Sep 282013
 

Die Haut

Von Curzio Malaparte

 

Das Phantom des Alexander Wolf

Von Gaito Gasdanow

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Leseprobe zu „Die Haut“

Da vernahm ich auf einmal menschliche Stimmen hoch über meinem Kopf.

Ich schaute auf, und es schien mir, dass eine Doppelreihe von Bäumen an dieser Stelle die Straße einfasste; die Zweige neigten sieh auf mich nieder. Aber ich sah weder Stämme noch Zweige noch Blätter, ich bemerkte nur die Gegenwart von Bäumen um mich her, eine seltsame Gegen-wart, wie etwas Starkes in der schwarzen Nacht, etwas lebendig Eingemauertes in der schwarzen Mauer der Nacht. Ich zügelte das Pferd und lauschte. Ich hörte wirklich über meinem Haupte sprechen, Menschenstimmen hoch über meinem Kopf die schwarze Luft durchdringen. „Wer da?“, rief ich auf Deutsch, „wer da?“

Vor mir, weit dort drüben am Horizont, schimmerte eine leichte rosige Helligkeit am Himmel. Die Stimmen glitten hoch über meinem Kopf hin, es waren wirklich menschliche Stimmen, deutsche, russische, jiddische Worte. Die Stimmen waren kräftig, wie sie miteinander sprachen, doch etwas kreischend, bisweilen hart, bisweilen kalt, und gebrechlich wie Glas, und häufig zerbrachen sie auf dem Grund der Worte mit dem Klirren von Glas, wenn es gegen Stein stößt. Sie sprachen miteinander, unterhielten sich über schlichte, menschliche Dinge, über Geschäfte, über ihre Frauen, über die Kinder, über die Freunde und über Reisen, über Geld, über Läden. Da rief ich noch einmal: „Wer da? Wer da?“

„Wer bist du? Was willst du? Wer ist das? Wer ist’s?“ antworteten ein paar Stimmen über mir.

Der Streifen am Horizont war rosig und durchsichtig wie die Schäle eines Eies, es war wirklich, als kröche ein Ei dort hinten am Horizont langsam aus dem Schoß der Erde.

„Ich bin ein Mensch, ich bin ein Christenmensch“, sagte ich.

Ein kreischendes Lachen lief über den schwarzen Himmel und verlor sich fern in der Nacht. Und eine Stimme, stärker als die anderen, rief: „Ah, du bist also ein Christ, du?“ Ich antwortete: „Ja, ich bin ein Christ.“ Und die Stimme schrie: „Ha, ha, ha, du schämst dich nicht, ein Christ zu sein?“ Ich rief zurück: „Nein, ich schäme mich nicht, ein Christ zu sein.“ Ein höhnisches Lachen antwortete meinen Worten, flatterte über meinen Kopf hin, wurde leiser und verlosch allmählich draußen in der Nacht.

„Da schämst dich nicht, ein Christ zu sein?“, rief die Stimme.

Ich schwieg, über den Hals meines Pferdes gebeugt, das Gesicht in die Mähne vergraben, blieb ich still. …

„Warum schweigst du?“, rief die Stimme.

Und ich hörte hoch über meinem Kopf ein Rascheln, wie von Zweigen im Winde, ein Marmeln, wie von Blättern im Winde, und ein wütendes Lachen, und harte Worte durch den schwarzen Himmel schneiden, ich spürte etwas wie einen Flügel mir übers Gesicht fahren. Es waren sicherlich Vögel, es waren große, schwarze Vögel, vielleicht Raben, die aus dem Schlaf geschreckt aufflogen und flüchtend mit den fetten, schwarzen Flügeln ruderten. „Wer seid ihr?“, rief ich, „um Gottes willen, antwortet doch!“ …

