Mrz 132012
 

Mit welchem Recht ließe sich sagen, Joachim Gauck sei kein Bürgerrechtler gewesen? Versuch einer Definition

Von Gustav Seibt

Wer waren die „Bürgerrechtler“ in der DDR? War Joachim Gauck einer von ihnen? Diese auf einmal viel gestellten Fragen lassen sich mehr als zwanzig Jahre nach den Ereignissen, um die es geht, etwas klarer fassen, als es jetzt in der von Missgunst gegen Gauck geprägten Diskussion geschieht. Es gibt wenige solche Zuschreibungen, die sich eindeutig festlegen lassen. „Katholik“ wird man durchs Sakrament der Taufe. „Christen“ sind viele aus innerer Überzeugung. Um „Kommunist“ zu sein, musste man in die Partei gehen – behauptete die Partei, zum Beispiel die SED. Doch gab es nicht wenige Bürgerrechtler, die diese Partei ablehnten, und trotzdem beanspruchten, Kommunisten zu sein.

Ja: Es gab auch kommunistische Bürgerrechtler, solche nämlich, die den Zielen des kommunistischen Denkens treu blieben, aber die Mittel der kommunistischen Regime – Erziehungsdiktatur, Meinungszwang, Parteijustiz, bürokratische Planwirtschaft, Zwangsenteignungen und vieles mehr – ablehnten. „Bürgerrechtler“ waren sie, weil sie den Weg in die erhoffte kommunistische Zukunft unter den Bedingungen von klassischen Menschen- und Bürgerrechten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit, unabhängige Justiz, Gewaltenteilung gehen wollten. Diese Grundbedingungen demokratischer Verfassungsformen standen für solche kommunistischen Bürgerrechtler nicht im Widerspruch zu ihrer politischen Utopie, die immer noch auf eine egalitäre Gesellschaft mit politisch-moralischer Steuerung der Ökonomie und reduzierten Eigentumsrechten hinauslief, also mehr auf „Gerechtigkeit“ als auf „Freiheit“.

Daneben gab es selbstverständlich in allen sowjetisch beherrschten Staaten auch jene Bürgerrechtler, die sich dem real existierenden Vorbild der westlichen Länder mit ihren liberalen Verfassungen und ihrer Marktwirtschaft – nicht ohne Sozialstaat – ohne jede Einschränkung verpflichtet fühlten. Sie orientierten sich allesamt auch am wichtigsten Beispiel einer Bürgerrechtsbewegung der westlichen Welt, der amerikanischen, die sich gegen die Rassendiskriminierung und gegen den Vietnamkrieg eingesetzt hatte. Seit Prag 1968 und seit der Charta 77 nach dem Helsinki-Abkommen war dieser Funke auch im Ostblock nicht mehr zu löschen – außer in der DDR, die die erste Generation von Bürgerrechtlern in den Westen abschob, am spektakulärsten im Fall von Wolf Biermann.

Wichtig für die Bürgerrechtler in der DDR war außerdem eine Frage, die sich so in den anderen osteuropäischen Ländern nicht stellte: die Fortexistenz des eigenen Staates. Sollte die DDR weiterbestehen oder so schnell wie möglich der Bundesrepublik beitreten? Und wenn, in welchen Formen sollten diese Grundentscheidungen – Fortbestand oder Vereinigung – sich verwirklichen? „Dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus oder Beitritt oder Auflösung beider Staaten und Neukonstitution? Das waren große Fragen, die schon vor 1989 hie und da gewälzt wurden, seit dem Fall der Mauer aber für eine kurze, heiße Phase im Mittelpunkt vieler Diskussionen in der sich unverzüglich gesamtdeutsch formierenden Öffentlichkeit standen. In Polen, in der Tschechoslowakei oder Ungarn stellten sich alle diese Fragen nach der politischen und wirtschaftlichen Zukunft ohne den nationalen Anteil, der Fortbestand der jeweiligen Länder stand erst einmal nicht zur Diskussion.

Die „Bürgerrechtler“ der DDR haben diese Diskussion geprägt, aber sie waren spätestens seit dem Herbst 1989 nicht mehr ihre einzigen Teilnehmer. Auch westdeutsche Staatsrechtler und Feuilletonisten, Historiker beider Seiten – darunter eine lebhafte Bürgerrechtshistorie in der DDR selbst -, Kirchenleute aus West und Ost führten neben den professionellen Politikern diese Auseinandersetzung. Dabei verlor sich rasch das scharfe Profil der Bürgerrechtler aus der Zeit vor dem Mauerfall. Die Opposition in der DDR, darauf wird heute zu Recht hingewiesen, war winzig, und natürlich gab es keine Mitgliedsausweise. Es fehlte jener massenhafte Rückhalt in der Gesellschaft, der vor allem in Polen durch die Verbindung von katholischer Frömmigkeit und Nationalgefühl entstand. Dieses Fehlen einer gemeinsamen nationalen Zielsetzung aber ließ die übrigen politischen Differenzen viel deutlicher ans Licht treten als in den Nachbarländern des Ostblocks.

