Jan 082013
 

Vortrag von Wolfgang Paul

Als 1842 unser Orden,  Pour le mérite für Wissenschaften und Künste, durch Friedrich Wilhelm IV. gegründet wurde, gehörten zu den ersten Mitgliedern auch fünf Physiker: Arago, Faraday, Gay-Lussac, Mellonie und Ørsted. Alle fünf waren Ausländer. Alexander von Humboldt, der den König bei der Auswahl beraten hatte, konnte unter den deutschen Naturforschern keinen Physiker von gleichem Rang angeben. Es dauerte 20 Jahre, bis Franz Neumann aus Königsberg und Wilhelm Weber aus Göttingen als erste Deutsche in den Orden aufgenommen wurden.

Den Grund für diese relative Schwäche der deutschen Naturforschung sah Hermann von Helmholtz, wie er in seiner Heidelberger Rektoratsrede1862 formulierte, in der beherrschenden Stellung der Naturphilosophie Schellings und Hegels. Sie seien von der Hypothese ausgegangen, dass der menschliche Geist es unternehmen könne, auch ohne durch äußere Erfahrung und Naturbeobachtung geleitet zu sein, die Gedanken des Schöpfers nachzuvollziehen und die Naturerscheinungen a priori zu konstruieren und zu erklären.

Die großen Erfolge der experimentellen und beobachtenden Naturwissenschaft außerhalb des Geltungsanspruchs dieser Philosophie liefen auch an deutschen Universitäten diese Geisteshaltung überwinden und führten etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Aufblühen der exakten Naturforschung. Die Berliner Universität spielte dabei bald eine führende Rolle. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde Berlin mit einigen neugegründeten Institutionen, einem neuen Physikinstitut der Universität, der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, dem Ausbau der Technischen Hochschule Charlottenburg, der Errichtung der Kaiser-Wilhelm-Institute und einer glücklichen großzügigen Berufungspolitik ein Zentrum der Forschung der experimentellen wie auch der theoretischen Physik. Es wurde damit auch Schule für viele ausgezeichnete Physiker. Eine erstaunlich große Zahl blieb in Berlin oder wurde später nach Berlin zurückberufen. Bei vielen, deren glanzvolle Namen man mit anderen Universitäten des In- und Auslandes verbindet, ist man überrascht zu erfahren, dass ihre wissenschaftliche Heimat Berlin war.

Schauen wir jetzt nach mehr als 100 Jahren die Bilanz an: Bis heute wurden 20 dieser »alten Berliner«, d. h. der Physiker, die in Berlin gelernt oder gelehrt hatten, in den Orden Pour le mérite gewählt (von 44 in- und ausländischen Physikern insgesamt). 19 wurden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Es sind Namen darunter, die auch Nichtphysikern weltweit bekannt sind: Rudolf Clausius, Hermann von Helmholtz, Max Planck, Albert Einstein, Walter Nernst, Max von Laue, Erwin Schrödinger, Otto Hahn und Lise Meitner und viele andere mehr.

Hundert Jahre Berliner Physiker und Berliner Physik wären ein Thema für eine vielstündige Vorlesung. Ich werde mich beschränken auf einige wenige Persönlichkeiten vor der Jahrhundertwende, die zu diesem Aufschwung beigetragen haben, und auf ein Kapitel der Physik, das damals im Brennpunkt des Interesses stand und für die moderne Physik eine Schlüsselrolle spielen sollte: die Wärmestrahlung. Die präzise experimentelle Erforschung der Natur dieser Strahlung und deren quantitative Erklärung durch Max Planck im Jahre 1900 war weitgehend eine »Berliner Angelegenheit«.