Ein Schrei des Entsetzens erstickte in meiner Kehle. Es waren gekreuzigte Menschen. Es waren Menschen, die an die Baumstämme genagelt waren, die Arme in Kreuzform, die Füße zusammengebunden, am Stamm mit langen Nägeln befestigt, oder mit Draht, der um ihre Knöchel gewickelt war. Einige von ihnen ließen den Kopf auf die Schulter hängen, andere auf die Brust; manche hoben das Gesicht, um den aufsteigenden Mond zu betrachten. Fast alle waren mit dem schwarzen Kaftan der Juden bekleidet, manche waren nackt, und ihr Fleisch glänzte keusch in der dunstigen Kälte des Mondlichts. Gleich dem lebens-trächtigen Ei, das in den etruskischen Grabstätten in Tarquinia, die Toten zwischen zwei Fingern emporhalten als Symbol der Fruchtbarkeit und Unvergänglichkeit, so hob sich der Mond aus der Erde, verströmte sich über den Himmel, weiß und kalt wie ein Ei, und beleuchtete die bärtigen Gesichter, die schwarzen Augenhöhlen, die weit aufgerissenen Münder, die verrenkten Glieder der gekreuzigten Menschen.

Ich richtete mich in den Steigbügeln auf, streckte die Hände zu einem von ihnen hinauf und versuchte mit den Fingern die Nägel herauszureißen, die seine Füße durchbohrten. Doch Stimmen der Empörung erhoben sich ringsum, und der Gekreuzigte heulte auf: „Berühre mich nicht, du Verfluchter!“

„Ich will euch nichts zu Leide tun“, rief ich, „lasst mich um Gottes willen euch zu Hilfe kommen.“

Ein fürchterliches Lachen tönte vom Baum herab, von Kreuz zu Kreuz, und ich sah die Köpfe sich hin und her wenden, die Bärte wackeln, die Münder sich öffnen und schließen; und ich hörte das Knirschen der Zähne.

„Uns zu Hilfe kommen?“, rief die Stimme von oben, „und weshalb? Vielleicht, weil du Mitleid mit uns hast? Weil du ein Christ bist? Los, antworte: weil du ein Christ bist? Und glaubst, dass dies ein guter Grund sei? Hast du Mitleid mit uns, weil du ein Christ bist?“ Ich schwieg, und die Stimme hob wieder an: „Waren es vielleicht keine Christen wie du, die uns ans Kreuz schlugen? Sind es vielleicht Hunde, Pferde, oder Ratten gewesen, die uns an diese Bäume nagelten? Ha, ha, ha, ein Christ!“

Ich beugte den Kopf über den Hals des Pferdes und schwieg.

„Los, antworte: mit welchem Recht verlangst du, uns zu Hilfe zu kommen? Mit welchem Recht verlangst du, Erbarmen mit uns zu haben?“

„Ich bin es nicht gewesen“, schrie ich, „ich bin es nicht gewesen, der euch an diese Bäume genagelt hat. Ich bin es; nicht gewesen!“

„Ich weiß es“, sagte die Stimme mit einem nicht zu beschreibenden Klang von Sanftmut und von Hass, „ich weiß, es sind die anderen gewesen, es sind alle anderen deinesgleichen gewesen.“

In diesem Augenblick kam von fernher ein Stöhnen, es war ein lautes und starkes Wehklagen. Es war ein jugendliches Weinen, unterbrochen von Todesröcheln, und ein Murmeln kam von Baum zu Baum auf uns zu. Gepeinigte Stimmen riefen: „Wer ist’s, wer ist’s? Wer stirbt denn dort?“ – Und andere klagenden Stimmen antworteten, folgten einander von Kreuz zu Kreuz, bis zu uns her: „Es ist David, es ist David, Samuels Sohn, es ist David, Samuels Sohn, es ist David, es ist David…“ Mit diesem von Baum zu Baum wiederholten Namen drang verhaltenes Schluchzen zu uns, ächzendes, heiseres Weinen, Seufzen, Fluchen, Schmerz- und Wutschreie.

„Er war noch ein Kind“, sagte die Stimme.

