Okt 132013
 

Von Friedrich Thomä, Lüdenscheid 1955

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ohne Links der Chroniken Thomä und Oldekop

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Weitere Vorfahren der Familie Thomae

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Geschichte der Familie Thomae bis 1800

Eine Familiengeschichte dient nicht nur der Kenntnis der Zusammengehörigkeit der einzelnen Familien und ihrer Mitglieder, ihrer Vor- und Nachfahren, sondern ist auch überaus wichtig in Bezug auf die Möglichkeit, die zu den jeweiligen Zeiten herrschende Umwelt, ihre Kulturen usw. kennen zu lernen. Für die Zeit vor, während und nach dem 30-jährigen Krieg konnte ich mich im wesentlichen auf die Forschungen stützen, die der 1947 verstorbene Bürgermeister a. D. Rode, Harzburg, in meinem Auftrag sehr sorgfältig durchgeführt hat. Für die neuere Zeit – 19. und 20. Jahrhundert – waren meine Hauptquellen die Briefe, die an unseren Vater, den am 19.10.1905 verstorbenen Pastor Hans Thomae während seines Lebens gerichtet worden sind, und die dieser sämtlich aufgehoben hatte. Nachdem unsere Schwester Käthe in Braunschweig, die diese Briefe in Verwahrung hatte, schon einen großen Teil derselben als unwichtig ausgesondert hatte, schickte sie mir den Rest, nämlich 2035, den ich sorgfältig durchgearbeitet und daraus das Wichtige herausgezogen habe. Als eine weitere gute Quelle für die neuere Zeit diente mir noch das so genannte Fremdenbuch – heute würde man es Gästebuch nennen – der Familie Thomä; auf die Endung „ä“ komme ich nachstehend zu sprechen. Dieses Buch ist vom 13.07.1888 (Destedt) bis zum 06.09.1954 (Braunschweig) sorgfältig geführt worden. Wo ein Logiergast – um solche handelte es sich im wesentlichen – sich aus irgendwelchen Gründen nicht eingetragen hatte, hat unser Vater diese Eintragung stets sorgfältig nachgeholt. Dieses Fremdenbuch bietet durch seine Eintragungen, die teils in dichterischer, teils in Prosaform erfolgt sind, einen tiefen Einblick in die damalige Zeit und zeigt uns, wie gastlich und wie beliebt unser Elternhaus bei Freunden und Verwandten war. Ich komme darauf später noch zu sprechen.

Was die Schreibung des Namens Thomae angeht, so ist zu berücksichtigen, dass Thomae zweifellos der Genitiv von Thomas ist, so dass „filius“ („Sohn“) zu ergänzen ist, somit also Thomae: Sohn des Thomas bedeutet. So finden wir in alten Zeiten Thomae am Wortende stets mit „ae“ geschrieben, daneben findet sich auch die Endung „e“, auch ist häufig Thomas oder Thomaß, Thomaßus, Thomasius, einmal auch Tohme geschrieben worden, wie man ja in alten Zeiten in den Kirchenbüchern mit der Schreibweise von Namen sehr wenig sorgfältig umgegangen ist, was sich erst durch das 1875 von Bismarck eingeführte Reichspersonenstandsgesetz änderte, das die ausschließliche und allein rechtsverbindliche Ziviltrauung einführte. Durch unseren Vater hat sich in neuester Zeit die Endung „ä“ eingebürgert, vielleicht, weil dieser stets in deutscher und nicht lateinischer Schrieb, in der es bekanntlich nur die Endung „ae“ gibt. Immerhin hätte man auch in deutscher Schrift „ae“, also Thomae schreiben können. Zweifellos ist die Endung „ä“ falsch, das geht aus der oben ausgeführten Ableitung „Thomae filius“ hervor. Vaters Schwester Sophie schrieb 1878 in einem Brief an Vater Thomae, also mit „ae“. In Süddeutschland findet man heute den Namen Thomae ziemlich häufig, aber stets mit „ae“ am Ende geschrieben. Ich glaube, dass die richtige Schreibung mit „ae“ sich allmählich von selbst wieder einführen wird.

Dass ich auch die Geschichte der Familie Oldekop ausführlich behandele, hat seine Ursache darin, dass Justus Michael Thomae, der von 1692 bis 1739 lebte und das hervorragendste Mitglied der Familie Thomae in damaliger Zeit war, mit Clara Elisabeth geb. Oldekop verheiratet war und diese Familie Oldekop ein weit berühmtes Geschlecht war; der erste Oldekop wird bereits 1380 in Hildesheim erwähnt, wo der Familie später drei Häuser gehörten, an denen das Familienwappen angebracht war.

Den Namen Thomae oder Thomas habe ich zuerst irgendwo im Jahre 1534 erwähnt gefunden, ohne dass darüber Näheres mitgeteilt wurde. Etwas später wird im „Chronicon der Stadt und Vestung Wolfenbüttel des Oberamtmanns Woltereck“ auf Seite 716 unter den jährlich gewählten Kirchenvorstehern ein Ulrich Thomas, 1569 bis 1570 als solcher tätig, erwähnt, ohne dass Näheres über ihn angeführt wird. Es wäre möglich, dass dieser Thomas mit dem von 1534 identisch wäre oder irgendwie mit ihm zusammenhinge. Immerhin ist dies nur eine Vermutung. Die regelrechte Geschlechterfolge der Thomae’s beginnt erst mit Andreas Thomae, der um 1610 in Gittelde am Harz geboren ist. Dieser Flecken Gittelde, der für die Thomae’s eine wichtige Rolle spielt, hat eine interessante Geschichte. 1759 wird er näher beschrieben und ein genauer Lageplan beigefügt.

Wichtig für die Geschichte der Thomae’s sind auch die Rechnungsregister der Gittelder Bauerngilde. Das Wort „Gilde“ kommt vom altsächsischen „geldan“ = opfern her. Man verstand darunter eine Berufsvereinigung, eine Innung bzw. Zunft. Das Gildewesen blühte im Mittelalter außerordentlich. In Gittelde wurde damals fleißig Bier gebraut, vermutlich ein ganz leichtes, alkoholarmes Bier, denn es war augenscheinlich das allgemeine Volksgetränk. Es wurde damals nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen gebraut. Nach den Rechnungen der Brauergilde brauten meist zwei Personen zusammen, nicht nur zwei Männer, sondern auch ein Mann und eine Frau. Kulturhistorisch ist dieses ganze Brauwesen sehr interessant.

Justus (auch Jobst) Michael Thomae ist geboren am 19.04.1692 zu Gittelde, er starb knapp 49 Jahre alt, „zwischen dem 13. et 14. Martii 1739 in der Nacht um 12 Uhr seel. im Herrn entschlafen“. „Die Leichenpredigt in der Stille von Herrn Ober-Supperintendent“. Begraben ist er auf dem Kirchhoff der Hauptkirche B.M.V. in Wolfenbüttel am 19.3.1739. Nach dem Kirchenbuch der Hauptkirche B.M.V. zu Wolfenbüttel ist er am 07.10.1717 „mit Jgfr. Clara Elisabeth Oldekoppen, Herrn Magister Magni Petri Oldekops Archi-Diakoni an hiesiger Hauptkirchen eheliche älteste Tochter Jgfr. ehelich im Hause von Herrn pastor Abelmann copulieret worden.“

Über Justus Michael Thomae heißt es in den schon genannten Chronik von der Stadt und Vestung Wolfenbüttel von Christoph Woltereck noch weiter: „Just Michael Thomae, von 1731 bis 1739 Oberamtmann von Gittel am Harz gebürtig u.s.w.“, seine Bestallung zum Landfiscal. Aus dieser Bestallung geht hervor, dass ein „Fiscal“ sozusagen Staatsanwalt und Richter in einer Person war. Das Wort „Fiscal“ hatte also damals nichts zu tun mit dem, was wir heute unter Fiskus verstehen. Nach dem Staammbaum „Die Thomae in Gittelde“ war „Jobst“ Michael Thomae Kanzley- und Hofgerichts-Advokat, 09.01.1722 Fürstl. Braunschweig. Cammer-Fiscal, 22.11.1728 Landfiscal, 1731 Oberamtmann des Haupt- und Residenz-Amts Wolfenbüttel. Aus den steilen Anstieg der Ämter, mit denen er betraut wurde, geht hervor, dass er zu damaliger Zeit ein sehr berühmter und geschäftstüchtiger Mann war. Er war ehelicher Sohn des Schulrektors Henricus Andreas Thomae, der um 1653 zu Gittelde geboren und daselbst am 08.06.1722 gestorben ist. Seit dem 14.10.1685 war er Schulrektor in Gittelde und verheiratet mit Susanne Margarethe Königs, geb. 1652, gestorben 20.01.1734 zu Gittelde, 82 Jahre alt. Justus Michael Thomae hatte fünf Schwestern und einen Bruder, er selbst hatte zehn Kinder, und zwar eine Tochter und neun Söhne.

Justus Michaels Großvater war Andreas Thomae, geb. zu Gittelde um 1610, gestorben vor 1689. Er studiert in Helmstedt Theologie und wurde dort am 21.11.1639 immatrikuliert. Von seinem theologischen Examen, das am 27.01.1644 in Helmstedt stattfand, besitzen wir ein genaues Protokoll, in dem sämtliche Fragen und Antworten in lateinischer Sprache mit deutscher Übersetzung angeführt sind, ein für unsere heutigen Theologen gewiss hoch interessanter Bericht! Unter dem 19.1.1644 fordert das Braunschweig. Lüneburg. Consistorium die Theologische Fakultät in „Helmstedt“ zu diesem Examen auf, da sie beabsichtigte, Andreas Thomae die Pfarrstelle zu Gittelde zu verleihen, vorausgesetzt, dass Examen und Probepredigt gut verliefen.

Das Patronatsrecht für die Pfarre in Gittelde übten damals die Herren von Gadenstedt aus. Aus einem Schreiben eines Hanns Ernst Jagemann vom 29.11.1643 aus Weymar an Andreas Thomae geht hervor, dass dieser Jagemann eine anscheinend große Rolle bei der Vergebung der Pfarrstelle in Gittelde spielte; er schreibt Andreas nämlich, er wolle sich für ihn verwenden. Die Familie Jagemann war auch in der Goethezeit in Weimar sehr bekannt. Einem Ferdinand Jagemann, der von 1780 bis 1820 lebte, hielt Goethe selbst eine Trauerrede bei der Totenfeier am 09.01.1820, und Christiane Goethe geb. Vulpius berichtete am 24.6.1803 an Goethe über eine Aufführung von „Offene Fehde“ und „Scherz und Ernst“ im Theater in Bad Lauchstädt, dass „die Jagemann“ in letzterem Stück besonders gefallen habe. An anderer Stelle erfahren wir dann noch, dass diese Jagemann die Geliebte des Herzogs Carl August von Weimar war. (siehe „Goethe erzählt sein Leben“ Seite 369/370). Es kann wohl angenommen werden, das obiger Hanns Ernst Jagemann ein Vorfahr der Jagemanns der Goethezeit war.

