Aug 132012
 

 

Bilder aus Neapel

Von Christopher Henze

Ich fand unter den Sachen von meinem Onkel Carlo diese alten Fotos, die wahrscheinlich in Neapel um 1870 bis 1890 aufgenommen wurden und dachte, sie würden Ihnen gefallen. Ein erfahrener Freund von mir begutachtete diese Bilder und klärte wie ein Sherlock Holmes manche Fragen zu den Bildern auf. Andere Fragen bleiben noch zu klären.

Welche Jahreszeit ist in den Fotos zu erkennen? Ich weiß, dass Süditalien traditioneller ist als Norditalien, was die Kleiderschichten der Frauen im Bild 4 erklären würde, aber im gleichen Bild gibt es Menschen in Hemdsärmeln. Ist es kalt oder warm? Ich glaube jedenfalls, die Frauen gucken so, als würden sie singen. Die drei gegen das Gebäude gelehnten alten Männer (Bild 1) sehen aus als ob sie frieren, obwohl sie warm angezogen sind. Und was zum Teufel macht der Fischer-Typ mit seinem an der Tür angeschnürten Seil? Raucht er eine Pfeife?

Diese Bilder haben neben einer guten Bildschärfe als alte Fotos von 1890 auch eine besonders einzigartige Offenheit und Ehrlichkeit (candour), finde ich. Die Qualität ist auch sehr erstaunlich. Sogar die Kinder, die sich offensichtlich bewegten, sind nicht verschwommen.  Die wuchtigen Kameras mussten auf sperrigen Stativen aufgestellt werden und waren wenig unauffällig; doch die Personen in diesen Bildern sind sich der Kamera überwiegend nicht bewusst. Die Fotos erscheinen authentisch wie Augenzeugen.

Neapel

Bild 1 © Christopher Henze

Mit etwas Fantasie sind die Hände des Pfeifenrauchers (mit langstieliger Tonpfeife von der Art, die Drei im Stück verkauft wurden und aus Holland importiert waren) und die Gesichter der an die Wand gelehnten Männer wirklich schwarz und nicht nur sonnengegerbt. Die Männer könnten Kohlen geliefert haben – drei ist ein Team – so dass wir in den Fotos Winter hätten und man einige Sonnenstrahlen einfangen wollte. Und wenn man genau hinsieht, kann man sehen, dass sein Seil in einer Schleife locker um die dünne Stange in einem schweren Steinsockel (wie ein Führungsband am Stellpfosten) geschlungen ist. Ich würde sagen, ein Maultier oder Esel mit Lastenkörben ist am anderen Ende des Seiles. Die Wollmützen der Fischer und die Kopfbedeckung des Seemanns sind nur Übrigbleibsel ihrer vergangenen Arbeit (siehe den geflochtenen Saum am Hemdsärmel des einen auf der linken Seite) … Es scheint kälter zu sein als im Bild 3. Die Sonne steht höher (siehe Schatten), und wenn es Sommer wäre, könnten sie es nicht aushalten. ….

Neapel

Bild  2 © Christopher Henze

Verkehrsunfall?

Neapel

Bild 3 © Christopher Henze

Faszinierend in diesem Bild ist, dass die Leute alle von der Straße weg und zu ihrem Bürgersteig hinüber schauen. Es ist hier wieder ein Mix aus nur leicht gekleideten Mann im Hemd neben einem sitzenden Veteran mit Garibaldi-Mütze in Mitten einer Gänseschar dick eingemummelter Kinder und Frauen in leichteren Röcken mit dennoch zwei dreium die Schulter geschlungene Schaltücher, die interessanterweise manchmal zu Tragetaschen verknotet und verwendet werden konnten. Ich meine, dass der Mann im Redingote-Mantel ein Kutscher ist, der mit auf dem Rücken verschränkten Händen in einer typischen militärischen “Rührt Euch!”-Haltung auf die glänzende Kutsche vor ihm aufpasst.

Neapel

Bild 4 © Christopher Henze

Die Frage ist, was die drei Frauen verkaufen? Auf dem Kopf tragen sie eine Art Körbe, wie ich sie heute immer noch hiesige Bauern für Obst verwenden sehe oder Fischer für ihre Fische (obwohl heute eher Plastikkisten für die letzteren verwendet werden). Was sie dort in ihren Körben schleppen ist keine Wäsche, auch keine gefaltete Wäsche, und die Frauen könnten sogar auf dem Weg nach Hause sein. Niemand schaut ihnen zu oder fragt ihnen etwas und die Körbe sind nicht gleichmäßig voll. Aber sie könnten einen wiederholten Sing-Sang rufen (wie mein wöchentlicher neapolitanischer Melonen-Verkäufer vor seinem Lastwagen: „i miei meloni Belli! freschi freschi! … Pesche aunguira! fresche fresche!“ Ich winke von meinem Balkon und dann bringt es mir das “scunizzo”, das Kind im neapolitanischen Dialekt, zu meinem Platz.) Es ist mittlerer bis später Nachmittag und heiß (im Bild 4). Die Kinder im Hintergrund sind leicht bekleidet, so auch der Mann in Hemdsärmeln, der sich zu Fuß neben ihnen entfernt. Die Pflanzen auf dem Balkon sind zugleich üppig und nicht frühlingshaft. …

