Apr 172012
 

Gesundheit – nein danke? In memoriam Ivan Illich

Von Peter Gottwald

Als ich nach der Einladung von Reinhard Schulz den oben genannten Titel fand, ahnte ich noch nicht, was mir bevorstehen würde, wenn ich mich auf das Werk Ivan Illichs erneut einlassen würde. Noch schwebt mir ja das Bild seiner Person vor Augen, wie er, mit glühendem Blick und scharf artikulierten Sätzen, über die Moderne und die von ihr angerichteten Schäden sprach – sie schienen kaum noch wieder gut zu machen, und unsere Zeit schien für ihn eine „Endzeit“ zu sein, die Apokalypse vor der Tür zu stehen. So haben wir ihn in Oldenburg und dann 10 Jahre lang im Winter an der Universität Bremen erlebt, in brennender Sorge, beredt, den wachsenden Tumor an seiner rechten Wange ertragend, in der Pause der Vorlesung eine Pfeife Opium rauchend gegen die ständigen Schmerzen. Und dann am Abend in der Krefftingstraße, im Haus, das er gemeinsam mit Barbara Duden zu einer Stätte der Begegnung mit seinen Freundinnen und Freunden gemacht hatte, und wo er am langen Abendtisch seiner philia lebte.

Je näher ich ihn kennen und schätzen lernte, umso deutlicher wurde mir sein fester Glaube an einen Schöpfer – und seine Verzweiflung an einer Institution, der er die „Korruption des Guten“ – somit aber das denkbar Schlechteste vorwarf, der christlichen Kirche[1]. Noch einmal, wie schon in den 70er Jahren, und schon fast vergessen von der über ihn hinweg gehenden Moderne, beklagte er den Verlust dessen, was er nun „Proportionalität“ nannte und als Gestalt der Beziehung der Menschen untereinander und zu einem Überirdischen  auffasste.

Was kann uns sein frühes Werk heute noch bedeuten? Das will ich anhand der Wiederbegegnung mit dem Buch „Die Nemesis der Medizin – von den Grenzen des Gesundheitswesens[2]“ aufzeigen.

In dieser unglaublich reichhaltig dokumentierten Untersuchung zeigt Illich auf, dass unser Gesundheitswesen nicht nur nicht die Gesundheit der Menschen nachhaltig verbessert hat, sondern durch „iatrogene“, d.h. von den Experten in diesem Gesundheitswesen, vor allem den Ärzten, verursachte Schäden eindeutig verschlechtert hat. Dabei betrachtete Illich nicht nur jene Schäden, die durch falsches ärztliches Handeln, sei es durch Eingriffe oder Medikamente, Versäumnisse der Hygiene (etwa in den Krankenhäusern) entstehen, also eine „klinische“ Iatrogenese, sondern auch eine „soziale“:

„Medizinische Praxis fördert die Krankheit, indem sie eine morbide Gesellschaft stützt, die die Leute dazu treibt, Konsumenten von Heil-, Präventiv-, Industrie- und Umweltmedizin zu werden. Einerseits überleben unheilbar Kranke in wachsender Zahl und sind nur bei institutioneller Fürsorge lebensfähig, während andererseits ärztlich attestierte Symptome die Menschen von der Industriearbeit freisetzen und sie damit dem Schauplatz des politischen Kampfes entziehen, wo sie die Gesellschaft, die sie krank macht, umgestalten könnten. Die Iatrogenese der zweiten Ebene findet Ausdruck in verschiedenen Symptomen der sozialen Übermedikalisierung, die sich zu dem summieren, was ich die Enteignung der Gesundheit nenne.“(42)

Und schließlich benennt Illich eine kulturelle Iatrogenese:

