Aug 272013
 

Jesus ist ein Dalit, was bedeutet das?

Von Henning Wrogemann

Quelle: Interkulture Theologie und Hermeneutik, Seite 114 – 118
© 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Indien hat derzeit eine Bevölkerung von etwa 1,2 Milliarden Menschen. Die Hindu-Religionen sind mit über 70% der Bevölkerung die dominierende Kraft, Muslime machen etwa 12% aus, Christen dagegen nur 2,4%, was allerdings etwa eine Zahl von 28 Millionen Menschen ausmacht. [1] Obwohl Indien die numerisch größte Demokratie der Erde ist, ist die indische Gesellschaft noch weit von menschlicher Gleichbehandlung entfernt. Die Regierung versucht zwar durch Quotenregelungen das Los der unteren Gesellschaftsschichten zu bessern, als hinderlich jedoch erweist sich hier das religiös bestimmte Sozialgefüge. Grundlegend für die Einteilung von Menschen nach ihrer Geburt ist das so genannte Kastensystem, das eine Einteilung in vier Großkategorien begründet, wohingegen es im realen Leben mehrere Tausend von Unterkasten gibt. [2] Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. Wichtig ist der religiöse Begründungszusammenhang. In einem alten heiligen Text aus dem Rigveda wird die Gesellschaft zurückgeführt auf die Tötung und Zerteilung eines Urmenschen. Dort heißt es: »Welche Anordnung trafen sie, als sie Purusa (Urmensch) in viele Teile spalteten? Wie wurde sein Mund, wie seine beiden Arme, wie seine Schenkel und Füße genannt? Die Brahmanen wurden sein Mund, die Rajanya (Krieger) seine beiden Arme; die Vaisya (Händler und Landwirte) bildeten seine beiden Schenkel und aus seinen Füßen wurden die Shudras (Versklavte Klasse) geboren.« [3]

Mit dem religiös legitimierten Kastensystem ist eine Ordnung der Reinheit verbunden. Rituelle Reinheit wird innerhalb von Familie und Klan weitergegeben, rituelle Unreinheit dagegen wird zu vermeiden gesucht. Solche Unreinheit entsteht durch das gemeinsame Essen, durch das Berühren von Menschen einer niederen Kaste sowie durch die Heirat mit niederkastigen Menschen. Konkret bedeutet dies, dass zwischen den Kasten nicht geheiratet wird, es kein gemeinsames Essen gibt, Berührungen vermieden werden usw. Menschen aus niederen Kasten haben schlechtere soziale Aufstiegschancen, sie werden diskriminiert. Shudras etwa – Angehörige der untersten Kaste(n) – gibt es ca. 500 Millionen in Indien, doch darunter noch stehen diejenigen, die gar nicht mehr zum Kastensystem gerechnet werden, die Niedrigsten der Niedrigen, die Dalits.

Was bedeutet diese Selbstbezeichnung? Dalits, das bedeutet übersetzt »die Zerstoßenen«, »die Zertretenen«. Von ihnen gibt es im heutigen Indien etwa 200 Millionen Menschen. Sie müssen am Rande der Dörfer leben, wenn nicht im Busch, sie dürfen nicht dieselben Brunnen benutzen wie Kastenangehörige, sondern müssen oft viele Kilometer zur nächsten Wasserstelle laufen, sie werden oft entrechtet. Wo Dalit-Frauen vergewaltigt werden, findet kaum eine Aufklärung statt, ebenso häufig nicht, wenn Dalits ermordet werden. Die lokalen Polizeikräfte und Behörden sind besetzt mit Angehörigen höherer Kasten, deren Einstellung »Das sind ja nur Dalits« oft bewirkt, dass Verbrechen nicht geahndet werden. Unter den Dalits herrscht ein sehr hohes Maß an Armut, Analphabetentum, Krankheit und Arbeitslosigkeit.

