von ihnen abgrenzen und Ehen mit ihnen ablehnen. Sangeeta von der Hirtenkaste der Gujjar hatte sich in einen Dalitburschen aus ihrem Dorf in Uttar Pradesh (UP) verliebt. Die beiden zogen weg, heirateten und fanden in einer Satellitenstadt der Hauptstadt Delhi Arbeit. Als Sangeetas Familie davon Kenntnis bekam, überzeugte sie sie heimzukehren, angeblich um die Heirat im Dorf zu feiern. Als Sangeeta nichts ahnend eintraf, wurde sie von Vater und Bruder erdrosselt und auf einem Feld verbrannt. Auf eine Anzeige des Mannes hin forschte die Polizei nach und verhaftete die beiden und zwei weitere Personen.

«Die Kaste ist das grösste Problem dieses Landes. Die ungeheure Gewalt, welche Dalits von Tag zu Tag erleiden, trifft sie aus Kastengründen», schrieb Vidya Bhushan Rawat nach einem Gerichtsurteil. «Kinder werden brutal umgebracht – und wir schämen uns nicht einmal. Tatsächlich sind wir stolz, unsere Ehre zu ‚schützen‘, indem wir unsere Kinder, die zu lieben wagten, umbringen.» Der Menschenrechtler beklagt, dass der Kastenstolz die Menschen voneinander fernhält. Eine so zertrennte Gesellschaft könne aber keine demokratische Kultur aufbauen.

Durch Lehrer malträtiert

In Etawah (UP) haben fünf Dalit-Oberstufenschüler gegen die Misshandlung durch Lehrer protestiert. Sie seien, weil einer ein Handy auf sich trug, zu Boden geworfen und vom Schulleiter und vier Lehrern geschlagen worden. Die Schüler traten in den Hungerstreik, der Schulinspektor des Distrikts untersuchte den Vorfall. Der Schulleiter hatte ihn geleugnet.

Fäkalien-Protest

Kastenhindus suchen sich kultisch reinzuhalten; schmutzige Arbeiten sind den Dalits überlassen. Die Gruppe, die Fäkalien beseitigt, wird besonders verachtet. Seit 70 Jahren hatten Bhangi dies in der Stadt Savanur im Norden des Gliedstaats Karnataka getan. Sie hausten in primitiven Hütten auf städtischem Land. Kürzlich entschieden die Behörden, dort Geschäftsbauten zu erstellen. Als die Bhangi nicht wichen, stellte die Stadt ihnen das Wasser ab und liess Kehricht vor den Hütten ausleeren. Frauen der Gemeinschaft wurden beschimpft und bedroht. Zu den Einwänden der Bhangi stellte man sich taub. Am 20. Juli griffen sie zu einer extremen Form des Protests: Sie marschierten zur Amtsstelle und übergossen sich selbst mit Fäkalien. Auch dies brachte die Behörden nicht vom Entscheid ab, sie zu vertreiben. Ein Beamter behauptete, man habe den Bhangi verschiedentlich andere Wohnungen angeboten.

Ein Gericht im Gliedstaat Maharashtra hat Todesstrafen für den Mord an vier Dalits 2006 in 25jährige Haftstrafen umgewandelt. Sechs Männer waren 2008 zum Tod verurteilt worden, weil sie im entlegenen Dorf Khairlanji eine Mutter und drei Kinder im Zuge eines Landstreits getötet hatten. Zwei erhielten damals lebenslänglich, drei wurden freigesprochen. Der Mob hatte die Dalits aus ihrer Erdhütte gezerrt und geschlagen und die Mutter und Tochter vergewaltigt. Der Vater konnte entkommen; er sah den Untaten hilflos zu und strengte später mit Hilfe von Bürgerrechtlern ein Verfahren an.

Die Delegierten der Elften Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Stuttgart haben den LWB am Montag aufgefordert, die Befreiung und die Wiederherstellung der Menschenwürde von 250 Millionen unterdrückten und diskriminierten Dalits in Indien, Nepal und anderen Regionen Südostasiens zu einer Priorität in seiner Mission, seiner Arbeit und seinem Zeugnis vom Evangelium Jesu Christi zu machen. Damit wurde das Votum der letzten LWB-Vollversammlung im kanadischen Winnipeg 2003 bekräftigt.