Andreas Thomae erhielt schließlich die „Pfarstelle“ in Gittelde. Unter dem 30.01.1644 bittet er das Consistorium in Wolfenbüttel, seine „Prob-Predigt“ aus in dem Schreiben angeführten Gründen verschieben zu dürfen, was ihm gestattet wird. Er unterschreibt dieses Schreiben „Andreas Thomae„, wieder ein Beweis dafür, dass man damals nicht nur in Kirchenbüchern in der Schreibweise der Namen nicht sehr sorgfältig umging, sondern, dass auch die Träger der Namen selbst gelegentlich kleine Namensänderungen vornahmen. Im übrigen ist die Unterschrift ebenso charakteristisch wie die auf dem Unterschriftsblatt, wo neben Andreas Thomae noch einmal Thomas steht. Unter dem 01.02.1644 folgt ein Schreiben des Fürst L. Braunschweig Lüneb. Consistoriums an den Superintendenten „Ehren David Achtermann und den Ambtmann Jur. Urban Barth die Einführung des Andreas Thoma auf die Pfarr zu Gittelde“ betr., das in der damals üblichen und geschraubten Weise Anweisungen darüber gibt, wie bei der Einführung verfahren werden solle, dass der Superintendent der Probepredigt persönlich beiwohnen solle und nach derselben die Gemeindeglieder befragt werden sollen, ob sie mit selben und auch mit der Person des Pfarrers zufrieden seien, ein gewiss umständliches, aber letzten Endes doch zweckmäßiges Verfahren. Unter dem 21.08.1644 wird dann in einem an das Consistorium gerichteten Schreiben vom Bürgermeister und der ganzen Gemeinde des Fleckens Gittelde und dem dazu gehörigen Wimdthausen bestätigt, dass die „Ehrn Andreas Thomae“ als ihren berufenen und bestätigten Pastoren annähmen.

Aus einem an das Consistorium zu „Wolffenbüttel“ gerichteten Schreiben des Andreas Thomae „Hidem Pastor, mpp.“ (eigenhändig geschrieben) vom 22.02.1654 geht hervor, dass das damals von gewissen Seiten versucht wurde, das Dorf Windthausen von der Gittelder Pfarre „abzubringen“. Andreas Thomae bittet in bewegten Worten, das Dorf und „Filial“ W. bei der Gittelder Pfarre zu belassen, zumal es von den „Kaiserlichen“ (Truppen) so kläglich eingeäschert und verdorben sei. Unter dem 28.01.1647 schreibt Pastor Andreas Thomae an das Consistorium wegen der Bestellung eines Oppermannes (Opfermann, auch „Altarist“ genannt, wohl gleichbedeutend mit dem heutigen Küster). Der vorgeschlagene Opfermann sei zwar Schreiner, zu dem Dienst als Opfermann sei er aber geeignet; die Not der Zeit verlange, dass der Opfermann einen Nebenberuf habe, da er von der Kirche nicht allein bezahlt werden könne . In einem Schreiben des Pastors Andreas Thomae vom 07.09.1648, das ebenfalls an das Consistorium gerichtet war, drehte es sich um die Gestellung eines Schulmeisters und Opfermanns. Auch aus diesem Schreiben ersieht man die schwierigen Verhältnisse, die infolge des 30-jährigen Krieges überall herrschten. Dasselbe geht auch aus einer Schrift hervor, welche sich in dem Knopf der „Scti. Johanniskirche zu Gittelde bey der Abnahme desselben 1783 gefunden hat“. Der Knopf bzw. die Kugel hatte nicht fest gesessen, so dass sie sich im Winter losgearbeitet hatte und abgenommen werden musste. Sie wurde mit vier „Federungen“, damit sie nicht wieder „loss“ werden konnte, durch Meister Heinrich Frohnen aus Seesen als Schieferdecker befestigt. „Und ist solches geschehen anno 1696 den 17. May. Zu dieser Zeit regieret Rudolphus Augustus und Anthon Ulrich, Gebrüder der Hertzog zu Braunschweig und Lüneburg. Und ist Amtmann gewesen Hermann Schrader aus der Fürstl. Stadt Gandersheim bürtig, Superintendent Christianus Riemeling, Pastor Johan Barthold Frankenfeld, Rektor Henricus Thomae u.a.“

Am 15.06.1689 schreibt Rektor Andreas Henricus Thomae an das Consistorium, dass die Witwe seines Vorgängers um Unterstützung gebeten habe. Sie habe dieses aber gar nicht nötig, da sie ein eigenes Brauhaus und erwachsene Kinder habe, die Unterstützung ihm aber abgezogen würde. Wir sehen, dass es auch damals viel Menschliches gab.

Am 25.6.1675 bittet Andreas Thomae die Herren von Gadenstedt, ihm seinen Sohn Ludolph Hermann als Adjuncten zuzuteilen, zumal er selbst schon 30 Jahre seines Amtes in Gittelde gewaltet habe. Dieses wurde ihm gewährt. Ludolph Hermanns Frau war Margarette Elisabeth Reimers, Tochter des Pastors Reimers zu Opperhausen. Am 23.02.1689 richtet diese ein Bittschreiben an das Consistorium. Ihr Mann sei gestorben – er hatte sich wegen einer Klatscherei, in die er verwickelt war, das Leben genommen – und habe sie mit ihren kleinen Kindern – „drei unerogenen armen Weiselein“ – ohne „Hütte“ und ohne Existenzmittel zurückgelassen. Das Consistorium scheint ihr geholfen zu haben. Am 14.03.1739 teilt „Clara Elisabeth Oldekop witwe Thomae“ der fürstlichen Kammer den Tod ihres Mannes Just Michael mit und bittet um „gnädiges Mitleyden“ und Gnade für sie und ihre Kinder.

Was die Herkunft der Familie Thomae angeht, so glaubt Bode, dass es sich um eine vor 1600 bäuerliche Familie handele, deren jüngere Söhne, die den Hof nicht übernehmen konnten, früh dem geistlichen Stand erwählten und so in die akademischen Berufe aufstiegen. Dem widerstreite nun allerdings die Familientradition, laut derer die Thomae’s aus dem Baltenlande stammen und erst um 1600 von dort eingewandert sein sollen. Dass es eine solche ritterbürtige Familie gäbe, sei nicht zu bezweifeln. Wie ich schon weiter oben mitteilte, habe ich irgendwo im Jahre 1534 einen Thomae erwähnt gefunden, ferner ist 1569 bis 1570 ein Heinrich Thomas als Kirchenvorsteher in Wolfenbüttel tätig gewesen. Wenn diese Thomae’s wirklich zu unserem Geschlecht gehören sollten, so können sie nicht um 1600 aus dem Baltenland eingewandert sein, so dass die Annahme Bode’s, dass es sich um eine vor 1600 bäuerliche Familie handele zutreffend wäre. Aus allem geht jedenfalls hervor, dass die Angelegenheit unklar ist.

Interessant sind die Berichte über Prozesse, die die Thomaes geführt haben. So verklagt der Schulrektor Heinrich Andreas Thomae seinen Schwiegervater, den Hauptmann Ludoph König, auf Zahlung einer Mitgift. In einem anderen Procees klagt der Eisenfaktor Johan Hagen den Rektor Thomae wegen Verbreitung falscher Gerüchte über seine, des Faktors Ehefrau, an. In diesem Process erscheint der Rektor in einem üblen Lichte, weil er die Gerüchte verbreitete trotzdem er wusste, dass sie unzutreffend waren. An diesen Gerüchten hat sich auch sein Bruder, der Pastor Ludoph Hermann Thomae beteiligt. Infolge der üblen Folgen, die diese Sache für die Stellung des Ludoph Herrmann Thomae, hatte – er sollte strafversetzt werden – hat er sich dann das Leben genommen.

Wie Bode unter dem 29. Mai 1935 schreibt, hat ihm in Gittelde der dortige Pastor Wurr in der oberen Kirche auf dem Altar zwei schwere, silberne Barock-Leuchter gezeigt. Auf dem einen stand: „Ludolph Koenigk/Haubtmann 1679“, auf dem anderen: „Anna Sophia Krusen/dessen/Hopmann/Eheliebste 1679“ alles in großen lateinischen Buchstaben. Diese Koenigk’s sind die Schwiegereltern des Rektors Heinrich Andreas Thomae, mit denen dieser seiner Zeit prozessierte.

In den Gittelder Gemeindeakten sind neben Ehrn Andreas Thomae auch dessen Bruder, der Amtsschreiber Zacharias Thomas, sowie der Vater des Haubtmann Koenig, Heinrich Ernst König verzeichnet.


Fritz Thomae 1802-1856

Es findet sich im Kirchenbuch in Eilum eine Eintragung des dortigen Pastors Carl Friedrich Ludwig Thomae. Er schreibt darin, dass ihm seit seiner Einführung, den 12.10.1828, alle seine fünf Kinder, sowie auch zuletzt „seine geliebte Gattin“ entrissen wurde. Er selbst starb am 16.04.1856, nachts gegen 12 Uhr. „Tag und Stunde des Begräbnisses 20.4., öffentlich. Ursachen und Veranlassung des Todes nach ärztlicher Aussage Herzerweiterung. Alter des Verstorbenen: geboren in Helchter am 31.03.1802“. Mit diesem Carl Friedrich Ludwig Thomae, der „Fritz“ gerufen wurde, bin ich nun schon in die neueste Zeit vorgedrungen, denn er war der Vater unseres Vaters, also unser Großvater. Er hat, nachdem ihm die erste Frau gestorben war, nachher noch zweimal geheiratet. Die erste Frau war eine geborene Wendeburg, die zweite Julie Auguste geb. Koch, geb. 23.01.1812 in Wolfenbüttel, gestorben 18.01.1847 in Eilum. 15.07.1834 getraut, war die Mutter unseres am 18.3.1838 geborenen Vaters und seiner Geschwister, die dritte Frau Elise, geb. Meyer, geb. 28.7.1808 in Stolzenau, getraut 1850. Vater hatte fünf Geschwister, Anna, gest. 1836, also 2 Jahre vor seiner Geburt, Sophie, Hermine, Hermann, gest. 1859 und Luise, gest. 1865. Die dritte Frau Elise, geb. Meyer, war die Schwester von Karoline Wagner, geb. Meyer, die die Mutter von Elisabeth Wagner, der späteren Gattin unseres Vaters, also unsere Mutter war. Auf der Hochzeit von Karoline Wagner sah unser damals 12-jähriger Vater die kleine Elisabeth Wagner, die später seine Frau wurde. Die Trauung vollzog damals Pastor Friedrich August Wagner, der Vater von Elisabeth Wagner. Die Hochzeit fand in Dungelbeck bei Peine statt.