Am Anfang der von mir geschilderten Entwicklung steht Heinrich Magnus – ursprünglich Chemiker, wurde er 1845 als Professor für Physik und Technik an die Universität berufen. Dementsprechend behandelte seine persönliche Forschung sehr praktische Probleme, so z. B. die hydrodynamische Kraft auf einen rotierenden Körper seither als Magnuseffekt bezeichnet. Seine Bedeutung für und sein Einfluss auf die Physik waren jedoch anderer Art. Magnus war ein ausgezeichneter Lehrer und führte seine Schüler in die Kunst des Experimentierens in einem Physiklaboratorium ein, das er privat in seinem Haus, Am Kupfergraben 7, eingerichtet hatte. Ein Physikalisches Institut gab es damals noch nicht. Liest man die Liste der Schüler, so erscheint sie wie eine Seite aus dem Gotha der Physik. Unter ihnen waren:

Emil du Bois-Reymond, der große Physiologe. Er führte physikalische Messmethoden in die Physiologie ein und erhielt damit grundlegende Erkenntnis über die Arbeitsweise der Muskeln und Nerven.

Rudolf Clausius, später Professor in Zürich und Bonn. Er ist einer der Väter der Thermodynamik und Begründer der kinetischen Gastheorie. Sein Name ist mit den Hauptsätzen der Wärmelehre eng verbunden; von ihm stammt der Begriff der Entropie.

Hermann von Helmholtz, der große Vollender der klassischen Physik, wie er später von Lord Kelvin genannt wurde. Auf ihn komme ich noch ausführlicher zu sprechen.

Gustav Kirchhoff in seiner Heidelberger Zeit zusammen mit Bunsen Begründer der Spektralanalyse und nach seiner Rückkehr nach Berlin Vater der Gesetze der Stromleitung in elektrischen Netzwerken. Er war ein Lehrer der theoretischen Physik ersten Ranges, bei dem auch Ludwig Boltzmann und Max Planck studierten.

August Kundt, Nachfolger von Helmholtz auf dem Berliner Lehrstuhl, Doktorvater u. a. von Röntgen, Zsigmondy und Emil Rathenau, dem Gründer der AEG.

Werner von Siemens, Entdecker des dynamo-elektrischen Prinzips, das die Nutzung der elektrischen Energie in großtechnischem Maßstab zur Folge hatte, Gründer und Mäzen der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt.

Emil Warburg, der das Berliner Institut nach der Jahrhundertwende mit  seinen Schülern James Frank, Gustav Hertz und Robert Pohl leitete.

John Tyndall, Professor an der Royal Society in London, und der Theoretiker Gustav Wiedemann, der den quantitativen Zusammenhang zwischen elektrischer und Wärmeleitfähigkeit erkannte.

Magnus kreierte eine Institution, die sich äußerst vorteilhaft auf das wissenschaftliche Leben auswirkte, das wöchentliche Berliner Physikkolloquium, in dem die eigenen Resultate der Berliner Physiker wie auch interessante Veröffentlichungen anderer Laboratorien vorgetragen und diskutiert wurden. Die Institution, vielfach kopiert, ist als Stimulus und kritisches Forum nirgends mehr wegzudenken. Da aber Magnus einer zunehmend mathematischen Behandlung physikalischer Probleme sehr skeptisch gegenüberstand, rebellierten seine jungen Mitarbeiter und gründeten als Gegengewicht die Physikalische Gesellschaft zu Berlin, der sich auch Du Bois-Beymond und Werner von Siemens anschlossen. Nach zwei Jahren hatte sie bereits 56 Mitglieder. Sie wurde Keimzelle der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und existiert immer noch.

Durch Du Bois und Siemens wurde in den Kreis um Magnus auch ein junger Militärarzt aufgenommen, Hermann Helmholtz, dessen Neigung ganz besonders der Physik galt. Er war ein wahrhaft universeller Geist, dessen ungewöhnliches Talent sich bereits in seiner ersten physikalischen Veröffentlichung mit dem Titel »Über die Erhaltung der Kraft« zeigte. Er trug sie 1847 zuerst in der Physikalischen Gesellschaft vor. Auf Rat des skeptischen Magnus reichte er sie jedoch nicht in den Annalen der Physik ein, sondern liess sie privat drucken. Die Arbeit wurde von fundamentaler Bedeutung für die gesamte Naturwissenschaft. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie, wie wir heute sagen, wurde innerhalb von fünf Jahren von Robert Meyer, dann von James Joule und Helmholtz unabhängig voneinander formuliert; doch die Darstellung von Helmholtz war sicher physikalisch und mathematisch am besten begründet und universell. Wie schwer es neue Erkenntnisse haben, die von den bisherigen Anschauungen radikal abweichen, zeigt sich darin, dass alle drei Schwierigkeiten bei ihrer Publikation hatten.