Eine Begegnung mit einem indischen Dalit-Aktivisten
Jungle World vom 27.05.2010
Von David Schwarz

In Indien ist das Kastenwesen seit 1950 abgeschafft. Trotzdem ist es nach wie vor in der Gesellschaft allgegenwärtig. Sogenannte Unberührbare und indigene Gruppen werden systematisch diskriminiert und ausgebeutet. Nicht einmal das elementare Recht auf Nahrung wird garantiert. Das wollen NGO durch Lobbyarbeit ändern.

Shahrukh Khan ist in Indien ein Nationalheld. An allen Ecken Hyderabads strahlt der größte Bollywood-Star des Landes von Plakaten, die für seinen neuesten Streifen werben. Helle Haut, strahlend weiße Zähne, Waschbrettbauch. So sehen Helden in Indien aus.

Der Mann in dem kleinen Büro in der Innenstadt Hyderabads wirkt fast wie ein Gegenbild: die Augen stets ein wenig zugekniffen, um die Lippen ein konstantes Lächeln, Schnurrbart, Bauchansatz und gemütlicher Gang. Dem romantischen Bild des Kämpfers für die Armen und Schwachen entspricht David Sudhakar definitiv nicht.

Im Jahr 1959 wird er in einer Militärkaserne in Himachal Pradesh, im hohen Norden Indiens, geboren. Das Leben des »Unberührbaren«, des Dalit David Sudhakar, fängt jedoch erst acht Jahre später an. Zu welcher Kaste er gehört, weiß Sudhakar vorerst nicht. Bis zu seinem siebten Lebensjahr wächst er mit seinem fünf Jahre älteren Bruder und den Eltern in einer Militärkaserne auf. Sein Vater patroulliert als einfacher Soldat an der pakistanischen Grenze, bis er sich zur Polizei versetzen lässt. Sudhakars Familie zieht zurück zu den Großeltern nach Andhra Pradesh, im Süden des Landes. Auch dort wohnen Davids Eltern mit ihren Söhnen weitgehend isoliert vom Rest der Gesellschaft, diesmal in einer Polizei-Kolonie. Beide Kinder besuchen die Schule auf dem Campus und verlassen kaum die große Siedlung. »Ich wuchs behütet in einer Oase auf. Bis ich die Realität kennenlernte. Diesen schlechten Witz, der sich Demokratie nennt«, erzählt David bei einer Tasse Milchtee in seinem kleinen Büro in Hyderabad.

Auf den Schreibtischen stapeln sich Ordner und Zeitungsartikel, Plakate einer Kampagne für die Rechte von Tempelprostituierten (Jungle World, 16/09) liegen auf dem Boden. Aus dem behüteten Kind ist ein politischer Aktivist geworden. Meist spricht er leise und bedacht, und schon nach wenigen Minuten wird klar: Dieser Mann ist Realist. Aber auch: In ihm brennt ein Feuer.

»In dem Dorf meiner Großeltern war es wie in den meisten Dörfern. Wir Dalits durften die Brunnen im Dorf nicht benutzen, die Unberührbaren besaßen kein Land und mussten als Tagelöhner die Äcker der Höherkastigen bestellen. Statt Lohn gab es meist Essen direkt auf die Hand. Teller waren den ›Unreinen‹ nicht gestattet.«

