Jul 262014
 

Notizen aus Bethlehem X, 14. Juni 2010 (Ökonomie)

Die Mauer ist tief in die besetzten palästinensischen Gebiete hinein gebaut. Es ist viel von der optischen und psychologischen Wirkung die Rede gewesen. Mich hat von Anfang an interessiert, welche ökonomische Wirkung sie als Symbol für das Besatzungssystems insgesamt spielt. Ich habe nicht Gelegenheit gehabt, dem eingehend nachzugehen, zumal ich ja blutiger Laie in Sachen Ökonomie bin. Aber einige Eindrücke möchte ich dennoch am Ende meiner Notierungen, gleichsam als einen Anhang, widergeben. 

Claire ist Inhaberin eines Souvenirshops. Nebenan schneidert ihre Schwägerin Taufkleider, die in der Geburtskirche eine besondere Weihe erhalten. Einst befand sich das Haus in bevorzugter Lage unmittelbar gegenüber dem Rahelgrab, einer viel besuchten Gebetsstätte für Moslems und Juden in Bethlehem. Clair verkaufte Souvenirs und Devotionalien aller drei Religionen. Jetzt lohnt es sich kaum noch, den Laden offen zu halten, denn seitdem zum Rahelgrab nur noch Israelis (und Touristen) Zugang haben und die 10m hohe Mauer in einer irrational anmutenden Schlangenlinie das Grabmal von der Bethlehemer Umwelt und damit von Clairs Laden trennt, ist das Haus von drei Seiten eingemauert. Nur wenige Freunde und Bekannte kommen dann und wann vorbei. Jedes Mal, wenn ich den Laden betrete, werfe ich einen Blick auf die geschnitzte Geburtsszene, bei der zwischen Krippe und Königen ein Abbild der Mauer den Zugang versperrt. Die Weisen aus dem Morgenland müssen draußen bleiben.

Clair ist nur eine von vielen Verlierern und Verliererinnen der Separation. Palästina ist seit Jahrhunderten Ziel von Forschern, Pilgern, Neugierigen aus aller Welt. Die einst viel benutzte Hauptstraße in Bethlehem ist die Verbindung zwischen Jerusalem und Hebron. An ihr reihen sich Restaurants, Cafés, Souvenirläden und Geschäfte aller Art. Herstellung und Verkauf von Olivenholzschnitzereien, Perlmutt-Intarsien, Keramik und Stickereien sind bis heute ein wichtiger Wirtschaftszweig für den Bezirk Bethlehem.

Aber die Hebron-Straße ist durch den Checkpoint und die um das Rahelgrab gezogene tief in das Stadtgebiet hineinreichende 9-12 m hohe Mauer blockiert. Eine Bypass-Straße dient weitab vornehmlich den Erfordernissen der Siedler. Das einstige Touristen- und Unterhaltungsviertel von Bethlehem ist tot. 74 von einstmals 80 Geschäften in diesem Teil der Stadt mussten schließen oder einen neuen, weniger einträglichen Standort suchen. Die Touristenbusse von Jerusalem werden auf eine Seitenstraße umgeleitet. Sie fahren zur Geburtskirche und zur Kirche auf dem Hirtenfeld. Wenn es hochkommt, halten sie an einem Restaurant zum Mittagessen und an einem der fünf großen Souvenirshops, die Verträge mit den Touristikunternehmen haben. Die Besitzer sind nicht aus der Stadt, klagt die Mitarbeiterin der Bethlehemer Handelskammer. Das Geld bleibt nicht hier.

Dennoch bleibt das Touristengeschäft wichtiger Arbeitgeber in der Region. Die eigentliche Chance ist inzwischen der umweltfreundliche, alternative Tourismus, der Begegnungen mit palästinensischen Menschen ermöglicht, Übernachtungen in Familien, Unterhaltungsabende mit traditionellen Speisen und lokalen Traditionen, aber auch Informationen zur Geschichte des Landes und zur Gegenwart der Besetzung, zu Wirtschaft und Kultur.

Die Umgebung von Bethlehem ist nach wie vor von der Landwirtschaft geprägt. Vor allem Gemüse und Obst wird in den fruchtbaren und wasserreichen Tälern reichlich produziert. Die Gemüsegeschäfte sind eine wahre Augenweide und die Preise sind fabelhaft niedrig. Man ist versucht, Vegetarier zu werden. Doch der Schein trügt. Neben lokalen Produkten drängen billige Produkte aus der industriell betriebenen Landwirtschaft in Israel auf den Markt. Wenn man durch die weite israelische Küstenebene, das Jordantal und die Jesraelebene fährt, sieht man kilometerlange Plantagen und Gewächshäuser sich aneinander reihen. Ihre Produkte drücken gewaltig die Preise. Was das Herz des Käufers zunächst erfreut, ist Folge dieses unnatürlichen Preisdrucks.

Traditionell ist Jerusalem der wichtigste Markt für die Dörfer, die nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegen. Der Zugang dorthin ist abgeschnitten. Zudem haben die Dörfer durch israelische Siedlungen und Mauerbau bis zu zwei Drittel ihrer landwirtschaftlichen Flächen verloren, oder der Zugang ist so stark eingeschränkt, dass die Pflege unmöglich wird. Denn der größte Teil der Flächen liegt an Berghängen und ist nur mit Hilfe eines von vielen Generationen geschaffenen Systems von Terrassen und Stützmauern nutzbar und bewässerbar. Doch diese, auf den ersten Blick sehr natürlich erscheinende, der Landschaft wunderbar angepasste Anbauweise bedarf täglicher Pflege und Aufmerksamkeit. Wo immer ein Stein aus der Stützmauer bricht, muss er ersetzt werden und die Zugänge müssen sorgfältig freigehalten werden. Restriktionen der Armee und Absatzschwierigkeiten für die Produkte wirken zusammen, um dies zu hindern. Die Bauern müssen anderswo nach Jobs suchen, z.B. in Israel. Auf den Feldern sieht man vornehmlich alte Menschen, denen die Esel unverzichtbare Helfer sind für den Transport von Menschen, Wasser und Ernten und zum Pflügen der steinigen Böden mit leichten Hakenpflügen. Doch lässt es sich nicht verhindern, dass landwirtschaftliche Flächen vernachlässigt werden. Laut Militärgesetzgebung dürfen ungenutzte Flächen enteignet werden, und so geht mehr und mehr Boden aus palästinensischem in israelischen Besitz über. Es ist ein wahrhafter Teufelskreis.

