Dez 092012
 

Ökumenischer Jugenddienst seit 1955/1956 – Seniorenkreis
Konvent in Neudietendorf 10.-14. September 2012
„Balance in meinem Leben und in der Welt“

Balance in der Gesellschaft?

Von Walter Hiller

Unsere Gesellschaft in den heutigen Strukturen ist ein komplexes nicht leicht zu durchschauendes Gebilde. Dabei müssen die einzelnen Bereiche, wie Wirtschaft, Ökologie, Kultur und Politik immer als Ganzes gesehen werden. Die größte Schwierigkeit liegt darin, dass starke Interessenverbände unser gesellschaftliches Leben, das Mit- und Gegeneinander, bestimmen und darüber hinaus auch noch im Rahmen von Europa und der übrigen Welt starke Einflüsse und Verbindungen mit zu bedenken sind. Ausgerichtet müsste aber in jedem Fall alles darauf sein, allen Menschen ein lebenswertes Leben unter Bedingungen einer gut organisierten gesellschaftlichen Ordnung zu gewährleisten.

Walter Hiller

Walter Hiller 2010

Für das individuelle Verhalten und das Zusammenleben gelten Werte und Normen, Rechte und Pflichten, die im Grundgesetz und darüber hinaus durch eine demokratisch gewählte Regierung festgelegt sind. Zwei davon möchte ich an dieser Stelle hervorheben, die für unser Zusammenleben enorm wichtig sind:

  1. Die Würde des Menschen ist unantastbar. (Artikel 1) Und das bedeutet: Die Gleichwertigkeit aller Menschen ist anzuerkennen. Gleichzeitig damit verbunden ist die Sicherung ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit als zentrale Werte einer modernen und humanen Gesellschaft. Dies bedeutet im Prinzip, dass in unserer Gesellschaft ein möglichst angstfreies Zusammenleben von Individuen und Gruppen unterschiedlicher ethnischer, religiöser und kultureller oder sozialer Herkunft einschließlich ihrer alltäglichen Lebenspraxis sicherzustellen ist. (Heitmeyer)
  2. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. (Artikel 14)

Betrachten wir nun die Struktur unserer Gesellschaft etwas genauer, stellen wir fest, dass sie geprägt ist durch starke Gegensätze. Dazu einige Beispiele:

Soziale Ungleichheit in Deutschland

Diese Ungleichheit hat in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, in den Jahren 1945 – 1980 etwas abgenommen durch die Lohnerhöhungen und durch den Eingriff des Sozialstaates. Seither öffnet sich wieder die Schere zwischen oben und unten. Der Prozess setzte bereits vor 1982 ein. Er beginnt bereits in der Schlussphase der Regierung unter Helmut Schmidt und hält sich in der Zeit von Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Die dramatische Steigerung hält seitdem an. Die Vermögens- und Einkommensverteilung ist von 1950 bis heute völlig starr. Der Arbeiter, der 1950 180 DM verdient, erhält im Jahr 2000 1500 DM. Die Vermögenden dagegen, vor allem die Selbständigen, erleben einen fantastischen Anstieg, aber in der Größenordnung bleibt es sich völlig gleich. Ende der 70er Jahre vergrößert er sich dramatisch.

Die Situation verschärft sich durch Vererbung. Von 2005 bis 2010 sind 300 Mrd. Euro in den Familien weitergegeben worden.

Dazu kommt die ungerechte Verteilung der Vermögen

Die Vermögensverteilung erregte bereits 1960 zum ersten Mal Anstoß. Ergebnis: 1,7 Prozent aller westdeutschen Haushalte besitzen 74 Prozent des Produktivvermögens – Produktionsanlagen, Fabriken und Versicherungsanlagen. 1992 wurde erneut überprüft und heraus kam dasselbe Ergebnis wie 1960. Umgerechnet in allen Vermögensarten sind dies 35 Prozent des Gesamtvermögens, welche dieser winzige Anteil an reichen Haushalten besitzt.

