Dez 062013
 

Die nichttheologischen Faktoren in ihrer Bedeutung für Wesen und Gestalt der Jungen Kirchen

Von Paul Gäbler

Evangelische Theologie, München, Nov. 1956, Seite 504 bis 520

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Die Probleme, mit denen die Jungen Kirchen zu ringen haben, sind ungemein vielschichtig. Es besteht kein Zweifel, dass die Fragen, die es mit ausgesprochen theologischen Faktoren zu tun haben, wie etwa mit der Verkündigung des Evangeliums, der Verwaltung der Sakramente, dem kirchlichen Bekenntnis usf., von geradezu entscheidender Bedeutung sind. Die Erfahrung hat gezeigt, dass nun aber auch eine Reihe von Problemen, die es mit sogenannten nichttheologischen Faktoren zu tun haben, ebenfalls für Wesen und Gestalt einer Kirche überaus bedeutungsvoll werden können. Es liegt deshalb genug Grund vor, einmal der letztgenannten Problematik ins Auge zu sehen. Das soll in der Weise geschehen, dass wir zunächst einiges Grundlegende zur Problematik der nichttheologischen Faktoren zu sagen versuchen und dann diesen Problemen im Raum der Jungen Kirchen nachgehen. Vielleicht, dass dabei aus der Sicht der Jungen Kirchen auch Licht auf Fragen dieser Art in unseren abendländischen Kirchen fällt.

I.

1. Grundsätzliches

Wir beginnen mit einer kurzen Besinnung auf die Problematik, mit der wir es hier zu tun haben, und schließen dann gleich eine kritische Überlegung daran an.

1. Frage nach den nichttheologischen Faktoren ist bei der Begegnung der verschiedenen Kirchen und Konfessionen, also im Rahmen der  ökumenischen Bewegung, entstanden. Bei diesen inter-konfessionellen Gesprächen, in denen es um das Selbstverständnis der eigenen Kirche wie auch um das Verständnis der anderen Kirche bzw. Kirchen ging, kam man zu der Einsicht, dass Wesen und Gestalt der einzelnen Kirche nicht nur von Schrift und Bekenntnis her bestimmt und geprägt sind, also von theologischen Faktoren, sondern nicht minder auch von nichttheologischen Faktoren. Dabei machte man die Erfahrung, dass auch diese sehr sorgfältig ins Auge gefasst werden müssen, wenn man nicht hoffnungslos  aneinander vorbeireden will, und zwar weniger um ihres empirischen, als vielmehr um ihres funktionalen Charakters willen.

Ein Beispiel mag dies veranschaulichen. Angenommen, es handelt sich bei solch einem Gespräch um das Problem des Staates. Was ist dabei zu beachten? Eine Kirche innerhalb eines totalitären Staates wird a priori über den Staat anders zu urteilen geneigt sein als eine Kirche innerhalb einer freien Demokratie. Ja, mehr noch: Was die Glieder einer Kirche im Verlauf  eines Jahrzehntes  oder einiger Jahrhunderte von Seiten des Staates erlebt haben, kann gar nicht spurlos an ihnen vorübergegangen sein, sondern hat sie, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht, irgendwie – um es objektiv auszudrücken – geprägt bzw. – wenn man es subjektiv sagen will – voreingenommen gemacht. Demnach wäre also der Staat solch ein nichttheologischer Faktor, der wegen seines funktionalen Charakters leicht bestimmte Vorgegebenheiten (wenn nicht Vorurteile) schafft und deshalb beim ökumenischen Gespräch wie auch sonst sorgfältiger Beachtung bedarf.

2. Nun ist allerdings zu fragen, wie weit man überhaupt von nichttheologischen Faktoren reden darf. Bleiben wir bei der Frage des Staates. Sie hat zweifellos, wie wir gesehen haben, einen nichttheologischen Aspekt. Aber hat sie nicht auch einen eminent theologischen Aspekt? Es ist nicht gleichgültig, ob ich, wenn unter einem totalitären Regime stehend, ein russisch-orthodoxer Christ bin oder ein Calvinist oder ein Lutheraner. Und wenn einer ein Lutheraner ist, so ist es noch nicht ausgemacht, dass er sich dann auch auf die Seite etwa der Bekennenden Kirche stellt und sich ihre Beurteilung des Staates und seiner Autorität zu eigen macht. Das hängt gewiss  auch von nichttheologischen Faktoren ab; aber sind nicht zuletzt theologische Faktoren entscheidend? So entsteht die prinzipielle Frage, was für Dinge überhaupt in den Bereich der nichttheologischen Thematik fallen. Kurt Dietrich Schmidt sagt deshalb nicht ganz ohne Recht: „Ob auch die ethischen Fragen …, die verschiedene Stellung zum Staat etwa, zum Krieg oder zu sozialen Doktrinen als  nichttheologisch angesprochen werden können, ist mir fraglich …“, und fügt hinzu, dass eine systematische Klärung des nicht scharf umrissenen Begriffes „nichttheologischer Faktor“ wünschenswert wäre [1]. Ich selbst möchte meinen dass solch eine klare begriffliche Scheidung im Grunde gar nicht möglich, ist. Denn es gibt keinen Lebensbereich und keine Gegebenheit die nicht unter den Herrschaftsanspruch Gottes fällt und von da aus letztlich eine theologische Dignität erhält. Ein rechter Christ wird nun einmal beispielsweise zum Geld oder zum Staat oder zur Arbeit eine andere Stellung einnehmen als ein säkularer Mensch oder ein Angehöriger einer anderen Religion. Gewiß werden wahrscheinlich selbst verschiedene Christen bei ihrer Einstellung zu den genannten Dingen divergieren; aber sie sollten darin übereinstimmen dass diese in die Bezogenheit zu Gott gestellt werden müssen.

Um der Sauberkeit des Sprachgebrauches willen könnte es demnach ratsam erscheinen, lieber allgemein von „vergessenen Faktoren“ zu reden, wie das hier und da geschieht. Aber da sich nun einmal der Terminus „nichttheologische Faktoren“ eingebürgert hat, wollen wir es dabei sein Bewenden haben lassen, aber stets im Auge behalten, dass ebenso wie theologische Faktoren einen nichttheologischen Aspekt haben können, so auch nichttheologische Faktoren einen theologischen Aspekt.

