Jun 212012
 

Vortrag von Klaus A. Baier beim Begegnungsabend der MissionEineWelt in Neuendettelsau 2012

Je nachdem, was Sie unter „lutherisch“ verstehen, wird Ihr Urteil darüber, wie lutherisch die lutherischen Kirchen in Zentralamerika sind, unterschiedlich ausfallen. Die Antwort darauf würde sogar von Mitgliedern der lutherischen Kirchen in Zentralamerika nicht einhellig beantwortet werden können, weil die Meinungen darüber, was „lutherisch“ sei, auch unter ihnen umstritten ist. Die konkreten Lebenszusammenhänge in den einzelnen Ländern sind uneinheitlich, dementsprechend vielfältig die Herausforderungen und variantenreich die theologische bzw. ethische Reaktion auf sie. Wie alle Kirchen in der Welt es tun oder doch tun sollten geben auch die lutherischen Kirchen in Zentralamerika ihrem Glauben eine konkrete und also unverwechselbare Gestalt. Selbst wenn sie es in der Perspektive der sich von Martin Luther her verstehenden reformatorischen Bewegung tun, werden sie bei allen Ähnlichkeiten verschiedene Profile entwickeln und unterschiedliche Lebensstile bevorzugen. (In den Anmerkungen verweise ich auf weiterführende oder präzisierende Überlegungen, die im Vortrag selbst nicht zur Sprache kamen, aber in der anschließenden Diskussion eine Rolle spielten.) [1]

Darum bringt es uns bei der Suche nach einer Antwort auf die mir gestellte Frage nicht weiter, wenn ich von einer Definition des Lutherischen ausgehe. Denn eines ist mir recht bald deutlich geworden: Lutheraner in Zentralamerika gehen immer von der konkreten Situation aus, die sie dann a la luz de evangélio y a la luz de Martin Lutero wahrnehmen, verstehen und gemeinsam mit denen, die die Situation mit ihnen teilen, interpretieren, um daraus Handlungsperspektiven zu gewinnen, wie der Botschaft Jesu vom Reich Gottes im konkreten Lebenszusammenhang Gestalt zu geben wäre – und das in einem nicht endenden Prozess immer wieder neu, weil – wie Jéffer Zaldivar Rodriguez in den von ihm für die Situation in Costa Rica überarbeiteten, aber ursprünglich für nordamerikanische Lutheraner entworfenen Leitsätzen „Principios Luteranos“ formuliert – Gott ein Gott ist, der in Jesus Christus zu den Menschen unterwegs ist und uns einlädt, an dieser Bewegung teilzunehmen und uns mit ihm zu den „Mühseligen und Beladenen“ mitnehmen lassen.

„Podriamos decir que Jesucristo es la gracia de Dios encarnada, porque vemos en su entrega al proyecto del Padre, en el acompañamiento a los más debiles de su tiempo, en su sufrimiento, muerte y resurreción la totalidad del amor de Dios por nosotros.”

Theologische Reflexion ist Reflexion dieser Praxis Gottes, an der teilzunehmen sich lutherische Christen in Zentralamerika berufen glauben, und die ihre eigene daraus entwickelte Praxis im Lichte der ihnen als der biblischen Perspektive adäquat erscheinenden „Principios Luteranos“ kritisch beurteilen.

Klaus A. Baier

Klaus A. Baier

Kurz: Lutherische Theologie ist hier eine Praxistheorie mit dem Zweck, dem „Projekt Gottes“ eine konkrete Gestalt in der Lebenswelt zu geben. Denn:

„Cuando vamos a la iglesia no sólo vamos a alabar a nuestro Dios, vamos a sufrir, celebrar y sentir con nuestra gente.“

Dabei hat sich ihnen die lutherische Tradition und Sichtweise als besonders hilfreich erwiesen, weshalb sie sich ihr bei der kritischen Reflexion ihrer eigenen Situation und Praxis anvertrauen. Etwas verkürzt ausgedrückt kann man sagen: Sie wollen Christus nachfolgen und erhoffen sich dabei Hilfe, Anregungen und kritische Solidarität von Lutheranern aus Geschichten und Gegenwart. Sie sind keine Lutheraner im traditionell-konfessionellen Sinne, sondern Christen, die von Luther lernen wollen. Anders gesagt: Sie sind nicht Lutheraner, weil sie sich zu einer lutherischen Konfession bekennen, sondern sie wollen als Christen dem Projekt Gottes in der Welt eine Gestalt geben und haben dabei gute Erfahrungen mit der lutherischen Sichtweise gemacht. Sie haben eine Wahl getroffen, und sind bisher damit „gut gefahren“, weil Luther ihnen hilft, in der konkreten Situation in einem ständigen Prozess von Wahrnehmen, Verstehen und Interpretieren eine Handlungsperspektive zu gewinnen, die dem Willen Gottes entspricht, wie sie ihn bei der Lektüre der Bibel verstanden haben: nämlich teilzunehmen an Gottes Bewegung hin zum Menschen und zur Welt und darum getragen von der Hoffnung, die auf dem Weltsozialforum 2001 in Porto Alegre so formuliert worden ist und in den lutherischen Kirchen Zentralamerikas oft geäußert wird: „¡Un otro mundo es posible!“

Ich will nun mit ein paar Beispiel aus der Iglesia Luterana Costarricense (ILCO) erzählen, was ich wahrgenommen und verstanden habe als ich dort für drei Monate als „teilnehmender Beobachter“ lebte und herauszufinden versuchte, warum einige Menschen in Costa Rica sich zur lutherischen Kirche hingezogen fühlen, welche religiösen Präferenzen sie dazu motivieren und wie sie, was sie als lutherisch ansehen, in ihren Alltag integrieren und ihm handelnd eine Gestalt geben. Ich beginne mit einigen Beobachtungen.

1. „Nachgehende Seelsorge“

Statt den Sonntagsgottesdienst in der casa abierta zu feiern, ging die ganze dort versammelte Gemeinde (also etwa neun Leute, davon die beiden Pastoren und zwei Gäste aus Deutschland) in eine der katholischen Kirchen des Ortes, weil dort im Gottesdienst die Trauerfeier für die am Tag zuvor verstorbene Mutter eines unserer Gemeindeglieder stattfand. Wir Pfarrer waren sogleich am Collarhemd zu erkennen, die Angehörigen der Iglesia Luterana waren der versammelten Gemeinde entweder bekannt oder es sprach sich rasch herum, wer sie waren. Wir nahmen also am Gottesdienst teil, einige „unserer“ Gemeindeglieder auch an der Feier der Eucharistie – was nicht weiter verwundert, denn die meisten von ihnen sind katholisch getauft, gehören also immer noch zur katholischen Kirche, selbst wenn sie sich evangelisch definieren sollten (denn eine Behörde, die erfasst, wer zu welcher Konfession, Kirche oder Denomination gehört, gibt es nicht; wer das Sakrament des Altars empfängt, ist katholisch, selbst wenn er sich zur evangelischen Kirche hält). Nach dem Segen begleitete der Priester die Angehörigen der Verstorbenen bis an die Kirchentür – dort endete seine priesterliche Funktion. Die lutherischen Pastoren begleiteten die Trauergemeinde auf ihrem Weg zum Grab und blieben bis zum Schluss dabei – ohne dass sie in irgendeiner Weise aktiv am Beerdigungsritus beteiligt gewesen wären; ein Familienangehöriger las aus der Bibel, sprach ein Gebet und einen Segen; dann wurde der Sarg im Grabhäuschen eingemauert. Die Anwesenheit der lutherischen Pastoren wurde ausdrücklich als ein Akt der Trauerbegleitung dankend angenommen.

Die Verstorbene war offensichtlich ein enges Mitglied er katholischen Gemeinde. Sonst wäre ihr Sarg nicht im Sonntagsgottesdienst aufgebahrt worden, und der Priester wäre nicht so ausführlich auf sie zu sprechen gekommen. Ob die Familie seelsorgerliche Begleitung gehabt hat, weiß ich nicht … Eine Beerdigung findet hier immer sehr bald nach dem Eintritt des Todes statt, so dass ich eher vermute, dass es kein Gespräch vorher gegeben hat. Aber das scheint auch nicht so sehr von Bedeutung zu sein wie bei uns in Deutschland. Hier ist der Tod eines Menschen für die Angehörigen genau so traurig und belastend wie bei uns. Aber die meisten Menschen sind so sehr in die Rituale, mit denen die katholische Kirche das Leben eines Menschen begleitet, hineingenommen, dass der Ritus allein schon seelsorgerliche Funktionen ausübt. Er vermittelt das Gefühl der Geborgenheit in Gottes Macht über den Tod, die Gewissheit, dass „alles in Ordnung ist“ und dass dieses Leben nun „in Gott“ sein Ende gefunden hat. Riten können eine seelsorgerliche Bedeutung haben.