Das gesamte Privatvermögen in Deutschland erreichte nach dem Stand von 2007 einen Wert von 10 000 Mrd. Euro. Davon besitzen 10 Prozent der Bevölkerung 61,6 Prozent und 90 Prozent 38,4 Prozent.

Das Volumen der Besitzenden ist noch ungleich höher als in der Nachkriegszeit, es ist das Zehnfache von 1950.

Die unterste Gruppe von 20 Prozent besitzen sechs bis sieben Prozent.

Die Zahl der Vermögensmillionäre hat sich von 825 000 in 2007 auf 951 000 in 2011 erhöht. Allein im Krisenjahr 2008 kamen 50 000 hinzu. Damit haben die Reichen ihre Ziele durchgesetzt.

Nicht vergessen in diesem Zusammenhang dürfen wir die Enteignung durch den Anschluss der DDR an die BRD.

Mit dem Untergang der DDR war auch eine Neuregelung der Verfügung des Eigentums über Produktivvermögen, Immobilien sowie Grund und Boden notwendig. Das waren Werte, die von denen, die 40 Jahre in der DDR gelebt, gelitten und hart gearbeitet haben. Schätzungen des Volksvermögens nach der Währungsunion beliefen sich auf 600 Mrd. DM. Dieser Wert wurde unter Verantwortung der Treuhand auf 270 Mrd. DM Schulden heruntergewirtschaftet. Die Abschlussbilanz wies am Ende nahezu 400 Mrd. Schulden aus.

Zu Recht stellt sich hier die Frage: Wo ist der Differenzbetrag von 1000 Mrd. DM wohl geblieben? Man wird wohl sagen können: Er ist verschenkt und verschleudert und auf diese Weise privatisiert worden. Und damit hat ein gewaltiger Ost-West-Vermögenstransfer stattgefunden und auch eine weitere Eigentumsumverteilung von unten nach oben.

Immerhin gingen 90 Prozent des Volksvermögens an Vermögende und Reiche aus dem Westen. Und für die 400 Mrd. Schulden mussten die Steuerzahler aufkommen.

Motto des Sozialberichts: Einmal arm, immer arm

Die Analyse des letzten Sozialberichts für Deutschland (Oktober 2011) zeigt, dass 2008/2009 15,5 Prozent der deutschen Bevölkerung als armutsgefährdet galten und außerdem seit Mitte der 80er Jahre eine kontinuierliche Steigerung erfolgt ist.

Als armutsgefährdet gilt, wer einschließlich staatlicher Sozialleistungen im Monat weniger als 929.– Euro zur Verfügung hat.

Bei der weiteren Beschreibung der Lebensverhältnisse, so bei Gesundheit, Bildung und sozialer Ungleichheit lautet die Regel: Wer wohlhabend und gebildet ist, lebt gesünder und folglich in der Regel länger. Entsprechend geringer ist die Lebenserwartung von weniger gebildeten und wohlhabenden Bevölkerungsschichten. So leben Männer, die heute 45 Jahre alt sind und Abitur oder Fachhochschulreife haben im Durchschnitt 5,3 Jahre länger als Gleichalterige, die einen Hauptschul- oder gar keinen Schulabschluss verfügen.

Eine weitere skandalöse soziale Ungleichheit ist der Niedriglohnsektor. Er ist eine gesellschaftliche Absage an Teilhabe und Solidarität.

Leiharbeit, befristete Arbeitsverträge und Minijobs und damit auch der Niedriglohnsektor erreichen Rekordstände.

Ende 2011 waren 41,4 Mio Menschen erwerbstätig, das sind knapp 3 Mio mehr als noch vor 20 Jahren. Dabei ist das Normalarbeitsverhältnis nach wie vor das überwiegende Beschäftigungsmodell, aber mit abnehmender Tendenz.

Gut 75 Prozent des zwischen 2009 und 2010 verzeichneten Beschäftigungszuwachses sind auf die Zunahme sog. atypischer Arbeitsverhältnisse zurückzuführen.

