Sep 122013
 

 

Das A-Lager in Ahmednagar

Nach etwa dreißigstündiger Bahnfahrt kamen wir in Ahmednagar an. Vier englische Meilen von der Bahnstation entfernt liegen die beiden Gefangenenlager (jetzt sind es drei), in welchen jetzt etwa 1.500 Deutsche untergebracht sind. Diese nahe beieinander liegenden Lager sind immer militärischen Kommandos unterstellt. Einige Meilen weiter ab befindet sich auch noch ein von der Zivilbehörde verwaltetes Lager für ältere Deutsche. In diesem Zivillager, dessen Insassen größere Freiheit und bessere Beköstigung genossen, wurden außerdem auch – mit wenigen Ausnahmen – die vielen römischen Priest« jeden Alters interniert. Die haben überall in der Welt ihre Vorrechte.

Das größte Lager ist das A-Lager. Es beherbergt 1.000 Gefangene, eher mehr als weniger. Vier langgestreckte einstöckige Infanteriekasernen sind von einem doppelten Stacheldrahtgehege umgeben. Zwischen den beiden Gehegen laufen die Posten auf und ab. Im Innern des Lagers ist sehr, sehr wenig Platz zum Umhergehen und für die turnerischen Spiele der Insassen. Dieser geringe Raum wurde zum größten Teil noch von Hunderten von Zelten in Anspruch genommen, in denen ein großer Teil der Gefangenen bis Ende 1915 zu wohnen hatte.

Das Leben in den alten baufälligen Baracken, die schon längst von den englischen Ärzten als ungeeignet für europäische Soldaten verurteilt (medically condemned) waren, war nicht schön, aber in den Zelten war es schaurig.

Acht Mann wohnten in jedem Zelte, so viele Betten gingen genau hinein. Unten der staubige Fußboden, der sich bei Regenwetter durch das einströmende Wasser stellenweise in Kot verwandelt, oben die Sonnenglut.

Wenn ein englischer Beamter oder ein Missionar seinen Distrikt bereist, so hat er häufig eine Zeitlang im Zelte zu wohnen. Man schlägt das Zelt aber unter einem hohen Schattenbaume auf und lebt stets nur eine kurze Zeit unter dem Zeltdache.

Die Zelte der armen Gefangenen standen unter der grellen Sonne. Schon in den Mittags- und Nachmittagsstunden der sogenannten kühlen Jahreszeit war die Hitze hier kaum zu ertragen, wie sollte es erst in der heißen Zeit werden? Durch die Freundlichkeit einiger vor mir internierter Missionare kam ich gleich in eine Kasernenstube. Mehrere Hundert waren aber schlimmer daran. Ich erinnere mich, dass ein älterer Missionar, den der lange Aufenthalt in Indien schon sehr angegriffen hatte, mittags aus seinem Zelte öfters zu uns kam und sich im Zustande größter Erschöpfung bei uns aufs Bett legte. Viele Leute klagten, ihnen werde am Tage ganz schwindlig zumute, Monat für Monat nur durch ein Zeltdach vor den Strahlen der erbarmungslosen Sonne geschützt.

Die Militärbehörde hätte dem Übelstande schnell und leicht abhelfen können. Ganz in der Nähe befinden sich prächtige zweistöckige Artilleriekasernen, aus Granit erbaut, hoch und luftig, gar nicht zu vergleichen mit den baufälligen Kasernen im A-Lager. Die Artilleriekasernen waren ganz leer und blieben es, bis sie im Dezember 1915 teilweise den Gefangenen des neuen Parolelagers zugewiesen wurden. Also die Militärbehörde wollte die Artilleriekasernen nicht hergeben, zugleich wollte sie aber die teuren Zelte schonen, und das führte Anfang April 1915, einen Monat nach Beginn der heißen Jahreszeit, zu folgender „Abhilfe“.

Im engen Raum des A-Lagers wurden ganz lange, ganz schmale und niedrige Wellblechbaracken errichtet für die bisher in den Zelten Untergebrachten. Die Decke, etwa zehn Fuß über dem Boden, bestand auch aus Wellblech.

Selbst der an die Sonnenstrahlen gewöhnte Eingeborene will etwas anderes als Wellblech über dem Kopfe haben. Er ist mit einer engen, niedrigen Lehmhütte zufrieden, aber über sich hat er ein dickes Dach aus Palmblättern oder Dachziegeln.

Ganz andere, und zwar der Gesundheit wegen berechtigte Ansprüche macht der Europäer. Solange die Sonne am Himmel steht, vom frühen Morgen bis etwa fünf Uhr nachmittags – ganz gleich, ob der Himmel klar oder bewölkt ist – darf er sich nicht ohne seinen dickgepolsterten Sonnenhut ins Freie wagen. Erst gegen Sonnenuntergang darf Strohhut oder Mütze aufgesetzt werden.

Ebenso sind die Wohnungen für Europäer dem Klima entsprechend erbaut: weit, hoch und luftig. In meinem Wohnhause in Nagercoil habe ich Zimmer, die zehn und sieben Meter lang, acht und fünf Meter breit und sieben bis acht Meter hoch sind. Alle Missionen, selbst wenn sie aufs äußerste zum Sparen angewiesen find, bauen derartige Wohnungen, und die missourische Misstonsleitung hat längst erkannt, dass ein solches Bauen keine Verschwendung, sondern eine Notwendigkeit ist.

