Jan 022012
 

Der subsaharische Islam steht schon lange unter dem Druck von Islamisten

Von Wolfgang Günter Lerch

FAZ vom 02.01.2012

Die mörderischen Anschläge zu Weihnachten auf Kirchen in Nigeria machen deutlich, wie schwer sich die Regierung dieses Landes mit 160 Millionen Einwohnern tut, die christliche Minderheit im Norden zu schützen; versprochen hatte es der seit 2010 amtierende Präsident Goodluck Jonathan, als er sein Amt antrat. Längst ist Nigeria, dessen hauptsächlich im Norden ansässige Muslime lange Zeit als ziemlich tolerant gälten, zu einem Zentrum des radikalen Islamismus, ja sogar des terroristischen Dschihadismus geworden. Mit der Auffassung des Islams, die Christen seien Besitzer einer Heiligen Schrift und deshalb zu schützen, haben diese Bluttaten nichts zu tun.

Die Terroristen der sektiererischen Boko Haram, die hinter diesen Anschlägen standen, werden in Nigeria offen mit AI Qaida im Maghreb in Verbindung gebracht, dazu mit den somalischen Sha-baab und auch mit den afghanischen Taliban, deren radikale, archaische Vorstellungen vom Islam und seiner Ordnung sie zu teilen scheinen. Boko Haram kann übersetzt werden mit „Bücher sind verboten, sind Sünde“, aber auch, weiter gefasst, mit „Alle westliche Bildung ist des Teufels und muss abgelehnt werden“. Das hatten die Taliban in ihrem Emirat zwischen 1996 und 2001 am Hindukusch weidlich vorexerziert, und die Boko Haram wollen das durchsetzen. Nicht nur der Norden Nigerias, sondern das ganze Land sollte, wenn es nach ihnen ginge, ein islamischer Staat nach ihrer Provenienz werden. Auch außerhalb Nigerias, das indessen einen Brennpunkt dieser Entwicklung darstellt, hat sich der subsaharische Islam in den vergangenen Jahren teilweise radikalisiert, obzwar nicht überall so intensiv wie dort.

Der „schwarzafrikanische Islam“ ist in Deutschland weitaus weniger bekannt
als in Frankreich oder Großbritannien mit ihrer langen kolonialen Vergangenheit. Es ist schon mehr als ein Jahrhundert her, dass der deutsche Orientalist Carl Heinrich Becker, später auch preußischer Kulturminister, und andere Islamwissenschaftler sich mit den afrikanischen Muslimen außerhalb des nordafrikanisch-berberischen Bereichs beschäftigten. Und Becker tat es hauptsächlich in Bezug auf die Muslime Ostafrikas; damals war dieses Gebiet, Sansibar bis zum Vertrag mit England 1890 eingeschlossen, das man dann gegen Helgoland eintauschte, noch in deutschem Kolonialbesitz. Nachzulesen sind Beckers gesammelte Arbeiten, auch jene über die Muslime Ostafrikas, in den beiden Bänden „Islamstudien“.

Der subsaharische Islam, das heißt der Islam in jener Zone, die man heute Sahel nennt und die früher als „der Sudan“ bezeichnet wurde (im Unterschied zu dem modernen Staat Sudan), galt früher als eine recht synkretistische und eklektische Form dieser Religion. Zu großen Teilen ist er dies auch noch heute, Versuche, ihn durch die Scharia davon abzubringen, sind allerdings schon seit geraumer Zeit wieder im Gange. Was den schwarzafrikanischen Islam tolerant machte, ist besonders den Islamisten ein Dorn im Auge, er soll deshalb im Sinne der Gesetzesfrömmigkeit „diszipliniert“, vereinheitlicht werden. Daran arbeiten nicht nur die Al-Azhar-Moschee und –Universität zu Kairo, die für den sunnitischen Islam so etwas ist wie die höchste Lehrautorität, an der auch schwarzafrikanische Muslime studieren, sondern vor allem auch salafistische und andere radikale Prediger, die sogar der Azhar selbst immer wieder „Liberalismus“ und „ungerechtfertigte Neuerung“ (bid’a) vorwerfen.

Jahrhunderte lang konnten die Muslime südlich der Sahara die Lehren des Korans mit alten, hergebrachten afrikanischen Vorstellungen, Sitten und Gebräuchen durchaus vereinbarem Der Islam schaffte es, sich im Verlaufe von Jahrhunderten mit Ahnenkult, Geisterglaube, den Sitten und Gebräuchen der traditionellen Heiler und vielem anderen zu arrangieren. Immer auch war die islamische Volksfrömrnigkeit, die um bestimmte heilige Männer kreiste; stark verwurzelt, wie überhaupt der Sufismus, die populäre Mystik der Bruderschaften, zwischen dem Senegal und Sudan eine wichtige Rolle spielte : Von Marokko und Algerien war die Verehrung von Marabuts nach Süden vorgedrungen. Diesen Sufis wurden und werden nach ihrem Tod kleine, meist kuppelgekrönte Grabstätten errichtet, die man ebenfalls Marabut nennt und die von der Bevölkerung als Pilgerstätten auserkoren werden.

Immer wieder auch ist der schwarzafrikanische Islam als ungelehrt beschrieben worden. Für den Volksislam gilt dies ganz gewiss. An vielen Koranschulen werden gerade einmal die Anfangsgründe der Religion vermittelt, bestimmte Suren des Korans wie die erste, al Fatiha genannt, oder die Verse vom gesteinigten Satan, vor dem man bei Gott seine Zuflucht nimmt. Doch hat es im subsaharischen Afrika auch immer wieder Zentren einer gewissen Gelehrsamkeit gegeben, nicht zuletzt die Stadt Kano im Norden Nigerias. Einen geradezu legendären Ruf errang die Stadt Timbuktu, die in früheren Epochen stark vom transsaharischen Handel profitierte. Ihr sprichwörtlicher Reichtum zog auch islamische Gelehrte an.

In der Geschichte des Islams haben die subsaharischen Reiche, etwa das von Mali mit dem bekannten Herrscher Mansa Kan-kan Mussa, das von Bornu-Kanem und insbesondere das mächtige Reich der Songhai, das von dem großen deutschen Reisenden Heinrich Barth erforscht worden ist, bisweilen eine mehr als nur marginale Rolle gespielt. Man kennt sie freilich viel weniger als die Reiche der Abbasiden oder der Osmanen. Dabei spielte nicht nur der transsaharische Handel, der Verkehrswege schuf, ein bedeutende Rolle, sondern auch die Pilgerfahrt (Hadsch), die ebenfalls dazu führte, dass Handel und Wandel belebt wurden. Während in Nordafrika der Widerstand gegen die (französische) Kolonialmacht im vorigen Jahrhundert stark von den politisierten Ulema, den Rechtsgelehrten, getragen wurde, waren es südlicher davon, wie auch im Senegal, oft die Führer von Sufi-Orden, die den Kampf anführten.

Heute wächst der Druck streng legalistischer und wortgläubiger Muslime auf ihre Brüder südlich der Sahara, nicht nur in Nigeria, sondern auch in den anderen Staaten der Region. In den Augen der Salafis-ten huldigen diese einem Aberglauben, einer Form der religiösen „Unwissenheit“ (dschahilija), so dass man ihnen die „reine“ Lehre beibringen müsse, zur Not eben mit Gewalt. Freilich hatte in Nigeria schon die Einführung der Scharia in zwölf der 36 Bundesstaaten vor zehn Jahren den demokratischen Konsens gestört und die Spannungen zwischen Christen und Muslimen verschärft.