Sep 092013
 

Überlegungen zum missionarischen Anliegen Reimer Specks

Von Theodor Ahrens

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 Inhalt

1. Vorbemerkungen
2. Zu McGavrens These und Methodologie
3. Konversionen
4. Gegenläufigkeit protektionistischer und assimilatorischer Politik
5. Spannungsfelder von Ethnizität und Nationalstaat
6. Ausblick

Anmerkungen
Archivalien
Literatur


1. Vorbemerkung

In einer handschriftlichen Widmung seines Büchleins Gewollt habe ich immer nur die Adivasi schreibt Reimer Speck im Blick auf den merkwürdigen, aus dem Text des Manuskriptes aufgegriffenen Satz, der dann titelgebend wurde: „Was bei mir Erfahrung am Ende war, ist nun Voreingenommenheit von Anfang an“. Er gestand sich ein, dass er diese Voreingenommenheit spät, vielleicht zu spät als seine Berufung entdeckt hatte. Für das „nächste Heft“ avisierte er den Titel „Ungewollt natürlich!“ und übernimmt ein Urteil seines Freundes Frieder Hübner: „Die Bewegung unter den Adivasi ist tot“ und er schließt: “ Aber das nächste Buch wird mir sehr schwer sein.“ 

Trotz solcher Resignation, die Speck auch sonst gelegentlich in die Gespräche, die ich mit ihm geführt habe, einfließen ließ, hielt er unbeirrt an der These fest, dass Voraussetzung einer erfolgreichen Christianisierung der Kuwi sprechenden Adivasi eine autonome Kuwikirche gewesen wäre. Die von einem seiner Vorgänger, dem Missionar Ernst Gloyer (1863-1936; Indien 1888-1914 und 1926-1936) schon vor dem Zweiten Weltkrieg vollzogene Weichenstellung, kastenlose Dombos als Taufbewerber anzunehmen, obwohl die ebenfalls taufbereiten, den Adivasi zugerechneten Bhottras angedroht hatten, in diesem Fall von ihrer Taufbewerbung Abstand zu nehmen, wäre eine Fehlentscheidung gewesen. Gloyer hätte sich für die Bhottras und damit für Indiens Altvölker entscheiden sollen – die Menschen, die in Indien,  und auch im Harijan-Christentum weithin als ’no-people‘ gelten (Speck 1988 18ff). Die Versuche, die Kuwi für das Christentum zu gewinnen, seien von einer verfehlten Strategie gesteuert und von ungeeignetem Personal betrieben worden (Speck 1988, 41) Speck hat diese Altvölker, insbesondere die Kuwi sprechenden Bevölkerungsgruppen in den 1950er Jahren spät als seine eigentliche Berufung entdeckt und gehofft, die strategische Fehlentscheidung Gloyers korrigieren zu können.

Reimer Speck ging es um das Christwerden, und damit um neues Leben aus dem Glauben, um das aus den Ressourcen des Evangeliums gespeiste soziale und kulturelle Überleben der Kuwi als Kuwi –  gegen entfremdende Vereinnahmungen durch eine schleichende Hinduisierung ( Speck, 1988, 33ff), gegen destabilisierende Wirkungen der angesiedelten Großindustrien. (Speck 1988, 36f) Eine Integration der christlichen Adivasi Gemeinden in die sublim hinduisierte Harijankirche wäre in Specks Sicht ähnlich verheerend wie die zuvor über Jahrhunderte von Brahmanen getragene, von fernen Rajas betriebene Politik, die auf die Integration der Bergstämme Orissas in die Hindukastengesellschaft zielte.  (vgl. dazu Kulke 1979, 17ff, 49ff.  66) Den ‚integrierten‘ Stämmen blieb nämlich nur die Aufgabe, „ein zurückgezogenes Leben zu führen, dem König zu gehorchen, Brunnen zu graben, und den durstigen Reisenden Wasser anzubieten, Betten zur Verfügung zu stellen, und den Brahmanen passende Geschenke zu machen.“ (Kulke, 17) Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Erfahrung plädierte Speck für eine Kirche der Kuwis für die Kuwis (Speck, Brief an J. Wietzke 7.8.95) jenseits der Kontrolle durch Harijan Christen. Er machte sich das Urteil einer Adivasi Versammlung zu eigen, nun, also in den 1950-er Jahren – sei für das „Volk“ der Kuwi „die Zeit gekommen, Christus anzunehmen“.

Die Kuwi selbst hätten „richtig gesehen“ dass die Kirche der Dombo/Harijan in Jeypore sie nicht zu Jesus führen könne. Christianisierung der Kuwi geht nur, wenn es gelingt „das hinderliche Erbe der Dombokirche abzuschütteln.“ (Speck 1988,53) Das war seine These. Speck berief sich für diese Einschätzung auf Donald McGavran, insbesondere dessen Buch Understanding the Church in India. (McGavran 1979)


2. Zu McGavrans These und Methodologie

McGavran, Gründer und seinerzeit Leiter des Institute of Church Growth at the School of World Mission of Fuller Theological Seminary in Kalifornien, hat seine missionarischen Leitvorstellungen lange Zeit, vor allem unter evangelikalen Missionen, erfolgreich verbreiten können. 

McGavran zufolge ist die fundamentale Absicht Gottes immer und überall das Wachstum der Kirche. Wo Stillstand, Verfall, abnehmende Zahlen zu beklagen sind, sollten derartige Entwicklungen möglichst umgekehrt werden. Damit das geschehen kann, sind die für ein Wachstum der Kirche  gegebenen Möglichkeiten zu erhellen. Hindernisse, die sich einem Wachstum entgegenstellen, liegen meist bei den Christen selbst. 

