Sep 122013
 

Das neue Parolelager bei Ahmednagar

Eines Tages war es mit der Freiheit im B-Lager vorbei. Die bisher geöffneten Tore wurden geschlossen. Die Stachelumzäunung war ja schon lange fertig, und nun glich das B-Lager dem A-Lager bis auf die Blechbaracken, die der einzige Nachteil des A-Lagers blieben. Das ging so zu:

Ein Insasse des B-Lagers hatte, was allerdings gegen das den Engländern gegebene Wort verstieß. mit einem pensionierten mohammedanischen Armeeoffizier Zusammenkünfte gehabt, und wohl allerlei politische Gespräche mit ihm geführt. Dabei waren sie von einem eingeborenen Detektiv beobachtet worden. Der brachte das zur Anzeige und erschien eines Tages mit einem englischen Polizeioffizier im Lager, um den Schuldigen anzugeben. Wir hatten alle Befehl, das Lager nicht zu verlassen und uns bei unseren Betten aufzuhalten. Der schwarze Geheimpolizist wurde nun von Bett zu Bett geführt, aber es war vergebens; er konnte den Gesuchten nicht finden. Einige Tage danach wurde noch ein Versuch gemacht. Wir mussten uns in langen Reihen draußen vor der Turnhalle aufstellen, und unter der Begleitung der Lageroffiziere schritten der weiße und der schwarze Polizist unsere Reihen ab, bei jedem einzelnen Halt machend und ihn prüfend anschauend. Ganz in der Nähe wies er auf einen jungen Mann, der gleich abgeführt wurde. Das war aber nicht der richtige. Der wirkliche Missetäter hatte es verstanden, sein Aussehen genügend zu verändern, so dass er nicht entdeckt wurde, und der unrechterweise Abgeführte konnte leicht seine Unschuld beweisen, da er keine indische Sprache reden konnte, und wurde bald aus der Haft entlassen. Diese Vorführung vor einem eingeborenen Polizisten erregte bei einigen unserer Landsleute Unwillen, und als der englische Polizeileutnant sich anschickte, zusammen mit dem schwarzen Detektiv das Lager zu verlassen, tönten den beiden einige höhnende Zurufe nach. Das war die Ursache für Schließung des Parolelagers.

Inzwischen mehrte sich die Anzahl der Gefangenen. Die Engländer erhöhten das deutsche Militäralter von 45 auf 55 Jahre (vermehrten also den deutschen „Militarismus“, den sie ja eigentlich ganz abschaffen wollen), und infolgedessen wurden nun die meisten älteren Herren, die im Zivillager von Ahmednagar eine bessere Verpflegung genossen, ins „Militärlager“ gesteckt, in dem wir Jüngeren waren. Ein ganzer Trupp älterer Zivilgefangener kam auch aus Catapata, einer Bergstation in den Himalajas. Dort waren sie bislang zusammen mit deutschen Frauen gefangen gehalten worden. Sie alle erzählten übereinstimmend, dass sie von einem ganz jungen Polizeibeamten schändlich behandelt worden seien. Die aus Barmherzigkeit in dem kühlen Luftkurort untergebrachten alten, teils kranken Männer, die Frauen und Kinder mussten oft lange bei Wind, Regen und Schnee draußen stehen, weil der junge Beamte ganz unregelmäßig zum täglichen Namenaufruf erschien. Keiner durfte sich aber vorher entfernen, keiner durfte auch nur eine Minute zu spät kommen. Er oder sie wurde sofort dafür eingesperrt. Die Gefängniszellen waren stets von ganz unschuldigen deutschen Frauen und alten Männern gefüllt. Die bloße Äußerung einer Beschwerde wurde in niederträchtiger Weise sofort mit Einkerkerung bestraft. Die armen Leute waren so eingeschüchtert, dass sie einem höheren englischen Inspektionsbeamten und auch dem amerikanischen Konsul gegenüber keine Klage vorzubringen wagten. Geld und Pakete wurden ihnen geraubt; es war eine Schreckensherrschaft, die der junge Engländer dort geführt hat. Dergleichen war uns in solchem Maße nicht zuteil geworden, und die alten Leute waren froh, in Ahmednagar andere Verhältnisse vorzufinden.

Als sich nun die Gefangenenzahl in Ahmednagar so erhöhte, konnten trotz äußerster Zusammenpferchung die beiden vorhandenen Lager A und B die Gefangenen nicht mehr fassen, und nun endlich gab die Behörde die bereits früher erwähnten Artilleriekasernen für ein drittes Lager her: das neue Parolelager.