2. Geschichtliches

Die Stelle, an der man sich wohl am intensivsten mit den Fragen der Kirchentrennungen und Kirchenvereinigungen befasst hat, ist die Bewegung für Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order). So ist es kein Wunder, dass, soviel ich übersehen kann, zum ersten Male in ihrem Rahmen neben den theologischen Faktoren die Bedeutung sozialer, wirtschaftlicher, politischer und anderer sogenannter nichttheologischer Faktoren bedacht worden ist. Bei der ersten Weltkonferenz in Lausanne 1927 wurde diese Problematik „kaum eben erwähnt“ [2]. Auf der zweiten Weltkonferenz in Edinburgh 1937 legte ein nordamerikanischer Ausschuss ein ganzes Heft vor, das die Bedeutung der nichttheologischen Faktoren hinsichtlich der Fragen der Kirchenvereinigung zum Gegenstand hatte [3]. Dieser Bericht wurde aber von der Konferenz nicht weiter behandelt. Anlässlich der Tagung des Ausschusses in Chichester 1949 wurde diese ganze Frage erneut von dem englischen Neutestamentler C. H. Dodd aufgeriffen [4]. Erst bei der Vorbereitung der Konferenz in Lund 1952 fand dieses Thema entsprechende Beachtung. Bereits im November 1951 wurde eine Arbeitsgruppe in das Ökumenische Institut zu Bossey einberufen, die einen Bericht unter dem Titel „Die Bedeutung sozialer und kultureller Faktoren für die Kirchenspaltung“ erarbeitete [5]. Während der Konferenz in Lund fand die Angelegenheit in Prof. Hromádka-Prag [6] einen so beredten Anwalt, dass Landesbischof D. Lilje bei seiner kritischen Analyse dieser Konferenz in einem Aufsatz erklärte: „Ein Beweis für den theologischen Hang der Tagung war die Tatsache, dass diese sorgfältige gedankliche Arbeit auch in neue Fragenkreise vorstieß. Hier sind vor allem zwei wesentliche Themen zu nennen. Das erste Thema betraf die Formen des Gottesdienstes … Die zweite wichtige Frage betrifft die nichttheologischen Faktoren, die innerhalb der verschiedenen kirchlichen Traditionen Bedeutung haben …“ [7]. Nachdem die Konferenz die Wichtigkeit dieses Anliegens erkannt hatte, erteilte sie jeder ihrer fünf Sektionen den Auftrag, bei ihren Arbeiten den Einfluss dieser Faktoren mit in Rechnung zu stellen. Das ist dann tatsächlich geschehen und hat in mehreren Sektionsberichten auch einen sichtbaren Niederschlag gefunden [8]. Es sollte übrigens erwähnt werden, dass beispielsweise auch in dem der Lunder Konferenz vorgelegten vorbereitenden Bericht der theologischen Kommission über die Kirche [9] der Besinnung auf die „nichttheologischen Ursachen der Trennung der Christen“ eingehende Erörterungen gewidmet sind [10]. Schließlich sei noch hingewiesen auf die Veröffentlichung von Hans Heinrich Harms „Bekenntnis und Kircheneinheit bei den Jungen Kirchen“ [11], wo ebenfalls auf diese Faktoren eingegangen wird [12].

II.

Wenn Landesbischof Lilje sagt: „Unsere gesamte Verkündigung muss sich daraufhin kritisch prüfen lassen, wieweit unser theologisches Denken, unser Christusbekenntnis, unsere kirchlichen Entscheidungen von bewussten oder unbewussten politischen, sozialen und kulturellen Einflüssen durchsetzt sind“ [13], so ist damit eine Aufgabe umrissen, die noch kaum in Angriff genommen ist. Es ergibt sich damit eine breite Thematik. Zu ihrer Veranschaulichung seien die zwölf Punkte genannt, die der oben erwähnte Kommissionsbericht für Edinburgh 1937 herausgreift und kurz umreißt: der Staat, die Geschichte, gegenwärtiges Geschehen, der Nationalismus die Rasse, die Sprache, die Klasse, Spielarten ethischen Urteils, die kleine Kirche, der Sektengeist, materielle Interessen, Unterschiede der Erziehung und des Verhaltens zu Kunst und Wissenschaft. Und dabei erhebt diese Aufzählung keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit.

Wir selbst wollen uns, wenn wir nun den Blick auf die Jungen Kirchen richten, auf drei Themenkreise beschränken:

1. Staat, Politik, Geschichte

Als Ausgangspunkt nehmen wir – und es sei mir verziehen, wenn wir eben noch einen Augenblick bei den uns vertrauten Verhältnissen Deutschlands bleiben – einen Beitrag von Kurt Dietrich Schmidt, in dem er unter der Überschrift „Die konfessionelle Gestaltung Deutschlands. Nichttheologische Faktoren bei Separationen und kirchlichen Zusammenschlüssen“ [14] in einem knappen Aufriss die Entstehung und Entwicklung der protestantischen Kirchen von Luther bis zur Gegenwart unter dem Gesichtspunkt der dabei einwirkenden theologischen wie nichttheologischen Faktoren zeichnet. Aus seiner abschließenden Zusammenfassung zitiere ich nur wenige Sätze: „a) Die Urspaltung der deutschen evangelischen Christenheit (scil. in Lutheraner, Zwinglianer und Calvinisten) ist theologisch bedingt … b) Nichttheologische, nämlich dynastisch-politische Faktoren, haben bei der Gestaltung des deutschen evangelischen Kirchentums eine vielfach entscheidende Rolle gespielt, fördernd und hemmend, trennend und vereinigend. Aber sie haben den hauptsächlichen Konfessionsunterschied nicht begründet, und auch nicht sie, sondern primär die Theologie der Er-weckungszeit hat ihn aufrechterhalten …“

In diesem Zusammenhang erinnert Schmidt an einen folgenschweren nichttheologischen Faktor, an das „cuius regio, eius religio“. Bemerkenswerterweise spielt dieser Faktor auch in den Jungen Kirchen, wenn auch in anderem Sinne, eine Rolle. Wie Hans Heinrich Harms berichtet, erzählte der inzwischen verstorbene Bischof Azariah von Dornakal, Indien, von einem seiner indischen Freunde, „der von sich bekannt hatte, er sei Baptist aus geographischen, nicht aus theologischen Gründen, weil sein Heimatgebiet nun einmal von Baptisten und nicht von Lutheranern, Anglikanern oder einer anderen Kirchengemeinschaft christianisiert worden sei“ [15].  Sachlich das gleiche kann man auch sonst von Christen der Jungen Kirchen hören. Solange es die Jungen Christen bei dieser empirischen Feststellung bewenden lassen, kann man mit einem Lächeln darüber hinweggehen. Wie aber, wenn dieser nichttheologische Faktor plötzlich eine funktionale Bedeutung bekommt? Harms weist nämlich mit Recht darauf hin, dass viele dieser Jungen Christen auf Grund dieses historischen Faktums von vornherein zu einer positiven Einstellung gegenüber Unionsplänen neigen, weil sie wissen: „Das, was zerbrochen ist, ist allermeist nicht bei ihnen zerbrochen“ [16]. Freilich muss sofort hinzugefügt werden, dass es unter den Gliedern der Jungen Kirchen natürlich auch solche gibt, die umgekehrt zu einer inneren Bejahung ihrer Konfession kommen und von vornherein Bedenken gegen eine Union haben. Dabei können ihnen entweder theologische Gründe ausschlaggebend sein, etwa in dem Sinne, dass sie die Überzeugung gewonnen haben, in ihrer Konfession werde das Evangelium reiner als anderswo verkündet, oder nichttheologische Gründe, wie etwa Anhänglichkeit an ihre geistlichen Väter und deren Kirche. Es können ebenso gut beide Arten von Faktoren für sie eine Rolle spielen. Und falls sie Führernaturen sind, kann ihr Einfluss bestimmend für Wesen und Gestalt der werdenden Jungen Kirche sein. –