„Auf einer dritten Ebene bewirken die sogenannten Gesundheitsberufe insofern einen noch tieferen, kulturell gesundheitsschädigenden Effekt, als sie die Bereitschaft der Menschen zerstören, ihre menschliche Schwäche, Verletzlichkeit und Einmaligkeit auf persönliche, autonome Weise zu bewältigen… Sie ist der unvermeidliche Rückschlag des hygienischen Fortschritts; sie ist die Paralysierung jeglicher gesunder Reaktion auf Leiden, Schwäche und Tod. Sie tritt ein, sobald die Menschen ein ach dem Modell technischer Planung konzipiertes Gesundheitsmanagement akzeptieren, sobald sie sich zu dem Unterfangen verschwören, etwas wie „bessere Gesundheit“ sozusagen als Ware zu produzieren. Dies führt unvermeidlich zur verwalteten Instandhaltung des Lebens auf einem hohen Niveau subletaler Krankheit“.(43)

Für Illich sind alle drei Formen nicht durch die Medizin reversibel zu machen, da sie „ein dem Medizinbetrieb wesenseigenes Merkmal“ darstellen. Sie sind nur durch politische Vorgänge zu bewegen, die letztlich auf Autonomie, aber such auf Selbstbeschränkung abzielen – und beides ist derzeit nicht aktuell in einer Krise, in der die leiderzeugenden „Systeme“ nur damit beschäftigt scheinen zu „überleben“, koste es was es wolle.

Ich finde die Logik dieser Darstellung so unwiderlegbar wie erschreckend. Aber welche Folgerungen sind heute daraus zu ziehen? Und von wem unter den heutigen Politikern sind solche zu erwarten? Und ist nicht die Nemesis der immer weiter fortschreitenden Industrialisierung noch viel erschreckender?

Wenn höhere Wirbeltiere unter Stress oder in unlösbare Konfliktsituationen geraten, zeigen sie oft sonderbares, scheinbar sinnloses Verhalten – sie putzen sich, greifen harmlose Gegenstände an usw. Konrad Lorenz nannte das „Übersprungsverhalten“ und suchte es triebdynamisch zu erklären.

So greife ich nun in das Bücherregal und ziehe – statt mich sogleich politisch zu betätigen – Karl Jaspers‘ „Allgemeine Psychopathologie[3]“ heraus. In dieser unfasslich reichen Schatzkammer, die nicht nur das psychiatrische, psychologische und soziologische Wissen seiner Zeit enthält, sondern auch die Jaspers eigentümliche philosophische Fundierung desselben, findet sich gegen Ende eine Abhandlung über die Begriffe Gesundheit und Krankheit. Frage man allerdings bei der Medizin an, so finde man, dass der Mediziner sich am wenigsten den Kopf darüber zerbreche, was gesund und krank im Allgemeinen bedeute (652). Mit dem Begriff Gesundheit sei immer ein Werturteil verbunden und jedenfalls spiele auch der Begriff des Durchschnitts eine Rolle. Aber was dieser sei, wisse man fast nie. Jaspers nimmt dann Zuflucht zu einem Schema, das „Lebenszustand“ und „Lebensprozess“ trennt. Sind in beiden Bereichen die Abweichungen vom Durchschnitt gering, so spreche man von Gesundheit; zeige sich eine gefährliche oder gar lebensbedrohende Abweichung, spreche man von Krankheit (653). Gesundheit ist und bleibt ein  Normbegriff, und als solcher immer offen für Bewertung und Erkenntnis. Jaspers schreibt: „Die Erkenntnis des menschlichen Körpers setzt aber diesen Wertbegriff nicht voraus, sondern hat ihn als Idee vor sich: je mehr im Einzelnen die Beziehungen der Organe, Strukturen, Funktionen zueinander erkannt werden, desto mehr erfasst der Erkennende von dieser Idee. Sie restlos zu erkennen, würde heißen, das Leben restlos zu erkennen. Gesundheit ist zunächst ein Begriff von grobem Charakter, von letzten Wertungen, wie Leben, Leistungsfähigkeit usw. Je mehr die Zweckzusammenhänge im Körper durchschaut werden – die eigentlich biologische Erkenntnis – desto mehr kommt man von der groben zu immer feinerer Teleologie und desto klarer wird er Begriff der Gesundheit als biologischer Normbegriff, ohne je restlos klar zu werden“(654).