Als Helmholtz dann 1871 als Nachfolger Magnus nach Berlin berufen wurde, hatte er bereits eine glänzende Karriere als Physiologe hinter sich. Die Universitäten Königsberg, Bonn und Heidelberg waren Stationen seiner Laufbahn. Seine Arbeiten zur Sinnesphysiologie, die Entwicklung des Augenspiegels, das Ophthalmometer, eine Theorie des Sehvorgangs wie auch die zur Klangempfindung und die erste Messung der Geschwindigkeit der Nervenleitung hatten ihm höchstes Ansehen eingebracht. In Berlin widmete er sich wieder ganz der Physik. Das Problem der Ausbreitung elektromagnetischer Felder faszinierte ihn. Die Theorien Maxwells waren1 außerhalb Englands noch kaum bekannt und in ihrer Formulierung schwer verständlich. Zusammen mit seinen Schülern, darunter Boltzmann und vor allem Heinrich Hertz, begann er Experimente, um die Gedankengänge Maxwells zu prüfen und Klarheit in offene Fragen zu bringen. Drei große Arbeiten zur Elektrodynamik zeugen davon; man kann sie als Vorbereitung zu der folgenreichen Entdeckung der elektromagnetischen Wellen wenige Jahre später durch Heinrich Hertz ansehen.

Helmholtz hatte immer ein Gespür für fundamentale Probleme. In seinen Faraday Lectures vor der Royal Society in London 1881 postulierte er: »Wenn wir Atome der chemischen Elemente annehmen, können wir nicht umhin zu schließen, daß auch Elektrizität in bestimmte elementare Quanta geteilt ist, die sich wie Atome der Elektrizität verhalten.« Zehn Jahre später wurde das Elektron als solches Quantum gefunden.

Zu den Studenten von Helmholtz, die in großer Zahl zu ihm strömten, gehörten neben den schon erwähnten Ludwig Boltzmann und Heinrich Hertz der Spektroskopier Heinrich Kayser, der Pionier der Farbphotographie Lippmann, Max Planck, Harry Rowland, Willi Wien und nicht zu vergessen Ferdinand Braun, der Erfinder der Kathodenstrahlröhre, heute das Herzstück jedes Fernsehgerätes. Es ist ein Kuriosum, dass vor etwa 30 Jahren in einer internationalen Zeitschrift bedauert wurde, dass dieses universelle Messinstrument eine anonyme Erfindung sei. Dabei war Braun so unbekannt nicht; wurde er doch mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Als 1887 auf gemeinsame Initiative von Siemens und Helmholtz die Physikalisch-Technische Reichsanstalt gegründet wurde, übernahm dieser als erster deren Leitung. Seinem Weitblick und Organisationstalent ist es zu verdanken, dass diese nicht nur für ihre primäre Aufgabe, ein Amt für Festlegung von physikalischen Maßen und Einheiten zu sein, gut gerüstet wurde, sondern, dass dem Präsidenten ein Forschungslaboratorium zur Verfügung stand, das bald für einige Jahre als das bestausgerüstete Physiklabor der Welt galt und so Anziehungspunkt für hervorragende Physiker wurde. Die PTR wurde Vorbild für das National Bureau of Standards in den USA und in England. Das Laboratorium zeigte schon in den Jahren 1890 bis 1900 seine Meisterschaft bei der Vermessung des Spektrums der Wärmestrahlung in fruchtbarer Zusammenarbeit mit der Universität. Die Resultate waren Voraussetzung und Prüfstein für die Gedankengänge Max Plancks, der als Nachfolger Kirchhoffs auf den Lehrstuhl für Theoretische Physik berufen wurde. Sein Interesse galt damals vor allem der Thermodynamik und dem Begriff der Entropie, die er mit der kinetischen Gastheorie Boltzmanns auf die Probleme der Wärmestrahlung anwandte.