Eine Vorstellung von Sommerkleidung war den ärmeren Schichten unbekannt. Frauen trugen alles, was sie besaßen, so scheint es, ob  Sommer oder Winter. Und wenn es (in unseren Bildern) kalt wäre, würden die Leute nicht draußen sitzen. Ich würde eine Vermutung wagen und sagen, dass es September ist, die Sonne wirft sehr lange Schatten. Eines der kleinen Mädchen im Hintergrund hat ihr Schulkleid noch an, so dass die Zeit etwa 5 Uhr ist. Und ihre Mutter hat ihr nicht gesagt, sich umziehen zu gehen. Und die Rollläden sind noch nicht geschlossen wie bereits die Fenster in dem Palazzo im Hintergrund. …

Eine Bemerkung oder zwei

In Bild 1 sind die an die Wand gelehnten Männer zwei Veteranen und ein Fischer. Die Veteranen sind aus dem Garibaldi Krieg, (wie man auch in Bild 3 einen solchen Herren sehen kann auf seinem Stuhl sitzend dreiviertel abgewandt mit dem Rücken zu uns). … Also ich würde diese Fotos zwischen 1870 und 1890 datieren. …. Der Mann im Redingote-Reitermantel und Zylinderhut kann durchaus ein Kutscher oder ein Polizist sein. …. Ich werde das recherchieren … Es gab vor den 1880er Jahren keine Polizei in Neapel und im fast gesamten Italien vor den 1880er Jahren … Eine Gruppe von Menschen, die sich selbst „l’Onorata societa“ nannte, kümmerte sich um die Kleinkriminalität und um den Frieden in den Straßen … Es gibt sie immer noch unter drei anderen Namen heute, aber sie selbst werden jetzt von der Carabinieri gejagt, die damals nicht die gesamtstädtischen Polizeiaufgaben innehatten ….

Übersetzung: Erik Speck-Rosenbaum


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  8 Responses to “Naples between 1870 and 1890”

  1. Zu dem Bild 2 gibt es folgenden Kommentar

    Naples
    © Christopher Henze

    Joy The writing on the store sign looks Spanish. You said Spain is ruled out, so I’ll guess it is in Portugal – Lisbon??

    Christoph Du hattest bereits beim letzten Bild vermutet, dass es sich um Italien handelt. Das ist richtig! Aber welche Stadt in Italien?

    Joy Is it „Naples, Italy“?

    Christoph Ja, es ist Neapel. Auch Elisa ist dieser Meinung. Du und alle anderen erfahren mehr durch folgenden Link: http://www.gaebler.info/​2012/08/neapel/

    Joy Very interesting photo detective work! I’ve been studying the picture of my great-grandparents from the early 1900s, looking at reflections in windows, their clothing, etc. to get an idea of how and where they lived. It’s fascinating to study old photos!!

    Elisa Sehr interessant! Ich war fast sicher! Danke. Liebe Grüsse aus Italien.

  2. In original analysis of Photo 1, Please make it „thin but weighted“ metal post instead of „tin but weighed.“ Sorry for repeating my friend Bernard Tardy’s typographical errors. He, by the way, is French but living in Italy and fluent in umpteen languages and dialects. One of those language geniuses. Had a career as a court interpreter.

    • Chris, ich habe den Text oben verbessert. Danke für den Hinweis. Was sagst Du zu den Facebookkommentaren?

      • Thank you for the correction, Christoph. The word „weighed“ should be „weighted“ (insert „t“). English is tough, but so is German!

        Regarding the interesting comments, I can only say that I believe the photos are from Naples, where I also believe people hang out their washing/laundry on balconies even today. My friend also noted that the streets seemed much cleaner back then than today (despite the horses)!

        I have no precise details about the photos, only my friend’s analyses, which seem reasonable to me.

  3. Zu dem Bild 3 gibt es auf Facebook folgende Kommentare

      Christoph Hier ein zweites Bild aus der Stadt im Süden… Wo wird Wäsche auf dem Balkon getrocknet?

      Bild 3
      © Christopher Henze

      Joy Das ist in Italien nicht Deutschland!

      Christoph Joy, wie kommst Du auf Italien? Als wir letztes Jahr in Venedig waren, habe ich keine Wäsche auf den Balkons gesehen.

      Venedig
      © Christoph Gäbler

      Christoph Also Spanien kannst Du ausschließen. Als wir in diesem Jahr in Andalusien waren, da gab es vergitterte Balkone; Wäsche habe ich auch dort nicht gesehen.

      Ronda
      © Christoph Gäbler

      Elisa Es könnte wohl Neapel im XIX Jahrhundert sein.

      Christoph Elisa, wie kommst Du auf Neapel?

  4. Zu dem Bild 4 gibt es auf Facebook folgende Kommentare:

      Christoph Wo und wann ist das Foto entstanden? Was will es sagen?

      Bild 4
      © Christopher Henze

      Joy Erstaunlich Frauen! / Amazing women!!

      Christoph Was haben die Frauen in den Körben?

      Joy Brot??

      Christoph Joy, Brot soll so aussehen? Ich habe da meine Zweifel. Auf dem folgenden Video ist klar zu erkennen, was da getragen wird.

      Peter Das sind 2 Frauen aus Harpstedt und eine aus Schwachhausen, welche am frühen Morgen des 17. April 1905 die frisch gewaschene und gebügelte Wäsche feiner Bremer Senatoren zurückbringen. Da die rechte Frau aus Dhd stammt, hat sie noch nicht soviel Übung im Balancieren. Deshalb singt sie immer ein Durchhaltelied aus ihrer Heimat: „Koarle, verlier die Balance ne, oack ne immgeschutt…“

      Christoph Peter, das ist kein Bild aus Bremen und Joy, das ist auch kein Bild aus den USA. Das Foto wurde vor 1905 aufgenommen!

      Joy I thought the bread was wrapped in white paper to keep it fresh!

    • Fabulous video of man loading and carrying bricks on his head!