Okt 162013
 

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Anmerkungen zum Schreiben von Cheim

Anmerkungen von Walter Bülle zum Brief  von  R.M. Cheim

Amsterdam, 11. November 1946

R. M. Cheim
Kr. Mijdrechtstraat 73

Herrn
Gerhard Bülle
4057 Wing 1 Central Internment Camp Dehra Dun U.P.

Lieber Bülle!

Ich weiss nicht, wie lange Ihre Rückfrage nach meiner neuen Adresse unterwegs war, aber ich will auf jeden Fall Ihre Zeilen positiv beantworten. Ich will zuerst mal von mir berichten. Ich bin von den Deutschen bis 1941 in Ruhe gelassen, dann kamen die antisemitischen Massregeln und das Ende vom Lied war das bekannte. Verhaftet Juli 1942 in einem holländischen Lager festgehalten und erreicht, dass man Frau und Kind und Schwiegereltern in Ruhe liess bis Juni 1943, dann habe ich es klar gespielt, dass ich meine Schwiegereltern noch bis September 1943 dort halten konnte, aber schliesslich sind sie doch nach unbekannt verschickt worden.

Schicksal ist uns deutlich. Wir hatten mehr Glück. Die Deutschen dachten, dass sie durch meine internationalen Beziehungen jemand finden würden, der eine Art Lösegeld für uns bezahlt respective hatten die Absicht und gegen Auslandsdeutsche, die in Asien festsassen, einzutauschen und haben uns nur im Januar 1944 nach Bergen-Belsen geschickt, anstatt in die Gaskammern von Maidanek oder Auschwitz.

Ich weiss nicht, wieweit sichere Berichte auch zu Ihnen gekommen sind, aber um Zahlen Ihnen zu geben, welche besser zeigen, was sich abgespielt hat, als lange Berichte, es sind von 110.000, welche von hier deportiert wurden, 5.000 retourgekommen, der Rest ist ermordet.

Bergen-Belsen, was Sie vielleicht auch nicht wissen, war ein normales deutsches Konzentrationslager, wo man die Menschen nicht vergast hat, sondern gewöhnlich an Hunger, Überarbeit und sämtlichen epidemischen Krankheiten, die es gab, krepieren liess, als die 2. englische Armee unser Lager am 15. April befreite, fand sie ungefähr 20.000 Leichen unbegraben vor und 20.000 Menschen beyond hope.

Wir waren aber weder unter der einen noch anderen Kategorie, wir waren für eine Sonderbehandlung vorgesehen und ein Zug mit 2.000 Menschen verliess das Lager am 10.04.1945 für die Tschechoslowakei, wo man uns ermorden wollte, da wir nicht in die Hände der Alliierten lebend fallen sollten. Wir sind 13 Tage durch Deutschland gefahren, manchmal wenige Kilometer vor der Frontlinie, beschossen von Fliegern und Artillerie der USA, England und dann der Russen, bis wir am 23. April bei Torgau von der Roten Armee befreit wurden. Aber heute leben von den 2.000 vielleicht noch 500, der Rest ist nach der Befreiung noch jämmerlich krepiert.

Ich habe durch Glück, Energie und Lebenswillen durchgehalten, bin natürlich nicht mehr 100% der Alte, aber zufrieden, denn meine Frau und Kind sind auch gerettet und wir leben wieder in Amsterdam. Wir haben natürlich alles, was wir hatten verloren, sind bettelarm, haben keine Existenzbasis, aber werden schon irgendwie durchkommen. Das ist eine Seite. Meine Mutter ist rechtzeitig nach Schweden geflüchtet und wieder in Dänemark.

Nun Ihre Lage. Zuerst, wenn Sie für irgendwelche Zwecke ein Leumundszeugnis brauchen. über Ihre politische Tätigkeit in Deutschland, über Ihre Einstellung zu den Nazis usw. so können Sie immer  auf mich rechnen. Es sind nicht viele von meinen früheren Kollegen, für welche ich selbst das Porto ausgeben würde, geschweige denn einen Brief schreiben würde. Wenn ich etwas an Post vermitteln kann, so können Sie auf mich rechnen, schreiben Sie nur Ihre Wünsche.

Bremen habe ich im Januar 1944 von der Bahn aus gesehen und im Juli 1946 im Flugzeug. Unerkennbar, ausradiert. Hoffentlich haben Sie von Ihrem Bruder und Ihrer Frau Mutter wenigstens guten Bericht. HKM besteht nicht mehr, von den Russen demontiert. Was macht Ihre Frau? Kinder??

Interessiert Sie das Schicksal von Kollegen? Zomber in USA, Charmatz ermordet mit Frau in Auschwitz, Jacob ermordet Mauthausen. Binger Selbstmord, Knappe in Russland vermisst, Völker gefallen, Wartenberg lebt in Berlin. Lombardo in Berlin als Italiener, Wallach London, Schoeps London, Marx Shanghai, Schluss USA. Zombers Frau tot auf deutsche Mine lief das  Schiff.

Ich mache Schluss, ich erwarte einen ausführlichen Brief von Ihnen und dann werde ich antworten, was Sie fragen.

Alles Gute und Kopf hoch
Ihr R. M. Cheim


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