Es ist fast unmöglich, diese Zusammenhänge einem breiten Zuhörerkreis in der kurzen bleibenden Zeit nahezubringen. Doch kann ich Ihnen vielleicht eine ganz grobe Vorstellung vermitteln.

Es ist eine alte Erfahrung, dass jeder heiße Körper Energie in Form von Licht verschiedener Wellenlänge abstrahlt und dass ein gegenüberstehender diese Strahlung absorbieren kann. Kirchhoff konnte nach den Sätzen der Thermodynamik beweisen, dass das Verhältnis von Emissions- zur Absorptionsfähigkeit unabhängig von den Materialeigenschaften ist, sondern nur eine Funktion der Temperatur. Daraus folgt, dass ein absolut schwarzer Körper, der alle einfallende Strahlung absorbiert, bei vorgegebener Temperatur auch die höchste Emissionsfähigkeit besitzt. Der schwarze Körper ist also der ideale Strahler. Stefan und Boltzmann konnten zeigen dass die abgestrahlte Energie mit der vierten Potenz der Temperatur ansteigt. Weiterhin wissen wir aus Erfahrung, dass mit steigender Temperatur das abgestrahlte Licht dabei seine Farbe ändert, das Spektrum sich zu kürzeren Wellenlängen verschiebt. Ein Stück Eisen strahlt bei steigender Temperatur erst rot, dann gelb.

Es ist das Ziel der Physik, einen solchen Sachverhalt nicht nur festzustellen, sondern die Natur der Strahlung, den Verlauf des Spektrums quantitativ aus übergeordneten Naturgesetzen wie zum Beispiel der Thermo- und Elektrodynamik zu verstehen und zu reproduzieren und damit auch deren Aussagekraft zu prüfen.

Willi Wien, damals noch in Berlin, gelang es, 1898 eine Strahlungsformel abzuleiten, die fast alle Bedingungen erfüllte. 1899 beschritt Max Planck einen etwas anderen Weg mit nicht sehr abweichenden Resultaten. Nach den ersten Messungen der Reichsanstalt schien erstaunliche Übereinstimmung mit diesen Theorien zu bestehen. Als man aber gelernt hatte, bei niederen Temperaturen und bei immer längeren Wellenlängen zu messen, ergaben sich systematische Abweichungen. Besonders Heinrich Rubens und Kurlbaum war es gelungen, das Spektrum bis zu Wellenlängen von 50 µ, dem Hundertfachen der Wellenlängen des sichtbaren Lichtes präzise zu verfolgen. Als Rubens am 7. Oktober 1900 mit seiner Frau bei Plancks zum Kaffeetrinken eingeladen war, berichtete er ihm über seine Messungen, die mit keiner der theoretischen Vorhersagen übereinstimmten. Dieser Sonntag wurde der Geburtstag der Quantenhypothese, denn am gleichen Abend hatte Planck den revolutionären Einfall, die bei der Berechnung vorausgesetzte kontinuierliche Verteilung der Energie unter Bruch mit der bisherigen Erfahrung aufzugeben und statt dessen diskrete Energiequanten der strahlenden Oszillatoren anzunehmen. Seine damit erhaltene neue Strahlungsformel teilte Planck Rubens am nächsten Tag auf einer Postkarte mit, der nunmehr volle Übereinstimmung zwischen Experiment und Theorie in einem weiteren Temperaturbereich bestätigte. Und dabei ist es bei allem Fortschritt der Messtechnik bis heute geblieben.

Planck ahnte damals noch nicht, dass er mit dieser kühnen Hypothese den Schlüssel für das Verständnis des gesamten atomaren Geschehens gefunden hatte. Und wenn wir heute die Strahlungstemperatur im Weltall zu drei Grad Kelvin aus dem Spektrum der Überreste der beim Urknall entstandenen elektromagnetischen Strahlung bestimmen können, so verdanken wir dies allein der Planck’schen Strahlungsformel und damit den tüchtigen Experimentatoren in Berlin um die Jahrhundertwende.

Quelle: Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste, 22. Band, Seite 55-59

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