McGavrans Schlüsselbegriff ist das homogeneous unit principle (McGavran 95ff, 120ff), für das er sich auf Mt 28,16-20 und zahlreiche Präzedenzfälle der Missionsgeschichte beruft. Christianisierungsbewegungen auf monoethnischer Basis wären besonders für die christliche Mission in Indien kennzeichnend gewesen. Es gelte – um des gottgewollten missionarischen Erfolges willen – die Missionsarbeit monoethnisch auszurichten. Zwar seien auf der Ebene des Glaubens alle in Christus eins und kulturelle Unterscheidungen  auf dieser Ebene „rubbish“. (McGavran 257) Doch „as a matter of convenience … as a means of holding the door to salvation open to those whom we are calling from death to life” (McGavran 257) hält er es für missionarisch geboten, sich am homogeneous unit principle zu orientieren. Apartheidsvorwürfe hält er für verfehlt. „The monoethnic Churches of India do not promote the caste system and segregation. Being Christian, they cannot and will not do this. But they do adjust to what is perhaps the greatest single component of Indian culture: namely, that it highly values the ethnic composition of all its peoples.” (McGavran 125) Monoethnische Konversionsbewegungen  seien „the most natural way in which men and women reared in castes can come to Christ.” (Mc Gavran 106, kursiv im Original) McGavran räumt ein, dass Kastenwesen und Kastenvorurteile auch innerhalb der indischen Kirchen fortbestehen und stimmt daher M.M.-Thomas ausdrücklich darin zu, dass Christen gegen derartige Vorurteile und für eine neue Gesellschaft zu kämpfen hätten, aber er will „the practise of full brotherhood, the realization of every aspect of equality and justice“ nicht zur Bedingung dafür machen, dass eine Person Christ werden kann (McGavran 257) Im neutestamentlicher Zeit hätten, führt er zur Begründung an, judenchristliche Gemeinden neben heidenchristlichen existiert. Innerhalb der kirchlichen Verbundenheit habe es große Verschiedenheiten gegeben. Was allein hinfalle, sei die religiöse Rechtfertigung („religious justification“, 257, Hervorhebung im Original) für der Annahme, es gäbe so etwas wie ethnisch fundierte Abstufungen des Menschlichen.

Das ist immerhin so schillernd, dass mir völlig begreiflich ist, wenn berichtet wird, dass McGavrans Thesen in Südafrika zur Rechtfertigung der Apartheid  innerhalb der Kirche herangezogen wurden.

Abgesehen davon sind an McGavran u.a. folgende Fragen zu stellen:

McGavran’s Definition der „homogeneous units“ bleibt vage. Er definiert sie als „social units“ – ist das nun eine Großfamilie, ein kleines Dorf, eine Sprachgruppe, ein Stamm? McGavran vernachlässigt, dass Klassifikationen auf aussenseiterischen Zuschreibungen und auf Verinnerlichungen konstruierter, imaginierter Grenzen beruhen, er reflektiert aber nicht, dass Klan- und Stammesgrenzen beweglich sind, Gruppen in Wandlungsprozessen stehen, in die wirtschaftliche, soziale, religiöse Konflikte hineinspielen. Kurz, er postuliert einen Idealtyp von Gruppe abseits der gesellschaftlichen Prozesse (Eriksen 59ff, McClintock, 108) und er transformiert eine soziologische Tatsachenbehauptung in einen missionarischen Imperativ. Das ist methodologisch gesehen fragwürdig.

Sodann: Woher weiß er, dass Gott immer den ‚Erfolg‘ seiner Mission will? Ist Erfolg überhaupt ein relevantes Kriterium missionarischer Existenz? Ich meine, nein.

Schließlich: Wie steht es um McGavrans Versuche, seinen Zugriff biblisch abzusichern? Was bedeutet das paulinische Interpretament ‚Christus, der neue Adam, Anfänger einer neuen Menschheit? (Rm 5; 1 Kr 15) Könnte die Aufforderung des Epheserbriefes anstelle der von Menschen gemachten Unterscheidungen die infolge der Geschichte Jesu Christi herausgeführte Neue Schöpfung Gottes geltend zu lassen und den Neuen Menschen Gottes anzuziehen (Eph 2,11ff; 424) hier einschlägig sein?


3. Konversionen

Ob nun die Adivasibewegung ‚tot‘ ist oder nicht – unterstellt war eine Aufbruchsbereitschaft der Adivasi zum Christentum hin – sei dahingestellt. Wenn in Umbruchsituationen das eigene soziale und kulturelle Überleben infrage steht und in dieser Konstellation ererbte religiöse Baldachine rissig geworden sind, können sich  – missionspraktisch gesehen – Gelegenheiten ergeben, ‚Türen sich öffnen‘. Vielleicht haben die ehemalige Breklumer Mission und die Ev.-Luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins, wenn solche Kairossituationen nach dem ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich gegeben waren, weder die Weitsicht, noch das Personal noch die Mittel gehabt, um darauf angemessen zu antworten. Das zu klären ist eine Aufgabe der Missionsgeschichtsschreibung. Türen können auch wieder ins Schloss fallen. Doch im Blick auf die Gegenwart bleiben die Dinge im Fluss. Es gibt nur noch wenige ererbte kulturelle und religiöse Sesshaftigkeiten. Auch die Adivasi sind unterwegs. Das Christentum, gleich welcher Version, ist nicht ihre einzige Option, vielleicht gar eine Option von schwindender Attraktivität. Andere sind mit ihren Missionen unterwegs. (Bharati 2008)

Konversionen haben immer eine Außen- und eine Innenseite. Sie erwachsen äußerlich gesehen aus (oft kolonialgeschichtlich vermittelten) Krisenerfahrungen (Ahrens 2002). Barbara Boal (1966, 1973), Stephen Fuchs (1988) und Wascom Pichett (1933) haben in ihren einschlägigen Studien darauf hingewiesen, dass in der Wendung der Adivasi zum Christentum materielle und spirituelle Gründe eine Rolle spielten. Fuchs sieht das „erste und stärkste“ Motiv in der „Hoffnung der Urbevölkerung auf Hilfe in ihren Landschwierigkeiten“, weiter in Hoffnungen auf Entschuldung, sodann bringt er „geistige und religiöse Gründe“ in Anschlag, nicht zuletzt Zweifel an der Wirksamkeit der traditionellen, auf Erneuerung der Fruchtbarkeit von Wald und Flur  abgestellten Opfer. (Fuchs191) Diesen Gesichtspunkt unterstreicht auch Boal. (1966,257ff; 1973, 119ff, 267ff)  Christus im Himmel und bei den Menschen als Leben gebende Kraft gegenwärtig, ermächtigt alte Ordnungen gegen neue zu tauschen, um gegen die Kräfte bestehen zu können, die die Lebenskraft der Khonds zu verzehren drohen. Den kulturellen und sozialen Tod vor Augen, soll die Leben gewährende Kraft des Evangeliums angezapft werden. Es geht also nicht um dies oder das und ein Drittes, sondern um das Ganze, nämlich, das Leben auch in Zukunft zu bestehen. So ein Kairos, der durch den rissig gewordenen Baldachin ererbter Plausibilitäten scheint, kommt und geht. Wir reden nicht über zeitlos gegebene Möglichkeiten.