Ein Beispiel für das unmittelbare Einwirken des Staates auf eine Gruppe von Jungen Kirchen bietet Japan, wovon nun kurz die Rede sein soll [17]. Im Jahre 1940 erließ die japanische Regierung ein Reichsgesetz, durch das sie neben dem Shintoismus und Buddhismus auch das Christentum zu einer öffentlich anerkannten Religion machte und es damit zugleich unter ihren Schutz stellte. Aber es lag wenig Anlass vor, darüber zu frohlocken. Denn alsbald forderte General Tojo, der Ministerpräsident des damaligen Regimes, unmissverständlich den sofortigen Zusammenschluss der protestantischen Kirchen (1938 gab es 68 Organisationen mit etwa 200.000 Christen); denn er wünschte einerseits aus verwaltungstechnischen Gründen, als Gegenüber des Staates nur eine einzige Instanz zu haben, und verband damit andrerseits die Hoffnung, er würde mit ihr ein leichtes Spiel haben. Tatsächlich fügten sich sämtliche protestantischen Kirchenkörper bis auf die Siebentags-Adventisten, die sich infolgedessen auflösen mussten. Sie schlössen sich am 24. Juni 1941 zum „Nippon Kirisuto Kyodan“, der „Kirche Christi in Japan“, zusammen. Dazu gehörten auch die Lutheraner. Übrigens blieb ein Teil der Anglikaner ebenfalls außerhalb, von denen eine Sektion, die sog. „Heiligkeitskirche“, die zunächst ein- und bald darauf wieder austrat, wegen gewisser eschatologischer Lehren blutige Verfolgungen durch den Staat erduldete. Nun hatten freilich während der vorhergehenden fünfzehn Jahre viele Unionsgespräche stattgefunden, zu denen unter der Leitung des Nationalen Christenrates fast alle Denominationen herangezogen worden waren. Während jedoch die Anglikaner wegen ihres Festhaltens am historischen Episkopat die Lutheraner um ihres Bekenntnisses willen und die Baptisten aus Gründen einer Selbstkonsolidierung sich schließlich ablehnend verhalten hatten, waren andere Kirchen, vor allem die Methodisten Kongregationalisten und die Vereinigten Brüder grundsätzlich für eine Unionskirche. So brachte die vom Staat erzwungene Union den letzteren die Erfüllung langgehegter Wünsche. Aber für die erstgenannten Gruppen mag es viel innere Kämpfe und Gewissensskrupel bedeutet haben. Es stünde uns schlecht an, nachträglich vom sicheren Port aus die Männer zu kritisieren, die einem totalitären System ausgeliefert waren. Auf alle Fälle entsprach jene Erstgestalt der „Kirche Christi in Japan“, die man nur als Einheitskirche verstehen kann, durchaus den Wünschen Tojos: Sie war stramm zentralisiert, „wobei fast alle Exekutivgewalt in der Hand des Direktors (torisha) lag“, der selber „in all seinen Handlungen der bis ins einzelne gehenden Kontrolle des Erziehungsministers unterstand“ [18]. Immerhin war man so konsequent, dass man dem nichttheologischen Faktor des Staatseingriffes insofern Rechnung trug, als man in der Verfassung von einer Lehrgrundlage schwieg. Hierbei ist zu beachten, was Huddle hierzu sagt [19]: „Jedoch hat die lutherische Kirche (ebensowenig wie die anderer Denominationen) nie ihr Besonderes verloren. Wenn Pfarrer in dieser Zeit in eine Gemeinde berufen wurden, dann erhielten sie als ,ehemalige lutherische Pfarrer‘ ihren Auftrag für eine ,ehemalige lutherische Gemeinde‘. Diese Lutheraner fühlten sich jedoch in den nichtkonfessionellen, jeder Lehrgrundlage entbehrenden Kyodan keineswegs zu Hause, konnten aber andererseits wegen ihrer geringen Zahl auch nie einen sonderlichen Einfluss auf den Charakter des Ganzen ausüben …“ – Es dauerte kaum vier Jahre, bis ein ganz anderer nichttheologischer Faktor in Wesen und Gestalt dieser Kirche eingriff: der Zusammenbruch des Regimes. Zwar kam es nun nicht, wie viele erwartet haben mögen, zu einem völligen Auseinanderbrechen des Kyodan. Das Streben nach Einheit, das sich schon vor dem Kriege mächtig geregt hatte, überdauerte den Zusammenbruch des Staates. Aber einige der ehemaligen Teilkirchen lösten sich jetzt doch vom Kyodan. Dazu gehörten die Lutheraner, die gern geblieben wären, wenn sich der Kyodan in eine Föderation verwandelt hätte. Am 31. Dez. 1949 gehörten von 185.964 Protestanten etwa zwei Drittel, 121.604, zum Kyodan. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass diese Unionskirche vor zwei wichtigen Aufgaben steht: der Dezentralisation der Verwaltung und, vielleicht noch wichtiger, dem Bemühen um ein gemeinsames Bekenntnis.

Diese wenigen Beispiele mögen zur Verdeutlichung der mit dem Problemkreis Staat – Politik – Geschichte gegebenen Problematik genügen. Nach den Erfahrungen, die unser eigenes Volk in dieser Hinsicht überreichlich gemacht hat, sollte unser Auge ohnehin für diese Dinge geschärft sein.