Kasualien wie eine Beerdigung kommen in der ILCO (noch) nicht oft vor, hörte ich. Viele von denen, die in irgendeiner Weise an den Aktivitäten der ILCO teilnehmen, sind und bleiben katholisch; sie werden von ihren Angehörigen dann auch im katholischen Ritus bestattet. Im geschilderten Fall wurde es aber von den Angehörigen als ein Akt der Solidarität in der Trauer empfunden, dass der Pastor, ja die ganze lutherische Gemeinde, nicht nur an der Trauerfeier teilnahm, sondern bis zum Schluss auf dem Friedhof dabei blieb. Eine der Töchter der Verstorbenen, die sich zur lutherischen Gemeinde hält, sagte: „Es war schön, dass Sie da waren. Und es wäre schön, wenn Sie auch zum Rosenkranzgebet kämen, dass für die Verstorbene abgehalten wird.“ Und das taten wir dann auch. Ich notierte in mein Tagebuch:

Neun Tage nach einer Beerdigung will es der Brauch, dass die Nachbarn und Verwandten sich im Hause der Familie des Verstorbenen zum Rosenkranzbeten, zu einer Gedenkfeier für den Verstorbenen und zu Bittgebeten um sein Seelenheil, die sich vor allem an Maria richten, versammeln. Pfarrer Joaquín (und ich als sein Gast) werden dazu eingeladen. Er solle, so eine der Töchter der Verstorbenen, etwas sagen. Er bereitet sich darauf vor, indem er Stücke aus der ihm aus seiner bayerischen Heimatkirche geläufigen Aussegnungsliturgie verwendet. Die Pastorin der Gemeinde, Teresa, begleitet uns zum Haus der Familie … Als wir ankommen – im strömenden Regen und trotz Schirm und Regenjacke entsprechend angefeuchtet – beginnt dann auch sofort – ohne dass wir eine Chance gehabt hätten, den Ablauf zu besprechen – die Feierstunde. Der Raum ist mit etwa 25 Personen (Erwachsenen, Jugendlichen und zwei kleinen Kindern) voll besetzt. Ein kleiner Tisch ist an die Wand unter ein Marienbild gerückt, darauf eine Kerze und ein Foto der Verstorbenen. Girlanden schmücken das Marienbild, Blumen das Tischchen, davor ein Stuhl, auf dem nun eine ältere Dame Platz nimmt, die die ganze Feier leitet. Sie beginnt den Rosenkranz zu beten (30 Mal, 15 Ave Maria, 10 Vater-Unser, jeweils in dreifachem „Durchgang“), die Gemeinde fällt in einen Zustand, der einer Trance nahe kommt, einige knien, andere stehen, ein paar der Älteren bleiben sitzen. Einige Lieder unterbrechen die Litanei, einfache Melodien, Marienlieder, dann wieder Gebete an die Heilige Dreifaltigkeit und an Maria um das Seelenheil der Verstorbenen. Das dauert ungefähr 60 Minuten. Nach dem Segenswort soll dann sofort das Essen ausgeteilt werde, das schon von der Küche im hinteren Teil das (kleinen) Hauses herüber duftet. Einige Unruhe entsteht, weil doch der lutherische Pastor auch noch etwas sagen soll. Aber eingeplant ist er nicht – denn eigentlich ist doch schon alles gesagt und getan, was erwartet wurde. Dann aber bittet die Tochter der Verstorbenen um Ruhe für den Pastor, der dann mit ruhiger „Alltagstimme“ einen Abschnitt aus dem Johannesevangelium vorliest (Joh 10, 14.15.27-29) und in dem Sinne auslegt, dass wir ohne Vorbedingung „allein aus Gnaden“ durch Jesus Christus in der Liebe Gottes geborgen sind. Gebet, Segen – fertig. Das Essen wird ausgeteilt. Man spricht miteinander. Mein Nachbar sagt: er habe genau zugehört; das, was der Pastor da gesagt hat, sei ihm neu gewesen.

Ein Beispiel einer im wahrsten Sinne nachgehenden Seelsorge. Ich merkte keine Ablehnung in der Reaktion der Leute – eher eine verhaltene Neugierde. Ein evangelischer Pastor, der an einer solchen grundkatholischen Feier teilnimmt, trägt damit ja auch immer die Vision in ein Haus, die von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der casa abierta tagtäglich gelebt wird: die Vision einer von Gottes unbedingten Liebe durchdrungenen Welt.

Inzwischen erfuhr ich, dass das durchaus kein Einzelfall hier ist: jemand stirbt, die Beerdigungsfeierlichkeiten finden in der katholischen Kirche nach katholischem Ritus statt, und dann begleitet der oder die evangelische Geistliche die Trauergemeinde zum Friedhof, wo er eine kleine Ansprache hält, einen Psalm und ein Gebet spricht, bevor der Sarg in die Grabkammer (hier so etwas wie ein kleines gemauertes, meist weiß gestrichenes Häuschen) geschoben und die Öffnung wieder zugemauert wird. Und neun Tage später nimmt er bzw. sie dann am Rosenkranzgebet für die bzw. den Verstorben teil.

Taufen finden im Gottesdienst statt, für die Konfirmation ist ein besonderer Tag vorgesehen (wer katholisch getauft ist, wie die meisten hier, wird selbstverständlich nicht noch einmal getauft!).Trauungen gibt es selten; eine Hochzeitsfeier ist teuer, die können sich nicht alle leisten. Deswegen leben hier in Costa Rica sehr viele Paare in einer sogt. „union libre“ zusammen, die aber nach drei Jahren unter der Voraussetzung vom Staat voll anerkannt wird, dass sie die Gewähr für eine dauerhafte Beziehung erfüllt und wenn sie auch nach dem Gesetz möglich wäre. Ich fände es gut, wenn man in der ILCO darüber nachdenken würde, ob man nicht an einer Stelle im Sonntagsgottesdienst (z.B. bei der „oración de la comunidad“) eine kurze Segenshandlung für solche Paar einfügen könnte, die beschlossen haben, zusammenzubleiben.

2. „Lebensdienliche Seelsorge“

Ich beginne wieder mit einer Wahrnehmung: Auf meine an Xenia, die Sprecherin der Jugendgruppe, gerichteten Bitte, mir doch mal zu sagen, was sie denn an der Iglesia Luterana so gut finden, dass sie – obwohl katholisch – dabei ist und warum ihrer Meinung nach die Jugendlichen in die casa abierta in Alajuelita kommen, gab sie zur Antwort, dass es vor allem zwei Gründe seien: zum einen gibt es sonst nicht viel, was die Jugendlichen in diesem Viertel abends noch tun könnten, und dass man hier „über alles“ miteinander reden kann. Was denn das „über alles“ sei wollte ich wissen. Na, eben über alles, was die Jungendlichen in diesem Viertel bewegt: die Drogenproblematik, die Kleinkriminalität, die Gewalt, der Sexismus. In der casa abierta könne all das zur Sprache kommen, sonst gäbe es dafür keinen Raum hier. (X. ist eine der älteren Mitglieder der Jugendgruppe, etwa 20 Jahre alt, hat einen kleinen Sohn, den sie immer mit in die Jugendstunde bringt, und einen Freud, der nicht der Vater des Kindes ist, sich aber liebevoll um den Kleinen kümmert: sie wollte mal Medizin studieren, aber nun sei eben alles anders gekommen und sie mache eine Ausbildung zur Krankenschwester. In der casa abierta fühle sie sich wohl.)