Da hob ich die Augen, und beleuchtet von dem schon hochstehenden Mond, von dem kalten weißen Widerschein jenes am dunklen Himmel schwebenden Eies, sah ich den, der mit mir sprach: es war ein nackter Mann, mit silbernem, bärtigem, abgezehrtem Gesicht. Er hatte die Arme zum Kreuz ausgebreitet, die Hände waren an zwei dicke vom Stamm des Baumes abstehende Äste genagelt. Er sah starr auf mich, mit funkelnden Augen, und plötzlich rief er: „Was ist denn euer Mitleid wert? Was sollen wir wohl mit euerm Mitleid anfangen? Wir spucken darauf, auf euer Mitleid, ja napliwaju, ja napliwaju!“ Und wutbebende Stimmen wiederholten ringsum: „Ja napli-waju! ja napliwaju! Ich spucke darauf, ich spucke darauf!“

„Um Gottes willen“, rief ich, „jagt mich nicht weg! Lasst mich euch von euren Kreuzen nehmen! Stoßt meine Hand nicht zurück; es ist die Hand eines Menschen!“

Ein böses Lachen erhob sich um mich, ich hörte die Zweige über meinem Kopf seufzen, ein grässliches Zittern durch die Blätter, raunen.

„Ha, ha, ha, habt ihr gehört?“, rief der gekreuzigte Mann, „habt ihr gehört? Er will uns vom Kreuz nehmen! Und er schämt sich dessen nicht! Unreine Rasse der Christen! Ihr foltert uns, ihr nagelt uns an die Bäume, und dann kommt ihr, um uns euer Mitleid anzubieten! Ihr möchtet eure Seele retten, was? Ihr habt Angst vor der Hölle? Ha, ha, ha!“ …

„Wenn du uns helfen willst, wenn du unsere Qualen abkürzen willst… schieß uns eine Kugel in den Kopf, einem nach dem anderen. Los, warum schießt du nicht auf uns? Wenn du wirklich Erbarmen mit uns hast, schieße auf uns, gib uns den Gnadenschuss. Los, warum schießt du nicht? Hast du vielleicht Angst, dass die Deutschen dich umbringen werden, weil du mit uns Erbarmen gehabt hast?“ Während er so sprach, sah er starr auf mich, und ich fühlte, wie diese schwarzen funkelnden. Augen mich durchbohrten.

„Nein, nein!“, schrie ich, „habt Erbarmen mit mir, verlangt nicht das von mir, um des Himmels willen! Verlangt nicht so etwas von mir, ich habe nie auf einen Menschen geschossen, ich bin kein Mörder! Ich will kein Mörder werden!“ Und willenlos ließ ich den Kopf auf den Hals meines Pferdes sinken.

Die gekreuzigten Menschen schwiegen, ich hörte sie atmen, ich hörte ein heiseres Zischen durch ihre Zähne pfeifen, ich fühlte ihre Blicke auf mir lasten, ihre brennenden Augen mein tränengebadetes Gesicht versengen, meine Brust durchdringen.

„Wenn du Erbarmen mit mir hast, dann bring mich um“, rief der gekreuzigte Mann, „oh, gib mir einen Schuss in den Kopf! Oh, schieß mir eine Kugel in den Kopf, hab Erbarmen mit mir! Um des Himmels willen, töte mich, bring mich um, um des Himmels willen!“

Da hob ich unter körperlichen Qualen mit schmerzvoller Mühe die Arme, die eine gewaltige Last niederdrückte, brachte die Hand an die Seite und packte den Griff meiner Pistole. Langsam hob ich den Ellbogen, zog die Pistole aus ihrer Tasche, stemmte mich in die Steigbügel, die Linke in die Mähne des Pferdes gekrallt, um nicht aus dem Sattel zu gleiten, so schwach und betäubt und vom Grauen gewürgt fühlte ich mich. Ich hob die Pistole und zielte auf den Kopf des gekreuzigten Mannes: und in diesem Augenblick sah ich ihn an. Ich sah die schwarze Höhle seines zahnlosen Mundes, die gebogene Nase mit den blutverkrusteten Löchern, den zerrauften Bart, seine schwarzen funkelnden Augen.

„Ah, Verfluchter!“, schrie der Gekreuzigte, „ist das euer Mitleid? Könnt ihr nichts anderes tun, ihr Feiglinge? Ihr nagelt uns an die Bäume, und dann tötet ihr uns mit einem Schuss in den Kopf? Ist das euer Mitleid, ihr Feiglinge?“ Und zweimal, dreimal spuckte er mir ins Gesicht.