Und nun sperren die Engländer, die ja auch ihre indischen Erfahrungen haben, im Tropendienst geschwächte Familienvater, die durch langjährige Dienste in Kirchen und Schulen nur das Beste des Landes gesucht haben, in solche Blechbaracken mit niedrigem, der Sonne so gut wie gar keinen Widerstand bietendem Dache. Ein Besuch in den Blechbaracken zur Mittagsstunde bietet uns folgendes Bild: Die Bewohner sitzen oder liegen auf ihren Betten mit dem Sonnenhute auf dem Kopfe oder unter aufgespanntem Schirme. Der Fußboden ist eine unebene Masse von Staub, Erdklumpen und Steinen. Ein Fegen auf diesem Schutt ist überhaupt unmöglich; man müsste den ganzen Fußboden hinausschleppen, und darunter ist allemal derselbe Schutt. Wir berühren die eiserne Wand; sie ist heiß, heißer aber noch ist das der Sonne zugewandte Blechdach.

Erstaunt über die Wohnungsverhältnisse war selbst der – amerikanische Konsul. Wir haben noch keinen gesehen, der uns wohlgesinnt wäre. Wir kennen diese „neutralen“ Herren zur Genüge und haben genug von ihnen. In Bombay zwar war vor einiger Zeit ein deutsch-amerikanischer Konsul, von dem wir uns Hilfe versprachen. Der ist aber nie bei uns vorgelassen worden, er wurde bald aus allen Klubs in Bombay ausgestoßen, nahm seine Papiere und ist nun schon längst in Amerika. – Aber selbst jener uns besuchende amerikanische Konsul verlor doch beim Anblick der Blechbaracken einen Augenblick seine Fassung und stammelte ganz verwirrt: „Faktisch, hier wohnen Menschen?“ Die Engländer werden ihn durch moralische Begründungen nachher jedenfalls völlig darüber beruhigt haben, dass die Sache so in Ordnung sei. Sonst wären die Blechbaracken wohl nicht mehr da.

Der amerikanische Konsul hätte noch mehr sehen können, wenn er bei Regenwetter gekommen wäre. Zum Schutze gegen die Sonne hatte man eine Lehmschicht (anstatt der Dachziegel) auf den Blechdächern ausgebreitet. Gleich beim ersten Regen löste sich der Lehm auf und drang zusammen mit dem Regenwasser durch die langen, zu knapp überdachten Lüftungsritzen ins Innere der Hütten. Betten, Koffer und Kisten wurden von der braunen Brühe übergossen. Stellenweise drang das Wasser in solchen Mengen ein, dass die Betten ganz im Wasser standen und die Gefangenen im Matsch wohnten. Man hat dann die Lüftungsritzen zugebaut, und von der „schützenden“ Lehmschicht sind nur noch einige Spuren vorhanden.

Das Leben im Lager wird zur Qual durch den Staub. Viele Monate lang regnet es ja überhaupt nicht. Nun stelle man sich vor, dass tausend Menschen wochen- und monatelang auf demselben Fleckchen im Freien umherlaufen. Schon in den ersten Wochen ist das vertrocknete Glas zerstampft, bald sind auch die Graswurzeln zertrampelt, und man wandert knöcheltief in einem feinen weißen Staub. Der zuzeiten sehr heftige Wind trägt ganze Staubwolken in die Kasernen und Blechhütten, jeder Gegenstand ist von einer dicken Staubschicht bedeckt, Staub auf den Essgeräten, Staub im Essen, der einem im Munde knirscht. Nur einmal tief atmen können, nur einmal im Freien spazieren gehen, das ist der sehnliche Wunsch der im Staub schmachtenden A-Lager-Sträflinge.

Sträflinge? Jawohl: Sträflinge! Nicht nur die Gefangenen, auch der Kommandant, sein Adjutant und die Sergeanten sehen das A-lager als Straflager an. Wer sich in den anderen Lagern etwas zuschulden kommen lässt, wird zur Strafe ganz offiziell ins A-Lager gesteckt. Und wer im A-Lager Strafe verdient, kommt in die Blechbaracke. Diese Strafbaracken im Straflager waren von vornherein der für die größte Zahl der Missionare bestimmte Aufenthaltsort: „to mortitfy the flesh“ („zur Tötung des Fleisches“), wie sich der Adjutant, ein englischer officer and gentleman, schadenfroh äußerte. Trotz alledem ging’s zu meiner Zeit im A-Lager ziemlich lustig zu. Allerhand Ballspiele und Sportübungen (wenn nur der Staub nicht wäre!) werden vorgenommen. Es gibt viel Musik, Vorträge werden gehalten, allerlei nützliche Kurse werden regelmäßig durchgenommen, mannigfacher Sprachunterricht, sogar im Spanischen und Chinesischen, wird erteilt. Ich nahm, solange ich dort war, an den Sanskritstunden des Herrn Dr. Schrader teil, dem ich mit anderen Missionaren dafür zu großem Danke verpflichtet bin. Die Y.M.C.A. (Christliche Vereinigung Junger Männer) sorgt wöchentlich ein- oder zweimal für eine Kino« Vorstellung im Lager.

Natürlich wurden von den Missionaren sonntägliche Gottesdienste abgehalten. Der hierfür zur Verfügung stehende Raum, meiner Zeit ein langes Zelt, das aus lauter kleinen Zelten zusammengesetzt war, war sehr wenig einladend. Jeder musste sich Sitzgelegenheit selber mitbringen. …