2. Nationalismus, Rasse, Sprache

Handelte es sich im vorigen Abschnitt um Faktoren, die von außen her auf die Kirche Einfluss gewinnen, so kommen wir nun zu solchen, die von innen her wirksam werden, insofern sie den Gliedern einer Kirche sozusagen angeboren sind. In Zeiten besonderer Spannung können sie, ob man es will oder nicht, als ausgesprochene Vorgegebenheiten so stark werden, dass der einzelne nicht mehr über seinen eigenen Schatten zu springen vermag.

1. Um gleich mit einem Beispiel zu beginnen: Dass der Nationalismus an sich nicht ein Letztes ist, sollte einem Volk wie den Amerikanern eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Denn ihrer Entstehungsgeschichte nach sind die USA ja ein buntes Völkergemisch aus vielen Nationen. Merkwürdig ist nur, dass man auch unter ihnen engstirnige Nationalisten findet. In der jüngsten Vergangenheit ist auch vielen in unserem eigenen Volk aufgegangen, dass der Nationalismus nicht ein Letztes ist, und so finden wir in Deutschland wohl mehr als anderswo überzeugte Europäer. Im Übrigen ist es aber wohl doch so, dass der nationale Affekt besonders leicht in Krisenzeiten zur Herrschaft kommt, sei es im Krieg, oder sei es bei Erringung der Freiheit nach langwährender Unterdrückung, oder sei es während der Unterdrückung selbst. Es sei aber sofort hinzugefügt, dass sich in einem Lande wie Amerika selbst während des Krieges eine Reihe von Kirchen vom nationalen Affekt freizuhalten gewußt haben; man denke nur an die großartige brüderliche Hilfe, die sie mitten im Kriege den bedrohten deutschen Missionsfeldern samt ihren Jungen Kirchen wie auch selbst den deutschen Missionaren haben angedeihen lassen. – Das eben Gesagte soll nun vom Blickfeld der Jungen Kirchen her am Beispiel von Indien kurz illustriert werden.

Wenn wir mit dem Indien der Vorkriegszeit beginnen, der Zeit also, in der Indien noch unter englischer Kolonialherrschaft stand, wirkte sich der Nationalismus bei den Gliedern der Jungen Kirchen in einer doppelten Weise aus. Einerseits standen sie bei ihren nichtchristlichen Volksgenossen dauernd unter dem lästigen Verdacht einer antinationalen Einstellung. Weil das Evangelium von nichtindischen Missionaren nach Indien gebracht wurde, bestand nicht nur den Missionaren sowie auch dem Evangelium gegenüber, sondern auch den indischen Christen gegenüber Misstrauen. Das äußerte sich in verstärktem Maße gegenüber den englischen Missionen. Man witterte eben in der Missionstätigkeit den verlängerten Arm einer abendländischen Kolonial-, Imperial- und Kulturpolitik. Kein Wunder, dass so ausgesprochene Nationalisten wie Mahatma Gandhi trotz gelegentlicher Freundschaften mit Missionaren wie C. F. Andrews grundsätzliche Bedenken gegen die vom Ausland her geschehende Missionstätigkeit hatten. Die andere Seite war, dass sich in den indischen Christen selbst leicht ein Unterlegenheitskomplex entwickelte, der seinen Ausdruck in einem Auftreten und Verhalten fand, wie es häufig etwa unsere Jugendlichen zeigen. Wir Missionare in Indien sprachen deshalb gelegentlich von den Flegeljahren der Jungen Kirche, die auf unserer Seite ein erkleckliches Maß von Einsicht, Geduld und Humor erforderten. Tatsächlich waren es einfach die Wachstumserscheinungen einer werdenden Kirche, die mit ihrem eigenen nationalistischen Affekt noch nicht fertig wurde. Es gab Missionare, die den damit gegebenen Spannungen nicht standzuhalten wussten und das Feld räumten. Es gab aber auch indische Christen, die von dem nationalen Affekt völlig frei waren und uns mit einer großartigen Brüderlichkeit ihre Freundschaft schenkten.

Seit Indien frei geworden ist und die volle Souveränität erlangt hat, ist der nationale Affekt kaum mehr bemerkbar, und gleichzeitig ist das Misstrauen gegenüber den Jungen Kirchen in Indien wie übrigens auch gegenüber dem Evangelium fast gänzlich geschwunden, und die Einstellung der indischen Christen ist den fremdländischen Missionaren gegenüber nahezu frei von der oben geschilderten Psychose. Dass im Januar dieses Jahres mit Dr. R. B. Manickam ein Inder als Bischof von Tranquebar eingeführt wurde, ist der Schlussstein in der Entwicklung der Tamulenkirche zu einer in jeder Hinsicht autonomen indischen Kirche. – Dass ein in historischer, kultureller und politischer Hinsicht so bedeutsames Land wie Indien gelegentlich sehr starke nationale Töne anschlägt (man denke an sein Verhältnis zu Frankreich und zu Portugal, die Verweigerung von Einreise-Visen an eine nicht ganz kleine Anzahl von Missionaren, die Parole „Asien den Asiaten“ und dergl.), erinnert daran, dass die Dinge noch im Fluss sind und bei einer Krise plötzlich auch für Wesen und Gestalt der Jungen Kirchen von neuer Bedeutung werden können. – Erwähnt werden sollte vielleicht noch, dass bei der Entstehung der Vereinigten Kirche von Südindien, wie zuletzt Gensichen ausgeführt hat [20], der wachsende indische Nationalismus positiv mitgewirkt hat; die Inder haben mehr als einmal erklärt, dass sie die Union sogar schneller vollzogen hätten, wenn sie sich selbst überlassen gewesen wären. Interessanterweise gibt es aber auch umgekehrt Beispiele dafür,  „dass gerade radikalnationalistische Gruppen die Union ablehnten, weil sie viel zu sehr nach westlichem Muster gemacht sei“ [21].

Man könnte nun die Auswirkungen  des  Nationalismus, der ja jetzt am Ausgang des Kolonialzeitalters ein weltweites Phänomen darstellt und von dem in jüngster Zeit in eindrucksvoller Weise Landesbischof D. Lilje berichtet hat [22], noch ausführlicher behandeln. Dann ließe sich im Einzelnen zeigen, dass es sehr verschiedene Ausdrucksformen dieses Nationalismus gibt, angefangen mit der ausgeglicheneren Form, wie sie uns in Indonesien [23] begegnet, bis hin zu der virulenten Form, wie sie sich bei der Mau-Mau-Bewegung [24] in Kenia zur Geltung bringt; aber das würde den Rahmen unseres Aufsatzes sprengen. So viel leuchtet indessen ohne weiteres ein, dass der Nationalismus als nichttheologischer Faktor für die jeweils betroffenen Jungen Kirchen von ungewöhnlicher Aktualität und wegen seines funktionalen, um nicht zu sagen dynamischen Charakters von besonderer Bedeutung ist.