Wenn ich Leute fragte, warum sie sich zur ILCO halten, habe ich immer wieder die Antwort gehört, dass sie die Offenheit dieser Kirche schätzen. Hier werde man nicht vereinnahmt, wie sie das (wohl zu Recht) von „den Pfingstlern“ vermuten. Hierher könne man auch kommen, wenn man woanders „schief“ angesehen werde, weil man z.B. in einer „offenen Ehe“ zusammen lebe. Hier seien die Frauen mit den Männern auf gleicher Augenhöhe, bei den Pfingstlern und den Katholiken sei das anders. Man müsse auch nicht alles schlucken, was die Pastoren in der Predigt sagen; man könne sogar mitreden und seine Meinung äußern. Und die ILCO verlange nicht, dass man Mitglied der Kirche werde, wenn man über längere Zeit hin ihre Angebote wahrnimmt. Und – das klang immer wieder durch – hier werde man nicht immer als Sünder angesehen, der sich bekehren muss, damit er die Gnade Gottes und die Wohltaten der Kirche erlangen kann, sondern hier werde man als jemand angenommen, der „doch selbst weiß, dass sein Leben nicht so schön sauber ist, wie sich das die Pfingstler von ihren Mitglieder erwarten oder die Katholiken auch gerne hätten und einen darum immer zur Beichte nötigten“. Jugendliche äußerten auch, dass es in der casa abierta „spannender“ sei, denn hier könne man junge Leute aus dem Ausland treffen (gemeint sind die Freiwilligen aus Deutschland, den USA, Österreich und Schweden, die hier meist im Kinderhort oder bei „fútbol por la vida“ mitarbeiten), die Fahrten in andere Gemeinden sei auch nicht so teuer wie z.B. in anderen Kirchen und überhaupt sei es schön, dass man sich mit anderen Jugendlichen aus dem ganzen Land treffen könne.

Als ich nachfragte, was ihnen in der ILCO nicht so gut gefalle, bekam ich eine mich überraschende Antwort, die ich nicht erwartet habe: vor allem von Seiten einiger Jugendlicher wurde gesagt, ihnen gefalle nicht, dass Kinder, die noch gar nicht „zur Erstkommunion“ (sic!) gegangen sind, an der santa cena teilnehmen dürfen. Auch finden sie es nicht in Ordnung, dass man ohne persönliches Sündenbekenntnis zum Abendmahl gehen könne, und überhaupt: jeden Sonntag – das sei doch nicht in Ordnung, denn das Abendmahl sei etwas so heiliges, dass man es nur zu besonderen Anlässen und nach intensiver Vorbereitung feiern dürfe.

Deutlich ist, dass die Befragten aus verschiedenen Traditionen kommen. Diejenigen, die die Häufigkeit des Abendmahls kritisieren, kommen aus Pfingstkirchen, wo in einigen dem Abendmahl ein so hoher Grad an „Heiligkeit“ zugesprochen wird, dass man daran nur nach intensiver „Reinigung“ teilnehmen darf, denn sonst „esse man es sich zum Gericht“ (wie mir ein Mitglied einer Pfingstkirche sagte). Diejenigen, die Erstkommunion und Buße als Vorbedingung der Teilnahme einfordern, kommen aus der katholischen Tradition.  … Einerseits nehmen sie wahr, dass sie „ohne Vorbedingung“ angenommen werden, dass sie frei sind zu bleiben oder zu gehen, dass – wie eine der Befragten sagte – „der Pfarrer in seiner Predigt mein Leben mit dem Evangelium zusammenbringt“, und dass „ich hier zur cena gehen darf, auch wenn ich nicht ‚heilig‘ (in diesem Fall, weil die Befragte ein uneheliches Kind hat, KB) bin“. Andererseits ist vielen unverständlich, warum die ILCO sich hierin von anderen Kirchen unterscheidet.

3. Misión integral

3.1. Wahrnehmungen

Wir sind durch sich Kilometer um Kilometer hinziehende Bananen- und Ananasplantagen gefahren, bevor wir El Jardin erreichten. … Nach einigem Suchen fanden wir schließlich auch den richtigen Weg und wurden bei der kleinen Kirche von Pastor Nehemias empfangen. Ein kleiner Mann, einfach gekleidet, mit strahlenden Augen und offenen Armen. Die Kirche – ! Ihr lieben Leute, welch ein bescheidener Bau – eigentlich mehr ein armseliger Bretterverschlag mit durch einfache Holzluken verschließbaren Fenstern, der Altar ein schlichter Holztisch, darüber ein einfaches Kreuz an der Wand, Bänke ohne Rückenlehne, Stühle – naja, man kann noch darauf sitzen. Das Haus (sechs x zehn m schätze ich) dient als Versammlungsraum, Gottesdienstraum und – ja, Schlafraum für den Pfarrer in der Zeit, wo er hier ist (an drei/ vier Tagen die Woche); denn für ein Pfarrhaus reicht das Geld nicht; wenn er nicht am Ort ist, pennt dort auch hin und wieder eine voluntario aus den USA, die hier an drei Tagen in der Woche für sechs Monate in der Schule Englisch unterrichtet, sonst aber in San José wohnt (mit dem Bus hierher etwa sechs Stunden). Hinter dem Gebäude wohnt in einem fast noch ärmlicheren Haus ein junges Ehepaar mit ihren Kindern; sie versehen den Messnerdienst, kümmern sich auch um den Garten, den der Pfarrer neben der Kirche angelegt hat, um vor allem den Frauen in der Gemeinde einheimische Heilpflanzen zu zeigen und sie in der Herstellung von Tinkturen und Salben zu unterweisen, die sie dann auch mit einem kleinen Gewinn verkaufen können. Er selbst behandelt auch Leute mit Rückenproblemen; neben seiner theologischen und pädagogischen Ausbildung hat er sich auch Kenntnisse in der Chiropraktik angeeignet. Mitten im Garten steht ein einfacher, offener Bau, das Sanctuario ecologico, in dem der Pfarrer seine Gemeindeglieder im Umgang mit den „Gaben der Schöpfung“ (wie er sagt) unterweist, und in dem er die kleinen Kinder seiner Gemeinde unterrichtet, wenn sie mit ihm zusammen im Garten arbeiten. Eine Idylle? Nee, pure Notwendigkeit, wenn anders man die Umwelt nicht gänzlich dem Profit und der Ausbeutung preisgeben will. Die Menschen, die hier leben, wissen schließlich um die Gefährdung der Natur – und mit Hilfe des Pfarrers setzen sie sich zur Wehr – zusammen mit anderen hier arbeitenden Umweltaktivisten, die sich um die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen Sorgen machen. Für den Pfarrer ist das „Gottesdienst“ (jedenfalls habe ich ihn so verstanden), und er ist wohl einer der wenigen Umweltaktivisten hier, der das Engagement mit der biblischen Tradition der Schöpfung in Verbindung bringt und das Engagement für ihre Bewahrung mit dem Gottesdienst verbindet, zu dem sich die Leute hier jeden Sonntag versammeln. Der hermeneutische Ort seiner Existenz als lutherischer Pastor und seiner Theologie ist seine mit den Leuten geteilte konkrete Situation und seine Identifikation mit den Armen. …

Die Häuser sind meist von einer unbeschreiblichen Schlichtheit, oft aus rohen Brettern zusammengezimmert, sehr einfach eingerichtet, aber immerhin fast alle mit fließendem Wasser und Strom versorgt. Das ist in Costa Rica fast überall so, wenn ich auch Siedlungen gesehen habe, in denen es all das nicht gibt; aber sie sind die Ausnahme. Trotzdem – die Armut ist bedrückend, die Verdienstmöglichkeiten in den Plantagen gering (1,5 Dollar in der Stunde, das sind 800 Colones, dafür bekomme ich in San José nicht mal einen Cappuchino, und so viel kostet ein pan dulce, das ich mir manchmal kaufe; ein Bohlenbrett für eine feste Tür kostet 4500 Colones – also 6 Stunden Arbeit, für eine Tür braucht man vier solcher Bretter); dazu kommt, dass die Arbeit wegen der Giftspritzerei nicht ungefährlich ist (viele Hautauschläge an Armen und Beinen, Atembeschwerden und Augenkrankheiten, Rückenprobleme wegen der Schlepperei der schweren Fruchtstände).

Der Pastor erzählt von verbreiteter Drogensucht, von Diebesbanden, die aus den Städten in der Gegend kommen; deren neueste Masche ist, nachts Busse anzuhalten und die Passagiere auszurauben; er erzählt von Arbeitslosigkeit und Zerwürfnissen in Ehe und Familie. Von der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher. Das ist der Lebenszusammenhang, in dem sich seine Gemeinde versammelt.