Geht man beim Versuch weiterer Klärung des Gesundheitsbegriffs vom Begriff des Handelns aus, so versagt sich der Mediziner meist auch diesem Versuch, da sein Handeln eben nicht auf Gesundheit abzielt, sondern gegen Krankheit gerichtet ist, also jedenfalls auf „Gesundung“. Und da gilt seit altersher medicus curat, natura sanat. Der Arzt schafft also, gelingt ihm das,  die Bedingungen dafür, dass der Organismus sich selbst heilt. Der Organismus – und der Mensch etwa nicht? Betrachten wir hierzu Jaspers` Unterteilung in „Stufen der allgemeinen ärztlichen Therapie“ (665ff.).

Auf der untersten Stufe steht der ärztliche Eingriff, sei es mit einem Medikament, dem Skalpell oder energiereicher Strahlung. Der Arzt handelt technisch-kausal, entfernt eine Schädigung oder einen Schädling und überlässt es dem Organismus, die Wunde zu schließen, mit Haut zu überdecken usw. Jaspers sagte, die Grenze ist das Leben im Ganzen (666).

Und wenn wir nun Tatsachen betrachten wie diese: Die Wunden der Sieger heilen schneller als die der Besiegten, so ist schon auf dieser ersten Stufe klar, dass es nie allein um körperliche Gesundheit geht, sondern stets auch um „seelische“, ja auch „geistige“ – und dass die alten Unterscheidungen zurückgenommen werden müssen zugunsten einer einheitlichen Wahrnehmung „des Menschen“. Aber was ist das denn, wenn nicht wieder eine Idee – der Mensch[4]? Und hilft uns da eine späte Erfindung der Medizin, oder besser „Besinnung“, die Psychosomatik,  weiter? Sie führt uns nur immer weiter in die Tiefen eines Labyrinthes, in dem sich Kausalität, Finalität und Zufall blind begegnen. Was wissen wir schon von unserem Immunsystem, und was es „veranlasst“, nun plötzlich das „Eigene“ anzugreifen wie in den Autoimmunkrankheiten? Wie können wir uns den „Mechanismus“ des sog. Tabu-Tods erklären, der bei den sog. Wilden eintreten konnte, wenn sie sich klar darüber wurden, dass sie ein Tabu verletzt hatten? Fragen über Fragen, die weit über das Körperliche hinaus in Bereiche zielen, die heute von eigenen Wissenschaften wie der Psychologie, der Soziologie und der Ethnologie bearbeitet werden.

Die Übersprungshandlung, der „Griff nach Jaspers“ war also doch sinnvoll, denn schon hier zeigt sich: Es geht nicht nur um „das Leben“ und die Wissenschaft, die dieses untersucht, die Biologie, sondern darum „ein Leben führen“, das „menschenwürdig“ ist, auch wenn gelten sollte: (nach Sartre, Zitat aus der NWZ vom 16.3.2012) Alles hat man herausgefunden, nur nicht, wie man lebt.