Offiziell ist die »Unberührbarkeit« samt ihrer sozialen Implikationen in Indien seit 1950 abgeschafft. Die Realität sieht jedoch anders aus. Vor allem in den Dörfern, wo über 70 Prozent der 1,1 Milliarden Inderinnen und Inder leben, werden die verschiedenen Spielarten des sozialen Ausschlusses, der Diskriminierung und der Ausbeutung von sogenannten Unberührbaren und Niedrigkastigen nach wie vor praktiziert. David berichtet darüber, wie sich das im Alltag manifestiert: Dalit-Kinder, die im Klassenzimmer abseits der anderen Schüler sitzen. Unberührbare, die sich nicht zu den Tempeln trauen, denen Arbeiten verboten werden, die nicht den traditionellen Berufen der Dalits entsprechen. Unberührbare, die sich ihre Sandalen ausziehen, wenn sie an den Häusern von Höherkastigen vorbeilaufen. »Das Tragische ist, dass die meisten Dalits nicht aufbegehren, sondern sich fügen. Sie fühlen sich tatsächlich ›unrein‹, als wären sie weniger wert.« Auf dem kleinen Tisch vor ihm liegen verschiedene Dokumentationen und Berichte über die Situation der Dalits, über Mangelernährung in Indien und geschlechtsspezifische Diskriminierung. David hat diese Reports im Auftrag diverser NGO mitverfasst. Seit über 20 Jahren arbeitet er als freier Gutachter für NGO und wird fast immer für redaktionelle Aufgaben und Recherchearbeiten engagiert. Früher schrieb er auch im Auftrag staatlicher Stellen, »aber die Regierung verlangte immer positive Resultate ihrer Evaluationen. Und ich wollte einfach keine Lügen zu Papier bringen«, begründet David seinen Entschluss, nur noch für nicht-staatliche Stellen zu arbeiten. Derzeit schreibt und recherchiert er regelmäßig für die internationalen NGO Action Aid und Fian (Food Information and Action Network).

»Der Bedarf an kompetenten Gutachtern ist gerade größer als das Angebot. Ich muss immer wieder Anfragen von Organisationen ablehnen. Schon jetzt arbeite ich täglich an drei, vier verschiedenen Projekten und an mehreren Berichten gleichzeitig.« Aber immer nur an einer Sache zu arbeiten, meint er lächelnd, »das wäre mir auch zu langweilig«.

Ganz oben auf dem Stapel der diversen Publikationen liegt der »Dalit Human Rights Monitor 2003 – 2006, Andhra Pradesh«, den Sudhakar zum Großteil geschrieben hat. Darin finden sich Dokumentationen der alltäglichen Diskriminierung und Ausgrenzung von Dalits, die sich nicht spektakulär lesen, deren Wirkung auf die Betroffenen aber erahnbar sind. Der Report enthält aber auch Berichte, die Assoziationen zum Ostkongo wecken. Das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Dalit-Mädchen und -Frauen und die Selbstherrlichkeit der Täter, die aus ihrer Kaste das Recht ableiten, über den Körper anderer Menschen zu bestimmen, hinterlassen Fassungslosigkeit.

Warum wehren sich die Dalits nicht entschiedener? Wie können solche Verhältnisse akzeptiert werden? Indien, die größte Demokratie der Welt, die aufsteigende IT-Macht, die rauschenden Bilder Bollywoods. All das erscheint Lichtjahre entfernt von den düsteren Zuständen hinter der bunten Fassade des Landes.

»Europäer und US-Amerikaner sind geschockt, wenn sie das Ausmaß der Kastendiskriminierung erkennen und all die Unternährten und Bettler sehen. Aber das ist eben Indien. Und die allermeisten Menschen finden sich damit ab«, meint Sudhakar lakonisch. Auch er traute sich lange nicht in bessere Restaurants und Hotels. Seine dunkle Hautfarbe, seine äußere Erscheinung geben ihn als Dalit zu erkennen. Falls die Sozialisation nicht gerade in einer abgeschotteten Kolonie stattfindet, gehört das intuitive Zuordnen bestimmter Attribute wie Hautfarbe, Aussprache, Mimik und Gestik zu einer der Kastenkategorien zu den notwendigen Lernerfahrungen einer indischen Kindheit. Nach wie vor werden die meisten Ehen in Indien von den Eltern arrangiert, und die Suche nach einem geeigneten Partner findet wie selbstverständlich in der eigenen Kaste statt. Zwar werden diese Barrieren innerhalb der gebildeten Mittelschicht zunehmend abgebaut, der Großteil der Gesellschaft folgt aber nach wie vor der Logik des Kastensystems, wenn es um Elementares wie Essen, Ehe und Bestattung geht. Eine der sozialen Funktionen des Kastensystems war und ist die Aufteilung produktiver und reproduktiver Tätigkeiten unter den verschiedenen Gruppen. Je niedriger die Kaste, desto »unreiner« die ihr zugeordnete Tätigkeit. Einmal in eine Kaste geboren, ist es dem Individuum nicht möglich, gesellschaftlich aufzusteigen. Auch die Heirat mit einem Höherkastigen sorgt nur für dessen Ab-, nicht für den eigenen Aufstieg. In Indien selbst ist das Kastensystem regional sehr unterschiedlich ausgeprägt und nicht auf Hindus beschränkt. Auch in den christlichen und muslimischen Gemeinden, ebenso wie unter den Sikhs, existieren Kategorien und Praktiken, die klar dem Kastensystem entlehnt sind. So unterschiedlich die einzelnen Spielarten ausfallen, das Grundprinzip bleibt dasselbe: Lass dich treten und tritt nach unten.