Barbara Boal macht darauf aufmerksam, dass in den Siedlungen der Khonds in der Regel Vertreter einer Gruppe von Odiya sprechenden Pans bzw. Doms siedelten, die schon vor Hunderten von Jahren im Zuge früherer Hinduisierungswellen eingesichert waren, heute von den dominierenden Hindukreisen aber nicht mehr als Hindus anerkannt werden. Die Pans brachten erhebliche Landflächen unter ihre Kontrolle, nahmen die Sprache der Adivasi an, feierten deren Feste mit, betrieben kleine Läden und betätigten sich in Notzeiten als Geldverleiher und als Vermittler in den Außenkontakten der Adivasi. (Boal 1973,4ff; 1966, 225ff) Gleichwohl betrachteten die Khonds die Pans als minderwertig. Heiraten zwischen den Gruppen kamen traditionell nicht infrage. Dennoch entstanden zwischen den Harijans und die Adivasi überlebenswichtige Interdependenzen. Damit sind Präzedenzfälle benannt, die m.E. bis heute in die Beziehungen zwischen Harijan- und Adivasichristen hineinspielen.

Ein gern gemachter Vorwurf, Gruppenbekehrungen seien in der Regel nur ’skin-deep‘, eben oberflächlich gewesen, erübrigt sich mit der Gegenfrage, ob eine Bekehrung, die bis auf die Knochen durchschlägt, denn wünschenswerter oder ‚glaubwürdiger‘ wäre. Ob Konversionen die Beteiligten so tief berührt haben, wie das Wort ‚Bekehrung‘ es nahe zu legen scheint, ist eine müßige Frage. Entscheidend ist, welche Wege Konversionen eröffnen. Das bleibt abzuwarten, und ist gegebenenfalls von denen, die diese Prozesse mit angestoßen haben, zu begleiten. (Wie das wahrgenommen werden könnte, ist eine separat zu diskutierende Frage.) Wie gehen die neuen Christen selbst in den Umbrüchen ihrer Kultur und ihrer Gesellschaft mit dem Christlichen um? Vielleicht ziehen sie das Christliche tiefer in die eigene Welt hinein, vielleicht stoßen sie es aber auch wieder ab. Auf diese Möglichkeit setzen die rechtskonservativen hinduistischen Kreise, die sich an die  ‚Reintegration‘ der Adivasi machen.

Konversionen beruhen nicht nur oder gar ausschlaggebend auf rationalen Erwägungen (‚Büffelopfer sind zu teuer, das einmalige Opfer Christi hingegen ist umsonst‘), sondern auch auf  tief aufwühlenden Emotionen und sie eröffnen eine Geschichte religiöser und sozialer Experimente. Wenn nach einer Weile die erhofften Resultate nicht zufrieden stellen, können sich die alten gefühlten Verbindungen und Verbindlichkeiten wieder in den Vordergrund schieben und zu einer Überprüfung früherer Entscheidungen Anlass geben. Für die Konvertiten und ihre Nachkommen bleibt daher ein wichtiges Kriterium zuvor getroffener Entscheidungen, wie und wo sie im Rahmen einer erweiterten Weltbildes schließlich zu stehen kommen. (Ahrens 2002, 172)

Eine Einkehr ins Christentum ist nur eine der Optionen, die die Adivasi haben, Hinduisierung ist eine andere. (Winfred 1991) In der Bhaktibewegung, die ab dem 12/13. Jahrhundert auch in Nordindien Fuß fasste, eröffnete die brahmanisch-sanskritische Hindureligion der Volksreligion der unteren Schichten mit ihren Regionalgöttern Möglichkeiten der Teilhabe an der Allmacht der Götter auf dem Wege der Hingabe – ein zusätzlicher Heilsweg – neben den anderen Gruppen vorbehaltenen Heilswegen der Askese, der Meditation und der Pflichterfüllung. (Michaels, 277ff) Das waren Öffnungen, die die religiöse Stigmatisierung der Unberührbaren einschränkten, die allerdings keine massiven sozialen Veränderungen anstrebten, anders als z.B. die neohinduistische Reformbewegung Brahmo Samaj im 19. Jahrhundert. Auch M. Ghandi (1869-1948), der die Unberührbaren Harijans, ‚Kinder des Gottes Hari‘ (eine der vielen Emanationen Vishnus) nannte, hat das Kastensystem als solches nicht infrage gestellt. Anders, ebenfalls im 20. Jahrhundert, Dr. Bhimrao Ramji Ambedkar (1891 – 1956), der seine religiösen Überzeugungen in soziale Aktion umsetzte. Ambedkar, ein Kastenloser, der politisch Karriere machte und zeitweilig Justizminister Indiens war, konvertierte 1956 zum Buddhismus, weil er zu der Auffassung gekommen war, dass es in Indien keine Befreiung geben könne, ohne aus dem Kastensystem auszuscheren. Mehrere Hunderttausend Harijans folgten ihm. Doch mit seinem Tode verlor diese Bewegung ihre Kraft und Konversion zum Buddhismus erschien nicht mehr als Ausweg aus der Lage der Kastenlosen und der Adivasi. (vgl. Frei, Nirmal/Devasahayam). In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass auch der Islam, dem die Vorstellung einer Hierarchie kultischer Reinheit als Ordnungsprinzip menschlichen Miteinander fremd ist, jedenfalls während der Zeit der Mogulherrschaft in Indien den Unberührbaren eine Option bot, ihrer religiösen Stigmatisierung zu entkommen. Diese Option dürfte gegenwärtig insofern nur bedingt attraktiv sein als der politische Hinduismus nicht  nur das Christentum, sondern auch den Islam als nach wie vor  fremde Religionen im ‚Raum des Hinduismus‘ betrachtet.