Das aber ist eine politische Frage. Sie wird bei Jaspers nun auf der zweiten Stufe der ärztlichen Tätigkeit virulent, wo es darum geht, dass der Arzt gemeinsam mit dem Patienten, wenn denn die Eingriffe versagen, das Leben unter Bedingungen der Diät, der Umwelt, der Schonung und der Anstrengung, der Übung usw. bringt. In diesen Fällen trifft der Arzt Veranstaltungen für das Gelingen der Selbsthilfe des Lebens im Ganzen (666). Und Jaspers kennt sehr genau die nächste Grenze für das ärztliche Handeln, wenn er sagt: Die Grenze ist, dass im Menschen nicht nur ein Leben geschieht, sondern dass der Mensch denkende Seele ist. Auf dieser zweiten Stufe also geht es nicht nur um die Ernährung. Das ist ja heute schon schwierig genug, wo man sich gern dem Label „Bio“ anvertrauen würde, könnte man denn sicher sein, dahinter sei auch tatsächlich „Bio“, wobei die wenigsten, auch ich nicht, sagen könnte, was das konkret ist. Und kaufe ich meine „Lebensmittel“ nur deshalb in einem Geschäft, weil auf dessen Tüten gedruckt steht wir handeln nachhaltig? Und was bedeutet das nun wieder? Immer geht es also um Vertrauen, dieses soziale Bindemittel, das so Vielen heute verlorengegangen ist – aber kann man  denn seelisch oder geistig gesund sein in einem Zustand ständigen Misstrauens?

Damit nicht genug, denn nun geht es nicht nur um gesunder Ernährung. Sondern auch um den richtigen Umgang mit den „Genussmitteln“, also um Kaffee oder Tee, Kakao, Schokolade, um die „Süßigkeiten“. Und ist der Alkohol noch ein Genussmittel oder nicht doch, wie auch der Tabak, ein Giftstoff, der zwar eine Zeitlang positiv wirkt, dann aber doch zu Sucht und Krankheit führt? Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie sehr etwa eine Zigarettenwerbung im Kino (auch so ein fragwürdiges Genussmittel) mit der Mahnung am Schluss Rauchen kann tödlich sein zusammenprallt? Und wie steht es mit dem Komplex „Unterhaltung“ denn überhaupt – ist sie noch Teil des Lebens oder nicht doch schon selber pathogen geworden. Das frage ich mich auch selber nach dem x.ten Tatort im Fernsehen oder dem neuesten Science-Fiction-Roman, den mein Sohn, den ich danach hab süchtig werden lassen, nun mit mir teilt. Spricht man auf dieser Stufe von Hygiene, so meint man neben der körperlichen immer auch eine Psycho-Hygiene. Und damit findet man sich, mag es einem auch sauer aufstoßen, auf dem Gebiet der Moral. Nicht umsonst nannte Lou Andreas-Salomé, die große Freud-Schülerin, die Hygiene die „Stiefschwester der Moral“. Darauf wird zurückzukommen sein, denn es gibt in der Ethik ja auch noch ein „Geistiges“, ein geistiges Erbe aus einer geistigen Welt.

Nach Jaspers handelt der Arzt auf dieser Stufe nach einer „rational geregelten Kunst“, gegründet auf ein instinktives Erfühlen des Lebens. Gehe ich fehl in der Annahme, dass dieser Instinkt heute versagt, ja dass man beim Menschen besser nicht von einem derartigen Instinkt sprechen sollte?

Stößt nun der Arzt auf die beschriebene Grenze, so wendet er sich nach Jaspers jedoch zunächst an nur einen Aspekt dieses beseelten Menschen, nämlich seinen Verstand. Dies geschieht auf der dritten Stufe: Statt nur den Leib technisch im Einzelnen, durch Pflegekunst im ganzen in Ordnung zu bringen, wendet sich der Arzt an den Kranken als ein verständiges Wesen (666).

Er tritt mit ihm in eine neuartige Kommunikation ein, nämlich über das ärztliche Wissen. Da der Patient es zu seiner Würde rechnet, Bescheid zu wissen, respektiert der Arzt dieses Bedürfnis und informiert. Aber wie viel kann er sagen – und soll er dem Patienten  nun ein Medizinstudium zumuten? Heute spricht man ja von einer „informierten Zustimmung“ der Patienten – aber wie weit reicht das Wissen? Nicht umsonst blühen heute die Selbsthilfegruppen zu allerlei Krankheiten an vielen Orten, und das Internet hält für den Leidenden eine weitere Fülle von Material bereit, dem man sich anvertrauen kann oder auch nicht. In dieser Situation stößt der Arzt nach Jaspers auf eine weitere Grenze, dass nämlich der Mensch nicht verlässliches Vernunftwesen ist, sondern eine denkende Seele, deren Denken das vitale Dasein des Leibes tiefgehend beeinflusst (666).