So wächst die Branche Leiharbeit seit Jahren. 2011 waren über 900 000 Menschen nur leihweise beschäftigt – 155 Prozent mehr als Jahre zuvor (überwiegend Männer).

Befristete Arbeitsverhältnisse erreichten 2011 einen neuen Höchststand. 2,7 Mio Menschen arbeiten mit einem befristeten Vertrag. Mittlerweile werden 45 Prozent aller Neuverträge nur noch befristet abgeschlossen. Betroffen sind überwiegend Frauen und junge Menschen. Befristung geht einher mit schlechter Bezahlung.

Minijobs sind ein weiteres Problem. Ende 2011 waren fast 7,5 Mio Menschen geringfügig beschäftigt. Diese Jobs gehen oft mit Niedriglöhnen einher, weil skrupellose Unternehmen diese Stellen zum Lohndrücken nutzen, um auf diese Weise staatlich subventionierte Zusatzgewinne einzustreichen Fast jede Vierte arbeitet für einen Niedriglohn. Betroffen sind insbesondere Frauen mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Rente.

Einher damit geht oftmals die Reduzierung von Stammbelegschaften, zur dauernden Schlechterstellung und Lohndrückerei.

Insgesamt gesehen werden hier Grundsätze der Menschenwürde gravierend verletzt und diese Situation ist schlicht und einfach eine Schande für eines der reichsten Länder.

Wer herrscht, wer hat das Sagen? 147 Konzerne kontrollieren und beherrschen die Welt

Im Jahr 2008 hatte der Kapitalismus/Neoliberalismus eine große Krise. Gleichzeitig hat der Finanzkapitalismus bis heute gezeigt, dass wir völlig von ihm abhängig sind. Er ist sogar noch stärker geworden.

Der Neoliberalismus ist ein Phänomen der großen internationalen Konzerne. Nach einer Studie der Fachhochschule Zürich kontrollieren 147 Konzerne große Teile der Weltwirtschaft. Besonders dominant sind Unternehmen aus dem Finanzbereich, also Banken, Fondsgesellschaften und Versicherungen. Diese Supereinheit ist ein in sich geschlossenes System. Ihre Mitglieder kontrollieren sich gegenseitig, weil sie sich über ein kompliziertes Geflecht von Beteiligungen großenteils in wechselseitigem Besitz befinden.

Sie propagieren den freien Markt, den sie gleichzeitig beherrschen. Gleichzeitig haben sie eine starke Verbindung zur Politik, was absolut marktwidrig ist. Die Politik hatte bislang dieser geballten Macht wenig entgegenzusetzen. Das liegt vor allem daran, dass die transnationalen Super-Konzerne die Nationalstaaten gegeneinander ausspielen. (Nokia) Die entsprechenden Institutionen der Staaten, wie die Kartellämter sind zu schwach und diese Schwäche wiederum stellt die Demokratie in Frage, weil das, was der Wille der Mehrheit ist, nicht durchgesetzt werden kann.

Die Finanzwirtschaft ist schon etwas Besonderes, gerade auch deshalb ist sie eine große Gefahr für unsere Demokratie, denn der Finanzsektor ist Grundlage für alle Tätigkeiten der Wirtschaft. Sie hat die Krise 2008 hervorgerufen und als Folge haben wir eine bis heute andauernde Staats- und Schuldenkrise in Europa.

Die ganzen Schwierigkeiten begannen mit der Deregulierung der Finanzmärkte Mitte der 1980er Jahre. Sobald Investmentbanken die normalen Geschäftsbanken für ihre Zwecke nutzen können, ist der Krisenfall gegeben. Dringend wäre deshalb eine erneute Regulierung, die es von 1930 bis zu den 1980er Jahren bereits gab. Ob aber die Politik den Willen und die Kraft aufbringt für eine Regulierung ist aus heutiger Sicht eine Frage.