Doch lässt sich natürlich trotzdem ein gemeinsamer Nenner der Bürgerrechtsbewegung in der DDR ausmachen, eine Definition, in welcher, wie bei historischen Begriffen üblich, Selbstbeschreibungen der Akteure und rückblickende Begriffsbildung zusammenfließen. Als Bürgerrechtler können alle jene Oppositionelle gelten, die vor dem Mauerfall am 9. November 1989 auch außerhalb ihres privaten Umfelds dafür wirkten, dass die Bedingungen für eine freie und offene, also demokratische und gewaltfreie Entscheidung über die Zukunft der DDR und ihrer Gesellschaft möglich würden. Das schließt die elementaren Menschen-und Bürgerrechte der westlichen Grundrechtskataloge ein, nicht zuletzt die Reisefreiheit, beinhaltet aber auch jene umfassenderen, idealistischen Ziele, die sich auf die Zukunft der DDR insgesamt bezogen. Monopole kann es hier nicht geben – auch wer die DDR rundweg ablehnte und ihr Verschwinden wünschte, konnte doch ein Bürgerrechtler sein.

Joachim Gauck war, er hat nie etwas anderes behauptet, ein Gegner der DDR. Er dürfte in ihr schon vor 1989 das gesehen haben, als was sie der westdeutsche, sozialdemokratische Historiker Hans-Ulrich Wehler heute mit Kälte definiert: eine sowjetische Satrapie. Dass dabei die Erfahrungen seiner eigenen Familie – die Verschleppung des Vaters in die Sowjetunion – eine entscheidende Rolle spielten, ist kein Einwand, im Gegenteil: Woher sollten politische Standpunkte ihre Festigkeit gewinnen, wenn nicht aus leibhaftigen Erfahrungen?

Und wenn man heute hört, dass Gauck gewiss nicht Leib und Leben, vor allem auch nicht seiner Kinder, riskiert hat, dass er aber keine Kompromisse mit dem Staat schloss, dass er ein freies Wort in seiner Kirche führte und die Kommunikation unter Oppositionellen beförderte, dann genügt das bereits, um ihn in die Minimalbeschreibung eines Bürgerrechtlers einzuschließen. Dass es andere gab, die mehr Mut hatten, die ins Gefängnis gingen, dort entsetzlich litten – ja, die DDR war auch ein Folterstaat, man besuche das Gefängnis in Hohenschönhausen -, die dann abgeschoben wurden und alles verloren, das ist davon unberührt.

Joachim Gauck 2010

Foto: Michael Lucan/pixeldostLizenz: CC-BY-3.0Foto bearbeitet: Christoph Gäbler

Und auch das Gauck keinen alternativen, unbürgerlichen Habitus pflegte, dass er sich rasierte und Krawatten trug, kann ja im Ernst kein Grund sein, ihn rückwirkend aus der DDR-Opposition auszuschließen. Schon vor 1989 war für jeden aufmerksamen Leser der DDR-Literatur offenkundig, was jedes Gespräch in den letzten Monaten dieses Staates nach dem Mauerfall so lebhaft machte: Die Opposition war einig im Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen, in allen anderen Zielen aber tief zerfallen. Es gab Linksdissidenten, teilweise ökologischer Färbung wie Rudolf Bahro, fromme Pazifisten, bürgerlich-nationale Historiker wie den unvergessenen Mediävisten Frithjof Sielaff, der einen privaten Lesezirkel mit Studenten unterhielt, es gab Schwulengruppen und Umweltaktivisten. Und so weiter.Auch die Literatur der DDR zeigte ein enormes Spektrum zwischen dem linksdissidentischen Utopiker Volker Braun und dem nationalbürgerlichen, katholischen Liberalen Günter De Bruyn, in der Mitte Christa Wolfs gewissenhaft skrupulöse Beobachtung. Mit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990, spätestens mit der Einführung der D-Mark am 1. Juli hatten sich all diese Differenzen, an denen wir Beobachter aus dem Westen durchaus leidenschaftlichen Anteil genommen haben, weitgehend erledigt. Es ging nur noch um Ausführungsfragen beim Übertritt in die Bundesrepublik – Fragen, die immer noch groß genug waren, und bei denen keineswegs alles richtig gemacht wurde. Treuhand, Hochschulevaluierung, Stasi-Akten, Umtauschkurs, Rückgabe vor Entschädigung – die Stichworte genügen. Das Ende der DDR war besiegelt, mit überwältigender Mehrheit ihrer Bürger.

Der Zweck der Bürgerrechtsbewegung, diese Entscheidung in Freiheit möglich zu machen, war erreicht Es schmerzt, wenn jetzt im Rückblick der Bürgerrechtsstatus als Gütesiegel mit unterschiedlichen Graden – wie ein Eisernes Kreuz erster oder zweiter Klasse – behandelt wird. Es hat Bürgerrechtler gegeben, die von Anfang an bürgerlich im klassischen, historischen Sinne waren -wie auch nicht?

 Süddeutsche Zeitung vom 29.02.2012

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