Jaspers schreibt: Der Idealfall eines Menschen, der alles wissen darf, müsste folgende Ansprüche erfüllen. Er muss die Kraft haben, das objektive Wissen kritisch in der Schwebe zu halten und nicht absolut werden zu lassen, d.h. im vermeintlich Unabwendbaren muss er noch den Rest von Fraglichkeit und Möglichkeit sehen, die allem nur Empirischen eigen ist, im vermeintlich gewiss günstigen Verlauf noch den Rest von Gefahr im Auge behalten. Er muss im Wissen um die ständige Bedrohung planvoll für die Zukunft tun können, was sinnvoll begründet ist, und angesichts des Untergangs gegenwärtig doch leben. Die Angst als Furcht darf nicht Herr sein, wenn der Mensch als Kranker wissen darf, was wissbar ist. Da dies, wenn es überhaupt vorkommt, die Ausnahme ist, erwachsen für das Handeln des Arztes neue Aufgaben: statt mit dem Kranken in restloser Kommunikation der Wissensvermittlung zu stehen, muss er ihn als Ganzes seiner Leib-Seele-Einheit im Auge behalten (666).

Das ist fürwahr eine schwierige Aufgabe für die Wahrnehmung im weitesten Sinne! Immer neue Abgründe tun sich unvermutet auf. Wie kann Jaspers hier im christlichen Abendland von einem „Untergang“ sprechen, wo es doch allenfalls um einen „Übergang“ der unsterblichen Seele in einen neuen Zustand gehen kann? Fragen über Fragen, und auch Jaspers wusste, dass das Behandeln des kranken Menschen als Leib-Seele-Einheit zu ständigen Aporien führt. Kann der Arzt also etwa seinem Patienten die Wahrheit nicht mehr zumuten, so hat er die Verantwortung für das Ziehen der Grenze. Jaspers sah hier den Übergang zu den mannigfaltigen Formen der Psychotherapie, in denen sich der Arzt zur Funktion im Dienste der Gesundung oder Reifung des Patienten macht, bis dieser seine Freiheit gewinnt – und damit den Anspruch auf alles Wissen (666 ff.). Das aber ist ein neues und unerhört komplexes Kapitel und kann hier nur angedeutet werden durch Hinweise auf eine Vielzahl von konkurrierenden „Schulen“ der Psychotherapie, die seit Freud, Adler und Jung, seit Verhaltenstherapie und Gesprächstherapie, Gestalttherapie und Biodynamik usw. sich entwickelt haben und teilweise auch schon von den Krankenkassen ersetzt werden.

Auch hier erkannte Jaspers eine Grenze. Sie liegt in der Person des Arztes, der sich nie vollständig „zur Funktion machen lässt“ und der nie in der Lage sein wird, den Menschen als Ganzes zu objektivieren und so zum Objekt der Behandlung zu machen. Der Mensch zum Objekt geworden, kann behandelt werden durch Technik, Pflege und Kunst, der Mensch als er selbst kann nur in Schicksalsgemeinschaft zu sich kommen (668). Eine solche aber kann nicht „verordnet“ werden, sie übersteigt grundsätzlich das Ärztliche, auch wenn sich eine solche gelegentlich zwischen Arzt und Patient einstellen mag!