Von unmittelbarer Relevanz für die Verhältnisse in Orissa ist der Umstand, dass die dominanten Hindukreise Orissas über Jahrhunderte versucht haben, die Adivasi – systemintern betrachtet –  zu integrieren, indem sie diese auf den ihnen zukommenden Platz im sozio-kosmischen Gesamtzusammenhang verwiesen; aussenseiterisch betrachtet, sie auf der untersten Stufe, faktisch außerhalb des Kastensystems, als Unberührbare zu unterwerfen. (dazu Geib und Kulke) Das war anders als die Bhaktibewegung keine Öffnung, sondern eine politische Platzanweisung. Kulke zeigt in seiner  auf Orissa bezogenen Studie, dass und wie die entstehenden Höfe der Feudalherrscher für ihre Politik der Integration der tribalen Bevölkerungen die Brahmanen vorschickten, mit steuerfreiem Land belehnten,  und, um ihre Herrschaftsansprüche bzw. Steuerforderungen zu legitimieren, tribale Gottheiten, insbesondere den Kult der Stammesgottheit Jagannatha  mit dem Vishnu Kult des Hinduismus verbanden, der im Zentralheiligtum in Puri schließlich zur Staatsgottheit anvancierte. ‚Seht: Euer Gott ist unser Gott – unser Gott ist euer Gott‘ – sozusagen eine hinduistische Version von Apg 17. Kulke  weist darauf hin, dass die Könige zur Absicherung ihrer Herrschaft  kaum je in die Bereiche der Landwirtschaft, Wasserwirtschaft oder Technologie investierten, sondern stets nur in den legitimatorischen Apparat ihrer Herrschaft. (Kulke 66ff)

Vor dem Hintergrund dieser im Einzelnen sehr komplexen Geschichte ist es m.E. nützlich, sich zu vergegenwärtigen, dass Wertvorstellungen im hinduistischen Indien einerseits auf Gruppen (jati), andererseits auf das kosmische System als Ganzes bezogen sind. Die Harijans und Adivasi in ihren vielfältigen Gruppierungen mit gruppeneigenen Werts- und Verpflichtungssystemen werden wiederum als Teile im Ganzen eines großen Seinszusammenhangs gesehen. Wenn alle an ihrem Ort, in ihrem sozio-religiösen Zusammenhang ihre rituellen Pflichten einlösen, tragen sie dazu bei, den gesellschaftlichen Prozess  mit dem kosmischen Prozess in Einklang zu halten; tun sie das nicht, schaffen sie ein gesellschaftliches und religiöses Durcheinander. Sie gefährden die Korrelation des Gesellschaftlichen mit dem kosmischen Prozess. Jati und Varna meinen keine soziale Klasse, in die jemand auf- oder absteigen könnte, sondern beziehen sich auf ein geburtsständig vermitteltes, hierarchisiertes System kultischer Reinheit (Dumont 104ff, Michaels 188ff) Es werden also die Wertvorstellungen in einen Gesamtzusammenhang – dharma – eingebracht, der soziales Geschehen und kosmische Macht umfasst. (Klimkeit 55ff) Wo das Faktische und das Normative nicht in Einklang stehen, sollten sie in Einklang gebracht werden – und zwar indem alle an ihrem Ort das Ihre tun und das heißt eben auch, an dem ihnen im sozialen und kosmischen Gesamtzusammenhang zukommenden Platz bleiben. „Bei allen Konzeptionen (scil. des politischen Hinduismus), die zum Programm erhoben werden, geht es grundsätzlich um die Durchsetzung einer hinduistischen Ordnung im öffentlichen Leben.“ (Klimkeit 303)  Diese Motivation steht m.E. hinter den hinduistischen Reintegrationsbemühungen.

Die Verklammerung von Wertvorstellungen mit den faktischen sozialen Gegebenheiten, kurz Dharma, wird von der Einführung eines unabhängigen Rechtswesens – Ius -unterminiert und dennoch überlebt sie in Teilen der Gesellschaft und bleibt ein politischer Faktor. Gleichwohl ist zu würdigen, dass die indische Verfassung Unberührbarkeit abschafft (§ 17) und dass Verstöße gegen Unberührbarkeit als strafbare Handlungen gelten. Auch wenn diese Vorschriften nach Einschätzung des katholischen Theologen Felix Winfred als solche keinen gesellschaftlichen Wandel bewirkten (Winfred 261f), hat die indische Gesetzgebung vorrangige Optionen zugunsten der Scheduled Tribes and Scheduled Casts gesetzlich verankert (1) und in Teilen jedenfalls auch umgesetzt. Eine gutwillige Interpretation könnte dies als eine indische Version der US-amerikanischen affirmative action ansehen. Bevölkerungsschichten, die in der indischen Gesellschaft lange Zeit sozial und politisch besonders benachteiligt wurden, werden gruppenspezifische Privilegien zugesprochen.

In diesem Zusammenhang ist die Scheduled Cast Order von 1950 von Bedeutung, die festlegt „no person who professes a religion different from the Hindu [the Sikh or the Buddhist] religion shall be deemed to be a member of a Scheduled Cast. (http://lawmin.nic.in/ld/subord/rule3a.htm) Auch auf der Ebene der Gesetzgebung werden zumindest die Harijans, aber auch die Adivasi in den Gesamtzusammenhang der hinduisierten Gesellschaft gestellt. Wer den Rechte und Privilegien einer Scheduled Cast oder Scheduled Tribe einfordert, sollte nicht Christ sein. Vor diesem Hintergrund indischer Sozialgesetzgebung bleibt Re-Hinduisierung insbesondere auch für Christen aus diesen Gruppen  eine attraktive Option.


4. Gegenläufigkeit protektionistischer und assimilatorischer Politik

Läuft die Wirkungsgeschichte dieser verfassungsrechtlich gegebenen Möglichkeiten, bestimmte Gruppen zu klassifizieren, um sie zu privilegieren, nun darauf hinaus, diese Gruppen zu integrieren oder sie auszusondern? L. Pachuau (Pachuau 20ff) identifiziert in der öffentlichen Diskussion Indiens und zwar schon seit der späten Jahren britischer Kolonialherrschaft zwei teils gegenläufige Tendenzen: Eine ‚romantisierende‘ Politik, die auf  ‚Schutz durch Abschirmung‘ zielt einerseits und eine Politik der Assimilation andererseits, die darauf gerichtet ist, alle Bevölkerungsgruppen, auch die Ureinwohner Zentralindiens und die Gruppen mongolischer Herkunft in Nordostindien in den mainstream der indischen Kultur und Zivilisation hineinzuziehen.