2. Eng mit dem Nationalismus hängt das Rassegefühl [25] zusammen. Man kann sich manchmal fragen, ob diese zwei Dinge überhaupt gegeneinander abgegrenzt werden können. Immerhin, für das, was über die Rasse als nichttheologischen Faktor zu sagen wäre, lassen sich unzweideutige Beispiele anführen. Ich greife als Beispiel Südafrika heraus, um dann auch  Amerika  kurz zu streifen. Was die Rassenfrage in der Südafrikanischen Union betrifft [26], so kann darüber nur kurz berichtet werden. Es muss von der Tatsache ausgegangen werden, „dass mehrere Millionen Europäer, von denen die Mehrzahl Südafrika als ihre Heimat und ihr einziges Heim ansieht, Seite an Seite mit fünfmal so vielen Bantus, Farbigen und Indern zusammenleben; und das in einem Kontinent mit 150 Millionen schwarzen Menschen“ [27]. Unter den Weißen gibt es zwei Gruppen. Auf der einen Seite stehen die Holländisch-reformierten Kirchen, auf der anderen die Englisch sprechenden Kirchen. Ihre beiderseitige Stellung zur Rassenfrage ist durchaus theologisch begründet. Das erinnert uns wieder einmal daran, dass ein nichttheologischer Faktor wie die Rasse sowohl einen theologischen wie auch einen nichttheologischen Aspekt hat. Die Holländisch – Reformierten treten für das Prinzip der Apartheid an. Dabei bewegt sie etwa folgender Gedankengang: Das Zerbrechen der Einheit des Menschengeschlechtes in verschiedene Völker ist zwar die Folge der Sünde; aber in der Entstehung verschiedener Völker und Rassen ist nach der Vorsehung Gottes auch ein Segen enthalten. Die Wiederherstellung der Einheit ist menschlicherseits unmöglich und bleibt der eschatologischen Zukunft vorbehalten. Was wir zu tun haben ist dies: „Die Weiterfortgeschrittenen sind zur Treuhänderschaft gegenüber den weniger Fortgeschrittenen gerufen“ [28]. Demnach halten die Buren eine Trennung der Rassen für notwendig, um auf diesem Wege ihre Treuhänderschaft, die die Erziehung und Entwicklung der Farbigen zur Aufgabe hat, ausüben zu können. Die Folge? Getrennte Kirchen für Farbige und Weiße! Ein Bantu kann also nicht im gleichen Gotteshaus mit einem Weißen anbeten. Was bedeutet das für eine Junge Kirche in Afrika! Wir müssen allerdings sofort hinzufügen, dass die eben skizzierte Einstellung nicht von allen Buren geteilt wird. So lehnte Prof. Keet, ebenfalls den Buren angehörig, auf der Konferenz über Rassenfragen in Pretoria im November 1953 die Begründung der Apartheid aus der Bibel kategorisch ab; aber immerhin glaubte er aus praktischen Gründen – sollen wir sagen: aus nichttheologischen Gründen -, dass die Apartheid insofern eine gewisse Berechtigung habe, als sie am ehesten eine eigenständige Entwicklungsmöglichkeit der Afrikaner zur Selbständigkeit gewährleiste. – Die Englisch sprechenden Kirchen, die im Christenrat Südafrikas zusammengefasst sind, vertreten die Überzeugung, dass die Hl. Schrift keine Anweisungen zur Integration oder umgekehrt zur Rassentrennung gibt, sondern von der Einheit „in Christus“ spricht. Wo sich bei ihnen eine Praxis gesonderter Gottesdienste findet, wird sie entweder als eine Konzession an die menschliche Schwachheit oder aber auch einfach als Notwendigkeit angesichts der kulturellen und sprachlichen Verschiedenheiten angesehen. Aber grundsätzlich wird die Apartheid abgelehnt und stattdessen eine Integration gefordert. Das schließt nicht aus, dass sie sich wie die Holländer gelegentlich zum Gedanken der Treuhänderschaft bekennen, aber nur im Sinne einer vorübergehenden Aufgabe im gegenwärtigen Zeitpunkt. Visser’t Hooft präzisiert den Gegensatz zwischen den beiden Gruppen elegant mit den Worten: „Aber es bleibt der grundsätzliche Unterschied, dass die Englisch sprechenden Kirchen glauben, dass diese Prinzipien in einer mehr-rassischen Gesellschaftsordnung verwirklicht werden können“, während „die Holländisch-Reformierten Kirchen darauf bestehen, dass sie nur bei einer Trennung der Kassen in verschiedene einrassische Ordnungsgebilde verwirklicht werden können“ [29]. – Ich hoffe, die grundlegenden Tendenzen treten damit einigermaßen deutlich hervor. Für einen Außenstehenden sind die wirklichen Verhältnisse fast undurchschaubar und schon für den dort Befindlichen überaus kompliziert, wenn er sich unbefangen ein allseitig sachliches und klares Bild machen will; denn in der Wirklichkeit treten noch weitere theologische wie nichttheologische Aspekte hinzu. Nur eins – und das ist für uns hier das Entscheidende – sollte deutlich gemacht werden: die Leidtragenden sind letztlich die Bantukirchen, die Jungen Kirchen. Man kann nur mit größter Sorge daran denken, was für Wirkungen die Apartheid nicht nur für die Gestalt, sondern auch für das Wesen dieser Jungen Kirchen haben mag – heute, in zehn Jahren, vielleicht in hundert Jahren. Vielleicht darf ich zur Beleuchtung der südafrikanischen Situation die Äußerung eines deutschen Missionars aus Südafrika hinzufügen, die ich vor zwei Jahren aus seinem eigenen Munde hörte. Er erzählte mir, dass er nicht einmal einen seiner eigenen Bantu-Pastoren zu sich ins Missionshaus zu Tisch einladen könne, weil er dann von seinen befreundeten Buren nicht mehr gegrüßt werden würde; die Freundschaft mit letzteren könne er aber gerade um seiner Bantuchristen willen nicht aufs Spiel setzten, da er bei manchen Gelegenheiten (Kauf von Land, Bau von Häusern usf.) auf die Hilfe eben dieser Buren angewiesen sei. Ist letzteres ein nicht-theologischer Faktor, den man ohne weiteres beiseiteschieben kann? Und doch: Wo bleibt da auf die Dauer die Glaubwürdigkeit der Botschaft des Evangeliums für den Afrikaner?