Für Sudhakar waren die Berichte über die Black-Power-Bewegung in den USA der Wendepunkt in seinem Leben: »Diese Leute waren stolz auf ihre schwarze Haut, sie waren rebellisch und fordernd. Das hat mich für immer verändert.« Heute existiert in Indien eine breite Bewegung für die Rechte von Unberührbaren, die von Teilen der hindunationalistischen BJP bis zur maoistischen Guerilla reicht. Bedeutend ist aber, dass es vor allem Dalits selbst sind, die für ihre Rechte eintreten. Dabei geht es jedoch nicht immer harmonisch zur Sache. Auch innerhalb der Dalit-Community existieren Hierarchien und unterschiedliche Sub­kategorien. Im Alltag äußert sich das allzu oft in der Reproduktion des Verhaltens von Höherkastigen: Es wird nach unten getreten. Und wer ganz unten in der Hierarchie steht, kann immer noch Frauen und Kinder treten.

Auf politischer Ebene kommen konkrete materielle Interessen hinzu. Aufgrund offizieller Klassifizierungen der unterschiedlichen sozialen Gruppen kommen deren Angehörige in den Genuss bestimmter sozialer Leistungen. Gegenwärtig wird zwischen backward castes (untere Kasten), scheduled castes (Dalits) und scheduled tribes (indigene Gruppen) unterschieden. Die Strategie der affirmative action soll den diskriminierten Gruppen den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen.

Im Falle der indigenen Gruppen, der Adivasis, ist dies noch ein weiter Weg. Die meisten Indigenen leben in Armut, oft in einfachen Hütten auf dem Land oder in Slums in den Städten. Adivasis und Dalits stellen gemeinsam ein Viertel der Bevölkerung Indiens. Arme gibt es aber noch mehr: Knapp 80 Prozent der Bevölkerung müssen derzeit mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. »Die Armut in Indien kann nur vom Staat effektiv bekämpft werden, NGO können im großen Maßstab nichts ändern«, meint Sudhakar. Deswegen habe er sich vor Jahren dazu entschieden, vom Staat die Erfüllung seiner Pflichten einzufordern. Mit diesem rights-based approach versuchen hunderte NGO, die Regierung mit dem Verweis auf Rechte eines jeden Staatsbürgers in die Pflicht zu nehmen. Dadurch werden sich Machtverhältnisse nicht grundlegend verändern. Doch angesichts der grassierenden Armut und der unzähligen Formen sozialer Diskriminierung wäre eine Umsetzung der liberalen indischen Gesetzgebung schon ein gewal­tiger Schritt nach vorne. Sudhakar weiß, dass sein Ansatz völlig auf den Staat und seinen Beamtenapparat bezogen ist und keine fundamentalen Veränderungen erreichen kann. Revoluti­onären Gruppen steht er offen, aber kritisch gegenüber. »Viele, auch die maoistische Guerilla, haben nicht primär die Verbesserung von Lebensbedingungen zum Ziel, sondern die Vergrößerung des Einflusses der jeweiligen politischen Gruppe.« Er aber wolle konkrete Veränderungen, jetzt und hier. Daher fordert er bestehende Rechte ein. Zum Beispiel das Recht auf Nahrung.