Während der erste indische Ministerpräsident Jawaharal Nehru (1889-1964, Premierminister 1947-1964) den Adivasi Raum lassen wollte für eine „Entwicklung „along the lines of their own genius“ (zitiert nach Pachuau 23), setzt sich die auf Assimilation gerichtete Politik schließlich durch. Scheduled Casts und die Scheduled Tribes jedenfalls in Zentral- und Südindien werden in ihrer Bezogenheit auf den Hinduismus definiert. Sie erscheinen als ‚zurückgebliebene Hindus‘. Die Assimilationspolitik bezieht die Scheduled Tribes und Scheduled Casts ein in die sozio-religiöse Hierarchie des Hinduismus, freilich auf dessen unterster Stufe, unterhalb der varnas, gleichwohl als Teil im Netzwerk hinduistischer Religiosität. (Pachuau 40f). Die sozialen Privilegien der Assimilationspolitik stehen denen zu, die diese Rahmenbedingungen anerkennen.

Vor dem Hintergrund einer auf Assimilierung gerichteten Politik erscheinen Konversionen zum Christentum als Gefährdung nationaler Einheit. Vor dem Hintergrund einer protektionistischen Politik erscheinen Konversionen zum Christentum als Gefährdung tribaler Kultur/Identität. Abgesehen von dem in Indien nach wie vor eingeschränkten Recht eine Religion nicht nur zu haben, sondern auch zu wechseln (dazu Kim 37ff, 73ff) steht zur Debatte, wie der Faktor Religion in diesem Spannungsfeld einzuschätzen ist.


5. Spannungsfelder von Ethnizität und Nationalstaat

Die überschaubaren, akephalen Gesellschaften der Adivasi fügen sich nicht ohne weiteres in das System kolonialgeschichtlich vermittelter Hierarchien und Autoritäten des postkolonialen Nationalstaats.

Die Ausdehnung der staatlichen Bürokratien, des Marktes und gruppenübergreifender Kommunikationssysteme, wie sie mit der Herausbildung des Nationalstaates einhergehen, bringen es mit sich, dass regionale Lebenswelten überlagert, sozusagen kolonisiert und in ihrer Legitimität tendenziell unterminiert werden – ohne dass die gesamtgesellschaftlich verankerten Systeme bisherige in der Region praktizierte Strategien der Problemlösung immer befriedigend ersetzen könnten. Kommunikationsprozesse zwischen regionalen und überregionalen Instanzen werden schwieriger. Die nationalstaatlichen Bürokratien sind von der lokalen Situation her betrachtet nicht von vornherein mit Legitimität ausgestattet. Die Bürokratien des Nationalstaats müssen sich – übrigens ebenso wie überregionale kirchliche Institutionen – Legitimität und Akzeptanz erst erwerben und zwar ausschlaggebend aufgrund der Vorteile, die sie in die Region einbringen. Der Preis für staatliche Serviceleistungen wird dabei klar benannt: An die Stelle der lokalen Systeme gegenseitiger Verpflichtungen soll die Loyalität zur ‚Nation‘ treten, eine Assimilation an Vorgaben der Nationalkultur. R. Speck würde ergänzen: An die Stelle einer im Nahbereich autonom gestalteten kirchlichen Praxis tritt die Einpassung in ein abstraktes, multikulturelles ekklesiologisches Konzept.

Auch die Gruppen, die sich anpassen sollen, haben Legitimationsprobleme. Ihnen geht es allgemein um Selbstbehauptung, konkreter, um Wiederherstellung von Lebenszusammenhängen in dem bislang vertrauten, nun aber von sozialen Verwerfungen veränderten und darum manchmal kaum wieder erkennbaren eigenen Lebensraum. Häufig kommt es zu regional verankerten, nicht selten religiös motivierten Gegenbewegungen. (Pickett)

Im Blick auf derartige Polaritäten ist seit den 1960er Jahren der Begriff der ‚Ethnizität‘ geprägt und kontrovers diskutiert worden. (dazu Orywal/Hackstein, Moynihan, Schiel) In den Vereinigten Staaten hatte die Leitvorstellung des ‚melting-pott‘ ihre Überzeugungskraft eingebüßt (Moynihan); in vielen postkolonialen Nationalstaaten des Südens mehrten sich Konflikte, weil kleine oder größere Teilbevölkerungen sich nicht (völlig) in den neuen nationalstaatlichen Rahmen einbeziehen lassen wollten (Mizoram, Nagaland, Sri Lanka, Fiji, Sudan usf).

Was ist gemeint mit Ethnizität? Es geht um die Klärung der Frage, was den Zusammenhalt einer Gruppe ausmacht. Zwei Hauptlinien der Diskussion seien kurz umrissen:

Antworttyp 1 hält Ethnizität für eine Grundform menschlicher Selbstorganisation. Ein Bewusstsein für die Dinge, die im Leben wirklich zählen, wird im Nahbereich der Verwandtschaft geprägt. Kinder werden als Angehörige einer Gruppe sozialisiert. Für diese Sicht werden Faktoren wie gemeinsame Sprache, Ideologie der Verwandtschaft, gemeinsame Herkunft (Mythen der Erwählung!), eventuell auch ein ‚von den Ahnen zugeteiltes‘, daher von der Gruppe als Heimat beanspruchtes Territorium (‚Land als Erbteil‘) angeführt. Tradition ist wichtig. Traditionelle Kleidung und gruppenspezifische Verhaltensweisen werden als Unterscheidungsmerkmale benannt. Feste und andere Riten symbolisieren und dramatisieren die Eigenart einer Gruppe, füttern das kollektive Gedächtnis. Religiöse Zugehörigkeit trägt u.U. dazu bei, Gruppenbewusstsein zu stabilisieren. In dieser Hinsicht kann auch das Christentum konstruktiv  oder destruktiv aktiv werden.