Ehe wir von der Rassenfrage Abschied nehmen, werfen wir noch kurz einen Blick auf Nordamerika. Dort stehen wir ebenfalls vor der Tatsache, dass um der Rasse willen Kirchen gleicher Konfessionen voneinander getrennt sind und getrennt bleiben: Nebeneinander gibt es da Kirchen für Weiße und solche für Neger. Ein Beispiel: Die Methodistenkirche in Amerika datiert vom Jahre 1784; ihre ersten Bischöfe wurden von niemand anders als John Wesley ernannt. Aber es dauerte nicht lange, bis es zu Spaltungen kam. So splitterten große Teile der Neger ab und begründeten 1816 die „African Methodist Episcopal Church“ und 1821 die „African Methodist Episcopal Zion Church“. Ein halbes Jahrhundert später, 1870, trennten sich die Neger von der „Methodist Episcopal Church, South“ und begründeten die „Coloured Methodist Episcopal Church“. Es bedarf wohl kaum einer Erklärung, wer und was die Ursache zu diesen Trennungen war. Erst 1939 gelang es, die letztgenannte Kirche und verschiedene andere Kirchen der Methodisten zu einer Einheit zu verschmelzen [30]. Im Übrigen aber gilt der Satz von Brennecke: „Von den etwa 8 Millionen Schwarzen, die zu protestantischen Kirchen gehören, sind 7,5 Millionen Glieder reiner Negerkirchen …, nur 500.000 Schwarze, die protestantischen Kirchen angehören, sind Glieder weißer protestantischer Kirchen“ [31].

3. Schließlich noch ein kurzes Wort zur Sprache. Für die deutsche Mission ist es von jeher eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass der Missionar die Eingeborenen-Sprache schriftlich und mündlich so gründlich erlernt, dass er nicht nur mühelos ohne Dolmetscher das Evangelium verkündigen kann, sondern auch literarisch etwas schaffen kann, wenn es ihn dazu treiben sollte. Ein Kennzeichen für solch ein Heimischwerden in der Fremdsprache ist das Vermögen, in dieser Sprache unmittelbar zu denken, also beispielsweise eine Predigt zu konzipieren und zu meditieren. Das ist jetzt weithin auch für die Missionare aus den angelsächsischen Ländern eine Selbstverständlichkeit. Warum? Weil es einfach eine Voraussetzung für die rechte Erfassung des Evangeliums seitens der Hörer der Botschaft ist. Bei alledem bleiben freilich noch genug Probleme sehr ernster Art; denn Übersetzen bedeutet oft auch ein Umdenken. In jüngster Zeit hat Julius Bodensieck einiges sehr Nachdenkliche und auch Beherzigenswerte zu dieser Frage gesagt [32]. Wir können darauf hier nicht näher eingehen. Aber es ist tröstlich, sich von ihm daran erinnern zu lassen, dass, mag auch ein theologisches Buch mitunter fast unübersetzbar sein – auch das gibt es ja! -, die Hl. Schrift selbst unter allen Umständen, wenn auch oft nur unter sehr großen Schwierigkeiten, übersetzbar ist.

Um eine wie wichtige Sache es sich bei dieser sprachlichen Aufgabe handelt, ergibt sich aus einem Aufsatz von Walter Freytag: „Die Lehre der Kirchengeschichte Nordafrikas für die heutige Mission“ [33]. Er spürt in dieser Studie den Gründen nach, die zum Verfall und Verschwinden der großen christlichen Kirchen in Nordafrika führten; diese hatten sich dort in den ersten christlichen Jahrhunderten sehr erfreulich entwickelt und zählten allein in Ägypten um das Jahr 400 weit über eine Million Mitglieder. Was waren nun die Gründe dafür, dass sie dem Ansturm des Islam nicht standhielten, sondern wie Wüstensand völlig verweht wurden? Es waren weithin nichttheologische Faktoren. Um Walter Freytag zu zitieren, war der wohl wichtigste dieser: „Der punische Volksteil Nordafrikas hatte keine eigene christliche Literatur und Bibel“ [34]. „Augustin stellte zwar die Forderung auf, dass die Kleriker neben dem Lateinischen auch die Sprache der Punier (= Phönizier) müssten, aber er selbst hat zu Puniern nur durch Dolmetscher ge-predigt, und seine Forderung wurde wenig verwirklicht, weil der Klerikerstand vorwiegend römisch war. So zerfiel das Christentum der Punier unter dem mohammedanischen Druck bald. Es hatte nicht Wurzel geschlagen in der Seele dieses Volksteils. Es war ihrer Muttersprache fremd geblieben“ [35].

Eine genau umgekehrte Beobachtung hinsichtlich der Sprache machen wir in unseren Tagen in Nordamerika. Dort gibt es nicht wenige Kirchen, bei denen sich die europäischen Muttersprachen erhalten haben und noch immer als lebendige Kraft erweisen. Sie werden nicht nur zu Hause gesprochen, sondern auch die Gottesdienste finden in diesen Sprachen statt. Dieses Festhalten an der Muttersprache ist oft der einzige ernsthafte Grund für die Sonderexistenz dieser Kirchen und verhindert eine Vereinigung selbst mit Kirchen der gleichen Denomination. Trotz handfester theologischer Gründe für eine Vereinigung erweist sich der nichttheologische Faktor der Sprache als stärker. Das ist somit auch ein Beitrag zu unserem Thema [36].

3. Kulturelle, soziale und wirtschaftliche Fragen

Dieser letzte Problemkreis, von dem nun noch die Rede sein soll, führt uns zu Faktoren verschiedener Art, die von geradezu schicksalhafter Bedeutung für die Jungen Kirchen werden können. Man denke etwa an das, was die abendländische Zivilisation für die unterentwickelten Völker bedeutet: Technik, höherer Lebensstandard, der Film, das Buch, das Radio, die Erzeugnisse der Industrie usf. Man müsste etwa davon reden, wie unter diesen Einflüssen das Angesicht eines ganzen Erdteiles wie Afrika gewandelt wird und auch in unerhörter Weise der afrikanische Mensch bedroht wird, und was für Folgen das alles für die Jungen Kirchen hat. Man müsste etwa auch von der Bedeutung des Social Gospel der Amerikaner sprechen und hätte dann nicht nur Negatives, sondern auch Positives herauszustellen. Das würde jedoch alles viel zu weit führen. Stattdessen wollen wir uns in diesem Zusammenhang auf ein einziges – und vielleicht das bedeutsamste – Phänomen beschränken, den Kommunismus, und zwar in seiner chinesischen Ausprägung; und selbst das kann nur eben skizzenhaft geschehen.