Betrachten wir nun abschließend eine mögliche Balance in einer von den Finanzmärkten, dem Finanzkapitalismus beherrschten Gesellschaft, komme ich zu folgendem Ergebnis: Ausgehend von der Spaltung und der vorherrschenden Ökonomisierung unserer Gesellschaft, der Benachteiligung breiter Schichten unserer Bevölkerung – das gleiche Bild gilt übrigens auch für Europa und darüber hinaus weltweit – sind Veränderungen nur durch Druck und starken Widerstand zu erreichen. Zunächst müssten dafür Ziele bzw. eine Vision formuliert werden, wie wir und die nachfolgenden Generationen in Zukunft arbeiten und leben wollen. Es geht darum, die Grundvoraussetzungen zu schaffen, dass Freiheit und Gleichheit für alle Bürgerinnen und Bürger in einer demokratischen Gesellschaft geschaffen und durchgesetzt werden. Ein Mittelweg ist für mich nicht vorstellbar, weil es um ungeteilte Menschenrechte geht und ein Mittelweg bzw. eine Balance die Ungerechtigkeit nicht beseitigen würde. Oder anders formuliert: Es geht darum, die beiden großen Kritikströme am Kapitalismus, die Sozialkritik, das sind Ungerechtigkeit und Ausbeutung und die Kulturkritik, das sind Bevormundung und Freiheitseinschränkung zu überwinden und zwar in dem Sinne der Gleichwertigkeit aller Menschen.

Schluss

Gestattet sei mir zum Schluss noch eine Bemerkung zu Sloterdijk. In der Einladung wird von ihm der Satz zitiert: „Balance üben heißt keinem notwendigen Kampf ausweichen, keinen überflüssigen provozieren.“ Wenn wir diese These, diesen Aufruf in Beziehung setzen mit dem von Sloterdijk nach der Bundestagswahl 2009 veröffentlichten „Bürgerlichen Manifest“, komme ich zu folgendem Ergebnis: In diesem Manifest fordert er einen Neuanfang der Gefühlshaushaltspolitik, nämlich die Balance zwischen Primäraffekten der menschlichen Seele, den Gier artigen Regungen auf der einen Seite, den Stolz artigen Regungen auf der anderen; griechisch gesprochen, so sagt er, sei das Wechselspiel von Eros und Thymos in Deutschland völlig verloren gegangen. Sloterdijk sieht Deutschland als einen „Umverteilungsstaat mit krypto-semi-sozialistischer Struktur, regiert von einer „Lethargokratie“, die einem notorisch nörgelnd-unzufriedenem Volk nach dem Munde redet. Nach seiner Deutung befindet sich Deutschland im festen Griff einer latenten Sozialdemokratie im Sinne einer „Transfermaschine“. So sei der Konflikt unserer Zeit derjenige zwischen den „Steueraktiven“ bzw. „Transfermassengebern“ auf der einen und den „Transfermassennehmern“ auf der anderen Seite. Der aktuelle Zeitgeist beinhalte einen „psychopolitischen Vektor“ zur Mobilisierung eben jener steueraktiven Bürger und fordert die schwarz-gelbe Koalition auf, einen Wandel im Sinne der Reichen und Besserverdienenden herbeizuführen. In der FAZ konkretisiert er diesen Punkt in der Weise, den Reichen es selbst zu überlassen, in welcher Höhe sie freiwillig eine Steuer an den Staat entrichten wollen. Frage: In welcher Hinsicht und mit welchem Ziel soll nun der Kampf geführt werden?

Dieses Denken entspricht einer absoluten Abkehr vom Gemeinwohl, einer Abkehr vom sozialen Rechtsstaat und entspricht in keiner Weise unserer für Deutschland geltenden Sozialordnung. Und scheinbar hat Sloterdijk von der ungerechten Einkommens- und Vermögenspolitik der letzten 25 Jahre noch nichts gehört. Steuerflüchtlinge bunkern rund 180 Mrd. Euro in der Schweiz Vielleicht liegt es aber auch daran, dass das Wechselspiel von Eros und Thymos bei ihm völlig aus der Balance geraten sind und die Gier die Oberhand erhalten hat. Da kann man nur noch sagen: Armer Philosoph.


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