Von diesem Recht wissen die Yanadis zwar, satt macht es sie aber nicht. Eines der Dörfer dieser indigenen Gruppe im Süden Andhra Pradeshs besucht David mit einer Delegation der Fian. Hier leben die Menschen in Strohhütten, unfertige Fundamente für kleine Betonhäuser stehen deplaziert neben den Behausungen. »Nach dem Tsunami brachte uns die Regierung hierher und versprach uns, diese Häuser zu bauen. Passiert ist seither nichts«, berichtet der Dorfvorsteher der schwedischen Fian-Mitarbeiterin Lina. Gemeinsam mit Sudhakar besucht sie Gemeinden der Yanadis, um deren Situation zu dokumentieren und den Staat zum Handeln zu drängen. In der prallen Sonne sammeln sich die Dorfbewohner um die angereiste Delegation, die Kamera des schwedischen Fotografen klickt unablässig. Die Menschen hier sind arm, das steht außer Frage. Aber das Elend der Slumbewohner in den Städten, der Bettler und der Verstümmelten auf den Straßen indischer Metropolen wirkt erbärmlicher, dramatischer.

»Mangelernährung ist einfach nicht sexy«, meint Lina bei einer Pause im Schatten einer Hütte. »Erst, wenn die Menschen anfangen zu sterben, kommen auch die Reporter. Vorher interessiert so ein Dorf einfach niemanden.« Die Fahrt geht weiter, in ein anderes Dorf der Yanadis. Unermüdlich übersetzt Sudhakar die Fragen der Fian-Delegierten. Auch hier das gleiche Bild: Die Menschen haben zu wenig zu essen, das staatliche Subventionssystem für Reis funktioniert nicht. Die zuständigen Beamten verlangen zuviel Bakschisch. Die Bewohner verbringen ihre Tage mit dem Sammeln von Beeren, die Männer gehen immer wieder fischen. Allerdings nur noch mit mäßigem Erfolg, der Fischbestand in den Flüssen schwindet zusehends. »Alkohol ist ein großes Problem«, meint Gurdala Nagarhu und fügt hinzu, dass »wir zum Glück meist kein Geld haben, um etwas davon zu kaufen«.

Der Tag endet mit einer Diskussion mit der ganzen Gemeinde. Die Yanadis sitzen auf dem staubigen Boden, die Gäste müssen auf Stühlen Platz nehmen. Das gehört sich so. Wo sieht sich die Gemeinde in 20 Jahren? Aufgeregtes Gemurmel und schließlich die Antwort des Dorfvorstehers: »Unsere Kinder sind unsere Hoffnung, sie brauchen Bildung und müssen neue Fähigkeiten erlernen. Unsere Art zu Leben hat keine Zukunft.«

Doch in diesem Dorf geht derzeit kein einziges Kind zur Schule. »Die Yanadis setzen große Hoffnungen in die NGO, die hier aktiv sind«, meint Sudhakar, erschöpft. »Aber ich finde es schlimm, dass sie so abhängig von uns sind.«

Zurück in Hyderabad arrangiert Sudhakar ein Treffen mit Straßenkehrerinnen in einem Dalit-Viertel der heranwachsenden Mega-City. Gemeinsam mit seiner Frau engagiert er sich seit mehreren Jahren auch für die Rechte der Putzkräfte der Stadt, ehrenamtlich. Ein kleines Häuschen in dem Slum dient als Büro der Gewerkschaft der Straßenkehrerinnen. Acht Frauen, alle Dalits, berichten von ihren Arbeitskämpfen, den alltäglichen Schikanen und Belästigungen durch die Vorgesetzten. »Seit den neunziger Jahren sind wir nicht mehr bei der Stadt, sondern bei einer Vertragsfirma angestellt, wir wurden outgesourct. Von unseren Löhnen behielt die Firma meist den Großteil ein und machte immer Druck, noch mehr zu arbeiten«, erzählt Sandhya Madigha. Mit Unterstützung der Kommunistischen Partei und einiger NGO begannen die Straßenkehrerinnen einen Streik. »Doch die kommunistischen Gewerkschaften knickten wie immer schnell ein und einigten sich mit der Firma«, fährt die resolute 50jährige aufgebracht fort. Also gründeten die Frauen eine eigene Gewerkschaft, setzten den Streik fort und sorgten für ausreichend öffent­liches Interesse, um ihre Forderungen durchsetzen zu können. Heute sind über 80 Prozent der Straßenkehrerinnen Hyderabads in der Gewerkschaft organisiert, der Lohn wird regelmäßig ausgezahlt.