Mit Pastor Nehemias unterhalte ich mich über die Gründe, die Leute in dieser Gegend zu einem „Religionswechsel“ bzw. zum Wechsel der Kirche veranlassen könnten. In der (nicht sehr umfangreichen) Literatur werden unterschiedliche Beweggründe dafür genannt (meist zu einer der hier zahlreichen Pfingstkirchen). Oft sind persönliche oder gesellschaftliche Krisen für einen Wechsel ausschlaggeben; sie können ganz unterschiedlicher Art sein, ein paar Beispiele: Auflösung traditioneller Milieus; Vertrauensverlust zur katholischen Kirche; mangelende Partizipationsmöglichkeiten in der Herkunftskirche; die Hoffnung auf eine Neudefinition des Familienlebens und die Hoffnung insbesondere der vielen alleinerziehenden Mütter, dass ihr Mann bzw. ihr Lebensgefährte sich stärker in den Familienverband eingliedert und Mitverantwortung für die Kinder übernimmt; die Attraktivität einer positiven Einstellung zur eigenen Leistungsfähigkeit („Mit Gottes Hilfe schaff ich das“); die Erwartung an einen in der protestantischen Kirche vermuteten (und meist sogar in den Pfingstkirchen auch gegeben) größeren persönlichen Spielraum und die im Vergleich zur traditionellen Gesellschaft weniger strikten Verhaltensanforderungen an den Einzelnen (z.B. gilt eine alleinerziehende – oft sehr junge – Mutter hier als „gefallenes Mädchen“ ohne Aussicht auf einen Ehemann); die stärkere Emotionalität der Gottesdienste u.a.m. Diese Erwartungen, Hoffnungen, Chancen, die man mit einem Wechsel verbindet, gelten für alle „Wechsler“ unterschiedlich stark; aber was erwarten sie von den Lutheranern?

Dazu hat Nehemias eine interessante Hypothese. Er sagt, seit der Eroberung im 16. Jahrhundert sei in den lateinamerikanischen Gesellschaften eine Mentalität entstanden, die er als eine „cultura de la culpa“ bezeichnet, also eine Kultur der Schuld. Sie sei anerzogen, nicht „naturwüchsig“. Seit der Conquista de América seien zuerst die Indígenas, dann auch die Mestizen und die Angehörigen der armen Schichten in einem Zustand der Angst (el pueblo en miedo) gehalten worden („inferiorización y desconocimiento de la naturaleza humana de los pueblos originarios al ser reducidos a la categoría de trabajadores y esclavos sin confianza en sí mismo”). So weit, dass sie ihre Niederlage in den Eroberungskriegen und ihre prekäre Situation als in Abhängigkeit gehaltene campesinos als Schuld verstanden, die sie bis heute abtragen müssen. Diese Schuldangst sei durch die katholische Kirche, die fast immer mit den herrschenden Schichten verbandelt gewesen sei, gefördert worden („látigo y ‚la pan dulce‘ del Evangélio; Peitsche und Bibel) und sie komme heute den Pentekostalen entgegen, die wie die katholische Kirche auf der Klaviatur der Schuld geschickt zu spielen wisse. Denn mit Schuld (eingebildeter, angedichteter oder wirklicher) sei es wie mit einem Stein im Schuh: damit kann man nicht weit laufen. Und da trete dann die Religion auf den Plan. Die katholische Kirche predige zwar die Vergebung der Sünden, mache sie aber zum einen davon abhängig, dass der Mensch erst mal Buße tue, und dann binde sie die Menschen noch an sich, weil sie behaupte, die einzige religiöse Institution mit dem Privileg zu sein, Schuld vergeben zu können. Leute, die „schneller und leichter“ die Vergebung erlangen möchten, können jetzt zu den modernen Pfingstlern gehen; dort können sie – wegen der Manipulation, sagt Nehemias – in den Genuss der Erfahrung der Gegenwart Gottes im Heiligen Geist kommen und sich deswegen gewiss sein, ein „neues Leben“ im Himmel zu erlangen. Aber die irdischen Verhältnisse würden dadurch nicht verändert – höchstens „privatistisch“ für den Einzelnen. Es werde bestenfalls eine religiöse Eigenwelt als Fluchtraum aus der armseligen Wirklichkeit angeboten. Wer die Schale der Angst reiche und behaupte, die Schlüssel der Vergebung zu besitzen, könne Leute für sich gewinnen. Und das können die Pfingstler. Meint Nehemias. Sie predigen die Angst vor der Hölle und sagen, was man machen müsse, um der ewigen Verdammnis zu entgehen. Manchmal lassen sie sich das sogar gut bezahlen, meint er. (Eine verbreitete Meinung hier, die aber nicht immer stimmt: es gibt Pfingstgemeinden, die zwar „den Zehnten“ fordern, aber das nicht erzwingen.)

Ganz anders sei es bei den Lutheranern. Hier werde von der Liebe Gottes geredet, und nicht nur geredet, sondern ihr werde z.B. in den sozialen Projekten der ILCO eine Gestalt gegeben. Zu den Lutheranern kommen, so Nehemias (aber auch von anderen Pastoren hörte ich Ähnliches), jene, die sich nicht manipulieren lassen wollen, die sich weigern unmündig gehalten zu werden, sondern die selbstbewusst ihr Leben gestalten und die Ursachen ihres Elends nicht als natur- oder gottgegeben hinnehmen, sondern beseitigen wollen. Und dabei helfe die lutherische Kirche ihnen. Lutheraner hätten gelernt, „Ich“ zu sagen und daran zu glauben, dass eine andere Welt möglich ist, und dafür zu kämpfen. Die Lutheraner predigen die „ungeschuldete Liebe Gottes“ („una vida abundante en amor, justicia y esperanca“, wie es in der sonntäglichen Liturgie heißt). Die Leute müssen nichts abgeben von dem wenigen, das sie besitzen, um daran teilzuhaben. Aber sie nehmen dann freiwillig teil an der Erhaltung des Gartens, als ehrenamtliche Mitarbeiter in der Gemeinde und bei kleinen Reparaturarbeiten. Außer einer kleinen Kollekte im Gottesdienst sei von den Leuten kein Geld als eine Art „Kirchensteuer“ zu erwarten. Soweit das, was ich im Gespräch mit Nehemias verstanden habe.

Ich lasse es erst mal so stehen. Wahrscheinlich ist seine Wahrnehmung der „religiösen Präferenz“ schon durch die lutherische Brille des „Allein aus Gnaden“ und „Allein aus Glauben“ eingefärbt. Auf jeden Fall scheint mir eines klar zu sein: Die Attraktivität nicht-katholischer Kirchen und comunidades de fe lässt sich nicht allein aus der Bereitstellung bestimmter sozialer Dienstleistungen erklären, die dem Überlebenskalkül marginalisierter Bevölkerungsschichten entgegen kommen. Mit ihren sozialen Projekten bedient die ILCO also nicht die Erwartung auf Hilfe durch eine soziale (diakonische) Maßnahme der Kirche, sondern das soziale Projekt kann zum Raum der Erfahrung der Liebe Gottes und der Entfaltung einer selbstbewussten und freien Persönlichkeit werden, die sich von der „Vision einer neuen Welt“ leiten lässt.

3.2. Verstehen und Interpretieren

Was ich gesehen und gehört habe, versuche ich zu verstehen. Von welcher „Vision“ lassen sich Pastor Nehemias und die anderen Mitarbeiter/innen in der ILCO in ihrer Arbeit leiten? Was bewegt die ILCO sich für die Rechte von Indígenas und campesinos einzusetzen? Warum kümmert sie sich um alleinerziehende Frauen und hilft ihnen, sich eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen? Warum betreibt sie ökologische Projekte, berät Migranten, setzt sich für Ausgegrenzte und Marginalisierte ein? Wird sie dadurch nicht zu einer Art Nichtregierungsorganisation (NGO), die ihre Existenz dadurch sichert, dass sie sich Projektgelder besorgt, mit der sie sich und ihre Arbeit finanziert? Verliert sie nicht ihr Profil als Kirche? Diesen Vorwurf jedenfalls vernahm ich in Gesprächen mit Vertretern der ILCA, einer Abspaltung von der ILCO (seit 1999), die sich auch deswegen von ihr getrennt hat, weil wie ihr derzeitige Präsident Pastor Talero meint, dort zu wenig darüber nachgedacht werde, was es heißt, in Costa Rica als Lutheraner zu arbeiten, und weil sie die geistlich-geistige Dimension einer lutherischen Kirche vermissen lasse. (Ähnliches vernahm ich auch aus Kreisen der Pfingstkirchen und – als Frage – auch von Teilnehmer/innen einer Delegation US-amerikanischer Lutheraner, die die ILCO unterstützen.)

Das ist ein schwerwiegender Vorwurf bzw. eine schwierige Frage, denn damit wird der ILCO abgesprochen, eine lutherische Kirche zu sein, für die die Verkündigung der Botschaft von der freien Gnade Gottes hinter der Sozialarbeit zurücktritt, und eine Theologie zu vertreten, die sich nicht am lutherischen „Allein aus Glauben“ orientiert, sondern als eine Variante der von Luther verurteilten Werkgerechtigkeit anzusehen sei. Ich diskutiere im Folgenden auf den Hintergrund dieses Vorwurfs die theologische Überzeugung, mit der die ILCO ihre Arbeit begründet. Sie tut das durch die Übernahme des Begriffs misión integral. Was ist damit gemeint?