Sophie Thomä verh. Blume 1840-1890

Vaters Schwester Sophie ist am 11.02.1840 in Eilum geboren; sie heiratete den Brauereibesitzer Blume in Königslutter, der 1875 (?) starb und der Bruder von Auguste Schween, der Gattin des Kantors an der Martini Kirche in Braunschweig war. Tante Sophie starb am 04.02.1890 im Braunschweig an der Lungenschwindsucht, die sie sich bei der Pflege ihres schwindsüchtigen Neffen Schween zugezogen hatte. Sie wohnte in Braunschweig zuerst Elmstr. 3, später am Kohlmarkt im „Stern“, einem sehr alten Hause, das am Giebel einen Stern trug. Als Kind habe ich sie dort besucht. Ich erinnere mich, dass die hygienischen Verhältnisse dort sehr primitiv waren: es gab nur ein Zimmerkloset, aber im Hinterhaus ein Varieté, in das ich gelegentlich einen verstohlenen Blick warf. Aus einem Fenster der Wohnung Tante Sophies habe ich damals den Einzug Kaiser Wilhelms II gesehen, der sich dem Prinzen Albrecht, damals Regent von Braunschweig, vorstellte.


Hermine Thomä geb. 1841

Am 09.11.1841 wurde Tante Hermine geboren, ebenfalls Vaters Schwester. Sie war zuerst an einem Waisenhaus in Essen beschäftigt. 1864 war sie in Wolfenbüttel, wohl bei ihrer Mutter. 13.06.1864 wurde sie als Diakonisse in Kaiserswerth aufgenommen, 1877 siedelte sie in das Diakonissenhaus Marienstift in Braunschweig über. Oktober 1898 kam sie von dort als Gemeindeschwester nach Riddagshausen, wo ich sie, als ich in Braunschweig auf dem Gymnasium war, sonntags öfter besuchte, teils aus Langeweile, teils weil sie stets einen wohlschmeckenden Honigkuchen auf Lager hatte.


Hermann Thomä 1845-1865

Ein Bruder Vaters, Hermann, starb schon 1859 als „Oekonomielehrling“; eine Schwester Luise, geb. 030.5.1845, starb 1865.


Hans Thomä 1838-1905

Als Vaters Vater 1856 starb, war Vater erst 18 Jahre alt. Er hat infolgedessen eine sehr schwere Jugend durchmachen müssen. In Göttingen studierte er Theologie. 1859 war er schon cand. theol. In Göttingen wohnte er bei einer Witwe Goedecke, Spechtstr. 1860 war er Hauslehrer in der Familie Loebecke in Wülperode (Prov. Sachsen), 1862 Hauslehrer in dem Jerxheim in der Familie des Oberamtmanns Dangers. Mit dieser Familie war er noch lange Jahre brieflich und persönlich verbunden, so gratulierte Vaters Schülerin Agnes ihm 1862 zum neuen Jahre und Gustav schickte ihm einen „Bullgonkuss“. Damals hatte er auch einmal in Gevensleben zu tun, wohin er 1894 als Pastor kam. 1868 wurde Vater zum Oberlehrer am Waisenhaus in Braunschweig gewählt. Er musste vor Antritt dieser Stellung einen Erbhuldigungs- und einen Diensteid schwören. Der Text des Erbhuldigungseides war: „Ich gelobe und schwöre Treue dem durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Wilhelm, regierendem Herzog zu Braunschweig und Lüneburg und Höchst dessen Nachfolgern und der Landesregierung aus dem durchlauchtigsten Hause Braunschweig, so wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort!“ Der Text des Diensteides lautete: „Ich gelobe, die Pflichten des mir übertragenen Amtes eines Lehrers am Waisenhaus zu Braunschweig gewissenhaft zu erfüllen und in dem mir angewiesenen Wirkungskreis die Gesetzte und die Landesverfassung genau zu beobachten – so wahr mir Gott helfe und sein heiliges Wort“. Am 05.04.1860 starb Vaters Freund, F. Bernhard, wahrscheinlich an der Schwindsucht, wie Vater unter dem letzten Brief, den ihm Bernhard am 4.3.1860 schrieb, vermerkte. Wörtlich folgt dann: „O hätte ich doch seinen letzten Brief beantwortet, vielleicht hätte ich ihm damit noch eine Freude bereitet!“ Vaters Missionsinteresse war schon in den 60er Jahren sehr rege. Eine Dame, Auguste Drude, sammelte Beiträge und schickte sie Vater ein.

Tante Sophie, 1858 noch unverheiratet, wohnte damals bei ihrer Mutter, unserer Großmutter, in Wolfenbüttel. Sie lud Vater damals einmal zum „Märtensgansessen“ ein.

Am 30.04.1870 war die Hochzeit unserer Eltern. Sie fand in Wrisbergholzen bei Mutters Eltern statt. Mutters Vater, Pastor Friedrich August Wagner, traute das Paar. Am 15.2.1871 wurde unsere Schwester Anna geboren, am 14.10.1873 Johannes, am 18.12.1875 Margarete, genannt Gretchen, die am 27.3.1883 an Diphtherie starb, ein Unglück, das Mutter nie ganz verwunden hat. Am 17.6.1878 wurde Else geboren, in Destedt am 23.10.1881 ich, ich erhielt die Namen Friedrich Albert Ludwig August (Friedrich: kommt von Nennonkel Friedrich Broistedt, zuletzt Superintendent in Blankenburg. Der Vorname kommt außerdem unter den Vorfahren Thomae mehrfach vor, so hieß unser 1856 verstorbener Großvater „Friedrich“. Albert: nach meinem Patenonkel Pastor Albert Wichmann in Schöningen. Ludwig: der Gatte meiner Patentante Schween hieß Louis-Ludwig. Er war Kantor und Kirchenbuchführer an der St. Martinikirche in Braunschweig. Schweens wohnten am Eiermarkt. Als ich im Marienstift famulierte, wohnte ich bei Schweens. August: Pastor Siegesmund August Thomae, gest. 1794 in Weferlingen) am 11.08.1886 Katharine, genannt Käthe, am 27.12.1891 Marie-Luise, genannt Liel, die am 27.1.1943 an den Folgen einer Schilddrüsenerkrankung starb. Anna starb am 01.06.1949. Die Braunschweiger Schwestern Anna, Käthe und Liel beherbergten nach Mutters Tode in Käthes Wohnung Elses drei Söhne, Paul, Ernst und Gerhardt, die nicht bei ihren Eltern, Else und Hermann Gäbler in Indien bleiben konnten. Die drei Jungen gingen auf das Neue Gymnasium, jetzt Wilhelmsgymnasium, und machte dort, außer Gerhardt, ihr Abitur, auch ich hatte es dort 1899 gemacht. Sie erzählen mir heute noch von den dortigen Lehrern, von denen einige auch mich schon „belehrt“ hatten.

Einiges noch aus Vaters Destedter Zeit. Eine große Rolle spielte dort die Familie von Veltheim. Excellenz von Veltheim, Patron der Destedter Pfarre war Oberhofjägermeister und Vorsitzender des Braunschw. Landtages. Sonntag Nachmittag pflegte er mit Vater im Park spazieren zu gehen. Damals war der Park noch sehr gepflegt. Auf der Rückseite der „Oberburg“ des Schlosses, war eine Terrasse, von der aus man auf eine große, stets kurz gehaltene Rasenfläche sah; links am Rande des Rasens stand das sog. Borkenhäuschen, hinter diesem erhob sich dar sog. Eisberg, in dem im Winter das auf dem nahe gelegenen Teich geschlagene Eis verstaut wurde. Hinter dem Borkenhäuschen führte durch den Eisberg ein Tunnel, der an einem Weg, am Rande des Teiches mündete. Im Innern des Tunnels waren rechts am Rande zwei etwa mannsgroße gemauerte rechteckige Kammern, deren Zweck mir unbekannt geblieben ist. Im Park war eine Anhöhe, der so genannte Pflaumenberg, auf dessen flacher Kuppe ein steinerner runder Tisch stand; auf seiner Platte waren eine Anzahl Pfeile angebracht, die auf hervorragende Punkte der Umgebung zeigten. Die Aussicht war großartig und umfassend. Im Westen das vieltürmige Braunschweig, im Süden der Harz, im Norden das Dorf Abbenrode und eine weite Ebene, wohl die Lüneburger Heide. Der Park war ein Dorade für unsere Knabenspiele. Am beliebtesten waren Räuber und Gendarm. Daran beteiligten sich außer Mariechen und Ännchen von Veltheim Fritz und mir häufig auch Jungens aus dem Dorf.

Aus Vaters Destedter Zeit ist noch einiges nachzuholen. Nachahmenswert war seine Behandlung von Bettlern und Landstreichern. Geld bekamen sie nie; gegen Unterkunft und Verpflegung mussten sie im Garten arbeiten. Vaters Vorgänger in Destedt war Pastor Henne. Seine Witwe blieb noch bis Ende Juli 1878 wohnen, so dass Vater erst später eingeführt werden konnte. Während der Wartezeit sorgte Kantor Kornhardt, dessen Garten an dem unsrigen grenzte, vorbildlich für die fällige Verpachtung der Pfarräcker, Brennholz usw. Eng befreundet war Vater mit den Inhabern der Firma F. C. Eßmann, Samen-Culturen und -Handlung in Destedt, sowohl mit dem greisen alten Vater als auch mit dem Sohn Eduard, der zuckerkrank war. Vater hob bei Eßmanns immer ihre praktische Frömmigkeit hervor, die sich u.a. darin zeigte, dass sie sonntags auf dem Felde in Garben stehendes Korn auch dann nicht einfuhren, wenn Gewitter oder Regenschauer drohten. Vater hob stets besonders hervor, dass sie durch diese Feiertragsheiligung nie Schaden erlitten hätten. Am 28.08.1878 schrieb Gemeindevorsteher Eßmann, ein Verwandter der Samenhändler, an Vater über den Transport der Möbel von Saalsdorf nach Destedt. Die Einführung muss demnach im September gewesen sein, wie von Veltheim gewünscht hatte. Veltheims verbrachten den Winter früher in ihrem Braunschweiger Haus am Burgplatz, einem sehr schönen alten Fachwerkhaus. Wenn sie zum Abendmahl gehen wollten, meldeten sie sich stets bei Vater an.

Ein alter Freund von Vater war Pastor Stutzer, der zuerst Vorsteher der Idiotenanstalt Neuerkerode war, dann ein Asyl in Goslar gründete und später, wenn ich nicht irre, nach Südamerika ging; er muss ein unruhiger Geist gewesen sein. Am 23.11.1859 schreibt der schon weiter oben (genannte F. Bernhard an „cand. theol. H. Thomae, Adr. Gutpächter Andrä, in Equord bei Peine (Königreich Hannover)“. Vermutlich wird Vater dort auch Hauslehrer gewesen sein. Während des Krieges 1870/71 sorgte Vater durch Frauenvereine für Lazarettspenden an die Front. Häufig erhielt er rührende Dankschreiben von einfachen Soldaten. Am 17.01.1871 teilte ein Soldat Vater mit, dass er auf Vaters Wunsch hin den Artilleriehauptmann Thomae, bei dessen Regiment er stand, gegrüßt habe. Vermutlich wird das Hartwig August Wilhelm Thomae gewesen sein, von dem ich ein Bild als Braunschweig. Leutnant besitze. Er war geboren am 18.02.1830 zu Königslutter und gestorben in Braunschweig am 24.8.1912. Das Bild stammt aus dem Vaterländischen Museum in Braunschweig. Ich habe es von Herrn Walter, dem Vater von Else Walter, einem Haushaltslehrling von Mutter, bekommen. Herr Walter war Gründer und Leiter dieses Museums. Am 28.03.1867 laden Otto Paulmann und Frau geborene Schwarzenberg, Vater „als Zeugen“ bei der Taufe ihres Sohnes auf den 4.4. und die „hiesige“ Kirche (Flechtingen) ein. 1858 machte Vater eine Rhein- und Thüringenfahrt. Am 26.4.1877 schreibt Onkel Georg Wagner, Vaters Schwager, an Vater: „Da nun die Festzeit vorbei ist, kannst Du die Jubilatehosen anziehen“, ein köstlicher Humor!