Antworttyp 2: Ethnizität hat zunächst keinen ausweisbaren Gehalt. Ethnizität formt sich in sozialen Konflikten, in deren Verlauf Gesamtsichten auf das soziale Miteinander strittig werden. Soziale Ungleichheiten, rassistische Schubladisierungen, Verteilungsungerechtigkeiten, Diskriminierungen  sind Faktoren, die Leute überhaupt erst dazu bringen, sich als Angehörige einer Gruppe, die ein gemeinsames Schicksal teilt, zu verstehen. Ethnische Identitäten zeichnen sich ab und verfestigen sich im Verlauf sozialer Konflikte. Menschen lassen sich nicht, weil sie sich als Angehörige einer Gruppe identifizieren, auf Konflikte ein; erst im Zuge ihrer aktiven Beteiligung an einem sozialen Konflikt kommt es zu einem Prozess der Ethnifizierung, in dem Fremdzuschreibungen und Selbstidentifikationen ineinander spielen. Wenn das erst einmal geschehen ist, gewinnen Selbstidentifikationen und Fremdzuschreibungen allerdings leicht die Tendenz, Interaktionen zwischen Gruppen zu steuern. (Dencic 7f) Ethnizität bezeichnet, so gesehen, eine Ideologisierung sozialer Loyalitäten, die in Krisensituationen mobilisiert werden. Traditionen werden für bestimmte Zwecke funktionalisiert, unter Umständen überhaupt erst ‚erfunden‘ (Schiel). Ethnische ‚Grenzen‘ sind Ergebnisse von Aushandlungs- und Selbstverständigungsprozessen. Kurz, Ethnizität ist ein soziales Konstrukt. (Dencic 11)

Orywal und Hackstein schlagen eine Definition für Ethnizität vor, die die Gegensätze zwischen Antworttyp 1 und 2 ausbalanciert. „Ethnizität ist der Prozeß der ethnischen Abgrenzung in Form der Selbst- und Fremdzuschreibung spezifischer Traditionen.“ (Orywal/Hackstein 599, Hervorhebung im Original) Ich folge dieser Linie:

Ethnizität hat eine historische und eine gegenwartsbezogene Dimension. Mythen, gemeinsame Sprache, Heiratsregeln, kollektive Symbole tragen dazu bei, gruppenspezifische Identitäten und damit auch ein Bewusstsein von Grenzen und Andersartigkeit zu stützen. Typ 2 übertreibt die Vergleichgültigung gefühlter gemeinsamer Vergangenheit, verkennt auch den Stellenwert der im Nahbereich geltenden Verpflichtungsverhältnisse, hat andererseits aber recht mit der Feststellung, dass Gruppengrenzen faktisch durchlässig sind, dass Traditionen nicht nur sagen, wie es schon immer gewesen ist, sondern häufig, wie man es – rückblickend – gern gehabt hätte. Überlieferte Mythen werden daher immer wieder so umgebaut, dass sie in der Gegenwart erhobene Ansprüche einer Gruppe zu legitimieren scheinen. Schließlich ist auch die Behauptung gemeinsamer Wertvorstellungen oft widerlegbar. Auch in traditionsgeleiteten Gesellschaften gab es Spielräume für unterschiedliche Meinungen und für abweichendes Verhalten. Allerdings konnten Dissidenten damals leichter zum Schweigen gebracht werden. Gleichwohl – da liegt eine Stärke des ersten Antworttyps – haben Gemeinsamkeit der Sprache, vermeintlich gemeinsame Abstammung, Fiktionen der Verwandtschaft, Ideologisierung des Lebensraumes als ‚Erbteil‘ sowie religiöse Verbundenheit ihren Stellenwert – jedenfalls nach wie vor in vielen Fällen. Die Stärke des zweiten Interpretationstyps wiederum liegt m.E. in der Beobachtung, dass Gruppenzugehörigkeiten und Grenzbewusstsein erst ‚heiß‘ werden, wenn Überlebensfragen aufbrechen. Eliten appellieren an Gruppenidentitäten und lösen damit Kristallisierungsprozesse aus, durch die ‚Ethnizität‘ als Verstärker der eigenen Position in laufenden Interessenkonflikten fungieren kann.

Wie hängt Ethnizität mit dem modernen Nationalstaat zusammen? Auch das wird kontrovers diskutiert. Die Antwort hängt u.a. davon ab, wie Nationalstaat definiert wird. Fußt er auf einem Gesellschaftsvertrag unterschiedlicher, prinzipiell gleichberechtigter Individuen – Nation als Sozialisations- und politische Verantwortungsgemeinschaft – oder zapft er die Deutungsressourcen der Ethnizität – Nation als  Abstammungs- und geschichtliche Erfahrungsgemeinschaft eines auch religiös verbundenen Volkes – an, (2) um die Legitimität des Nationalstaats als den Normalfall politischer Selbstorganisation zu stützen und als Ordnungsmacht bestehen zu können? In der indischen Gesellschaft konkurrieren beide Versionen.

Der politische Hinduismus mobilisiert religiöse Traditionen zur Legitimation des Nationalstaates. Das ist in der Geschichte des Nationalismus oft geschehen. Religiöse Traditionen werden umfunktioniert. (Smith 720, Edelmann/Hasselmann 38ff) Gruppen werden als Akteure in die Rahmenvorgaben einer nationalen Heilsgeschichte einbezogen. Das dominierende politische Interesse der Eliten inszeniert die Rückkehr zu einer fiktiven gemeinsamen religiösen Vergangenheit. Der Nationalismus usurpiert die Ethnie – und die Religion. (3)

Die Integration von Gruppen bleibt für viele Nationalstaaten ein Problem. In vielen Fällen hat der moderne Nationalstaat die Prozesse nicht aufheben können, die sich in dem Stichwort Ethnizität bündeln. (Katalanien, Baskenland, Tibet) Er hat sie allenfalls abfangen können (für Indien vgl. z.B. Mizoram, dazu Pachuau). Die Sprengkraft der Frage, ob es multiethnische Nationen geben kann, wurde nicht nur in den USA, sondern auch in Indonesien (Schindehütte) mit zivilreligiösen Konstrukten beantwortet. Ein überbordender Baldachin blasser Religiosität lässt Raum für unterschiedliche religiöse Zugehörigkeiten und Verbindlichkeiten. Ist es das, woraufhin Indien zusteuert? Oder eben doch ein Fundamentalismus, der die Anpassung der Anderen einfordert und – im Verweigerungsfall – die Vernichtung der Anderen ideologisch legitimiert?