Die industrielle Infrastruktur in Bethlehem ist besser entwickelt als es auf den ersten Blick scheint. An erster Stelle rangieren Steine, insbesondere Marmor, ein vielgenutztes Material für die heimische Bautätigkeit und zugleich ein Exportschlager. Die Blöcke und Platten gibt es in vielen, schönen, hellen Farbtönen. (Dass die Straßen von Jerusalem im Altertum mit Marmor gepflastert gewesen seien, erschien mir zu Unrecht stets als eine orientalische Übertreibung. Sie sind es zum Teil noch heute.) Außerdem gibt es u.a. Produktionsstätten von pharmazeutischen und kosmetischen Artikeln, Textilien und Möbeln, Papier- und Verpackungsmaterial, Leichtmetall- und Plastikprodukten sowie Medizintechnik. 

Angesichts der Tatsache, dass Palästina außer Steinen kaum Rohstoffe besitzt, scheint mir das eine erstaunliche Vielfalt. Freilich ist es ungeheuer mühsam für die Unternehmen, mit ihren Produkten auf dem regionalen oder Weltmarkt Schritt zu halten. Denn sämtlicher Im- und Export von Rohmaterialien und Fertigprodukten muss über Israel abgewickelt werden. Damit lebt die Außenhandelswirtschaft der besetzten Gebiete von der Gnade Israels.

Zusätzlich sind die Produktionsbedingungen durch die Einschränkung der Mobilität stark erschwert. Umwege jeder Art und absurden Ausmaßes sind an der Tagesordnung. Laut einer UNO-Studie gibt es in der West Bank 65 von Soldaten besetzte Checkpoints. Nur 9 davon bilden Übergänge zwischen Israel und der Westbank. 56 trennen palästinensische Gemeinden in der Westbank voneinander. Zusätzlich gibt es 607 unbesetzte Straßensperren, meist Erdaufschüttungen und Felsblöcke. Der Blutkreislauf jeder Wirtschaft ist das Transportsystem von Menschen und Waren. Deren Mangel ist ein nicht wett zumachender Standortnachteil, der für jede Entwicklung demotivierend wirkt und gewinnorientierte Investitionen illusorisch erscheinen lässt.

Im Gespräch mit Vertretern von alternativen Tourismusbetrieben und der Handelkammer wird immer wieder ein Standortnachteil genannt: das von negativen Vorurteilen geprägte Bild von den Menschen und dem Leben in den besetzten Gebieten. Persönlich kann ich bezeugen, dass ich mich unter den Palästinensern zu jedem Zeitpunkt sicher gefühlt habe, sei es im Gedränge am Checkpoint, sei es nachts als Anhalter im Auto mir völlig fremder Menschen, sei es gegenüber dem Geschäftsmann, dem ich meine Kreditkarte nebst Geheimnummer anvertraut habe. Terrorismus ist kein Merkmal gegenwärtiger Wirklichkeit in Palästina.

Die offizielle Arbeitslosigkeit in den besetzten Gebieten liegt knapp über 30%. Von denen, die einen Job haben, arbeiten ca. 15% in Israel oder in den Settlements. Die Löhne von Palästinensern liegen nach dem, was mir berichtet wurde, bei ca. 30 bis 50% der israelischen Arbeiter. Der öffentliche Dienst der Autonomie-Behörde umfasst ca. ein Drittel des palästinensischen Arbeitsmarktes. Die Gehälter sind so niedrig, dass viele einen zweiten Job suchen müssen, um ihre Familien zu ernähren, das Studium der Kinder zu finanzieren oder die medizinische Behandlung der Eltern. Es ist keine Seltenheit, dass sich im Gespräch mit einem Taxifahrer herausstellt, dass er vormittags z.B. als Lehrer arbeitet.

Das sind eine Reihe von Eindrücken, und ich bitte um Entschuldigung, wenn ich auf Quellen und Belege verzichte. Ich kann und will nichts beweisen. Es gibt genügend wissenschaftliche Studien, die das tun. Natürlich steht im Hintergrund die Frage, wie lebensfähig ein eigenständiger palästinensischer Staat wäre, wenn Israel denn seiner Bildung zustimmen würde. Ich will hinzufügen, dass die Abhängigkeit der Westbank von der Wirtschaft Israels nicht so einseitig ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Israel und die Settlements leben weitgehend von palästinensischen Wasservorräten. Als Markt ist die Westbank ein wesentlicher ökonomischer Faktor. Und ohne die palästinensischen Arbeiter würde Wohnen und Leben in Israel noch teurer als es heute schon ist. Man sieht in Israel viele Menschen, die in offensichtlicher Armut leben, mehr als in Palästina. Es gilt wohl auch hier, dass das eine Land auf das andere letztlich angewiesen ist. Die Trennung schadet der Wirtschaft. Ob das die Logik ist, die letztlich Frieden bringen wird? 


Links