Der Begriff „misión integral“ ist eine durch die Lausanner Bewegung vermittelte lateinamerikanische Adaption des „missio Dei-Konzeptes“, betont aber stärker noch als dieses den sozialen Aspekt. [2] „Schon jetzt“ darf die Kirche das eschatologisch erwartete Reich Gottes in ihrem Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden abbilden

Die misión integral ist keine Angelegenheit, die sich auf der kirchlichen Leitungsebene oder in dafür besonders geschaffenen Werken allein abspielt, sondern sie betrifft alle Christen. Die örtlichen Kirchen haben dabei die Aufgabe, Männer und Frauen zu bewegen, sich in Gottes Mission hineinnehmen zu lassen und dazu zu befähigen. Ihr Ziel soll es aber nicht sein, neue Kirchen oder Gemeinden zu gründen (das mag geschehen oder auch nicht), sondern auf allen Gebieten menschlicher Existenz: daheim, im Beruf, im Krankenhaus, in der Universität, im Büro, in der Fabrik oder wo auch immer der Liebe Gottes zu den Menschen Gestalt zu geben, also: das Evangelium sich „inkarnieren“ zu lassen.

Diesen Begriff hat die ILCO ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt. Der mit ihm verbundenen Sache will sie sich widmen. In ihm bündelt sich ihre raison d’être.

Ich vermute, dass das ein wesentlicher Grund dafür ist, dass einige sich zur ILCO hingezogen fühlen; es sind nicht deutlich zu benennende, vom täglichen Leben abgeblendete „religiösen Präferenzen“ [3], sondern religiöse Bedürfnisse, die sich in mit und unter den Bedürfnissen des Lebens dieser Menschen artikulieren: die Heilsfrage wird hier leibhaftig gestellt. Es sind nicht wie auch immer geäußerte „spirituelle Bedürfnisse“, die die Leute bewegen (die kann man sich vielleicht ohnehin nur leisten, wenn man dafür Zeit und Geld hat, oder wenn man sich „asketisch“ von „der Welt“ absondert), sondern es sind Überlebensfragen in einem prekären Lebenszusammenhang, innerhalb dessen die Frage nach dem Heil gestellt wird.

Wenn die Heilsfrage nicht von der Frage nach der Gerechtigkeit zu trennen ist, dann darf die Antwort auf die Frage, was als eine „religiöse Präferenz“ zu gelten habe, nicht – jedenfalls nicht im Kontext der ILCO! – auf die Innerlichkeit reduziert werden. Die Heilsfrage ist hier immer verbunden mit der Frage nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit, konkret: mit der Frage nach Land, das man als campesino selbst bewirtschaften kann, nach Schulbildung, damit man einen Beruf erlernen kann, nach gesellschaftlicher Partizipation usw. Eine „religiöse Präferenz“ umfasst daher – jedenfalls in diesem Falle – immer die Sehnsucht nach Heil im umfassenden, die „weltliche“ Gerechtigkeit umschließenden Sinne. Schlicht gesagt: Wer Hunger hat und sich um Hilfe an eine religiöse Gemeinschaft wendet, stell die Heilsfrage ebenso wie derjenige, der sich (beispielsweise) in seinen Gewissensqualen an den gnädigen Gott wendet.

Etwas „erbaulich“ ausgedrückt: Die Aufforderung im Vater-Unser, dass der Name Gottes geheiligt werden möge, gehört aufs Engste zusammen mit der Bitte um das tägliche Brot und um „heile“ Beziehungen. [4]

Für das Selbstverständnis der ILCO ergibt sich daraus, dass für sie die Heilsfrage grundlegend mit der Frage nach (politischer, struktureller, wirtschaftlicher usw.) Gerechtigkeit (nach dem „Wohl“ im umfassenden Sinn) verbunden ist. Sie versteht sich als die Gemeinschaft/ Bruderschaft derer, die den „Lobpreis Gottes“ wegen der von ihm ermöglichten „Erneuerung“ verbinden mit dem „Kampf“ um die „Neue Welt“, in der „Freiheit“ und „Liebe“ Gestalt gewinnen werden.

Ich kehre zurück zur Eingangsfrage: Wie lutherisch sind die lutherischen Kirchen in Zentralamerika? Nun, ich kann diese Frage nur hypothetisch und nur im Blick auf Costa Rica beantworten. Dabei ging ich wie gesagt nicht von einem Kanon lutherischer Topoi aus, sondern ließ mir von denen, die sich zur ILCO halten, erzählen, warum sie für sich die Heilsfrage in der lutherischen Perspektive beantworten und was es darum für sie bedeuten könnte, Lutheraner zu sein. [5]

4. Religiöse Präferenzen in lutherischer Perspektive?

Ich unternehme im Folgenden den Versuch, die von mir festgestellten religiösen Präferenzen drei Gruppen zuzuordnen, die ich in der ILCO wahrgenommen habe.

Ich schlage vor, zwischen drei Gruppen zu unterscheiden, wenn man im Zusammenhang mit der ILCO nach der „religiösen Präferenz“ fragt.

4.1. Die „Sympathisanten“ und „Nutznießer“

Zur ersten Gruppe rechne ich jene, die Nutznießer der sozialen Arbeit der ILCO sind. Die ILCO wird [6] von vielen vor allem als eine Kirche gesehen, die die soziale Verantwortung für jene Menschen in der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt, die ausgegrenzt werden: Indígenas, Campesinos, Migranten, Hausangestellte (meist illegale Einwanderer aus Nicaragua), Flüchtlinge, (Stassen)kinder, alleinerziehende – oft sehr junge – Mütter; sodann Homosexuelle und Lesben, Bi- und Transsexuelle (die kriegen bei den Pfingstlern und den Katholiken eh kein Bein an Deck), an AIDS erkrankte Menschen, Frauen, die unter (häuslicher) Gewalt leiden usw.

a) Mehr Frauen als Männer sind in ihr zu finden, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass alleinerziehende Mütter die Angebote der Kinderbetreuung in La Carpio und Alajuelita (beide San José) gerne annehmen, um zur Arbeit gehen zu können, oder – wie „auf dem Lande“ in El Jardin und San Martin – um an Fortbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Wichtiger scheint aber ein anderer Grund zu sein: viele dieser Frauen wollen sich nicht mehr unter eine patriarchalische religiöse Struktur beugen, wie sie sowohl bei den Pfingstlern (was diese gelegentlich sogar selber zugeben) als auch bei den katholischen Brüdern und Schwestern (was die nicht so gerne zugeben) vorherrscht, wenn sie sich überhaupt noch einer Kirche zuwenden. Der Protest gegen eine religiös-gesellschaftliche Diskriminierung der Frauen und der Wunsch nach Gleichstellung auf Augenhöhe ist Ausdruck einer anderen religiösen Präferenz, als sie in der Mehrheitsgesellschaft vorherrscht. Es ist der Wunsch, als Ebenbild Gottes wirklich ernst- und wahrgenommen zu werden.

Diese Präferenz nennen begreiflicherweise ausschließlich Frauen, wenn man sie nach dem Grund fragt, warum sich zur ILCO hingezogen fühlen. [7] Auch wenn die meisten dieser Frauen meiner Wahrnehmung nach katholische Christinnen sind, so praktizieren sie ihren von dort beeinflussten Glauben an die Ebenbildlichkeit Gottes doch nicht in der römisch-katholischen, sondern in der lutherischen Kirche. Sie finden sich mit ihren Glauben dort besser „aufgehoben“. Salopp formulierend könnte man sagen: Sie meinen, die ILCO sei die bessere katholische Alternative – (und damit stünden sie ja auch gar nicht so allein da, hatten die Reformatoren Luther und Melanchthon doch ursprünglich auch keine neue Kirche im Sinn, sondern die Reform der katholischen Kirche ihrer Zeit).

b) Die „Sorge um das tägliche Brot“ ist für die Reichen sicher keine religiöse Frage. Aber für die Armen geht es hierbei um Leben und Tod. Für sie ist Religion auch immer mit der Hoffnung verbunden, hier und jetzt von Gott erhört zu werden – oder doch wenigstens in der Not, in der man steckt, ernst genommen zu werden.