Ich beschränke mich zunächst auf den regionalen Aspekt:

Wenn es darum geht, ethnische Konflikte zu verstehen, dann geht es zunächst darum Konflikte zu verstehen und nicht zuerst Ethnizität. Gleichwohl bleibt es in dieser Verknäuelung sozialer Faktoren und der Eigendynamik, die ethnische Selbstidentifikationen im Verlauf eines Konfliktes gewonnen haben, wichtig herauszufinden, wie die Akteure in einem ‚ethnischen‘ Konflikt ihre Interesselagen und ihre Ziele  bestimmen. Wie definieren sie den Konflikt? Und wie bestimmen Außenseiter (Regierungen, staatliche Bürokratien, Entwicklungsagenturen, Missionswerke etc) den Konflikt? Wie auch immer Außenseiter die Lage beurteilen, die Beteiligten werden sich  den eigenen Deutungen, den eigenen Beurteilungskriterien folgend, verhalten – in der Hoffnung, dass die ethnische Kolorierung des Konfliktes ihnen hilft, die Oberhand zu behalten. (4) Im Zentrum der Probleme, die die Menschen vor Ort lösen müssen, steht die Frage, wie es ihnen gelingen kann, neue, zukunftsfähige Formen des Gemeinschaftslebens  zu entwickeln. Sie nehmen sich für ihr Christsein zunächst einmal das Recht auf Provinzialität. Alltägliche Lebenswelt und überregionale Einflüsse greifen ineinander und reiben sich aneinander. Viele Kräfte wirken in die Situation hinein und machen sie unübersichtlich. Wenn es um Verknüpfung von Region und übergreifenden gesellschaftlichen Instanzen geht, kommt den Scharnierstellen entscheidende Bedeutung zu.

Religion kann ein wichtiges Medium der Verknüpfung zwischen der Ebene der lokalen Lebenswelt und den übergreifenden Zusammenhängen sein und zwar, weil sie nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben kommuniziert. Gerade für Gruppen, die in aktuellen Lebens- und Überlebenskonflikten stehen, und in dieser Konfliktsituation neu über Zugehörigkeiten und Abgrenzungen streiten, kann insbesondere das Christentum wichtig werden, weil

  • Das Christentum Ressourcen bereitstellt, die die Bedarfe neuer Selbstidentifikation (‚Wer waren wir? Wer können wir morgen sein?‘ Und last not least ‚Wohin gehören wir?‘) bedienen. M.a.W. Das Evangelium spricht Menschen an auf deren Fragen nach Achtung, Selbstachtung, Identität, weiter auf deren Freiheitsbedürfnis und auf deren Wunsch nach Verwurzelung/Beheimatung).
  • Verknüpfungen des Regionalen, der ethnisch geprägten Lebenswelt mit der großen weiten Welt hergestellt werden können.
  • christliche Gemeinde Foren bereitstellt, in dem kontroverse Fragen auch zwischen traditionellen Klanführern und jungen, heranwachsenden Eliten sollten besprochen werden können.

6. Ausblick

Antworten auf die Frage nach Zugehörigkeiten haben immer eine Kehrseite, sie implizieren Nicht-Zugehörigkeiten. McGavran, der aus einer fragwürdigen soziologischen Tatsachenbehauptung einen missionstheologischen Imperativ macht, ist zunächst folgendes entgegenzuhalten: Wenn der 1. Petrusbrief die Christen als das Volk Gottes anspricht, dann kann dies gerade nicht als Parallele zu einem Volksorganismus verstanden werden. Was die Christen zusammenhält und was sie zugleich unter Zerreißproben stellt, lässt sich nicht als Volksgemeinschaft auffassen (Overbeck 86), sondern als Glaubens-, als Auftrags- und als Geistgemeinschaft. Darin liegt  einer der Gründe für den Konflikt der Alten Kirche mit dem römischen Staat, insofern dieser im Kaiserkult nur einen Gott anerkannte, „der sich ihm als der Gott eines Volkes darstellte“ (Overbeck 95) –  als letztinstanzliche Autorität der in der Oikumene des römischen Reiches zusammengezwungenen Völker. In ähnlicher Weise enthält der Epheserbrief nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine politische Botschaft, wenn er (2,11ff) argumentiert, dass die Grenzziehungen zwischen Juden und Heiden aufgrund des schöpferischen Handelns Gottes in der Auferstehung Jesu überwunden sind, indem sie Juden und Heiden durch das Band der Liebe im Neuen Menschen Jesus Christus verbindet – also auf einer anderen Ebene als der  von Menschen gemachten Unterscheidungsmerkmale ( Eph 4,14.24, vgl. Kol 1,18;3,10ff).

Ökumenizität bleibt dem Christentum eingeschrieben. Zugleich bleiben Verschiedenheiten. Die Herstellung sichtbarer Einheit bleibt eine ökumenische Fiktion.

Versöhnte Verschiedenheit zu gestalten und im Geiste Christi miteinander zurecht zukommen, bleibt auch in der Jeyporekirche eine Aufgabe. Reimer Speck, ein Missionar mit der Gabe der Aufmerksamkeit für die Kleinen und das Kleine, mit der programmatischen Zuwendung zum Partikularen hat die Idee der Zugehörigkeit zu der universellen christlichen Gemeinschaft nicht verneint, sonst wäre er nicht Missionar geworden und geblieben. Aber er hat die Selbstwahrnehmung der Menschen, mit denen er zu tun hatte, ernst genommen. Er konzedierte den Adivasi, dass sie, wenn sie sich auf die noch unausgeloteten Möglichkeiten eines Lebens im Geiste Jesu einlassen, sich zunächst einmal auf den Nahbereich konzentrieren, auf die Horizonte ihrer Welt, um die verkehrt gewordene Heimat wieder vom Kopf auf die Füße, die aus den Fugen geratenen Beziehungen wieder ins rechte Lot zu bringen. Darin war Speck in mancher Hinsicht dem heutigen Kommunitarismus verwandt.(5)

In vielen Teilen der Welt stehen Menschen vor ähnlichen Problemen wie die Kuwis. Die alten Kräfte sozialen Zusammenhalts zerbröseln. Bevölkerungszuwachs und Migration, neue Wirtschaftsformen tragen dazu bei dass alte Landrechte strittig werden. Generationenkonflikte verstärken sich. Orientierungsprobleme gewinnen an Schärfe. Es gibt Gewinner und Verlierer im Wettlauf um den Zugang zu staatlichen Entwicklungsprogrammen. Die vor Ort Betroffenen suchen nach neuen Formen der Integration, um Erfahrungen der Entwurzelung und Entsolidarisierung entgegenwirken und eine Praxis gemeinschaftsbezogener Verantwortung zu stützen.