Ich fiel in meinen Sattel zurück, während ein grausiges Lachen von Baum zu Baum flatterte. Die Sporen in die Flanke gedrückt, setzte das Pferd sich in Trab; mit geducktem Kopf, mit beiden Händen am Sattel-knopf festgeklammert, ritt ich unter den gekreuzigten Menschen hindurch, und jeder von ihnen spuckte nach mir und schrie: „Feigling! Verfluchter Christ!“ Ich fühlte, wie ihr Spucken mich ins Gesicht, auf die Hände traf, ich biss die Zähne zusammen, über den Hals des Pferdes gekrümmt, unter diesem Regen aus Speichel. …

Auszug aus „Die Haut“ von Curzio Malaparte, Stahlberg Verlag, Karlsruhe 1950, Seite 141 ff.


Das Phantom des Alexander Wolf

Ich wusste aus eigener Erfahrung und vom Beispiel vieler meiner Kameraden, was für eine unumkehrbar zerstörerische Wirkung es fast auf jeden Menschen hat, wenn er im Krieg gewesen ist. Ich wusste, dass die ständige Todesnähe, der Anblick von Gefallenen, Verwundeten, Sterbenden, Erhängten und Erschossenen, die riesige rote Flamme, die in der Eisluft einer Winternacht über angezündeten Dörfern steht, der Leichnam des eigenen Pferdes wie auch die akustischen Eindrücke, Sturmgeläute, Granateinschläge, das Pfeifen der Kugeln, verzweifelte Schreie, unbekannt von wem – all das geht niemals vorbei, ohne sich zu rächen. Ich wusste, dass eine wortlose, fast bewusstlose Erinnerung an den Krieg die meisten Menschen verfolgt, die ihn durchlebt haben, und in allen ist etwas zerbrochen für immer. Ich wusste von mir selbst, dass die normalen menschlichen Vorstellungen vom Wert des Lebens und von der Notwendigkeit der grundlegenden Moralgesetze – nicht töten, nicht rauben, nicht vergewaltigen, Meineid haben -, dass sie sich nach dem Krieg zwar langsam in mir wiederhergestellt, ihre frühere Überzeugungskraft jedoch verloren hatten und nur noch ein theoretisches Moralsystem waren, mit dessen relativer Gültigkeit und Notwendigkeit ich prinzipiell einverstanden zu sein hatte. Die Gefühle, die ich dabei hätte haben müssen, die diese Gesetze erst hatten entstehen lassen, waren ausgebrannt durch den Krieg, es gab sie nicht mehr, und nichts hatte sie ersetzt…

Die Begegnung mit Wolf ließ mir keine Ruhe, zum hundertsten Mal rekonstruierte ich im Gedächtnis alles, was mit ihm zusammenhing – von dem Moment, als er quer über dem Weg lag, bis zu dem Buch, das er geschrieben hatte, und bis zu meinem Besuch bei dem Londoner Verleger, der einen so schrecklichen Hass gegen ihn empfand. Ich überlegte, dass Wolf – weniger er selbst, vielmehr jeder Gedanke an ihn – für mich unwillkürlich zur Verkörperung all dessen geworden war, was es in meinem Leben an Totem und Traurigem gab. Hinzu kam das Bewusstsein meiner eigenen Schuld: Ich fühlte mich fast wie ein Mörder, der erschüttert ist über das soeben verübte Verbrechen, angesichts der Leiche seines Opfers. Und obschon ich kein Mörder und Wolf keine Leiche war, konnte ich diese Vorstellung nicht loswerden. „Worin besteht eigentlich meine Schuld vor ihm?“, fragte ich mich. Und wenngleich jedes Gericht, nehme ich an, mich freigesprochen hätte – ein Militärgericht, weil das Töten Gesetz und Sinn des Krieges ist, ein Zivilgericht, weil ich aus Notwehr gehandelt hatte -, blieb doch etwas unendlich Bedrückendes zurück. Ich hatte ihn nie töten wollen, ich hatte ihn einen Moment vor meinem Schuss erst erblickt. Warum enthielt der Gedanke an ihn solch ein unauslöschliches Bedauern, solch eine unüberwindliche Traurigkeit? …