Nun sind die Mitglieder der christlichen Gemeinden in Indien zum großen Teil (mit etwa 80%) Angehörige der unteren Kasten und der Dalits. So müsste es also eine Dalit-Theologie geben. Gibt es sie? Und: Was würde eine Dalit-Theologie auszeichnen? Gegenüber anderen kontextuellen Theologien ist es zu einer Entwicklung von Dalit-Theologie erst in den 1990er Jahren gekommen. Der Grund ist einfach: Menschen, denen von Kind an beigebracht wird, dass sie ein »Nichts« sind, internalisieren dieses Minderwertigkeitsgefühl und glauben selbst, nichts wert zu sein. Sie können daher ihre Stimme nicht erheben, weil sie keine Stimme haben. Erst müssen sie ihren eigenen Wert entdecken, bevor sie dann auch den Mut entwickeln, gegen das Unrecht aufzubegehren. Dalit-Theologie, das ist jedenfalls nichts Akademisches, es geht vielmehr unmittelbar um ein Verstehen der biblischen Texte, und selbst das Umgehen mit heiligen Texten ist schon etwas, das für Dalits ganz besonders bedeutsam ist. Warum?

In den Hindu-Traditionen ist es den Dalits nicht erlaubt, Tempel zu betreten, auch ist es ihnen verboten, heilige Schriften der Hindu-Traditionen zu lesen. Sie sind religiös, sozial, kulturell und wirtschaftlich ausgeschlossen. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Kontextualisierung des Evangeliums – und auch der Kreuzestheologie – hier nicht bedeuten kann, das kulturell-religiöse (Hindu-)Umfeld als Kon-Text, als »Mit-Text« zu verstehen, sondern gerade umgekehrt: Kontextualisierung bedeutet Dekulturation, Anti-Kulturation und damit Widerspruch.

Jesus: Meditationsmeister oder Dalit? –  Arvind Nirmal

Einer der bisher noch nicht sehr zahlreichen Dalit-Theologen ist Arvind P. Nirmal (1936-1995), der Jesus als einen Dalit deutete. Jesus wird hier nicht im Kontext von hinduistischen Vorstellungen ausgelegt, sondern kritisch vom biblischen Text her, der als Antwort auf die Not der Dalits gelesen wird, als Antwort auf das, was ihnen genommen wurde, ihnen vorenthalten wird, als Antwort auf das, was ihnen glauben gemacht wird, dass sie seinen: Unberührbare. Wo andere indische Theologen meinen, Jesus in Anlehnung an hinduistische Vorstellungen als Herabkunft eines Gottes, als Avatar, verstehen zu können, analog dem Gott Vishnu und seinen zehn Herabkünften, etwa im populären Gott Krishna, da lehnen Dalit-Theologen dies strikt ab. Einheimischwerdung im kulturell-religiösen Kontext der Hindu-Traditionen ist für Dalits undenkbar.

Jesus ist ein Dalit, was bedeutet das? [4] Wie wird die Bibel und besonders das Neue Testament aus dieser Perspektive gelesen? Einige Beobachtungen: Dalits meinen, dass wie damals Israel durch Ägypten, so die Dalits durch die Hindu-Kultur unterdrückt werden. Ihnen beiden aber (Israel wie den Dalits) gilt die Erwählung Gottes. Das bedeutet eine Umwertung aller Hindu-Werte, denn dort gelten Dalits als dem Göttlichen am fernsten stehend, denn sie sind kultisch unrein. Nach biblischer Botschaft aber steht Gott – der eine Gott – den Dalits am nächsten und sie ihm, denn Gott hat sich als Mensch unter Menschen offenbart, bis in den schmachvollen Tod am Kreuz. Diese Linie der Niedrigkeit findet sich schon am Anfang der Evangelien. Für das Neue Testament gilt: Jesus war zwar Jude, aber gleichzeitig ein Dalit, denn in seinem Stammbaum finden sich Unberührbare, etwa Prostituierte (die Hure Rahab, siehe auch Tamar). Seinen Weg geht er, um den Unberührbaren Recht zu schaffen (Lk. 4), was sich später besonders in der Tempelreinigung zeigt. Hier schafft Jesus im heiligen Zorn Raum für Nichtjuden im Tempel, er schafft denen, die hier bisher nicht zugelassen wurden, einen Ort. Sie haben Raum im Tempel, sie haben das Recht, die Heiligen Schriften zu lesen und am Kult teilzunehmen. Hier spiegelt sich deutlich die Situation der indischen Dalits wider: Gott an der Seite der Unberührbaren, Zugang zum Tempel, Zugang zu den Heiligen Schriften, Erwählung durch Gott. Seinen Kreuzestod stirbt Jesus von Nazareth als ein Dalit, denn immerhin wird er draußen vor dem Tor gekreuzigt, außerhalb der heiligen Stadt Jerusalem.