Über Vater ist noch Folgendes zu berichten. Er war auf Bismarck und die Preußen schlecht zu sprechen. Auf Bismarck wohl vor allem deswegen, weil dieser 1875 das Personenstandsgesetz eingeführt hatte, das die Trauung vor dem Standesbeamten, die sog. Ziviltrauung, vor der kirchlichen Trauung vorschrieb, ein Verfahren, das in der Pfarrerschaft damals eine starke Erregung verursachte; so fand am 27.10.1875 eine Pfarrerkonferenz über die Ziviltrauung in Braunschweig statt. Ein weiterer Grund für Vaters ablehnende Einstellung Bismarck gegenüber war der, dass B. nach dem Kriege mit Österreich 1866, dem sich Hannover und Kurhessen angeschlossen hatten, Hannover für Preußen annektierte und den blinden König von Hannover zur Abdankung zwang. Vor dem Kriege hatte Bismarck allerdings Hannover aufgefordert, sich an dem Kriege gegen Österreich zu beteiligen, was diese abgelehnt hatten. Vater war, wie mancher seiner Freunde, enragierter Welfe. Am 18.02.1864 schrieb ihm sein Freund, Pastor Adolph: „Mein Standpunkt ist der, dass ich vor Ärger über die Bismarcks und Rechberge die Gelbsucht zu bekommen fürchte (Rechberg, Österreichischer Staatsmann, der 1859 bis 1864 Österreichischer Außenminister war, und 1864 gemeinsam mit Bismarck die Befreiung Schleswig-Holsteins von der Dänischen Herrschaft durchführte).

Zu Vaters langjährigen Freunden gehörte vor allem auch Vitus Dettmer. Am 25.07.1896 schrieb dieser im Fremdenbuch, Seite 49: „In Braunschweig wie in Vorsfelde, in Saalsdorf wie in Destedt und nun auch in Gevensleben in dreissigjähriger Freundschaft semper idem, der alte treue Thomae, und seine liebe Gattin daneben! Quod Deus bene vertat!“ Dettmer war zuerst Pastor in Lebre, kam später nach Wolfenbüttel, wurde Superintendent, dann Generalsuperintendent, schließlich  Consistorialrat. In den späteren Jahren war er ein etwas steifer verknöcherter Mann, ich kenne ihn jedenfalls nicht anders. Zur Hochzeit der Eltern schickte er ihnen ein christliches Gedenkbuch.

Sehr häufig stehen Mitglieder der Familie Gerloff im Fremdenbuch. Die Familie ist mit uns entfernt verwandt, wie diese Verwandtschaft allerdings zustande kommt, weiß ich nicht. Jedenfalls schreibt C. Gerloff an Vater stets „Lieber Vetter?“, zuerst am 09.02.1863 aus Tübingen. Der Briefbogen ist am Kopf mit einem alten Stich von Tübingen versehen.

Eine große Rolle unter den Fremden spielte auch die Familie Broistedt, sowohl die Eltern – Fr. und Helene Br. – als auch Wilhelm Broistedt, der Sohn. Er studierte zusammen mit unserem Bruder Johannes in Leipzig Theologie. Beide waren dort im Wingolf aktiv. Broistedt war Johannes Leibbursch und 1. Chargierter. Später war er Vorsteher der Neuerke öder Anstalten. Er heiratete Jda Niehoff, eine zarte, schlanke Frau, während er ein kräftiger robuster Mann mit einem langen rötlichen Vollbart war. Als Oberleutnant ging er in den ersten Weltkrieg und fiel am 23.07.1915 in Russland an der Spitze seines Bataillons, mit dem er einen starken Gegenstoß der Russen abgewehrt hatte. Er hinterließ seine Frau und acht Kinder.

Zu Vaters besten Freunden gehörte auch F. Borchers, den wir Kinder Onkel nannten; er war zuerst in Veltheim, dann in Dettum Pastor. Briefe an Vater sind häufig „Dein alter Knast“ unterschrieben. Wenn er uns in Destedt besuchte, gab es bei Tisch meist ein großes Gelächter, wenn sich die beiden Freunde gegenseitig antoasteten. Vaters Toaste dauerten meistens länger. Wenn es Mutter zu lange dauerte, stieß sie Vater mit dem Fuß unter dem Tische an, worauf dieser damit reagierte, dass er sagte: „Meine Frau tritt mich unter dem Tisch mit dem Fuß, ich muss aufhören!“

So hatten unsere Eltern ein sehr gastfreies Haus. Ein Auszug aus dem Fremdenbuch ergibt, dass Tante Hermine 28 mal, Tante Sophie 5, Tante Emilie 18, Onkel Georg, Mutters Bruder, 9, seine Frau, Tante Amanda 6, Tante Luise Stade 5, Bertha Dunker, angenommene Tochter und Begleiterin der „dicken“ Tante, einer irgendwie mit Großmama Wagner verschwägerten Witwe, 6 mal; dieser erinnere ich mich dadurch, dass sie einen eigentümlichen Geruch an sich trug, wahrscheinlich wusch sie sich ungern. Bertha Dunker war ein überschwängliches, hysterisches Wesen, die übrigens sehr gut sang; Johannes hat sie oft zu ihren Liedern begleitet. Vom 21. August bis zum 27. Oktober 1897 war sie in Gevensleben zur Erholung. Sie hatte, wie Vater im Fremdenbuch schreibt, „nervöse Herzkrämpfe“, die acht Tage nach ihrer Ankunft „mit erschreckender Heftigkeit“ auftraten, aber im Laufe der Wochen allmählich nachließen. Heute würde man diese „Herzkrämpfe“ mit Psychoanalyse und Psychotherapie behandeln. Wilhelm Broistedt war 8 mal, seine Mutter Helene, geborene Bortfeld, 10, Karl von Schwartz, ein treuer Freund Vaters als Pastor in Cremlingen und später als Missionsdirektor in Leipzig, 7 mal. Vater war mit ihm zum ersten Mal als Pastor auf einer Ferienreise am Walchensee.

Eine treue Freundin unseres Hauses war Fräulein Lober. Sie war eine Zeit lang „Bonne“ bei Veltheims in Destedt. Da sie als Elsässerin – sie stammte aus Dorlisheim – auch gut französisch sprach, sollte sie dieses Mariechen und Ännchen beibringen. Sie hat uns in Destedt, Gevensleben, nach dem Tode Vaters auch Mutter in Braunschweig öfter besucht. Unter Vaters Briefen aus der Saalsdorfer Zeit finden sich häufig solche von Freiherrn von Spiegel zum Desenberg. Seine Bekanntschaft mit Vater stammt wohl aus der Zeit der Bewerbung Vaters um die Pfarrstelle in Saalsdorf, deren Patron von Spiegel war. Wahrscheinlich war er auch Patron von Seggerde, wo er ein Schloss hatte. In Seggerde war Pastor Roscher, mit dem die Eltern viel verkehrten. Herr von Spiegel hatte noch einen zweiten Wohnsitz in Halberstadt. Oberamtmann Schmidt-Ewig, der ein Gut in der Nähe von Attendorn hatte, hat nach seinem Wegzug ein Stadtgut namens „Spiegelberge“ bei Halberstadt gepachtet. Ob Spiegelslust, eine Gaststätte auf einer steilen Anhöhe am linken Ufer der Lahn gegenüber Marburg mit diesen Spiegels etwas zu tun hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Wenn wir Füchse im Marburger Wingolf etwas verbrochen hatten, wurden wir nach Spiegelslust geschickt und mussten von dort eine Karte an die Verbindung als Beweis für unsere Kletterei schicken. Der Höhenzug, auf dem Spiegelslust lag, erstreckte sich mit prächtigen Wäldern noch kilometerweit nach Osten, ich habe sie in den vier Semestern, die ich 1899 bis 1901 in Marburg war, mehrfach durchwandert.

Viel verkehrte auch im Elternhaus Charlotte von Lengerke aus Marburg, die die Nachfolgerin von Fräulein Lober bei Veltheims wurde. Sie hat auch Fritz Veltheim und mich unterrichtet. Ich erinnere mich, dass sie uns die Dreieinigkeit bzw. die Dreifaltigkeit dadurch deutlich zu machen suchte, dass sie ihre weiße Schürze auf dem Schoss in drei übereinander liegende Falten legte. Diese sehr kluge Bildhaftmachung habe ich nie vergessen. Nach ihrem Fortgang von Destedt nach Osnabrück ist sie laut Fremdenbuch 12 mal bei uns gewesen; sie hing besonders an Vater, der so etwas wie ein Beichtvater für sie war. In Politicis konnten sie sich allerdings nie einigen: sie war eine „Preußin“, Vater ein „Welfe“. Ihre Schwester Paula und Clotilde waren auch mehrfach bei uns. Im Hause ihrer Mutter habe ich als Student in Marburg viel verkehrt.

In Destedt wurden Fritz Veltheim und ich von Hauslehrern unterrichtet. Der Beste war der Sohn des Oberkirchenrats Bard aus Schwerin, cand. theol. Friedrich Bard, der 1892/93 unser Hauslehrer war. Streng im Unterricht tr ollte er außerhalb desselben mit uns im Park herum. Wir haben ihn wirklich geliebt. Unser Elternhaus hat er später noch viermal besucht. Bis kurz vor seinem im 86. Lebensjahr am 8.4.1955 erfolgten Tode haben wir noch miteinander in Schriftwechsel gestanden.

Unsere Mutter hatte fast immer junge Mädchen als Hauahaltslehrlinge bei uns. Die erste war laut Fremdenbuch Else Walter aus Braunschweig, deren Vater dort das Vaterländische Museum einrichtete und verwaltete. Es war ein reizendes junges Mädchen, das später den Direktor des Museums in Braunschweig Flechsig heiratete und sehr an unserem Hause hing. Sie hat uns später noch sechsmal besucht. Auch Mathilde Hild, ein weiterer Haushaltslehrling hat uns später, auch nach ihrer Heirat, im ganzen achtmal besucht.

Nicht weit von Destedt lag Gardessen. Mit dem dortigen Pastor Stolze und seiner Familie bestand ein ziemlich lebhafter Verkehr. Auch Pastor Seeländer, ein Bekannter Vaters aus seiner Studienzeit, besuchte uns mehrmals, ebenso Pastor Ernst Wecken. Marie Broidstedt hinterließ uns bei einem ihrer Besuche eine wundervolle Federzeichnung im Fremdenbuch, die einen wundervollen Blick auf die Rückseite des Destedter Schlosses über die weite Rasenfläche hinweg darstellte.