Einige Wochen später sitzt Sudhakar in New Delhi im Foyer des Fünf-Sterne Hotels Hyatt. Hier findet ein kurzes Treffen mit einem Abgeordneten der Kongresspartei statt. Der Volksvertreter aus Andhra Pradesh wurde vom National Dalit Committee als potentieller Unterstützer eines neuen Gesetzes ausgemacht und angesprochen. Lobbyarbeit gehört zu den unbeliebten Tätigkeiten von Sudhakar, denn »eigentlich ist Schreiben und nicht Reden meine Stärke«. In einer Umgebung wie dieser fühlt sich der studierte Ökonom sichtlich unwohl. »Es sind die Blicke, das Ignorieren durch das Personal, die kleinen, kaum wahrnehmbaren Dinge, die mir sagen: Du bist anders.« Sudhakars Gang beim Verlassen des Prunkbaus hat sich sichtbar verändert. Mit eingezogenen Schultern und dem Blick auf den Boden passiert er die Lobby. Dort hängen die gleichen Filmplakate wie in Hyderabad. Sudhakar schlurft ins Freie, Shahrukh Khan strahlt.

Wendy Doniger: The Hindus
Lebendig sind die Götter und sehr wandelbar
F.A.Z. vom 20.05.2010
Von Axel Michaels

Souverän, humorvoll und mit Eigensinn: Wendy Doniger hat eine Geschichte des Hinduismus vorgelegt, die auf der Vielfalt dieser Religion besteht.

Wendy Doniger ist die Nachfolgerin von Mircea Eliade am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Chicago. Seit Jahrzehnten schreibt die Indologin über Indien, besonders über die Mythologie des Hinduismus. Sie hat grundlegende Texte übersetzt, darunter den Rigveda, das Kamasutra oder Manus Gesetzbuch. Manche ihrer Bücher entfachten Diskussionen, aber ihr neuestes, „The Hindus – An Alternative History“, hat einen Sturm der Entrüstung, vor allem in Indien, ausgelöst. Es gibt wütende Rezensionen in führenden Zeitungen, persönliche Angriffe, hasserfüllte Websites und eine Online-Petition an den Penguin Verlag, das Buch sofort vom Markt zu nehmen.

Der Fall ist exemplarisch und ein Warnsignal für die akademische Freiheit in Zeiten transkultureller Verwicklungen. Blasphemie oder auch eine „Talibanisierung“ des Hinduismus werden der Autorin vorgeworfen. Tatsächlich ist das wissenschaftliche Schreiben über den Hinduismus immer öfter Ziel von Angriffen konservativer Hindus.

Monotheistische Religionen auf der Anklagebank

Aus der Sicht der meist hindu-nationalistisch eingefärbten Kritiker mangelt es einigen westlichen Autoren an Respekt gegenüber „dem Hinduismus“. Schließlich seien es überwiegend Nicht-Hindus, die über diese Religion schrieben und dabei mit westlichen, „weißen“ Wertvorstellungen verunglimpften. Dagegen müsse man sich wehren, ja einen Glaubenskampf führen.