Nebenbei gesagt, geht es nicht nur darum, möglichst gesund zu sein, sondern man möchte auch noch robust genug sein, um die Anfeindungen und Anfechtungen der Welt zu bestehen. Ist man es nicht, ist man nicht „sthenisch“, wie der Arzt sagt, ist man also „asthenisch“, sogar „neurasthenisch“ (und das ist schon fast ein Schimpf- oder Schmähwort), so mag man sich an Freud erinnern, der diese seine Neurasthenie sein geheimes Laster nannte. Wie Sie wissen, nahm er jahrelang steigende Dosen von Kokain, fühlte sich dabei wie ein „wilder Kerl“, bis es ihm gelang, den Konsum zu beenden. Die Zigarren mochte er Zeit seines Lebens nicht lassen, und er zahlte einen hohen Preis für diese Sucht. Bedenken Sie, welche enorme Rolle dieses Kokain heute spielt, wie viele Milliarden damit umgesetzt werden, welche militärischen Interventionen dagegen vergeblich waren, wie viele Karrieren noch heute damit beginnen – um dann schmählich zu enden. Und das Heroin, wie die dagegen schon fast altertümliche Morphium-Sucht (auch vieler Ärzte), ein weiteres brennendes Problem? Wieder mischen sich Moral und Politik, und es kommt zu absurden Situationen wie in Afghanistan, wo unter dem Schutz von Soldaten aus fremden Ländern Mohn angebaut wird, Heroin erzeugt wird, das in die Adern so manches dort stationierten Soldaten gelang! Kann man denn überhaupt seelisch und geistig gesund bleiben, wenn einem täglich eine gehörige Dosis an Absurdem, Katastrophalen, geradezu Dementem, eingegeben wird? Und hilft denn das Abschalten des Fernsehers?

Jaspers wusste von alledem, und es ist ermutigend zu sehen, wie er sich, nachdem er der Psychiatrie einen wichtigen Impuls gegeben hatte und in der Philosophie eine gewisse Ordnung, zudem in ihr ein neuartiges Kommunikationsangebot gemacht hatte, sich in seinen späten Jahren der Politik zuwandte und auch dort genaue Diagnosen und Behandlungsvorschläge machte.

Deshalb noch einmal seine Stufenlehre mit dem Hinweis auf eine „existentielle Kommunikation“, von der er sagte, sie gehe über alle Therapie, d.h. über alles zu Planende und methodisch zu Inszenierende hinaus.

Alle Behandlung ist dann aufgenommen und begrenzt durch eine Gemeinschaft von Selbst zu Selbst als Vernunftwesen, die aus möglicher Existenz leben. Verschweigen und Sagen zum Beispiel sind weder unter Regeln gestellt, die aus einem vermeintlichen Übersehen des Menschen im ganzen folgen, noch beliebig zulässig, als ob der Mensch alles  ohne weiteres hören und dann sich selbst überlassen werden könne. Von Freiheit zu Freiheit wird im geschichtlich Konkreten der Situation gefragt und gesucht, weder bevormundet noch abstrakter Anspruch erhoben. Jetzt wird Verschweigen so  schuldhaft wie Sprechen, wenn es ohne Schicksalsgemeinschaft nach bloßem Verstande geschieht. Arzt und Kranker sind beide Menschen und als solche sind sie Schicksalsgefährten. Der Arzt ist weder nur Techniker, noch nur Autorität, sondern Existenz für Existenz, vergängliches Menschenwesen mit dem anderen. Es gibt keine endgültigen Lösungen mehr (668).

Hier stoßen wir auf „Jaspers‘ Letzte Grenze“, dass Menschen „als Schicksalsgefährten dies nur sind in dem Gehalt eines Seins, das Transzendenz heisst. Nicht das nur subjektive Dasein verbindet, nicht Existenz als solche. Denn Existenz ist im Menschen das, was zwar in der Welt unbedingt aus sich ist, an sich aber gesetzt ist von der Transzendenz, von der sie sich geschenkt weiss“(668).