Für China und seine Jungen Kirchen ist im gegenwärtigen Zeitpunkt der Kommunismus in der Tat von schicksalhafter Bedeutung geworden. China hat ja im Grunde dem Kommunismus freiwillig Tor und Tür geöffnet und viele Angehörige der Jungen Kirchen dort, und unter ihnen gerade die Führer der christlichen studentischen Jugend, haben ihn mit offenen Armen empfangen. Als dies alles geschah, war der Westen zunächst wie vor den Kopf geschlagen, einschließlich der Männer in Kirche und Mission, und es dauerte unverhältnismäßig lange, bis die eine oder andere Stimme laut wurde, die eine Antwort auf die Frage suchte, wie und warum es dazu kam und was wir ein für alle Mal daraus lernen können Insbesondere die Vertreter der Mission haben nach einer Deutung gesucht, vor allem im Blick auf die Missionsarbeit und die Wirksamkeit der Jungen Kirchen in den anderen Ländern Asiens und auch Afrikas. Natürlich liegt hier ein weites Feld vor uns. Ich beschränke mich auf eine aufschlussreiche Analyse, die Tilemann Grimm in seinem Aufsatz „Chinas junge Kirche im Griff der Weltpolitik“ [37] bietet. Seine Antwort gipfelt in vier Thesen:

  1. „Das neue China formte sich aus dem Protest gegen den Zugriff des Westens.
  2. In diesem Protest kam eine geistige Bewegung zum Durchbruch, deren Wurzeln im alten China liegen.
  3. Innerhalb dieser geistigen Bewegung erschien die kommunistische Antwort der anderen Welt gegenüber als die angemessenste.
  4. In dieser kommunistischen Antwort fand China den Anschluss an seine Geschichte. Gleichzeitig jedoch öffnete es sich damit der kommenden Welt, von der wir alle ein Teil sind.“

Im Einzelnen meint der Verfasser nachweisen zu können, dass die Vertreter der sog. chinesischen Renaissance die Gedanken vorweggenommen haben, die in der Ideologie des Kommunismus zum Ausdruck kommen. Sie wurden damit unbewusst zu dessen Wegbereitern, während sie sich zugleich von der Ideologie des Westens enttäuscht abwandten. Ich kann mir kein Urteil erlauben, ob und inwieweit diese Geschichtsdeutung zutreffend ist. Auf alle Fälle findet sich hier kein Bezug auf das merkwürdige Phänomen, dass nicht nur in China, sondern auch beispielsweise in Indien ausgerechnet eine beachtliche Zahl von christlichen Studenten eine seltsame Affinität gegenüber dem Kommunismus gezeigt und sich – schon in den Jahren vor dem Einbruch des Kommunismus in China – geradezu leidenschaftlich für den Kommunismus eingesetzt hat. Von meiner Sicht der Verhältnisse aus lautet die Antwort etwa folgendermaßen: Als Glieder der christlichen Kirche litten sie vielleicht mehr noch als die anderen Einsichtigen ihrer Volksgenossen unter der weitgehenden Korruption und Misswirtschaft ihres Landes und unter den unerhörten sozialen und wirtschaftlichen Missständen. In Indien trat dies beispielsweise in der Unterdrückung und dem Elend der Kastenlosen hervor, die als Leibeigene reicher und nicht selten hartherziger Großgrundbesitzer ein auswegloses Hungerdasein fristeten. In China war es bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung oft kaum anders, nur dass da die maßlose Korruption in der öffentlichen Verwaltung, über die selbst Tschiang Kaischek nicht Herr wurde, hinzukam. Die eben genannten Studenten wussten etwas von der christlichen Sozialethik und vom Social Gospel der Amerikaner; aber sie sahen nicht, wie diese Ideale je in größerem Maße in ihrem eigenen Lande zur Verwirklichung kommen sollten. Da begegnete ihnen der Kommunismus mit seinen Programmpunkten und seiner wirtschaftlichen und sozialen Dynamik. Die dahinterstehende Ideologie mit ihrem dialektischen Materialismus unterschätzten sie freilich. Ist es eigentlich zu verwundern, dass sie sich verblenden ließen? Und so nahm das Schicksal in China seinen Lauf, ohne dass die jungen Christen voraussahen, was das nun für Wesen und Gestalt  der Jungen Kirchen bedeutete. – Ich weiß nicht, ob ihnen inzwischen im Blick auf China die Augen aufgegangen sind. Pandit Jawaharlal Nehru freilich hat, wenn ich recht sehe, die Hintergründigkeit des Kommunismus von vornherein durchschaut und bezweckt bei seinen Begegnungen mit Tschou Enlai nichts anderes, als die Voraussetzungen für eine friedliche Ko-Existenz mit dem Kommunismus zu schaffen, um sein eigenes Land vor dem Kommunismus zu bewahren. Er versucht dies gleichzeitig durch seine gesamte Wirtschafts- und Sozialpolitik: die Vorantreibung der Industrialisierung Indiens, um den Lebensstandard Indiens zu erhöhen, und durch Sozial- und Landreformen, um das Los der Kastenlosen zu bessern und sie in Eigenbesitz von Land zu bringen. Sein Schlachtruf „Asien den Asiaten“ scheint mir nicht nur gegen den Kolonialismus und Imperialismus der Westmächte gerichtet zu sein, sondern ebenso gegen die Expansionsgelüste Moskaus.- Mit alledem möchte ich nichts weiter, als am Beispiel Chinas (und Indiens) deutlich zu machen versuchen, von welch unmittelbarer Bedeutung für die Zukunft der Jungen Kirchen solche primär nichttheologischen Faktoren wie wirtschaftliche und soziale Fragen im Umbruch der Gegenwart haben, und von wie fundamentaler Bedeutung es für die Jungen Kirchen ist, dass sie die Bedrohung ihrer eigenen Existenz im Blick auf diese Dinge erkennen und sich beizeiten nicht minder mit den sie umschmeichelnden Ideologien auseinandersetzen.