Wenn man also versteht, dass für viele Menschen in dieser zuerst genannten Gruppe die Frage nach dem leiblich-materiell-gesellschaftlich erhofften „Heil-sein“ oben an steht, dann kann man ihre Hinwendung zur lutherischen Kirche gewiss auch als Hoffnung bzw. Erfahrung interpretieren, dass ihre „religiöse Präferenz“ in ihr zum Ziel kommt.

c) Und noch etwas ist mir klar geworden: alle, die sich sexuell anders orientieren als am traditionellen pfingstlichen und katholischen Geschlechterbild, haben, wenn sie sich denn überhaupt religiöse Präferenzen haben, gar keine andere Wahl, als zu den Lutheranern zu gehen, die sind nämlich landesweit die einzigen, bei denen sie eine religiöse Heimat finden können. Wenigstens in dieser Hinsicht habe ich gesicherte Erkenntnisse. In dieser Gruppe finden sich auch viele, die sich bewusst für die ILCO entschieden haben. Dazu nachher.

4.2. Die „katholischen Hausgenossen“

Als zweite Gruppe kann man jene unterscheiden, die mehr oder weniger regelmäßig an den Gottesdiensten und/ oder am Bibelgesprächskreis, an der Jugendstunde und dem Frauenkreis teilnehmen, ohne sich als Mitglieder einer lutherischen Kirche zu fühlen. Auch sie bleiben meist katholisch. Ich nennen sie – ganz wertfrei – der Einfachheit halber „katholische Hausgenossen“. Ihnen gefallen insbesondere das Predigtgespräch, die Santa Cena (die Mahlgemeinschaft), an der alle teilnehmen (in Alajuelita auch die Kinder), überhaupt jede/r, der/ die teilnehmen möchten, auch wenn sie nicht – durch die Konfirmation oder die „Primera comunión“ – „entschiedene“ Mitglieder der lutherischen Kirche geworden sind). Auch folgendes habe ich oft gehört: die Liturgie der Lutheraner ist lebendiger, gibt mehr Raum aktiv teilzunehmen, lässt Probleme im Gebet vor Gott (und die Gemeinde) bringen. Gerade auch dann, wenn kritisiert wird, dass die Liturgie noch nicht partizipatorische genug sei, merkt man die hohe Erwartung, die in dieser Hinsicht an sie gestellt wird. Auch die Lieder spielen eine große Rolle bei denen, die als „Hausgenossen“ zugegen sind: „Die Lieder sind so schön, da singen wir was wir denken.“ Warum ist das so? Darauf gibt Julio Melaro, der für die Kirchenmusik in der ILCO besondere Verantwortung übernommen hat: : „Es sind Lieder, die von unten, aus dem täglichen, heute gelebten Leben kommen, es sind keine Lieder, die (gleichsam) vom Himmel herabsteigen, im Gegenteil: sie steigen zum Himmel hinauf! Es sind ‚heilige‘ Lieder, von Gott selbst hervorgebracht, der (frei übersetzt) in der gemeinschaftlich vollzogenen Bewegung (sc. hin zum Menschen und zur Welt) Fleisch geworden ist.“

Auf die Frage der religiösen Präferenz möchte ich die Antwort zitieren, die mir einer der Teilnehmer an einem Bibelstudienkreis gab: „Hier bin ich nicht ein Mitglied, sondern ein Bruder.“ Das spiegelt das allgemein menschliche Bedürfnis nach Annahme wieder, das aber im Lichte der Botschaft von der freien Gnade Gottes und der Erfahrung der Partizipation (im Gottesdienst, im Bibelgespräch etc.) religiös interpretiert wird. Von Menschen, die ich dieser zweiten Gruppe zuordne, waren allerdings wenige wirklich an einer „lutherisch-religiösen Identität“ interessiert. Sie sind nicht (mehr überzeugte) Katholiken, aber auch nicht evangelisch (im Sinne einer Konfessionszugehörigkeit) und würden sich auch nicht als Mitglieder der ILCO bezeichnen. Überhaupt: Religiöse Identitäten zerfließen – auch in Costa Rica. Diese Verschwommenheit in der Zugehörigkeit besagt aber nicht, dass man sich nicht als Christ bezeichnen würde. Sie wollen Christen sein – aber ohne konfessionelle Zugehörigkeit.

Hier zeigt sich die große Bedeutung, die der Gottesdienst und die Bibelarbeit für den Gemeindeaufbau haben – kurz die Kontextualisierung von „el culto“, wie man hier sagt. Nur wenn die ILCO deutlich machen kann, dass sie auch als eine konfessionell orientierte Kirche offen für alle sein kann und will, wird es ihr mittelfristig auch gelingen, Menschen als Mitglieder zu gewinnen, zu „binden“ und trotzdem eine iglesia sin paredes zu sein.

Diese Bedeutung haben aber auch die Erfahrungen, die Menschen in anderen Veranstaltungen im Bereich der ILCO gemacht haben. Sehr häufig wird auf meine entsprechende Frage darauf verwiesen, dass man hier als Person ernst genommen wird und „frei und offen über alles reden kann, was einem auf dem Herzen liegt, was einen bedrückt und worauf man woanders keine Antwort bekommt.“ Auf Nachfrage werden konkrete Probleme genannt: die Angst, keine Arbeit zu finden, die erfahrene Diskriminierung, sexuelle Ausgrenzung, (sexuelle) Gewalt, ungewollte Schwangerschaft (in Costa Rica werden jährlich etwa 1700 Kinder von Mädchen unter 16 Jahren geboren), Perspektivlosigkeit, Drogen usw. Dass es eine lutherische Kirche ist, die ihnen in dieser Situation seelsorgerlich und sehr praktisch beisteht, spricht sich rum; in anderen Kirchen geschieht diese offene Art Seelsorge nicht. Ich habe meine Gesprächspartner/innen so verstanden, dass sie diese Offenheit und Hilfe in der katholischen Kirche nicht erfahren haben (aus welchen Gründen auch immer) und dass sie sie von den Pfingstkirchen, so wie sie sie wahrnehmen, nicht erwarten. Hingewiesen wird in dieser Gruppe auch darauf, dass die Moralvorstellungen der Lutheraner nicht so „rückwärtsgewandt“ und die ethischen Moralvorstellungen weniger rigoros und – z.B. im Blick auf die Homosexuellen und Lesben – niemals exkludierend seien.

Wenn man denn von einer religiösen Präferenz in dieser Gruppe reden darf, dann würde sie sich in der Erwartung äußern, in der lutherischen Kirche eine Heimat finden zu können.

Hier zeigt sich die Bedeutung der Jugendarbeit, der Arbeit mit Kindern und ihren Müttern, der begleitenden Seelsorge, der Hausbesuche und der „formación“ der Laien (Bildungsmaßnahmen z.B. in der Jugendarbeit, der Frauen- und Männerarbeit usw.).

4.3. Die „Bewussten“

Die dritte Gruppe setzt sich aus denen zusammen, die „bewusst Lutheraner/innen“ sind und das auch begründen können. Dazu zählen erwartungsgemäß die Mitarbeiter/innen in der Administration der ILCO, die Studierenden lutherischer Herkunft an der Universidad Biblica Latinoamricana (UBL), die Pastoren und Pastorinnen (oft selbst aus nicht-lutherischen Traditionen kommend), ehrenamtliche Gruppenleiter/innen (z.B. in der u.a. von „Brot für die Welt“ gesponserten Aktion „Fútbol por la vida“), viele von denen, die sich in der „Comunidad de la diversidad“ versammeln [8]; es gehören dazu aber auch die meisten von denen, die im „Gemeinderat“ (comité pastoral) mitarbeiten. Sie wissen ¿quiénes somos, en qué cremos y qué hacemos? Und können darüber auch Auskunft geben. Stellvertretend für andere zitiere ich zwei Antworten, die mir ein Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin auf die Frage gaben, was ihn an der ILCO besonders gut gefällt.

„Me gusta que sea una Iglesia que acompaña principalmente comunidades en alto riesgo social, comunidades pobres, marginadas. Pero también me gusta que sea una iglesia que piensa constantemente en los temas más complicados de la iglesia y de la sociedad. Me gusta mucho la teología que hacemos desde la Iglesia, también me gusta la liturgia, que permite la inclusión de la gente, me gusta que sea todavía un movimiento más que una institución, me gusta que sea una iglesia donde las mujeres puedan alcanzar la ordenación como pastoras, me gusta que la iglesia trabaje temas transversales como es el género, la ecología, VIH y SIDA, Los Derechos Humanos.”

„Me gusta más el espítitu abierto y la sinceridad. En la ILCO la gente sabe que la iglesia es en camino, no solo hoy pero por siempre, porque eso es la esencia de la cristianidad: ser caminando juntos con Jesucristo hacia los pobres y transformar las lágrimas en alegria …. Una iglesia en el camino no tiene una teología dogmática sino una teología dinámica. Es decir la teología se desarolle en la vida de la communidad de fe.”