Wenn es um Fundamentalismus bei Religionen geht, saßen bislang eher die monotheistischen Religionen auf der Anklagebank. Schon Arthur Schopenhauer hatte festgestellt, dass „fanatische Greuel uns doch nur von den Anhängern der monotheistischen Religionen, also allein des Judentums und seiner zwei Verzweigungen, Christentum und Islam, bekannt sind. Von Hindu und Buddhaisten wird Dergleichen uns nicht berichtet.“

Das war damals so falsch wie heute, denn auch die Geschichte des sogenannten „Hinduismus“ kennt fanatische Auswüchse gegen Andersgläubige. Fragt sich nur, wer diese Hindus eigentlich sind. Den Begriff „Hinduismus“ gibt es erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts; er stammt von den Briten. Die Inder selbst nannten noch weit in das 20. Jahrhundert hinein ihre Kaste, wenn sie, zum Beispiel bei den britischen Volkszählungen, nach ihrer Religion gefragt wurden. Erst in Abgrenzung zu Fremdherrschern (Muslimen, Briten) und anderen Religionen (Islam, Christentum) sahen sie sich zunehmend als Anhänger einer Religion.

Keine einheitliche Identität des Hinduismus

Eine einheitliche Identität des Hinduismus gibt es freilich nach wie vor nicht. Weder kennt man einen Stifter oder ein religiöses Oberhaupt wie den Papst noch eine einheitliche Doktrin, ein allseitig akzeptiertes Symbol, ein religiöses Zentrum, eine einheitliche Priesterschaft oder einen für alle verbindlichen heiligen Text. Die Briten versuchten, ebendiese Einheit des Hinduismus herzustellen. Es gelang ihnen teilweise, aber nur, indem sie sich überwiegend auf die traditionellen Schriftgelehrten Indiens, die Brahmanen, und deren Sanskrittexte verließen.

Wendy Donigers Buch hat vor allem zum Ziel, andere Stimmen zu Gehör zu bringen, die das überkommene Bild des Hinduismus zurechtrücken sollen: die Stimmen der Frauen und die Stimmen von Mitgliedern anderer Religionen, Kulturen, Kasten, Unterdrückten, ja sogar die Stimmen der Tiere, besonders von Pferd und Hund. Es geht ihr, wie sie sagt, nicht immer nur um „Brahmanen, Sanskrit und die Bhagavadgita“. Es geht ihr eben um eine alternative Geschichte des Hinduismus, aber auch um eine Geschichte der Subalternen. Sie wendet sich gegen die Vorstellung, dass der Hinduismus immer nur exotisch, erotisch, spirituell und darüber hinaus ewig unveränderlich sei.

Dabei ziehen sich bestimmte Themen durch ihr Buch: Gewalt und Gewaltlosigkeit (ahimsa) gegenüber Menschen und Tieren, damit auch religiöse Toleranz, Vegetarismus und Tieropfer, genauso wie die Spannungen zwischen Askese, Sexualität und Leidenschaft. Alle großen Themen des Hinduismus kommen zur Sprache: Reinkarnation und Karma, Opfer, die devotionale Verehrung von Göttern (bhakti), Befreiung (moksha), Tantra ebenso wie Rudyard Kiplings Roman „Kim“ oder Mahatma Gandhis Einfluss auf den Hinduismus.

Psychoanalytische Auslegung der Epen und Mythen

Doniger räumt mit liebgewordenen Vorurteilen oder Klischees auf. Sie führt vor, dass Indien nicht nur spirituell, sondern sehr weltlich gewesen ist, nicht nur tolerant und friedlich, sondern besonders in den Epen gewalttätig und brutal, nicht nur rein und keusch, sondern sexualisiert und lüstern. Sie zeigt auf, dass die Muslime dem Hinduismus nicht, wie die HinduNationalisten behaupten, nur geschadet haben, auch wenn sie viele Tempel zerstörten und Konversionen erzwangen. Das ausgeprägte Wallfahrtswesen, die Ashrams und Sekten, ja sogar die hingebungsvolle Verehrung der Götter Rama und Krishna verdanken dem Einfluss des Islams vieles.

In Detailstudien, mitunter preziösen Vignetten, analysiert sie Götter – wenn auch in eigenwilliger Form: Krishna etwa ist bei ihr ein Kriegstreiber, weil er in der Bhagavadgita Arjuna anhält, seine Verwandten zu töten; der Dämon Ravana, der Sita nach Lanka entführt und als Inbild des grausamen Dämons gilt, kommt dafür vergleichsweise gut weg. Oder sie behauptet, dass Sita nicht nur die reine, keusche Frau Ramas war, sondern auch ein begehrendes Auge auf Ramas Bruder Lakshman geworfen habe. Für diese Darstellung und ihre psychoanalytische Auslegung der Epen und Mythen wurde Doniger bereits 2003 in London von einem fanatischen Hindu-Aktivisten attackiert.