[Es] wurde mir jetzt klar, aus welchem Grund ich mir einer nicht existierenden Schuld bewusst war. Es war die Idee des Tötens, die mit gebieterischer Begierde meine Phantasie so oft in Beschlag gehalten hatte. Sie glich vielleicht dem letzten Widerschein eines erlöschenden Feuers, der kurzen Rückkehr zu einem uralten Instinkt; es war – auch das nur vielleicht – ein eigentümliches Aufblitzen des Vererbungsgesetzes, wusste ich doch, dass ich viele Generationen von Vorfahren hatte, für die Töten und Rache eine unumstößliche und verpflichtende Tradition gewesen waren. Und dieses Gemisch aus Versuchung und Abscheu, diese unbewegliche Bereitschaft zum Verbrechen hatten offenbar immer existiert in mir, und natürlich war diese Einsicht die Ursache für das niederdrückende Bedauern, das ich jetzt empfand.

Auszug aus „Das Phantom des Alexander Wolf“ von Gaito Gasdanow, Hanser 2012, Seite 120 ff.


Die Haut

Wie lässt sich ein Sieg erringen ohne falschen Triumph? Curzio Malaparte lässt Neapel auf zwielichtige Weise von den Amerikanern befreien.

Von 

Am besten, man liest dieses Buch natürlich in Neapel, samt Abstecher nach Capri, wo die einstige Villa des Autors so gewagt ins Meer ragt, auf deren Terrasse Brigitte Bardot in Godards Film Die Verachtung sich missgelaunt sonnte. Hier der Champagner, dort, nur eine halbe Stunde mit der Fähre entfernt, die dunklen, engen, schmutzigen Gassen der Metropole, die Curzio Malaparte (1898 bis 1957) in seinem autobiografischen Roman ins Zentrum der Handlung rückte.

Der Roman Die Haut war, als er 1949 erschien, ein echter Skandal. Er machte Malaparte endgültig weltberühmt und endgültig zum Verstoßenen. Neapel verhängte ein Einreiseverbot, der Vatikan setzte das Buch auf den Index. Und nicht etwa deshalb, weil der Autor einst dem Faschismus anhing (damit war er beileibe kein Einzelfall), sondern offenkundig, weil man die Erinnerung an die allerjüngste Vergangenheit nicht zu ertragen vermochte. Wir lesen vom Jahr 1943, als die Amerikaner Italien, das mit den Deutschen als Achsenmacht verbunden war, befreiten. Italienische Soldaten, die noch Tage zuvor gegen die Alliierten gekämpft haben, kämpfen nunmehr mit den Alliierten gegen die Deutschen. Neapel, von Bombenangriffen gezeichnet, zeigt sich in den Tagen seiner Befreiung von der verkommensten Seite: Der Verbindungsoffizier Malaparte spaziert mit amerikanischen Offizieren durch eine Hölle auf Erden, durch eine Stätte des Menschenhandels, in der Jungen und Mädchen von ihren Eltern prostituiert werden, in der es nur darum geht, die eigene Haut zu retten, Nahrung auf dem Schwarzmarkt zu ergattern. Wo es in zivilisierteren Zeiten darum gegangen sei, die Seele zu retten, habe die nackte Haut nunmehr eine obszön gewichtige Bedeutung erlangt, sagt Malaparte. Das sei die Pest – auch für die Amerikaner, die als Befreier sogleich zu Freiern werden. Und an dieser Stelle verfehlt der metaphernreiche, regelrecht barocke Roman noch heute nicht seine zum Widerspruch reizende Wirkung. Dem heroischen Erzähler nämlich ist der Krieg lieber als die Befreiung. Wer kämpfe, um nicht zu sterben, sei würdiger als jener, der knechtisch und geschlagen ums Überleben ringe: „Mir war der Krieg lieber als die Pest.“

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Es ist aus heutiger Sicht beinahe irritierend, mit welcher Selbstverständlichkeit Malaparte von Europa als kultureller Einheit spricht: Neapel sei ein Europa en miniature und Amerika in Gefahr, sich mit dem Glanz und Elend der Alten Welt anzustecken. Malaparte nämlich lässt offen, ob die Amerikaner einen würdigen Sieg über Europa erringen – und meint damit auch die voranschreitende kulturelle Hegemonie. Die Sieger, sagt Malaparte, indem er Aischylos zitiert, könnten sich nur retten, wenn sie die Tempel und Götter der Besiegten achten.