Das Bild von der “Weggemeinschaft” ist mir in den Gesprächen öfters begegnet. Es entspricht dem in der Ökumenischen Bewegung seit der Sitzung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung in Santiago de Compostela 1993 gängigen Bild von den Kirchen als „Gemeinschaft auf der Pilgerreise“.

Wie in der Ökumenischen Bewegung ist man auch in der ILCO davon überzeugt, dass man mit Christus „unterwegs“ ist und nur jene Strukturen der Gemeinschaft und nur solche Formen der Theologie, der Liturgie und der Lehre sich dauerhaft als tragfähig erweisen werden, die aus dieser Weggenossenschaft hervorgehen und sich dort bewährt haben. Das Zeugnis einer Kirche auf dem Pilgerweg kann sich deswegen immer nur im konkreten Lebensvollzug als wahr und lebensdienlich erweisen. Ihre Theologie wird darum immer kontextuell und ihre Praxis an der Frage orientiert sein, „Was würde Jesus hier und heute dazu sagen, was würde er ‚jetzt‘ tun?“ Also keine theologia perennis, sondern eine „Kairostheologie“ in kreuzestheologischer Perspektive. Martin Luther hat in der Heidelberger Disputation aus dem Jahr 1518 betont, dass wahre Theologie immer Kreuzestheologie ist. Denn nur im Glauben an den gekreuzigten Christus, der gerade in seiner Menschlichkeit und Schwachheit die dem Menschen zugewandte Seite Gottes ist, findet der Mensch das Heil. Ich kenne keine Kirche in Costa Rica, die das so prononciert und ihrer Sendung bewusst vertritt wie die Iglesia Luterana Costarricense.

 



[1]

Wir könnten uns vermutlich rasch darauf einigen was typisch lutherisch sei und etwa sagen:

Dass eine lutherische Kirche sich als Verwirklichung und Teil der einen, heiligen, katholischen (= allgemeinen) und apostolischen Kirche versteht, die ihren Ursprung im Glauben an Jesus Christus, in seinem Reden und Handeln, in seinem Sterben und Auferstehen, sowie in der Ausgießung des Heiligen Geistes an Pfingsten hat. Das sagen aber alle Evangelicós in Zentralamerika, und dazu zählen sich auch die meisten Pfingstkirchen (einmal abgesehen von all den anderen, die sich zur vielfältigen „reformatorischen Familie“ gehören).

Wir könnten uns rasch drauf einigen zu sagen, lutherisch sei die Überzeugung, dass der Mensch allein aus Gnade vor Gott bestehen kann und – weil Luther diese Erkenntnis durch die Bibel gewonnen habe – allein die Heilige Schrift Maß und Richtschnur des Glaubens sein könne und dass sie von ihrer Mitte, von Jesus Christus her, auszulegen und als lebendige Stimme Gottes in unserer Welt zu hören sei. Aber sogar Katholiken könnten das akzeptieren.

Ferner wäre daran zu erinnern, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu beachten sei und dass der Mensch immer Gerechter und Sünder zugleich bleibt. Das hat das Luthertum zwar immer zentral gestellt, aber es steht damit nicht allein.

Auch auf den Gottesdienst als dem Ort, an dem das Evangelium rein verkündet wird und die Sakramente (Taufe & Abendmahl) recht verwaltet werden wäre hinzuweisen, und dass die Kirche das priesterliche Volk Gottes ist, weswegen man vom Priestertum aller Gläubigen spricht.

All das ist Erbe der lutherischen Reformation – aber als solches doch auch in vieler Hinsicht und unterschiedlicher Bedeutung Allgemeingut aller evangelischen Kirchen geworden – ja, sogar die römisch katholische Kirche runzelt nicht mehr reflexartig die Stirn, wenn solche Charakteristika nach vorne geschoben werden.

[2]

Das arbeitet Kathinka Hertlein in ihrer Bachelor-Arbeit sehr schön heraus, in: Micah Challenge – Gottes Wille oder Social Gospel?! Eine Beschäftigung mit der Integralen Mission am Beispiel von Micah Challenge, Marburg 2007, in: www.eh-tabor.de/t3/kathinkahertlein/. Micah Challenge ist eine von C. René Padilla mitbegründete Bewegung, die weltweit dafür arbeitet, dass Christen im Sinne der misión integral Marginalisierung und Armut bekämpft und soziale Gerechtigkeit hergestellt wird. Weitere Information unter dem Stichwort „Micah Challenge“ im Internet.

[3]

Was ist eine „religiöse Präferenz“?

Der Begriff stammt aus der (US-amerikanischen) Soziologie (religious preference) und bezeichnet die aufgrund der Pluralität in modernen Gesellschaften und der mit ihr verbundenen Individualisierung für den Einzelnen unausweichliche Notwendigkeit, wie zwischen vielen anderen Optionen auch zwischen verschiedenen religiösen eine Wahl zutreffen. Der moderne Mensch ist mit der Notwendigkeit konfrontiert, hinsichtlich der Glaubensvorstellung eine Wahl zu treffen und diese verantworten zu müssen. Die religiöse Überzeugung ist eine Entscheidungsfrage geworden.

Vor einer solchen Wahl stehen aufgrund des rasanten Pluralisierungsprozesses, dem die lateinamerikanischen Gesellschaften ausgesetzt sind, auch die allermeisten Menschen in Costa Rica.

Der Begriff suggeriert zu Recht weltanschaulichen Konsum oder religiöses Wahlverhalten. Er wird aber gerne mit einer relativistischen Haltung in Verbindung gebracht: so wie man heute diesen Artikel zu erwerben vorzieht und morgen jenen, so ziehe man heute beispielsweise eine pentekostale, morgen eine lutherische Option vor usw. Doch so einfach ist das nicht.

Der Einfluss des kulturellen/ religiösen Lebenszusammenhangs

Denn Präferenzen entstehen (und vergehen) in konkreten Lebenszusammenhängen. Sie sind nicht beliebig. Auch eine „religiöse Präferenz“ ist durch die konkrete Lebenswelt mitbestimmt. Der soziokulturelle Lebenszusammenhang, in dem sich jemand bewegt, beeinflusst die religiöse Wahl vermutlich stärker als man gemeinhin annimmt. (Vgl. Jean-Pierre Bastian u.a.: Religiöser Wandel in Costa Rica. Eine sozialwissenschaftliche Interpretation. Mainz 2000, S. 104-199; Orlando E. Costas: El Protestantismo en America Latina hoy. Ensayos del camino (1972-1974). San José 1975, S. 1-40, S. 41-76.) In diesem Zusammenhang ist zweierlei zu beachten.

Zum einen: Eine „religiöse Präferenz“ verdrängt nicht notwendigerweise vorherige religiöse Vorlieben; sie kann sie in die neue Perspektive integrieren. Man muss damit rechnen, dass zum Beispiel überkommene Elemente bei der religiösen Wahl „mitgenommen“ werden bzw. in die neue Präferenz einwandern. Es kann also sein, dass in einer mehrheitlich katholisch geprägten Gesellschaft wie in Costa Rica für jene, die sich für eine andere Kirche entscheiden, Elemente insbes. des volksreligiösen Katholizismus (Riten, Gebräuche, Lieder) lebendig bleiben.

Sodann: Es kann auch so sein, dass bestimmte Überzeugungen, die man in der Herkunftsreligion gewonnen hat, eine Wahl zu einer anderen nahelegen. Das kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn die gewonnenen Überzeugungen im Raum der Herkunftsreligion keine Realisierungschancen haben. Für diesen „Mitnahmeeffekt“ sind die vielen aus dem katholischen religiösen Zusammenhang in das Liederbuch der ILCO übernommen Lieder ein gutes Beispiel.

Die auch in der katholischen Kirche geltende Anschauung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott kann einen Menschen mit homosexueller Orientierung dazu bewegen, die ILCO als neue religiöse Heimat zu wählen, weil er sich in seiner „Heimatkirche“ als ausgegrenzt erfährt. Er ist dann Lutheraner, obwohl er „in seinem Herzen“ katholisch bleibt. In diesem Fall verstärkt eine religiöse Präferenz die Affinität zur lutherischen Kirche gleichsam als „der besseren katholischen Variante“ des Christentums.