Ein schweres Erbe der Wagner’schen Familie war die Belastung mit geistigen Störungen: Ernst Wagner, Mutters Bruder, starb in der Irrenanstalt Hildesheim. Mutter musste 1872 in die Heil- und Pflegeanstalt Königslutter aufgenommen werden; am 12.03.1873 schrieb der Direktor der Anstalt, Dr. Zänker, Vater, dass die Kranke an Wahnvorstellungen gelitten habe, dass es ihr aber jetzt zeitweilig besser gehe, der Gemütszustand wäre freier. Bei unserer Mutter äußerte sich die Belastung darin, dass sie alles sehr schwer nahm, z.B. immer Angst hatte, ob sie ihre Pflichten ordentlich erfüllte usw. Nach Vaters Tode zog sie zuerst nach Braunschweig in die Dörnbergstrasse. Da sie aber immer schwermütig war und sich sorgte, haben wir sie schließlich nach Bethel in die dortige Privatnervenheilanstalt gebracht. Dort fühlte sie sich ruhiger und starb dort auch am 04.08.1913. Sie ruht auf dem Friedhof in Bethel. Ich habe wohl noch nicht erwähnt, dass sich Mutter in Destedt in dem nicht unterkellerten Pfarrhaus einen schweren Rheumatismus geholt hat, an dem sie lange gelitten hat. Sie war deswegen auch zweimal in Bad Oeynhausen. Auch Tante Emilie Wagner, Mutters Schwester, ist 1875/76 in der Heilanstalt Königslutter gewesen, aber später doch wieder voll arbeitsfähig und Diakonisse geworden.


Anna Thomä 1871-1949

Unsere älteste Schwester Anna wurde am 15.11.1871 in Saalsdorf geboren. Sie ist wohl anfangs von Vater und später in Destedt von Kantor Kornhardt unterrichtet worden. 1884 kam sie in das evangelische Kloster St.Marienberg bei Helmstedt und blieb dort bis 1886. Die dortige „Domina“ war eine Schwester von Excellenz von Veltheim, auch eine weitere Schwester von ihm, Luischen, war dort. Diese hatte eine nette dichterische Ader. Sie dichtete sich zu Excellenz 70. Geburtstag ein kleines Festspiel, das Fritz Veltheim, sein jüngerer Bruder und ich damals aufführten. Von Marienberg kam Anna nach Haus, also nach Destedt, wo sie Mutter im Haushalt und bei unserer, der jüngeren Geschwister Erziehung half. Da sie strenger als Mutter war, liebten wir sie nicht sehr. Nach Vaters Tod zog sie mit Mutter und Liel in die Dörnbergstrasse nach Braunschweig. Später zog sie mit Liel zu Käthe, die im Bültenweg 18 wohnte. 1945 bekam sie einen schweren Rheumatismus, wegen dessen wir sie zunächst in Städtische Krankenhaus brachten; von dort wurde sie ins Nikolausstift, einem Anhangskrankenhaus gebracht, wo ich sie besucht habe; dann konnte Käthe sie wieder für 10 Monate bei sich aufnehmen. Dann musste sie ins Marienstift gebracht werden, wo sie am 1.6.1949 starb.


Johannes Thomä 1873-1959

Unser Bruder Johannes, geboren 14.10.1873 in Saalsdorf wurde zunächst vom Vater unterrichtet, nach der Übersiedlung nach Destedt auch von Kantor Kornhardt. 1886 kam er auf das neue Gymnasium (jetzt Wilhelmsgymnasium) in Braunschweig, wo er eich bald zum primus omnium emporarbeitete, 1888 wurde er konfirmiert, 1892 Abitur. Dann studierte er in Leipzig, Greifswald und wieder Leipzig Theologie, machte 1895 in Wolfenbüttel sein erstes Examen und konnte dann dank seiner Erbschaft einer Patentante noch zwei Semester in Berlin studieren. 1897 zweites Examen in Wolfenbüttel. Oktober 98/99 Dienstjahr in München, Abgang als Unteroffizier. Frühjahr 1900 1. Reserveübung in Metz, Abgang als Vizefeldwebel, dann als Theologe Überschreibung zum Sanitätspersonal. 1900 Hauslehrer in Weitmar, 1901 Hilfsgeistlicher in Greiz, wo Vater und später ich ihn besuchten, 1902 Senior des Predigerseminars in Wolfenbüttel, März 1903 Pastor adj. in Braunschweig, 27.4.1904 Vermählung mit Mary geb. Zuschlag in Weende bei Göttingen, Juni 1905 bis 1910 Pastor in Querum, 1911 in Witten 1915 bis 1918 Feldprediger, von 1911 bis heute in Attendorn, zuletzt in Ruhestand. Am 02.12.1952 starb seine Frau Mary nach langem Leiden. Der Ehe entsprangen 6 Kinder:

  1. Eva, verh. mit Prof. John Wulff USA.,
  2. Maria,
  3. Hans, im ersten Weltkrieg gefallen, verh. mit Gertrud Plücker, Kinder Justus und Hartwig,
  4. Hartwig, Apotheker,
  5. Wolfgang, Pastor in Iserlohn,
  6. Erika.

Gretchen Thomä 1875-1883

Unsere Schwester Margarete, genannt Gretchen, ist am 18.12.1875 in Saalsdorf geboren, am 27.03.1883 (2. 0stertag) starb sie in Destedt an Diphtherie. Mutter hat diesen tragischen Todesfall nie ganz verwunden. Auf Gretchens Grabstein in Destedt steht: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“.


Else Thomä verh. Gäbler 1878-1943

Unsere Schwester Elisabeth, genannt Else, ist am 17.06.1878 in Saalsdorf geboren. Sie wurde in Destedt zusammen mit Mariechen und Ännchen von Veltheim von Charlotte von Lengerke unterrichtet. 1892 kam sie nach Wolfenbüttel in das Internat im Schloss. Sie hat dort – im Schloss war ein altes Theater – allerlei humorvollen Unsinn gemacht. 1897 machte sie im Schloss das Lehrerinnenexamen. Am 11.09.1900 heiratete sie in Gevensleben den Missionar Hermann Gäbler, mit dem sie nach Indien ging. Dieser Ehe entstammen drei Söhne; Paul, Ernst und Gerhardt, die, da sie in Indien nicht fortgebildet werden konnten, nach Braunschweig zu Anna, Käthe und Liel kamen, die sie die ganze Schulzeit – anfangs auch noch Mutter – betreut haben. Nach dam Abitur studierte Paul Theologie, Ernst Philologie, und Gerhardt trat als Lehrling in ein Holzgeschäft in Olbersdorf ein. Nach beendeter Lehrzeit Angestellter und Leiter des Werkes in Fürnitz.


Friedrich Thomä 1881-1955

Ich bin geboren am 23.10.1881 in Destedt, erhielt die Namen Friedrich Albert Ludwig August. Friedrich ist ein alter Thomae’scher Vorname, Albert wurde ich nach meinem Patenonkel, Pastor Albert Wichamann, genannt, von dem ich auch zu Weihnachten 1895 eine Bibel erhielt, die Vornamen Ludwig und August kommen in der Thomae’schen Familie ebenfalls öfter vor. Wie ich schon früher erwähnte, erhielt ich den ersten Unterricht zusammen mit Fritz von Veltheim von Charlotte von Lengerke und Kantor Konrad, später von drei Hauslehrern, unter denen uns cand. theol. Friedrich Bard der liebste war. Als Vater 1894 im Januar nach Gevensleben verzog, wurde ich bis zu den Osterferien ganz bei Veltheims aufgenommen. Nach dem Ende der Osterferien kam ich nach Braunschweig in die Obertertia des Neuen Gymnasiums (jetzt Wilhelmsgymnasium). In Pension war ich bei Frau Weber, Bültenweg. Leider glaubte man auf dem Gymnasium von mir, dass ich eine ebensolche Leuchte wie Johannes wäre und war enttäuscht, dass das nicht der Fall war. Ich bin sehr ungern auf dem Gymnasium gewesen und habe stets nur soviel gearbeitet, dass ich nicht sitzen blieb, so dass ich noch ein Jahr länger auf der Schule hätte bleiben müssen. Allerdings waren die Lehrer auch nicht berühmt. Sehr unbeliebt war der Lateinlehrer in den höheren Klassen, Prof. Halme, genannt Austermann, weil er ungeniert in die Klasse zu spucken pflegte. Sehr gut war dagegen der Geschichtslehrer Prof. Klapp; da er mit seinen Vorträgen bis zum Abitur nicht bis in die neueste Zeit vorgedrungen war, baten wir ihn, uns nach dem Abitur noch über die neueste Zeit zu informieren, was er auch tat. Als aber andere Lehrer davon hörten, wollten sie auch Vorträge halten, sie waren neidisch! Da wir aber keinen Wert auf die anderen Lehrer legten, fiel die ganze Sache ins Wasser, ein Beispiel für die Mentalität mancher Lehrer! Sehr gut war auch der Mathematik- und Physiklehrer. Leider ist mir die Mathematik stets ein Buch mit sieben Siegeln gewesen; Gleichungen waren für mich ein Rätselraten. Physik habe ich dagegen Zeit meines Lebens geliebt. Trotz meiner geringen Vorliebe fürs Gymnasium habe ich ein gutes Abitur gemacht (1899). Im Frühjahr 1896 erhielt ich Konfirmandenunterricht von Pastor Brakebusch. Konfirmiert wurde ich von Vater am 12.4.1896 in der Kirche zu Gevensleben. Nach dem Abitur trat die Frage der Berufswahl an mich heran. Ich wäre gern Dipl. Ing. geworden, doch fehlte mir dafür die Mathematik. So entschloss ich mich, Medizin zu studieren. Ich danke es den Eltern, dass sie mir die Erlaubnis dazu gaben. Als Universität wählte ich Marburg. Ende April 1899 fuhr ich von Jerxheim aus IV. Klasse bis Kassel, von da III. Klasse im Schnellzug nach Marburg, wo ich bei der Verbindung Wingolf angemeldet war und am Bahnhof schon von Wingolfiten abgeholt wurde. Diese besorgten mir eine nette Wohnung auf halber Höhe des Berges, auf dem Marburg liegt, bei einer Familie Tschinkel: ein nettes Wohnzimmer mit einem kleinen Schlafzimmer für 80 M je Semester. Ich hatte einen herrlichen Anblick auf das Lahntal und das gegenüberliegende Spiegelslust, von dem ich schon früher gesprochen habe. Von den Universitätslehrern war der bedeutendste Geheimrat Gasser, der es verstand, das an sich sehr trockene Thema der Anatomie interessant zu gestalten. 7 Uhr früh war Botanik, die Prof. Arthur Meyer (genannt Aron) abhielt. Meistens haben wir dieses Kolleg geschwänzt, wie ich persönlich die ersten 3 Semester mich nicht besonders angestrengt habe. Marburg bot sehr viel Abwechslung. Das Verhältnis der Corporationen zueinander war gut. Alle 4 Wochen war Ball in den sog. Museumssälen, bei dem die Leitung zwischen den einzelnen Corporationen wechselte. Da ich schon im ersten Fuxsemester zum „Museumsdax“ bestimmt wurde, hatte ich einen solchen Ball zu leiten, also die Polonaise anzuführen, die Tänze zu bestimmen und die Francaise und Quadrille zu kommandieren, die damals noch stets getanzt wurden. Der Wingolf hatte ein zwar altes, aber sehr behagliches Haus auf der Lutherstraase, in dem die Verbindung gemeinsam zu Mittag ass. Das Haus hatte eine große Terrasse mit einer herrlichen Aussicht über das Lahntal bis in die Giessener Gegend und auf die jenseits der Lahn liegenden Höhen mit dem sog. Frauenberg, auf dem sich eine kleine Gaststätte befand. Nach einer ausgedehnten Kneipe sind mehrere Verbindungsbrüder und ich gegen vier Uhr früh einmal auf den Frauenberg gepilgert, wo uns in der Morgenkühle eine Tasse Kaffee sehr gut tat. In Marburg war es üblich, dass die Corporationen bei einzelnen Mädchenpensionen, deren es dort viele gab, verkehrten. Der Wingolf verkehrte bei der Pension der Frau von Lengerke, der Mutter von Charlotte v. Lengerke, und der Pension Zöckler auf dem Schlossberg. Man machte dort Besuch und tanzte auf den Museumsbällen besonders mit den jungen Damen der Pensionen. Ich interessierte mich besonders für ein Fräulein Helene Klapproth, das aus Hannover stammte. Fräulein Klapproth heiratete später einen Postrat Meyer in Bremen, dessen Tochter Paul Schmalenbach, ein Sohn meines Freundes, Pastor Paul Schmalenbach in Schalksmühle, heiratete. Frau Meyer besuchte später Schmalenbachs in Schalksmühle, und diese brachten sie eines Tages zu uns. Natürlich frischten wir beiden alte Marburger Erinnerungen auf.