Wir stehen damit am Ende des Referates. Ich bin mir bewusst, dass ich weder alle nur denkbaren nichttheologischen Faktoren auch nur erwähnt hätte – vielleicht habe ich des Guten bereits zu viel getan -, noch auch nur einen der behandelten Faktoren ausreichend traktiert hätte. Aber das war auch nicht die Absicht. Vielmehr sollte deutlich gemacht werden, in was für einem vielseitigen Wirkungsfeld die Jungen Kirchen stehen, wie von allen Seiten fördernd, anregend, aufbauend oder auch hindernd, zersetzend und zerstörend ausgerechnet nichttheologische Faktoren am Aufbau oder Abbau der Kirche arbeiten und ihr Wesen und ihre Gestalt zu beeinflussen vermögen. Jede Kirche in jedem Lande ist solchen Prozessen unterworfen, jede wieder in anderer Weise, und wie keine Blume der anderen völlig gleicht, so keine Kirche der anderen. Und keine Kirche bleibt auf die Dauer die gleiche, die sie war; jede neue Generation und jedes neue Zeitalter setzt sie neuen Gefährdungen aus und stellt sie vor neue Möglichkeiten der Adaption, der Integration und der Wandlung sowie des Wachstums und auch der Verkümmerung. Wie wichtig, dass eine Einsicht in diese Zusammenhänge gerade auch bei den Jungen Kirchen lebendig ist – es geht dabei wahrhaftig auch und wahrhaftig primär um theologische Faktoren und theologische Aspekte.

Wir wollen dankbar sein, dass wir angesichts dieser fast verwirrenden Vielfalt in aller Einfalt das Entscheidende wissen dürfen: dass in, mit und unter den so bedrohten und anfälligen Kirchenkörpern Gott selbst seine Eine Heilige Kirche baut, die ewig bleiben wird.


Anmerkungen

[1] K. D. Schmidt: Die konfessionelle Gestaltung Deutschlands. Nichttheologische Faktoren bei Separationen und kirchlichen Zusammenschlüssen. Theologische Literaturzeitung (ThLZ) 1952, März, Sp. 131.

[2] Lundbericht (unter dem Titel: Kirche, Gottesdienst, Abendmahlsgemeinschaft. Bericht einer Weltkirchenkonferenz), Lutherhaus-Verlag Witten 1952, 20.

[3] Non-Theological Factors in the Making and Unmaking of Church Union. New York 1937 (Faith and Order, Heft-Nr. 84 (von mir nicht eingesehen), ausführlich behandelt bei Oliver Tomkins: Um die Einheit der Kirche, München 1951, 115 – 126.

[4] Seine Ausführungen im vollen Wortlaut abgedruckt bei Tomkins , a. a. O. 108 – 115

[5] Lundbericht, a. a. O. 20.

[6] Beitrag von Hromádka in Ecumenical Review, 1952, 1, 52 ff. (von mir nicht eingesehen, zit. ThLZ 1953, Sp. 67).

[7] Hanns Lilje: Der gegenwärtige Stand der ökumenischen Bewegung. Kritische Ergebnisse der Dritten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Lund (15. – 28. August 1952). ThLZ 1953, Sp. 67.

[8] Lundbericht 45 ff., 59 u. a.

[9] Zu beziehen durch die ökumenische Zentrale, Frankfurt/Main, Schaumainkai 23.

[10] „Die Kirche“ (vgl. Anm. 9), S. 19 ff.

[11] H. H. Harms: Bekenntnis und Kircheneinheit bei den  Jungen Kirchen, Berlin 1952.

[12] A. a. O. bes. S. 16 ff.

[13] Vgl. Anm. 7.

[14] ThLZ 1952, Sp. 129 – 142; zum Folgenden Sp. 140.

[15] A. a. O. (Anm. 11) 17 f. Vgl. auch Azariah in Wikipedia.

[16] A. a. O. 17.

[17] Vgl. Stephen Neill: Towards Church Union 1937 – 1952. A Survey of Approachs to closer Union among the Churches, London 1952, 20 – 23;. H. H. Harms, a. a. O. S. 33 f.; Friedrich Hübner: Der ,Kyodan‘ als Typus einer vom Staat erzwungenen Union. Evang.-Luth. Kirchenzeitung 1953 (Nov.) 327 f.; B. Paul Huddle : Das Luthertum im heutigen Tapan. Luth. Rundschau 1955 (Febr.) 352 – 357. Vgl. auch Tōjō Hideki in Wikipedia.

 

[18] Stephen Neill, a. o. O. 20 f.

[19] B. P. Huddle, a. a. O. 353

[20] Hans W. Gensichen: Die Kirchen von Südindien, Luth. Rundschau 1955 (Febr.), 332 f.

[21] A. a. O. 333.

[22] Vgl. Hanns Lilje: Bilanz einer Reise um den Erdball, in: Die Welt, 7. April 1956.

[23] Vgl. K. Bridston: Eine junge Kirche im Sturm der Zeit. Luth. Rundschau 1955 (Mai), 77 – 81.

[24] Vgl. Gerhard Jasper jun.: Was geht in Kenya-Ostafrika vor? Evang. Missionszeitschrift (= EMZ) 1953, 24 – 27.

[25] Zum Grundsätzlichen vgl. Gerhard Bren-necke: Rassische und völkische Spannungen. Luth. Rundschau 1954 (Juni), 63 – 74.

[26] Vgl. dazu besonders Aug. Elfers: Die Konfessionen auf den südafrikanischen Missionsfeldern und ihre Auswirkungen auf die Lebensgestaltung des Menschen, in: Mission und Theologie (ed. Wiebe), Göttingen 1953, 114 – 139; Visser’t Hooft: Ökumenische Beobachtungen in Südafrika, EMZ 1953, 17—24; Jan Hermelink: Ein Schritt vorwärts? Zur Konferenz über Rassenfragen in Pretoria, EMZ 1954, 48 – 50; Herrn. Berner: Südafrika, Quo vadis?, EMZ 1956, 91 – 94. – Eng mit dem Rasseproblem verknüpft ist die neue Schulpolitik der Regierung, auf die wir jedoch hier nicht näher eingehen können; eine gute Unterrichtung hierüber bietet Johannes Skauge: Das Schulproblem der lutherischen Missionen und Kirchen in Südafrika, Luth. Rundschau 1955 (November), 292 – 300.

[27] Visser’t Hooft, a. a. O. 17.

[28] A. a. O. 20.

[29] A. a. O. 22.

[30] Vgl. hierzu Stephen Neill, a.a.O. 8 f.

[31] Gerh. Brennecke, a.a.O. 69.

[32] Julius Bodensieck: Übersetzte Theologie? Luth. Rundschau 1954 (Juni), 7 – 19.

[33] Luth. Rundschau 1955 (Febr.), 319—327.

[34] A. a. O. 326.

[35] A. a. O. 324.

[36] Vgl. Oliver Tomkins, a. a. O. 120.

[37] EMZ 1954 (Juni), 65 – 74, bes. 67 – 70. – Vgl. hierzu auch Gerhardt Rosenkranz: China to-day. Some Reflections against the Background of yesterday. International Review of Missions, 1955 (Oct.), 418 – 429. – Weitere Literatur im Evang. Kirchenlexikon, Bd. I, 1956, Sp. 697 f.


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Paul Gäbler

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