Es sei an dieser Stelle wenigstens angemerkt, dass die wohl populärste Stelle des Neuen Testaments für Dalit-Frauen die Geschichte von Jesus und der Samaritanerin ist (Joh. 4). Keine Erzählung trifft so sehr die Lebenswirklichkeit von Dalit-Frauen, wie diese. In Jesus Christus begegnet Gott selbst einer Frau, einer fremden Frau, einer verachteten Frau, einer leidenden Frau, denn täglich muss sie – wie Dalit-Frauen – einen weiten Weg laufen, um von einem fernen Brunnen Wasser zu holen. Sie, die Entrechtete, spricht Jesus von sich aus an, mit ihr führt er ein Gespräch, ihr verheißt er das Wasser des Lebens und sie wird zur Glaubenszeugin.

Doch zurück zu Nirmal: Kreuzestheologie wird bei Nirmal zu einer Bestätigung des grundsätzlichen Weges des Gottessohns: In die Niedrigkeit zu kommen, um die Aufwertung der Abgewerteten zu leben. Dabei kommt dem Kreuzestod eine besondere Bedeutung zu, denn hier hält sich das durch, was nach christlichem Bekenntnis von diesem einen Gott ausgesagt wird: Er kommt wirklich in die Welt der Menschen, in die Welt der Unberührbaren, die er berührt (Aussätzige, Kranke, Besessene, Frauen), die er in ihrem Ausgestossensein aufsucht, mit denen er – und das muss man mit indischen Ohren hören – zusammen isst! Er stirbt letztlich den Tod am Kreuz, was ihn deutlich unterscheidet von jeder Vorstellung eines Hindu-Gottes, der als Avatar auf der Erde erscheint, jedoch diese Leibesprojektion jeder Zeit wieder verlassen kann, weil er als Gott an die Bedingungen menschlichen Seins (Leiblichkeit) nicht im Mindesten gebunden ist. Jesus ist eben kein Avatar, sondern er ist der eine Gott, mitten unter den Menschen. Kreuzestheologie wird hier zu einer Anti-Kulturation, sie ist kontextuell, aber nicht inkulturierend, sie ist normgebend als prophetische Theologie, die sagt, wie es nicht sein darf. Das System der Kasten und seine religiöse Legitimation muss zu einem Ende kommen, die hier unterlegten Vorstellungen kultischer Reinheit müssen rundheraus abgelehnt werden, denn »heimisch« können Dalits in dieser Unterdrückungskultur nicht werden.

Kritisch mag man anmerken, dass Nirmals Auslegung der Tempelreinigung das Problem nicht wirklich löst, da ja das Kastensystem noch vorausgesetzt wird, welches nach dem Zeugnis des Neuen Testaments gänzlich entfallen muss. Allerdings können sich Dalits den Luxus dieser theologisch-gedanklichen Stringenz nicht leisten oder noch nicht leisten, denn noch kämpfen sie gegen das real existierende Unterdrückungssystem der Kasten, wiewohl – das muss an dieser Stelle wenigstens angedeutet werden – auch unter den Dalits ein Kastenbewusstsein nach wie vor wirksam ist, so dass höhergestellte Dalits nicht selten gegenüber niederen Dalits ihrerseits eine überhebliche und distanzierte Haltung einnehmen. Auch viele indische Kirchen sind durch das Kastensystem weiterhin geprägt, was bedeutet, dass der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft noch sehr lang sein wird.