Donigers Buch ist geprägt vom persönlichen Stil und von den Vorlieben der Autorin. Sie bedient sich streckenweise einer umgangssprachlichen, mitunter sexualisierten Sprache. Immer wieder bringt sie Assoziationen zur Gegenwart an, etwa wenn George W. Bush als eine zeitgenössische Form von Kalki – Vishnus Erscheinungsform als zerstörerisches Pferd am Ende eines Zyklus der Weltperioden – beschworen wird. Sie ist voller Humor, liebt Wortspiele – etwa linga franca für die Ubiquität des Linga, des Symbols für den Gott Shiva -, verweist auf Filme, vorzugsweise von Woody Allen, und moderne Literatur. Das ist nicht jedermanns Geschmack, aber ihr souveräner Umgang mit der Sprache ist oft durchaus ein Lesevergnügen.

Vielfalt statt Einheit

Was uns vorliegt, ist Wendy Donigers Hinduismus, getragen von profundem Wissen, großer Sympathie für ein komplexes und sich ständig wandelndes Indien und voll von originellen Ideen. Wer schon etwas mit Indien vertraut ist, wird von dem Buch lernen können. Das Buch muss manchen als Bedrohung des Projekts eines homogenen, hinduistisch dominierten Nationalstaates erscheinen. Doniger führt vor Augen, was diese Kritiker leugnen: Vielfalt statt Einheit, Lebendigkeit statt Sturheit, idiosynkratische Qualitäten statt Dogmatik. Die Hindu-Rechten wollen, wie Doniger selbst bemerkt, eine Art Papsttum und die Idee von Orthodoxie in den Hinduismus schmuggeln. Für die Forscherin sind Hindus aber das „Regenbogenvolk“, ein Vorbild für eine multikulturelle, multireligiöse, hybride Welt. Für diese Idee opfert sie sogar die Definition des Hinduismus. Wo keine Einheit ist, kann es keine Definition geben.

Leider verfehlt Doniger, diese Fähigkeit zur Vielfalt als das bestimmende Merkmal des Hinduismus oder, wie man treffender sagen sollte, der Hindu-Religionen herauszuarbeiten. Denn bei allen anderen Weltreligionen lassen sich durch die ganze Geschichte einheitliche Merkmale bezüglich Stifter, Lehren oder Symbolen festhalten. Nicht so beim Hinduismus. Ihn charakterisiert, was ich selbst den identifikatorischen Habitus nennen würde: die Fähigkeit, Verschiedenes gleichsetzen zu können.

Wem gehört der Hinduismus?

Solche Auseinandersetzungen könnten auf die akademische Welt begrenzt bleiben. Doch drängt es hindu-nationalistische Kritiker, mehr und mehr öffentlichen Einfluss auszuüben. Offen fordern sie, dass nur noch Hindus den Hinduismus lehren dürften. Aber wem gehört eigentlich der Hinduismus? Die rechten Hindus sollten sich klarmachen, dass der Hinduismus-Begriff aus dem Westen stammt. Wenn sie dann, wie bei manchen Städtenamen, auf alte indische Bezeichnungen zurückgreifen wollen, sind sie in großer Verlegenheit.

Was wäre denn der indische Begriff für „Hinduismus“? Sie werden nicht anders können und wie Wendy Doniger gerade die transkulturelle Vielseitigkeit des Hinduismus darstellen müssen. Diese Fähigkeit, vieles zu ertragen und nicht nur das eine zu wollen, kann durchaus als ein Modell für das unvermeidliche Zusammenwachsen der Religionen und Kulturen dienen.

Wendy Doniger: „The Hindus“. An Alternative History“. The Penguin Press, London 2009. 800 S., geb., 26,99 €.