Hier aber versagt sogar die Sprache, der wir uns bis hierhin anvertrauen konnten, und auch Jaspers wusste, dass es bei Chiffren wie dem „Umgreifenden“ bleiben muss, wenn überhaupt etwas ausgesagt werden soll, das Hoffnung vermittelt und ein Glaube genannt werden kann – sei es, wie in diesem Falle, ein philosophischer, sei es ein Offenbarungs-Glaube, den Jaspers vergeblich herauszufordern suchte.

Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen, sagte Wittgenstein am Schluss seines „Traktats“. Das heißt ja nun nicht, dass man verstummen muss, wenn es um die Wahrnehmung der Differenz geht! Denn es bleibt ja bei der Möglichkeit – und der treuen Übung – dessen, was Jaspers existentielle Kommunikation nannte.

Von ihr her mag sich dann selbst die Ethik noch einmal neu entfalten – und Moralvorschriften in Erscheinung treten, auf die man sich einigen kann, auf dass man zu einer gemeinsamen Politik komme, die den Menschen, aber auch allen anderen Lebewesen auf der Erde dient!

Nun sind wir nach einem langen Weg doch wieder bei der Politik angekommen als der Kunst des „Bohrens dicker Bretter“ vor der einen oder anderen Stirn, als die Kunst, das unmöglich Erscheinende immer wieder zu versuchen. Hierzu aus dem aktuellen Anlass der Gründung einer „European Medical School“ einige Vorschläge.

Schon Ivan Illich polemisierte gegen die Industrialisierung alles Menschlichen, und heute mag man die Tendenz zur „Verrechtlichung“ aller menschlichen Verhältnisse hinzunehmen – geboren aus dem Versagen bisheriger Normen, unterstützt von der Furcht vor der Anomie.

Aber Plädoyers wie das gegen falsche Heilsversprechen, gegen Neo-Mythen, selbst gegen die Hybris, können nicht mehr verfangen.

Und da man Freiheit nicht wissenschaftlich nachweisen kann, denn man kann an sie nach Jaspers nur appellieren, gilt es auf die zahllosen Appelle achtsam zu hören, denn es gilt ja auch, was Kafka einmal seherisch vorausnahm:

Es wurde ihnen die Wahl gestellt, Könige oder der Könige Kuriere zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu. Gerne würden sie ihrem elenden Leben ein Ende machen, aber sie wagen es nicht wegen des Diensteides. (Bem.47)[5]

Nicht nur müssen wir „unser Leben ändern“, sondern auch unsere Lebens-Welt angesichts der offensichtlichen „Grenzen des Wachstum“. Das bedeutet aber eine Rücknahme der „technischen Projektion“, in der die Menschen gegen die Natur, ja gegeneinander, kämpfend angehen. Diese Rücknahme aber haben wir selber zu leisten, sie wird uns von keinem Mythos mehr, und künftig von keinem Gott abgenommen. Gelingt sie nicht, können wir unsere Gier, unseren Hass nicht zügeln noch unserer Verblendung abhelfen, wird dieser Planet irgendwann sagen müssen: Homo sapiens war eine schreckliche Krankheit – aber sie ging vorüber.

Gesund werden und bleiben aber können wir, das ist wohl klar, nur gemeinsam.

Wenn es gelingt, den Studierenden wie den Lehrenden des neuen Studienganges die Notwendigkeit wie die Möglichkeit einer so gefassten Kommunikation zu vermitteln, dann können wir auf einen Impuls für unser Gesundheitswesen hoffen, der uns dann auch sagen lässt: Gesundheit – ja bitte!


[1]  Vgl. dazu I. Illich: In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayly. C.H. Beck, München, 2006

[2]  Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin – von den Grenzen des Gesundheitswesens“. Rowohlt, Reinbek, 1987

[3]  Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. Springer, Heidelberg, letzte korr. Aufl. 1946

[4]   Vgl. dazu J.-C. Guillebaud: Das Prinzip Mensch. Ende einer abendländischen Utopie? Luchterhand, München, 2004