Im letzten, vierten Marburger Semester habe ich fleißig gearbeitet, so dass ich das Physikum, die ärztliche Vorprüfung, im 1. Quartal 1901 mit „sehr gut“ bestand. Mir selbst erschien das fast unglaublich, so dass ich den Vorsitzenden der Prüfungskommission, Geheimrat Gasser, noch einmal um das Resultat bat, worauf dieser lächelnd sagte: „Ja, Herr Thomae, Sie haben mit „sehr gut“ bestanden“. Natürlich telegrafierte ich dieses Resultat sofort nach Hause und bat dann brieflich gleich um Einsendung von 80,- Mark; ich hatte nämlich die Wohnung für das letzte Semester noch nicht bezahlt. Ich bekam nur einen Wechsel von 100,- Mark monatlich, mit dem auszukommen sehr schwer war. Die meisten Verbindungsbrüder bekamen 12o Mark und mehr.

Im Sommersemester 1901, dem 1. klinischen Semester, ging ich nach Kiel, weil ich die See kennen lernen wollte. Es war herrlich dort. Zwar war meine Bude sehr wenig nett, aber das Wetter war schön, so dass man meist draußen war. Zwei Verbindungsbrüder des Kieler Wingolf, von denen der eine das Segelexamen bestanden hatte, und ich machten eines Tages eine Segelfahrt mit einem kleinen Segelboot, einer sog. Yawl, einem zweimastigen Sportsegelboot, bei dem der hintere kleinere Mast mit dem Treibersegel hinter der Ruderpinne (dem Hebelarm des Steuers) steht. In der Kieler Förde kamen wir nur sehr langsam voran, da wir Gegenwind hatten und mehrmals kreuzen mussten. Ausserhalb der Förde hatten wir dann guten Wind, sodass wir rasch voran kamen. Gegen Abend kamen wir in der Alsenaund, ankerten uad gingen auf die Insel Alsen, wo wir deren Hauptstadt Sonderburg besuchten, stiegen dann wieder ins Segelboot und ankerten an der Südapitze von Alsen. So gut es ging, versuchten wir zu schlafen. Als es dämmerte, segelten wir bald ab und bekamen dann in der freien Ostsee einen ausgezeichneten Fahrwind, sodass wir rasch voran kamen. Das Boot lag so schräg, dass wir dauernd Wasser übernahmen, was aber immer wieder abfloss. So landeten wir glücklich wieder im Kielerhafen, aber derartig verbrannt von der Sonne, dass wir tagelang darunter litten. Die Insel Alsen, die damals noch deutsch war, ist heute dänisch.

Von Kiel ging es nach Leipzig, wo ich in der Emilienstrasse, nicht weit von den Kliniken, eine gute Bude fand. Ein älterer Verbindungabruder – Friedel Kuhloler heiratete eine Alice-Charlotte Meyer und ließ sich später in Bethel bei Bielefeld nieder, wo er Anstaltszahnarzt wurde. Er bekam dadurch eine glänzende Praxis. Sowohl Friedel wie auch Lotte – sind schon seit langen Jahren tot – führten mich in eine Familie Meyer, die in Leipzig-Leutzsch wohnte ein. Woher er die Familie kannte, weiß ich nicht, jedenfalls heiratete er später die jüngste Tochter. Die Familie war sehr gastfrei, sodass ich eingeladen wurde, abends zum Essen zu kommen. Sonntags wurde ich immer schon zum Mittagessen eingeladen und konnte dann den ganzen Nachmittag und Abend dableiben, was meinem Wechsel natürlich sehr gut bekam. Bald interessierte ich mich für die zweite Tochter Melanie, die am 13.12.1879 geboren war. Nachdem ich das medizinische Staatsexamen am 01.03.1904 bestanden hatte, hielt ich bei ihrem Vater Oscar Meyer um ihre Hand an. So feierten wir fröhlich Verlobung und fuhren bald zusammen nach Gevensleben, wo ich Melanie den Eltern vorstellte. Am 23.11.1904 promovierte ich zum Dr. med. auf Grund einer Arbeit über ein Thema aus der Gynäkologie. Nach dem Staatsexamen wurde ich Assistent an der Privatfrauenklinik von Dr. Obermann, Leipzig, ging später ich an die städtische Frauenklinik Dresden, die unter Leitung von Geheimrat Leopold stand, und schließlich an das Ludwig-Wilhelm-Krankenhaus Karlsruhe (Baden), eine Frauenklinik, die von Dr. Kenckiser, einem ausgezeichneten Gynäkologen, geleitet wurde. Sie war gestiftet von der Großherzogin Luise von Baden zur Erinnerung am ihren verstorbenen Sohn Ludwig Wilhelm. Die Großherzogin war eine Tochter des alten Kaisers Wilhelm I.. Sie kam oft ins Ludwig-Wilhelm-Krankenhaus, ließ sich neue Assistenten vorstellen und erkundigte sieh nach ihren Familienverhältnissen so auch bei mir. Sie fuhr oft in einem kleinen Wagen durch die schönen Anlagen der Umgebung Karlsruhes, wo dann die Fußgänger stehen blieben und sie ergeben grüssten: tempi passati! Am 19.10.1905 starb Vater in der Privatklinik des Chirurgen Dr. Troje in Braunschweig. Da ich in Karlsruhe, trotzdem ich einziger Assistent war, nur freie Verpflegung und Wohnung, aber kein Gehalt erhielt – man sieht, wie damals die ärztliche Arbeit ausgenutzt wurde – blieb mir nichts anderes übrig, als die Stelle aufzugeben, was ich dann im Frühjahr 1906 tat. Melanie und ich heirateten am 02.06.1906, und zwar traute uns Johannes, der von seiner Reise nach Palästina zurück gekommen war, in der St. Matthäikirche in Leipzig.

Wir sind dann gleich nach Lüdenscheid gefahren, wo ich mich am 06.06.1906 als Frauenarzt niedergelassen habe. Wir wohnten damals zuerst Humboldtstrasse 14 in einer kleinen Wohnung. Operieren konnte ich zunächst im hiesigen Krankenhaus, dessen Chefarzt ein alter praktischer Arzt, Sanitätsrat Boecker, war. Die Asepsis war aber dort so schlecht, dass ich vor jeder Operation Angst hatte. Deshalb sah ich mich nach der Möglichkeit um, ein Haus zu mieten und dort eine Privatklinik einzurichten. 1908 bot sich mir die Gelegenheit das Haus Humboldtstraße 29 zu mieten, das mir für meine Zwecke geeignet erschien. Für die Aussteuer hatte mein Schwiegervater für jedes seiner Kinder ein gleich hohes Kapital ausgeworfen. Nachdem die Anschaffungen für die Aussteuer gemacht waren, blieb noch ein so hoher Betrag übrig, dass wir davon die notwendigen Anschaffungen für die Klinik einschließlich Betten, Sterilisationseinrichtungen etc. machen konnten. Natürlich geschah alles zunächst in einfachem Rahmen, aber Melanie mit ihrem praktischen Hausfrauensinn verstand es sehr gut, alles sauber, bequem und anheimelnd für die Kranken einzurichten. Bald kamen die ersten Patientinnen, und da mir die Operationen gelangen, hatte ich bald viel zu tun. Melanie kochte für die Kranken und half überall, wo sie konnte, mit. Am 29.04.1907 wurde uns das erste Kind, Liselotte Anna, geschenkt, am 5. Februar 1910 das zweite, Else Melanie. Mit Hilfe meines Schwiegervaters habe ich das Haus schließlich gekauft. Anfang 1910 bat mich ein junger Chirurg, der sich hier niederlassen wollte, Dr. Struck, bei mir operieren zu dürfen, was ich ihm gestattete. Im gleichen Jahre starb Sanitätsrat Boecker oder gab seine Praxis auf, jedenfalls bewarb sich Struck um die Stelle des Chirurgen am städtischen Krankenhaus und erhielt sie. Da er nicht gynäkologisch ausgebildet war, bat er mich, eine gynäkologisch-geburtshilfliche Abteilung einzurichten; das tat ich natürlich gern, behielt aber die Privatklinik bei, nahm dort aber nur Privatpatientinnen, später auch nur Entbindungen auf.  1913 erkrankte Melanie plötzlich an einer Bauchfellentzündung, deren Ursache nicht festgestellt werden konnte. Ich dachte zuerst an eine Vereiterung des Wurmfortsatzes, aber Struck, den ich bat zu operieren, konnte dieses nicht bestätigen, fand aber auch keine andere. Heute würde man die Erkrankung mit Penicillin und Sulfonamiden behandeln, aber diese Mittel gab es damals noch nicht, und so nahm das Unglück seinen Lauf: am 12.12.1913 starb Melanie, am Vorabend ihres 31.Geburtstages und hinterließ Liselotte, sechs Jahre alt, und Else, drei Jahre alt, ein entsetzlicher Schlag für die Kinder und für mich.