Der Einfluss persönlicher Bedürfnisse

Die bewusste Übernahme von religiösen Überzeugungen wird auch von bestimmten Erwartungen beeinflusst, weshalb es nicht reicht, das, was für den Einzelnen als „religiöses Erlebnis“ gilt, zu erheben. Darüber hinaus muss man versuchen, die Bedürfnisse selbst in den Blick zu bekommen. Solche Bedürfnisse lassen sich ja nicht auf ein bestimmtes Grundmotiv oder einen wie auch immer gearteten religiösen Trieb zurückführen. Die Motive werden ganz unterschiedlich sein. Es ist ja bekannt, dass viele Menschen in Situationen der Frustration, der Angst, der Unsicherheit und der Trauer ihre „religiösen Ressourcen“ aktivieren. Wie alle Religionen, so kommt auch die christliche diesem Anliegen entgegen.

Ein weiteres Motiv für die Übernahme von religiösen Überzeugungen ist die oftmals unterstützende Wirkung der Religion beim Selbstwertstreben eines Menschen; das können wir zur Zeit vor allem in der Diskussion um die Bedeutung des „Islamismus“ für zutiefst verunsicherte Menschen erkennen.

Aber auch Dankbarkeit und Verehrung sind ein Grund, sich seiner religiösen Überzeugungen bewusst zu werden bzw. religiöse Wissenssysteme zu übernehmen, die dem Bedürfnis, eine „höhere Macht“ zu verehren, Raum, Riten und Verhaltensweisen anbieten. „Daraus folgt, dass Religion als kognitives Aussagensystem nicht nur das Bedürfnis nach einem geschlossenen Weltbild befriedigt, sie geht weit darüber hinaus und setzt an den unterschiedlichsten emotionalen und existenziellen Nöten eines Menschen an“(Thomas Kern).

[4]

Exkurs: Wie in allen Religionen geht es auch im Christentum und also auch in der ILCO um die Heilsfrage.

„Von den Gläubigen her gesehen „steht im Mittelpunkt ihres religiösen Denkens und Handelns das Heil des Einzelnen oder der Gemeinschaft. Dabei geht es immer um Leben, sei es als Lebenserhaltung, als Wiederherstellung der alten Lebenszusammenhänge oder das ewige Leben. … So können wir … sagen, daß alle Religionen in ihrer je und je unterschiedlichen historischen und konkreten Gestalt immer und vor allem Welterklärungs- und Lebensbewältigungssysteme sind.“[iv]

Das Heil und die Heilvorstellungen sind, wie alle religiösen Ausdrucksformen, in ihrer Verschiedenheit nicht nur durch die jeweilige Religion an sich bestimmt, sondern immer auch durch die unterschiedlichen Lebensbedingungen und die „verschiedenen Traditionskontinua bedingt“[iv]. In den im Vergleich zu den historischen Kirchen an Mitgliederzahl oft kleinen „jungen Kirchen“, wie die ILCO eine ist, hat die Tradition ein viel geringeres Gewicht als in den alten, etablierten und großen Kirchen. Weit mehr sind sie beeinflusst durch die konkreten (Um)Welt- und Lebensverhältnisse, die für die meisten unter ihnen als bedrückend und je länger je mehr ungerecht empfunden. Für die ILCO wie für andere im lateinamerikanischen Kontext neu entstehende Kirchen, steht am Anfang eine Unheilserfahrung, eine Erfahrung der „Nicht-Heilheit, der Nicht-Ganzheit“. Vom jeweiligen „Mangel her wird der Nichtmangel als Heil nicht nur erkennbar, sondern auch erstrebenswert“. Bei der Suche nach der Behebung des Mangels kommen als bekannt überlieferte oder als neu begegnende religiöse Traditionen ins Spiel bzw. können ins Spiel gebracht werden. Indem sie die „Unordnung der Welt“ in eine bestimmte religiöse Perspektive rücken, können sie helfen, eine Diagnose des Unheils zu stellen, die – wegen der Vielfalt religiöser „Heilsvorstellungen“ und je nach der zur Anwendung gebrachten Tradition – sehr unterschiedlich ausfallen kann. Zentrale Fragen sind dabei: „Warum ist das Unheil unheil? Woher kommt das Unheil? Wie kann das Unheil wieder heil werden?“ Die entscheidende Frage für die Wiederherstellung des Heils ist die nach der Erkennbarkeit der Ursache. Ist die Ursache erkennbar bzw. erkannt, kann der Weg zur (Wieder)Herstellung des Heils beschritten werden. Dazu bieten die verschiedenen Religionen/ Kirchen unterschiedliche „Therapiemöglichkeiten“ an.

Die ILCO versteht sich als eine Kirche in der Tradition der (lutherischen) Reformation. Die Theologie Martin Luthers wird freilich nicht in ihrer ganzen Differenziertheit wahrgenommen, sondern ist fokussiert auf die drei „Allein“, die allerdings die wesentliche Erkenntnis Luthers enthalten, die seine Theologie in allen ihren Variationen, Brüchen und Brechungen prägt: allein aus Gnaden, allein aus Glauben, allein aufgrund des in der Heiligen Schrift bezeugten Evangeliums von Jesus Christus.[iv] Gott will eine gerechte, friedliche, humane, schöpfungsgemäße Welt. Das ist die Frohe Botschaft, das Evangelium. Im Lichte dieser Botschaft erscheinen Ungerechtigkeit, Unfriede, Gewalt und Unterdrückung als religiöses Unheil und die „Therapie“ besteht darin, dass man Buße tut und sich in Gottes Heilswillen hineinnehmen lässt.

Ebenso ist der Heilsweg, also die Antwort auf die Frage, wie das Unheil wieder heil werden kann, in diesem Zusammenhang nicht allein „spiritueller“ Art, sondern umfasst notorisch die Gerechtigkeitsproblematik: ist die Ungerechtigkeit einmal als Vergehen gegen den Willen Gottes diagnostiziert, so kann der in Jesus Christus eröffnete Heilsweg nur beschritten werden, wenn man das Unrecht bereut, Absolution erhält und Wiedergutmachung leistet.

[5]

Ich bin dabei immer von der Prämisse ausgegangen, dass das, was für einen Menschen eine „religiöse Präferenz“ ist, nicht vom „befragenden Wissenschaftler“ vorab festgelegt werden darf, sondern der Befragte selbst definiert (vielleicht erst im Gespräch mit dem Wissenschaftler), was er darunter versteht. Vieles kann im entsprechenden Kontext als religiös definiert werden, was für den betrachtenden Wissenschaftler vielleicht gar nicht religiös ist. Will sagen: die Deutungshoheit liegt beim Befragten. Er sagt, was für ihn eine sozial-individuell realisierte Beziehung zu etwas ist, was den Menschen und seine Welt übersteigt oder umgreift. Diese Prämisse vertrete ich auch nach meinem Aufenthalt in Costa Rica uneingeschränkt, muss aber eingestehen, erst hier wirklich begriffen zu haben, was es bedeutet, dass der Begriff von der „religiösen Präferenz“ mehr abdeckt als beispielsweise die Liebe zur Liturgie, die Sehnsucht nach göttlicher Gegenwart, das Eintauchen in das „Umgreifende“, die Erfüllung einer Sehnsucht nach Ganzheit und Fülle und dergl. mehr (immer oder meist verbunden mit bestimmten als religiös konnotierten Praktiken). Eine „religiöse Präferenz“ kann sich auch als Hoffnung nach Gerechtigkeit, als Kampf um Brot und Gesundheit, als inniger Wunsch nach dem Erhalt des ökologischen Lebensraums usw. äußern. Wenn Aussicht besteht, dass diese Präferenz erfüllt wird, kann es zum Wechsel zu einer Gemeinschaft bzw. einer Kirche kommen, die sich diesen Fragen und Problemen in besonderer Weise und mit besonderer Intensivität widmet.

[6]

Wenn sie denn unter den 198 im Lande registrierten evangelischen (unter dem Begriff wird hier jede – auch sektiererische – Kirche versammelt, die nicht katholisch ist) überhaupt wahrgenommen wird!

[7]

Der Wunsch nach Überwindung patriarchaler Strukturen wird auch da noch sichtbar, wo man die mangelhaft vollzogene Gleichstellung von Frau und Mann in der ILCO kritisiert – auch hier waren es nur Frauen, die sich dazu äußerten.

[8]

Einer Gemeinde vor allem aus Menschen mit einer von der Gesellschaft in Costa Rica nicht akzeptierten sexuellen Orientierung, obwohl sie durch eine Art Antidiskriminierungsgesetz eigentlich integriert werden sollen; ich habe über diese Gemeinde in der erwähnten Untersuchung zur Liturgie etwas geschrieben.

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