Im Blick auf christliche Ashrams bedeutet dies alles, dass von Nirmal und anderen Anleihen an die brahmanisch geprägten Hindu-Traditionen strikt abgelehnt werden. Der indische römisch-katholische Theologe Antony Kalliath schreibt dazu kritisch:

»In der Vergangenheit haben >Inkulturations-Theologien< in ihrer Auseinandersetzung mit Brahmanischen Religionstraditionen sowohl die Armen Indiens vergessen, als auch den Kampf der Armen. In der Geschichte der Kirche in Indien war das Verständnis (profile) von Christus entweder ein >gnostischer< Christus, ein >kolonialer< Christus oder ein >Brahmanischer< Christus. Vom 19. Jahrhundert her wurde Christus im Rahmen einer Erfüllungs-Theologie präsentiert. In den 1960er und 1970er Jahren propagierten Mönche und Mystiker einen ashramitischen Christus. Später, in den 1970er Jahren war ein universaler Christus das Thema der Inkulturationstheologen. Der Fokus der Inkulturation lag auf einer persönlichen und innerlich meta-kosmischen Befreiung.

Gegenwärtig wird die Verheißung der Inkulturation in den Kämpfen der Unterdrückten und in ihrer Massenkultur und Religiosität um einen >Dalit-Christus< herum gesehen. Diese Verheißung schließt die Hoffnung ein, die Kirche in Indien möge sich hin zu einer indischen Kirche entwickeln. Nur in der Perspektive und im Ansatz einer befreienden Inkulturation kann die Kirche die gegenwärtige Glaubwürdigkeitskrise überwinden. Die Kirche muss einen unkündbaren Bund mit den Armen schließen, wenn sie der externen Bedrohung des zunehmenden religiösen Fundamentalismus und der inneren Bedrohung der »Missions-Krise« entgehen will. Nur durch dieses Medium kann das Evangelium wirklich inkulturiert werden. Die Kirche in Indien kann auf diese Weise treu gegenüber Jesus Christus sein und in diesem Prozess eine Kirche von Indien werden, die die einzige akzeptable Form von Kirche im anbrechenden Jahrtausend und im Angesicht von einer Milliarde Inder ist.« [5]

Somit wird einmal mehr deutlich, dass »Kultur« nicht etwas Neutrales ist, sondern das Inkulturation des Evangeliums mit Ausübung oder Kritik an gesellschaftlicher Macht im Medium kulturell-religiöser Symbolisierungen verbunden ist. Mögen christliche Anleihen in Ashrams auch auf Dialog mit den Hindu-Traditionen zielen, so befinden sie sich doch in einer komplexen Diskursformation, konfrontiert mit der Ablehnung durch Hindu-Aktivisten/innen einerseits, die gesellschaftliche Definitionsmacht beanspruchen, abgelehnt durch christliche Dalits andererseits, die darin eine christliche Kompromisshaltung sehen, die um des befreienden Evangeliums willen nicht geduldet werden kann. …


Anmerkungen

[1] Vgl. H. Wrogemann (Hg.) (2008): Indien- Schmelztiegel der Religionen oder Konkurrenz der Missionen?, Frankfurt/M. / Berlin.

[2] Es sind eigentlich mehrere Systeme, die sich überlagern (Jati-System, Vama-System u. a.). Vgl. dazu A. Michaels (1998): Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München. Vgl. auch J. Stein (2002): Christentum und Kastenwesen. Zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft in Indien, Frankfurt/M.

[3] Rig Veda, X, 90,11-12, zitiert nach A. P Nirmal (1995): Auf dem Weg zu einer christlichen Dalit- Theologie, in: EMW (Hg.), Gerechtigkeit für die Unberührbaren. Beiträge zur indischen Dalit-Theologie, Hamburg, 32-50, 32. Zurzeit gibt es in Indien etwa 200 Millionen Dalits.

[4] Vgl. zum Folgenden: A. P. Nirmal (1995): Auf dem Weg zu einer christlichen Dalit-Theologie, in: EMW (Hg.), Gerechtigkeit für die Unberührbaren, 32-50

[5] A. Kalliath (2002): A Call to Liberative Praxis of the Gospel. A Discourse on Inculturation in India with Special Reference to the Catholic Church, in: L. Pachuau (Hg.), Ecumenical Missiology. Contemporary Trends, Issues and Themes, Bangalore, 204-236, 231. Eigene Übersetzung.


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