Ich war zunächst völlig ratlos. Die beiden Kinder versorgte zwar meine Schwester Marie-Luise. Für den Haushalt und die Küche musste ich Hilfskräfte engagieren, aber es dauerte lange, bis der Betrieb wieder einigermaßen lief. Dann kam der erste Weltkrieg, der zunächst wieder eine Stockung im Klinikbetrieb hervorrief. Nach einer Eheirrung, die mit Scheidung endete, lernte ich Anfang 1920 eine Künstlerin, eine Geigerin kennen, die ich für die Kunstgemeinde verpflichtet hatte. Durch den damaligen „Kapp-Putsch“ war sie gezwungen, über eine Woche bei uns zu wohnen, so dass wir uns näher kennen und lieben lernten. Am 19.04.1921 verlobten wir uns und heirateten am 18. August 1921, Kinder blieben uns leider versagt. Am 26.11.1946 erlitt ich infolge beruflicher Überanstrengung einen Schlaganfall. Glücklicher Weise blieb nur eine Gehbehinderung am linkem Unterschenkel und die Unmöglichkeit, mit der linken Hand eine Faust zu machen, sowie eine sog. Ataxie derselben zurück, eine Bewegungsstörung, die sich in mangelhafter Zielstrebigkeit äußert, zurück. Immerhin war ich dadurch gezwungen, mir für die Klinik und Praxis Vertreter zu nehmen, von denen der zweite, ein Dr. Keitel, die Absieht hat, die Klinik zu pachten. So stehe ich jetzt 1955, im 74.Lebensjahr am Ende eines tätigen, an Erfolgen, aber auch Enttäuschungen reichen Leben. Wie lange noch? Das weiß Gott allein!


Käthe Thomä 1885-1971

In der Reihe der Kinder folgt nun Katharina, genannt Käthe, geboren am 11.07.1885 in Destedt. Sie wurde von Fräulein von Gernet zusammen mit Elschen von Veltheim unterrichtet. Fräulein von Gernet stammte aus dem Baltenland, sie ist später in die Äussere Mission in Indien (Paul Gäbler hat sie gekannt) gegangen. Vom Jahr 1894 ab, als wir nach Gevensleben kamen, wurde sie zuerst in der Dorfschule unterrichtet (Kantor Hartmann oder Lehrer Isensee), und zwar im Rechnen, in den übrigen Fächern unterrichtete sie bis 1897 unsere Schwester Anna. Von 1897 ab übernahm unsere Schwester Else den Unterricht. Als Else 1900 heiratete, kam sie von Ostern 1900 bis Herbst 1902 in das Internat im Schloss in Wolfenbüttel. Sie wurde dann nervenkrank, weshalb sie zunächst in ein Sanatorium Friedensau, dann zu Prof. Damsch, Göttingen, und schließlich in die Prvatklinik von Dr. Loewenthal in Braunschweig kam. Nach ihrer Genesung besuchte sie die Kunstgewerbeschule in Braunschweig und ging 1908 auf die Akademie in Kassel, dort machte sie 1911 ihr Zeichen- und Turnlehrerinnenexamen. Ostern 1912 kam sie als Zeichen- und Turnlehrerin an das evangelische Lyzeum in Essen. Dort stand sie in regem Verkehr mit Dr. Baumann, jetzigem Obermedizinalrat i. R. 1922 musste sie die ihr so liebe Stelle in Essen aufgeben und nach Braunschweig übersiedeln, weil die Schwestern Anna und Marie Luise in der Inflation alles Kapital verloren hatten und sie nun mehr die einzige Verdienende war. In Braunschweig wurde sie wieder als Lehrerin angestellt, betätigte sich aber auch, besonders nach ihrer Pensionierung, in der Inneren und Äußeren Mission, sie singt noch heute im Hilfschor der Oper mit und hilft dem Leiter des Schulbüros.


Liel Thomä geb. 1891

Johannes, Käthe und ich sind bis heute, Mai 1955, von sieben Geschwistern die drei Zurückgebliebenen, denn unsere jüngste Schwester Marie-Luise, genannt Liel, geboren 27.12.1891 in Destedt, starb am 27.01.1943. Sie wurde in Gevensleben von Eugenie Zöckler aus Marburg unterrichtet, besuchte dann drei Jahre das Lyzeum in Braunschweig und kam danach ein Jahr nach Marburg zu Zöcklers in Pension. 1912 besuchte sie das Fürsorgerinnenseminar in Hannover, ging dann, als Johannes Feldprediger war, zu Mary nach Witten. Nach dem Tode Melanies half sie mir von 1913 bis 1915 in der Klinik, wirkte dann einige Zeit in Wolfenbüttel als Fürsorgerin. Etwa ein halbes oder ein Jahr machte sie in Berlin einen Fortbildungskurs mit und machte dann in der Braunschweiger Kinderheilanstalt das Examen für Säuglingsfürsorgerinnen. Da sie an einem Kropfleiden erkrankt war, konnte sie als Säuglingsfürsorgerin nur bis zu ihrer 1921 erfolgten ersten Operation arbeiten. Ab 1922 arbeitete sie als Büroschwester in der Kinderheilanstalt in Braunschweig. Die Arme musste dann noch zwei Operationen durchmachen (wegen ihres Kropfes), die dritte nahm Prof. Wrede am Landeskrankenhaus in Braunschweig vor. Sie lebte noch bis 1943, d.h. eigentlich siechte sie so dahin, aber immer geduldig. Endlich musste sie im Januar 1943 wieder ins Landeskrankenhaus gebracht werden, wo sie nur vom 25. bis 27. war und an diesem Tage starb. Die dortige Oberin sagte damals, sie sei ausgelöscht wie ein Licht! Sanft und geduldig, wie sie immer war.

Damit beendige ich vorläufig die Geschichte der Familie Thomae am 12. Mai 1955!


Familie Koch

Carl Friedrich Ludwig Thomä (genannt Fritz) Sohn des Johannes Friedrich, geb. 31.3.1802, gest. 16.6.1856, heiratete dreimal.

  1. Albertine Luise Wandebrug,
  2. am 15.07.1834 Julie Auguste Koch (Mutter von Hans Thomä), geb. 23.1.1812, gest. 18.01.1847, Tochter von Luise Thomae, geb. 28.7.1808 in Stolzenau, verh. 1850, Schwester von Karoline Wagner, geb. Meyer,
  3. Elise geb. Meyer. Karoline Wagner war die Mutter von Elisabeth Wagner.

Johann Friedrichs Tochter Luise, geb. 21.04.1790 in Scheppau, gest. 1837, heiratete 1808 Wilhelm August Christian Koch, gest. 1837, Polizeikommissar in Wolfenbüttel, später Justizamtmann in Königslutter und Braunschweig, zuletzt Kreisdirektor in Braunschweig. Er hatte sieben Kinder.

  1. Julie Auguste, geb. 23.01.1812, gest. 18.01.1847, verheiratet mit Fritz Thomae, Pastor in Eilum.
  2. Wilhelm,
  3. Auguste, gest.1893,
  4. Johann gest. 1891,
  5. Luise (genannt Wieschen), gest. 31.12.1895,
  6. Minna, 1855 verbrannt,
  7. Karoline (Linchen), geb. 03.04.1832.

Linchen, Wieschen und Auguste Koch berichten Vater einmal, dass Willi Koch „nun endlich“ Lieutnant geworden sei. Er muss faul und leichtsinnig gewesen sein, denn 1885 hatte er solche Schulden gemacht, dass er sein Geschäft aufgeben musste. Tante Sophie schrieb damals, dass den Gläubigern 5o% angeboten worden seien, Willi aber verschwand plötzlich nach Singapur. Verheiratet war er mit Elise geb. Grahe. Als ich in Braunschweig zum Neuen (späteren Wilhelms-) Gymnasium ging, war er zurückgekommen und wohnte am Theaterwall. Wenn ich zum Gymnasium ging, kam ich dort vorbei, besuchte ihn auch gelegentlich. Er schrieb damals wohl an seinen Erinnerungen. Dabei war er sehr nervös und aufgeregt und wenig nett zu seiner Frau Elise.

Luise Koch war die Tochter von Doris geb. Flotow und Wilhelm Koch, der 1812 geboren und zuletzt Oberrentmeister an der Eisenbahn war. Sie war Sängerin und wurde als solche Ise genannt. Sie sang schon in Deutschland mit Erfolg große Operpartien. So schreibt Tante Auguste Koch am 23.06.1873, dass sie als Fides im Propheten großen Beifall gefunden habe. Später heiratete sie den Sänger de Negri. 1902 starb sie in New York.


Luise Stade

Im Fremdenbuch wird 1890 und 1893 Luise Stade erwähnt. Vater war ein sehr entfernter Neffe von ihr. Woher die Verwandtschaft stammt, weiß ich nicht. Vermutlich über P. Meyer, Salzhausen bei Lüneburg.


Friedrich Thomä 70 Jahre alt

Ein Leben im Dienst am Leben. Am 23. Oktober wird Dr. med. Friedrich Thomä 70 Jahre alt – Vier Jahrzehnte rastloser Arbeit im Spiegel der Zeit.

Lüdenscheider Nachrichten vom 20.10.1951 (Dr. Eb.)

Die Tatsache, dass ein Mensch altert, ist an sich nicht weiter erwähnenswert, sie stellt das Natürlichste von der Welt dar. Es müssen deshalb Wirken und Wirkung innerhalb der gelebten Zeitspanne bemerkenswert sein, um, über den Familien- und Freundeskreis hinaus, die öffentliche Beachtung eines Geburtstages zu rechtfertigen. Wir glauben; dass diese Voraussetzung auf Dr. Friedrich Thomä zutrifft, denn nicht nur als Frauenarzt und langjähriger Leiter der gynäkologischen Station des Städtischen Krankenhauses, hat sich dieser Mann um seine Wahlheimat verdient gemacht, sondern auch als Stadtverordneter und durch nachhaltige Förderung des künsterlischen und kulturellen Lebens unserer Stadt.

Am 23. Oktober 1881 wurde Fritz Thomä als Sohn eines evangelischen Pfarrers in Destedt in Braunschweig geboren. Die Pfarrei war eine Patronenstelle, Patron war der Baron von Veltheim. Mit dessen Sohn zusammen wurde der Pfarrerssohn erzogen, eine sorgfältige Erziehung durch Hauslehrer. (Dem Jugendgespielen konnte Fritz Thomä am 5. Sept. dieses Jahres seinerseits zum 70sten gratulieren). Es folgten die medizinischen Studienjahre in Marburg, Kiel and Leipzig vom 1898 bis 1903 anschließend, bis 1906, die fachärztliche Ausbildung in Leipzig, an der städtischen Frauenklinik in Dresden sowie in Karlsruhe.

In Leipzig war Thomä bereits als Student Mitglied des Chors im Riedelverein geworden, eifrig sang er in dem großen Konzerten mit und nahm auch an den Gastspielreisen des Chors und Orchesters teil, deren eine in das vom deutsch-tschechischen Nationalitätenstreit ergriffene Prag führte. Eine nicht endenwollende Begeisterung dankte den deutschen Musikern nach der triumphalen Aufführung der neunten Symphonie – für den jungen Thomä eine seiner schönsten Erinnerungen!