Die  Zeit vom


Auf der Suche nach dem Phantom

Gaito Gasdanows schon 1947 erschienener Roman erzählt vom Bürgerkrieg, von Boxern und Bordellen im Paris der 30er Jahre

Von Carmen Eller

Ein Mann gesteht einen Mord und erfährt Jahre später: Es gibt keine Leiche. Eines Tages begegnen Täter und Totgeglaubter einander dann in einem Pariser Restaurant. Dieser Stoff riecht nach einem Thriller, der Titel erst recht: „Das Phantom des Alexan­der Wolf“. Unheimlich ist hier aber vor allem das Talent des Schriftstellers Gaito Gasdanow, in die menschliche Seele zu schauen.

Der Protagonist und Erzähler seines Romans ist ein Journalist. Als 16-jähriger Weißgardist schießt er in der südrussischen Steppe aus Notwehr auf einen feindlichen Reiter. Was der Junge nicht ahnt: Der Verwundete überlebt und verarbeitet die Episode aus dem Bürgerkrieg in einer Erzählung. Später stößt der Journalist auf das Werk, erkennt im Helden sein einstiges Opfer und beginnt die Suche nach dem „Phantom“.

Wer aber ist der hierzulande bislang unbekannte Gasdanow? Ein Grenzgänger: Geboren 1903 in St. Petersburg, gestorben 1971 in München, begraben in Paris. 24 Jahre lang war der russische Emigrant in der französischen Hauptstadt Taxifahrer. Nachts fuhr er, tagsüber schrieb er – mehr als 50 Erzählungen und neun Romane. „Das Phantom des Alexander Wolf“ erschien bereits 1947 in einer New Yorker Zeitschrift. Und jetzt kann man sagen: Die Wiederentdeckung Gasdanows in Rosemarie Tietzes brillanter Übersetzung ist eine Sternstunde der Literaturgeschichte. In dieser Prosa verbindet sich russische Metaphysik mit französischem Existenzialismus. Das Ergebnis ist ein moderner Roman über den Tod und die schicksalhafte Verbindung einzelner Menschen. Die Geschichte spielt 1936 in Paris. Doch der Erzähler führt uns auch auf die Schlachtfelder des russischen Bürgerkriegs, in französische Bordelle und zu einem Boxkampf, bei dem der Journalist auf Jelena, die Frau seines Lebens, trifft.

Einmal heißt es: „Wenn jeder Wassertropfen unterm Mikroskop eine ganze Welt ist, so enthält jedes Menschenleben in seiner endlichen und zufälligen Hülle ein riesiges Universum.“ Dieser Seelenraum ist Gasdanows eigentlicher Schauplatz. Und so wirft die Suche nach seinem Phantom den Protagonisten auf sich selbst zurück. Aber auch Schüsse fallen, selbst ein Gangster alter Schule erhält einen – allerdings nicht ganz glaubwürdigen – Gastauftritt. Immer geht es Gasdanow bei alledem um Grenzerfahrungen. Er erzählt von Krieg und Unfrieden mit sich selbst. Von Schuld und unmöglicher Sühne. Vor allem aber von existenzieller Verzweiflung. „Das Leben vergeht, hinterlässt keine Spur, Millionen Menschen verschwinden und niemand erinnert sich an sie“, sagt ein russischer Emigrant und Lebemann.

Was bleibt also? Der sinnlich erfahrene Moment, etwa die mit der Geliebten verzehrte Schokoladentorte, die auf der Zunge „knackte und schmolz“. Oder die Erinnerung an eine gemeinsame Nacht im Auto: Auf das Dach prasseln Regentropfen, und Jelena legt ihren Kopf auf das Knie des Geliebten. Gegen das Vergessen wehrt sich der Erzähler mit der Macht der Worte – und sichert so seinem Schöpfer Gasdanow die Unsterblichkeit.

Cicero vom 20. Januar 2013