An die Kirchen vor Ort richtet sich eine doppelte Herausforderung: Können sie sich im Verein oder auch im Wettstreit mit anderen lokalen Initiativen auf die Gegenkultur der Adivasi ernsthaft einlassen? Und, können sie zugleich Scharnierstellen anbieten, die die Region, das Lokale, das Partikulare mit der weltweiten Ökumene verbinden? Die Kirche ist Kirche in der Besonderheit der Situation und bleibt zugleich berufen, rassistische und ethnische Abgrenzungsprozesse zu unterlaufen und zunehmend eine inklusive Gemeinschaft zu werden. Wenn ökumenische Partnerkirchen in diese Situation hineinsprechen, werden sie die Menschen vor Ort bei deren Selbstverständnis abholen wollen. Sie werden sich fragen, wie zwischen regionaler Alltagswelt und den übergreifenden Zusammenhängen Verknüpfungen hergestellt werden können, die den lokalen Bedarfen besser gerecht werden.

Was ist möglich an Inklusivität? Die historische Tiefe des Problems ist zu würdigen. Die kleinen, überschaubaren Gemeinschaften, die Jahrhunderte für sich selbst überlebt haben, finden sich in weit geöffnete Horizonte hineingeworfen. Dies ist eine relativ neue Erfahrung. Mir scheint begreiflich, dass sie  – ob sie sich nun auf das Christentum einlassen oder auf eine andere religiöse Option – zunächst einmal die Überlebensinteressen ihrer Gruppe über alle anderen Erwägungen stellen. Auf lange Sicht dürfte sich eine mehr inklusive Sicht des Christlichen durchsetzen.

Das Christentum verfügt über erhebliche Ressourcen, wenn es darum geht zu klären, was Personsein in Gemeinschaft bedeuten kann. Es hat darauf sehr unterschiedliche Antworten gegeben – von den frühchristlichen Gemeinden (wie wir sie z.B. im 1. und 2. Korintherbrief kennen lernen), dem Eremitenwesen in den Wüsten südlich von Alexandrien, Reichs-, Volks-,  National- und Freiwilligkeitskirchen, Klöstern und frommen Freundeskreisen bis hin zum autonomen, hoch individualisierten Kulturprotestanten unserer Tage. Die Adivasi haben über Tausende von Jahren als Jäger und Sammler, als Viehhirten und Ackerbauer in kleinen Gruppen ihr Leben als Selbstversorger bestritten. Jetzt sind sie in Zusammenhänge hineingerissen, die sie kaum mehr überschauen – überschauen wir sie? Sie befinden sich auf einer langen Reise, viel länger als wir uns in unserer urbanen Gegenwart vorstellen können.

Diese Erinnerung kann vielleicht ein Hilfe  dazu sein, den eigenen Standpunkt, die eigenen Normen für Inklusivität und Exklusivität einer Kirche zu relativieren. Menschen sind unterwegs. Sie wachsen und verändern sich. Vielleicht ist die Adivasibewegung doch nicht tot. Die Adivasi experimentieren nicht nur mit der lutherischen Version des Christlichen, sondern auch mit den anderen Optionen, die sich ihnen bieten. Sie werden nicht nur pragmatisch verfahren, nicht nur auf das beste Angebot gucken. Das pragmatische Interesse (‚was nützt uns das?‘) dürfte ein starkes Motiv bleiben. Mit diesem Interesse gehen die Fragen einher, was frei und fröhlich macht und was gut, richtig und wahr ist. Was nicht frei macht, kann Evangelium nicht sein. Das war die Grunderkenntnis des Reformators. Die Adivasi- wie die Harijanchristen brauchen Reisegefährten, die bereit sind, sich selbst eben diesen Fragen zu stellen und Freundschaften zu pflegen, die Zeiten und Räume erschließen, um diese Fragen miteinander auszuloten. 


Anmerkungen

[1] Die Kategorie Scheduled Casts ist in Artikel 341, 1 bzw . Scheduled Tribe in Artikel 342 der Indischen Verfassung verankert, der den Staatspräsidenten autorisiert, durch öffentliche Bekanntmachung bestimmte „Kasten, Rassen oder Stämme “ (castes, races or tribes) oder Teile solcher Gruppen als Scheduled Casts oder Scheduled Tribes zu deklarieren. Erscheint eine Gruppe auf dieser jeweils auf die einzelnen Bundesstaaten bezogenen Auflistung, dann gilt sie als Scheduled Caste bzw. Scheduled Tribe.

[2] Ich nehme diese Begrifflichkeit aus der Studie des Ökumenischen Studienausschusses der VELKD und des DNK/LWB Nation im Widerspruch. Aspekte und Perspektiven aus lutherischer Sicht heute, hg. von Helmut Edelmann und Niels Hasselmann, Gütersloh 1999, 17-36 auf.

[3] Es wird hier nicht vergessen, dass das Christentum sich immer wieder hat gefangen nehmen lassen von ethnischen und nationalen Ansprüchen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass in Deutschland insbesondere das Luthertum anfällig war für derartige Ideologisierungen. Die orthodoxen Kirchen organisieren sich bis heute meist als National- oder Volkskirchen.

[4] Auf die Spitze getrieben, kann Religion, als Verstärker in die Hitze eines ethnischen Konfliktes hineingezogen, zur Waffe werden – beispielsweise im Konflikt zwischen christlichen Melanesiern und den meist nichtchristlichen Nachkommen indischer Migranten in Fiji. (Hock 49ff) Festgehalten sei Overbecks hellsichtige Warnung:  „So unglaublich es auf den ersten Blick erscheinen mag, so kann der Nationalismus der Neuzeit sich noch zur natürlichsten Brücke für die Völker auswachsen, zu ihrer Rückkehr zum Christentum, sofern das Christentum sich der Schätzung dieser  Völker noch empfiehlt, insbesondere als Waffe in ihrem gegenseitigen Hasse und Kampfe und als beste Stütze ihrer Nationaleitelkeit.“ (Overbeck 256f.) 

[5] Zum Kommunitarismus vgl. z.B. Charles Taylor. Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M 1996.


Archivalien

Speck, Reimer, Unsere Kultur unter dem Christus oder die Mission der Adivasi, ungedrucktes Manuskript 1982.

Speck, Reimer: Und nun lasst die Adivasi selber reden. Die Mission des Urvolks in Indien. ungedrucktes Manuskript (vermutlich 1983).

Speck, Reimer Brief an Verfasser 27.03.95

Speck, Reimer, Brief an Joachim Wietzke, Direktor des NMZ, 07.08.1995.


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