1881-1996: Das deutsche Kaiserreich erfreut sich des durch Bismarck begründeten Friedens. Wirtschaft1ich geht es unaufhaltsam bergauf. 1888 ist Wilhelm II. Kaiser geworden, er führt ein Regiment, dessen Glanz die Spannungen im Innern und Äußeren überdeckt: Aufkommen des vom Marxismus geführten 4. Standes, Entlassung Bismarcks (1890), Nichterneuerung das Rückversicherungsvertrages mit Russland, Bildung dar Entente cordiale zwischen Frankreich und England (1904). Der einzelne Bürger aber kann sich geborgen fühlen, studieren, seine Berufswahl treffen, eine Familie gründen.

Das tut auch unser Jubilar, er heiratete 1906 eine Leipzigerin und sah sich dann auf den Rat seines Schwiegervaters, eines Fabrikanten, „im Westen“ nach der Möglichkeit um, sich als Frauenarzt niederzulassen. Die Wahl fiel zunächst auf Iserlohn, aber dort war ihm ein Kollege gerade zuvorgekommen. Se fuhr er weiter nach Lüdenscheid und fand, dass es sich hier leben lassen würde! Thomä erwarb ein Haus in der Humboldtstraße, das er im Laufe der Jahre ausbaute und modernisierte und in dem sich so bis zum heutigem Tage die Privatklinik befindet (man konnte damals von der Privatpatientenpraxis leben. Bald hatten sich das Können und die Zuverlässigkeit des neuen Doktors in der Frauenwelt Lüdenscheids herumgesprochen, um seinem jugendlichen Aussehen eine würdigere Note zu verleihen, ließ sich der 25-jährige einen Bart wachsen! Im Jahre 1910 holte sich der Chefarzt des Städt. Krankenhauses Dr. Struck, den fähigen Kollegen zur Gründung einer gynäkologischen Station. Thomä behielt daneben seine Privatklinik, und mehr als drei Jahrzehnte ist er täglich zwischen Humboldt- und Philippstraße seinen ärztlichen Pflichten nachgegangen, unermüdlich, ungezählte Male nach harter Tagesarbeit auch nachts, sich so allmählich aufreibend im Dienst am Leben.

1906-1914: In der großen Politik spitzen sieh die Dinge über Algeciraskrise, Casablanca-Zwischenfall, 1., 2. und 3. Balkankrieg und der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Serajewo zum Ansbruch des 1. Weltkrieges zu. – Lüdenscheid hat damals 25.000 Einwohner. Bei den Reichtagswahlen 1906 erringt die Sozialdemokratie im Wahlkreis Lüdenscheid-Iserlohn erstmalig die Mehrheit. 1907 erhält die Stadt ihr erstes Kino, das „Centraltheater“, 1909 wird das Parkhaus fertig, 1910 das neue Amtshaus, 1912 das Altersheim für Frauen am Breitenloh. Im großen Krieg von 1914-1918 fallen von rund 6.000 Lüdenscheider Kriegsteilnehmern 910 vor dem Feind, rund 100 Sterbender werden vermisst, 517 geraten in Kriegsgefangenschaft, aus der der letzte 1921 zurückkehrt.

In diesem Jahr gründete Dr. Thomä, der während des ganzen Krieges, als unabkömmlich reklamiert, seinen Dienst am Ort versehen hatte, die Kunstgemeinde. Schon bald, nachdem er sich hier niedergelassen hatte, war Thomä dem von Franz Louwerse geleiteten Musikverein beigetreten und hatte in dessen Chor mitgewirkt. Seine Liebe zur Kunst, vor allem zur Musik, ließ ihn nun die Initiative ergreifen, um das Kunstleben der Stadt auf eine breitere Basis zu stellen. Als „Vergnügungsdirektor“ der „Concordia“ hatte er bereits manches Konzert arrangiert und dabei u.a. die junge Geigerin Steffi Koschate verpflichtet, die dann, nach dem schon vor Jahren erfolgten Tode der ersten Lebensgefährtin, seine Frau wurde.

Als Zweck der Kunstgemeinde wurde statutengemäß festgesetzt, „das gesamte Kunstleben der Stadt zusammenzufassen und zu fördern“. Sie hat unter Thomäs tatkräftiger Leitung bis zum Jahre 1933 bestanden und in diesen 12 Jahren insgesamt 157 Veranstaltungen gebracht, darunter 63 Konzerte, 53 Theateraufführungen, 27 Vorträge, 8 Tanzabende, 8 Kunstausstellungen, 5 Qpern.

In ihren besten Jahren zählte die Kunstgemeinde 1.200 Mitglieder, bis 1925 erhielt sie keinerlei öffentliche Zuschüsse, so dass die Vorstandsmitglieder und ihre Helfer so viele Arbeiten wie möglich selber verrichteten, z.B. im Erholungssaal vor jeder Vorstellung die Stuhlreihen aufstellten, die Sitze nummerierten. Von bekannten Namen, die bei den Veranstaltungen auftraten, seien nur einige genannt: Merz-Trummer, Roswaenge, Brodersen, Adolf Busch, Frederic Lamond, Elly Ney, Jasef Pembaur, Hindemith, Prizca, Wendlimg, Braunfels, Abendroth, Ludwig Wüllner, Börries v. Münchhausen, Thomas Mann, Julius Bab. In Sonntagmatineen wurde ferner auch der moderne Film mit auserlesenen Werken zur Diskussion gestellt.

1919-1933; Während der Weimarer Republik unter der politischen Führung von Männern wie Ebert, Wirth, Stresemann, Hindenburg, Brüning wurde langsam und mühselig Deutschland, nach dam Versailler Diktatfrieden, wieder eine gleichberechtigte Stellung im Konzert dar Volker zu erarbeiten versucht, steht das geistige Leben im Zeichen Zeichen lebhafter Impulse. Der Expressionismus erobert sich seinen Platz, es wird, vor allem in Berlin, ausgezeichnet Theater gespielt, die Literatur ist interessant und voll anregender Problematik, als neue die Massen beeinflussende Faktoren treten Rundfunk und Film auf. Von der Psychoanalyse bis zum Sport befindet sich alles in lebhafter Bewegung. – 1921 Rapallo (Vertrag mit Russland) und 1925 Locarno sind Etappen im deutschen Aufstieg. – In Lüdenscheid vollzieht sich der Umschwung von der monarchistischen zur demokratischen Lebensform im großen und ganzen ruhig. Im Vordergrund steht der wirtschaftliche Wiederaufbau. Die Volkszählung von 1925 ergibt 32.758 Einwohner mit rund 9.000 Haushalten. Trotz aller Schwierigkeiten wird viel gebaut, vor allem Wohnungen, bis dann die steigende Wirtschaftskrise (1932 rund 4.400 Arbeitslose) der Stillstand bringt. 1924 wird die sozialdemokratische Mehrheit der ersten demokratischen Stadtverordnetenversammlung von 1919 durch eine bürgerliche abgelöst.

Mit ihr zog auch Dr. Thomä, als Kandidat der Deutschen Volkspartei, der Partei Gustav Stresemanns, in das Rathaus ein. Oft kam es zu streitbaren Sitzungen, Thomä war aktiv und blieb auch die Antwort nicht schuldig, aber Stadtverordnetenvorsteher Theodor Schulte, seit 1901 im Stadtparlament tätig, glättete die Wogen. (Wenn sie einmal allzu hoch gegangen waren, ließ er einen Zettel von Bank zu Bank kursieren: „Nachher bei Panne …“).

Der Stadtverordnete Thomä führte 1925 den einstimmigen Beschluss herbei, der Kunstgemeinde jährlich 50.000 Mark aus städtischen Mitteln zur Verfügung zu stellen. Als Mitglied des Schulausschusses war er 1926 der Initiator des Beschlusses, die Mädchenschule an der Sauerfelder Straße durch die „Aufstockung“ der drei Oberklassen zur Mädchenoberschule fortzuentwickeln, wodurch die Töchter der Stadt ihr Abitur nun nicht mehr auswärts zu machen brauchten. 1928 nahm er den Ausbau der modernen Kreisstation im Neubau des Städt. Krankenhauses vor und richtete 1929 die Abteilung für moderne Röntgentiefentherapie ein (und 1939 durch den Ankauf von 100 mg Radium die seitdem unschätzbare Dienste leitende Radium-Station).

1933-1946: Diese Zeitspanne ist noch gut in aller Erinnerung, als dass sie hier selbst stichwortartig aufgerufen zu werden braucht. Lüdenscheids Einwohnerzahl hat sich seit 1906 auf 52.000 erhöht, also verdoppelt und statt eines Frauenarztes praktizieren heute vier.

1933 aus dem Stadtparlament ausscheidend, 1934 den Vorsitz in der Kunstgemeinde niederlegend, hat Dr. Thomä seitdem nur noch seinen ärztlichen Pflichten gelebt und dies bis zur völligen Erschöpfung. Auch im letzten Krieg arbeitete er ohne einen Tag Unterbrechung im Krankenhaus und Klinik, die Mangelzeit nach 1945 tat das übrige, im November 1946 brach der Rastlose zusammen. Langsam nur konnte er sich erholen, doch heute fesselt er den Besucher wieder durch reges geistiges Interesse, durch seine lebendige Anteilnahme an allen Dingen der Politik und der Kunst und durch seine in einem langen tätigen Leben herangereifte unbestechliche Urteilskraft.


Begleitschreiben

Lüdenscheid, im Juli 1955

Liebe Familienmitglieder!

Anliegend sende ich Euch

  1. eine Geschichte der Familie Thomae,

  2. eine Geschichte der Familie Oldekop.

Beide habe ich in jahrelanger mühevoller, aber auch interessanter Arbeit verfasst. Von 1934 bis 1938 hat Bürgermeister a.D. Bodo, Harsburg, wertvolle Vorarbeiten geleistet, mit denen ich ihn beauftragt hatte, da ich damals aus beruflichen Gründen keine Zeit dazu hatte, hin- und her zu reisen, um die verschiedenen Archive aufzusuchen. Natürlich habe ich ihn honorieren müssen? von Oktober 34 bis Dezember 38 hat er 705,70 RM = 70,57 DM erhalten. Die Vervielfältigung in Maschinenschrift kostet 75,- DM. Der Druck hätte unvergleichlich viel mehr gekostet. Briefumschläge und Verschiedenes 10,- DM. Porti mit Einschreiben 5 mal 9o Pf = 4,5o DM (für Ev nimmt Moni Wulff, die jetzt hier ist, alles mit; für Liselotte, die ich ab 10.8. in Lachen besuche, nehme ich alles mit; Käthe war schon hier, kommt aber noch mal her), Gesamtsumme also 160,07 DM. Auf jedes Familienmitglied entfallen also 17,80 DM, die ich mir ab September, wo ich wieder zurück bin, durch Postanweisung oder Zahlkarte zu schicken bitte. Wer von Euch nicht in der Lage ist, den ganzen Betrag auf einmal zu überweisen, kann auch in Raten zahlen. Dass ich mich an der Tragung der Kosten nicht beteilige, werdet Ihr verstehen: ich habe schließlich die gesamte Verfasserarbeit in unzähligen Stunden geleistet.

Ich hoffe, dass Euch die Familiengeschichten erfreuen und befriedigen und grüsse Euch alle, auch im Auftrage von Steffi, herzlich!

Euer Vater, Bruder und Onkel Dr. med. Friedrich Thomä


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