Die Artilleriebaracken liegen etwas weiter außerhalb der Stadt inmitten eines weiten Exerzierplatzes. Diese Kasernen, die, wie früher schon gesagt, 1¼ Jahr seit Ausbruch des Krieges völlig leergestanden haben, wurden nun mit einer Auslese bessergestellter Gefangener und einer Anzahl älterer Herren aus dem bisherigen Zivillager belegt. Es sind prächtige zweistöckige Gebäude, ganz aus Granit erbaut, mit hohen, luftigen Räumen, alles solide und sicher gegen Regen und Sonne. Ringsum laufen breite Veranden, die nach Europäer Art von den In« saßen bald wohnlich eingerichtet waren, und mit den runden Tischen, Lehnstühlen, Decken, Bildern, Kriegskarten und indischen Wandbehängen ein gemütliches, ja komfortables Aussehen hatten. Mein Wunder, dass die vorüberfahrenden und -reitenden Engländer und besonders Engländerinnen sich ärgerten über den Anblick der auf bequemen Sesseln sich in Ruhe streckenden „Hunnen“-gentelmen, ein Ärger, dem sie in Zeitungsartikeln Ausdruck gaben und im Klub Luft machten, wo sie unseren alten Kommandanten bestürmten, an den „Barbaren“ Rache zu nehmen. Ein Y.M.C.A.-Jüngling hat uns das ausgeplaudert. Hier in Deutschland haben wir von einer derartigen Stimmung gegen wehrlose Kriegsgefangene nichts vernommen.

Anders als im A- und B-Lager waren die Gefangenen hier also anständig untergebracht, trotz des Protestes der vornehmen englischen Gesellschaft, namentlich ihres weiblichen Teiles. Ich kann noch hinzufügen, dass wir beiden Missionare im Zentrum der einen großen Kaserne mit getrenntem Schlaf- und Wohnzimmer, eigener Veranda und eigenem Treppenaufgang auf besondere Anordnung des Kommandanten Offiziersquartiere erhielten.

Für die Gottesdienste stand uns ein schöner großer Raum in einem besonderen Nebengebäude zur Verfügung, und obwohl dies Parolelager nach der Zahl der Insassen das kleinste ist, waren die Gottesdienste hier besser besucht als im B-Lager. Merkwürdigerweise waren unsere Zuhörer eigentlich nur Herren der besseren Stände, während die ein« fachen Leute den Besuch der Gottesdienste in schroffer Weise ablehnten. Außer den bisherigen regelmäßigen Besuchern des B-Lagers, die ins Parolelager gekommen waren, fanden wir hier auch unsere alten Freunde aus dem Zivillager von Ahmednagar wieder. Sonntag für Sonntag war früher nämlich ein Trupp von fünfzehn Herren aus dem Zivillager zu den Gottesdiensten im B-Lager gekommen. Plötzlich blieben sie alle aus. Freiherr von B., einer unserer treuen Gottesdienstbesucher, erzählte mir, er sei an einem Montagvormittag vor die Behörde des Zivillagers gefordert worden mit der Anklage, am Sonntagvormittag auf der M.-Straße (an der die Turnhalle, an dem unser Gottesdienstlokal lag) gesehen worden zu sein. In Wahrheit hatte ein Engländer ihn von der M.-Straße aus vor der Turnhalle stehend gesehen. Von B. war von der Lagerseite in die Turnhalle gelangt und konnte der Wahrheit gemäß versichern: „Ich habe die M.-Straße nie betreten, sondern bin nur geradeweges vom Zivillager zum Gottesdienst gegangen.“ – Der Beamte: „Aber die Kirche liegt doch an der Kitchenerstraße.“ – Von B.: „Nein, da liegt doch die Kirche nicht.“ – Der Beamte beschreibt ihm nun genau die Lage der englischen Kirche. -Von B.: „Das ist aber die englische Kirche.“ – Der Beamte: „Gibt’s denn sonst noch eine?“ – Von B.: „Gewiss, unsere deutsche Kirche ist in der Turnhalle. Wir gehen doch dahin und nicht in die englische Kirche.“ – Der Beamte: „Dazu haben Sie aber keine Erlaubnis. Die galt nur für den englischen Gottesdienst.“

Seitdem war es den Zivilherren verboten, unseren Lagergottesdienst zu besuchen. Sie haben sich noch viel darum bemüht, aber es wurde ihnen stets abgeschlagen, und mit großem Bedauern sah ich die Lücke, die unsere Zuhörerschaft seitdem aufwies.

Freilich war ihnen nicht jeglicher Verkehr mit dem B-Lager verboten. Die Erlaubnis, zu den Fußballspielen im B-Lager zu kommen, blieb den Herren des Zivillagers nach wie vor offen; ebenso durften sie die Theatervorstellungen des Lagers in der Turnhalle besuchen, aber der Gottesdienstbesuch in derselben Turnhalle blieb ihnen verwehrt. Ein handgreifliches Zeichen, wie der Teufel in diesen Kriegszeiten bei großen und kleinen Dingen seine Hand im Spiele hat. Ja, der Teufel ist mächtig und stark auch in den Gefangenenlagern. Ich mag nicht viel darüber schreiben. So war es mir eine große Freude, die Freunde aus dem Zivillager im neuen Parolelager wieder anzutreffen, wo, wie gesagt, der Gottesdienstbesuch fortan besser war als je zuvor.

Von der Erlaubnis, die englische Kirche zu besuchen, machte kaum jemals einer Gebrauch. Ich war abends einige Male da und habe mich über das stolze pharisäische Gerede des Rev. Murdstone, oder wie er sonst hieß, gewundert, der in Vergleichen Englands mit Israel schwelgte und alle Gottesgerichte und Rachepsalmen des Alten Testamentes auf die deutschen Philister herabschmetterte.